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Freitag, 25. April 2014

Kurzbesprechung: Die schönste Soiree meines Lebens

LA PIÙ BELLA SERATA DELLA MIA VITA
Italien/Frankreich 1972
Regie: Ettore Scola
Darsteller: Alberto Sordi (Alfredo Rossi), Pierre Brasseur (Graf De La Brunetière/Verteidiger), Michel Simon (Herr Zorn/Staatsanwalt), Charles Vanel (Herr Dutz/Richter), Claude Dauphin (Herr Bouisson/Schriftführer), Janet Agren (Simonetta), Giuseppe Maffioli (Kutscher/Henker)

"Dottore" Alfredo Rossi fährt von Mailand aus über die Grenze, um ein Köfferchen voll Schwarzgeld auf einer Schweizer Bank zu deponieren. Doch er trifft erst nach Schalterschluss ein, und so muss er einen Tag zuwarten und erst einmal die Zeit totschlagen. Da trifft es sich gut, dass ihn eine Motorradfahrerin, die auch mit aufgesetztem Helm einen attraktiven Eindruck macht, offenbar auffordert, ihr zu folgen. Da geht etwas, denkt sich der Dottore, und fährt ihr hinterher, auf zunehmend einsamen Straßen in die Tessiner Berge. Bis unversehens sein Maserati den Geist aufgibt und das Motorrad seinen Blicken entschwindet. Zum Glück kommt bald ein Pferdefuhrwerk vorbei und nimmt ihn mit zu einem abgelegenen Bergschlößchen, von wo telefonisch eine Autowerkstatt verständigt werden kann. Der Hausherr des Schlößchens, der letzte Graf De La Brunetière, begrüßt Rossi persönlich und lädt ihn zum Verweilen ein. Als bald darauf der Maserati wieder fahrtüchtig vorbeigebracht wird, will Rossi eigentlich gleich wieder aufbrechen, doch er ändert seine Meinung und nimmt die Einladung des Grafen an, als er durch eine halb geöffnete Tür einen Blick auf das wohlproportionierte Zimmermädchen Simonetta erhascht, das sich gerade umzieht - auch hier könnte ja etwas gehen ... Signor Rossi lernt drei alte Freunde des Grafen kennen, die Herren Zorn, Dutz und Bouisson. Wie es sich erweist, handelt es sich bei allen vieren um pensionierte Juristen, die ein eigenwilliges Hobby pflegen: Sie spielen im Schlößchen Prozesse nach, wobei sie ihre früheren Rollen vor Gericht wieder übernehmen. Weil man dafür auch Angeklagte braucht, wird der Gast gebeten, diesmal diese Rolle auszufüllen, und Rossi nimmt amüsiert an. Und wie lautet die Anklage? Irgendetwas wird sich schon finden, meint der "Staatsanwalt" ...

Bei einem üppigen Abendessen in mehreren Gängen wird aus der Unterhaltung schnell ein Verhör, bei dem der selbstbewusste und joviale Rossi bereitwillig Auskunft über sich gibt. Den Warnungen seines "Verteidigers" zum Trotz, vorsichtig mit seinen Äußerungen zu sein, gibt der aus einfachen Verhältnissen stammende Rossi unverhohlen preis, zu welchen Tricks er gegriffen hat, um beim sozialen Aufstieg nicht in der Mittelschicht hängenzubleiben. So hat er, um schneller voranzukommen, seinen Vorgesetzten in den Tod durch Herzinfarkt getrieben, indem er mit dessen Frau schlief und es ihn durch eine gezielte Indiskretion wissen ließ. Als später der "Verteidiger" in seinem Plädoyer versucht, Rossi als harmlosen Kleinbürger hinzustellen, der seine Geschichte maßlos übertreibt, protestiert Rossi, vom eigenen Geltungsdrang getrieben, heftig. Dagegen stimmt er dem "Staatsanwalt" ausdrücklich zu, der ihn als den maß- und skrupellosen Tatmenschen präsentiert, der er ja tatsächlich ist. Für den "Mord" am Vorgesetzten fordert der "Staatsanwalt" die Todesstrafe - im Gegensatz zu den sonstigen Gepflogenheiten in der Schweiz verhängt dieses besondere Gericht auch die Höchststrafe. Und tatsächlich wird Rossi zum Tod verurteilt - und er amüsiert sich dabei prächtig, denn es ist ja alles nur ein Spiel. Oder etwa doch nicht? Von reichlich Speis' und Trank ermattet, und gleichzeitig aufgekratzt, weil er mit Simonetta noch ein Rendezvous vereinbart hat, sinkt Rossi spät abends ins "Napoleon-Bett", und er fällt in einen unruhigen Schlaf mit einem bizarren Albtraum. Und am nächsten Morgen erwartet ihn eine unliebsame Überraschung ...

DIE SCHÖNSTE SOIREE MEINES LEBENS, eine Mischung aus Tragikomödie, Kammerspiel und Groteske, beruht auf Friedrich Dürrenmatts 1956 erschienener Erzählung "Die Panne". Neben oberflächlichen Änderungen wie bei Namen und Schauplätzen gibt es auch größere Abweichungen, vor allem beim Schluss. Aber auch bei Dürrenmatt selbst war der Schluss nicht in Stein gemeißelt: Eine ebenfalls 1956 entstandene Hörspielfassung und eine auch schon in den 50er Jahren geschriebene, aber erst 1979 veröffentlichte Bühnenversion verfügen jeweils über ein anderes Ende. Dürrenmatts schweizerischer Stoff wirkt in Ettore Scolas Anverwandlung wie maßgeschneidert für italienische Verhältnisse (das Drehbuch schrieb Scola gemeinsam mit Sergio Amidei) - der satirische Biss ergibt sich zwanglos wie von selbst. 1972 war Scola kein Unbekannter mehr - er war schon seit den 50er Jahren vor allem als Drehbuchautor aktiv, und er hatte 1970 mit EIFERSUCHT AUF ITALIENISCH einen Erfolg errungen -, aber er besaß noch nicht die Prominenz, die er sich mit Filmen wie DIE SCHMUTZIGEN, DIE HÄSSLICHEN UND DIE GEMEINEN, FLUCHT NACH VARENNES oder LE BAL - DER TANZPALAST erarbeiten sollte. DIE SCHÖNSTE SOIREE MEINES LEBENS wird vor allem von seinem grandiosen Ensemble getragen. Alberto Sordi brilliert als berlusconiesker Geschäfts- und Lebemann, der wie selbstverständlich einen falschen Doktortitel führt, der sein Schwarzgeld in die Schweiz transferiert, und der mit seiner Frau telefoniert, während er gleichzeitig den Seitensprung mit dem Zimmermädchen plant. Zur Seite stehen Sordi die illustren französischen Altstars Pierre Brasseur, Michel Simon und Charles Vanel (sowie der etwas weniger charismatische Claude Dauphin) als juristische Altherrenrunde. Der blonden Schwedin Janet Agren wird in ihrer Rolle als doppelbödiges Zimmermädchen schauspielerisch nicht allzuviel abverlangt, aber optisch ist sie eine Augenweide. - DIE SCHÖNSTE SOIREE MEINES LEBENS läuft am 29.04. um 14:05 Uhr sowie am 08.05. um 2:10 Uhr auf arte. Es gibt auch eine italienische DVD, offenbar ohne Untertitel.

Mittwoch, 12. März 2014

Aufzeichnungen zu einem verkannten Meisterwerk: MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN („Jagd auf einen Unsichtbaren“)
USA / Frankreich 1992
Regie: John Carpenter
Darsteller: Chevy Chase (Nick Halloway), Daryl Hannah (Alice Monroe), Sam Neill (David Jenkins), Michael McKean (George Talbot), Stephen Tobolowsky (Warren Singleton), Gregory Paul Martin (Richard)


Ein post-alkoholisches Intoxikations-Syndrom ist am einfachsten zu Hause, sitzend oder liegend durchzustehen. Aber wo wäre da die Herausforderung? Nick Halloway jedenfalls sitzt den größten Kater, den er jemals hatte, früh morgens in einer wissenschaftlichen Physik-Tagung (zu deren primären Zielgruppe er nicht gehört) aus. Den Sekundenschlaf will er in der Sauna eines Verwaltungsbüros auskurieren – nur für ein paar Minuten. Als er später aufwacht, ist der größte Teil des Gebäudes um ihn herum verschwunden und er selbst unsichtbar geworden. Aus dem langweiligen Finanzanalysten ist der unsichtbare Mann geworden, der vor dem skrupellosen CIA-Agenten David Jenkins fliehen, nebenbei mit dem Leben als Unsichtbarer klar kommen und zugleich irgendwie die schöne Alice (wegen der er sich ursprünglich betrunken hatte) zurück erobern muss...

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN war sowohl beim Publikum wie auch bei den meisten Kritikern ein fulminanter Flop. Nicht einmal die Hälfte seines Budgets von 40 Millionen Dollar spielte er wieder ein. Stattdessen kassierte er saftige Verrisse. Die Zusammenführung von Exploitation-Meister John Carpenter und Klamauk-Komiker Chevy Chase in ein und demselben Film erschien vielen unpassend.

Memoirs of an Invisible Man isn't a movie. It's an identity crisis. The previews would have you believe it's a zany comedy. But the jokes are too far and few between. And if it's a comedy, why is John Carpenter directing it? This is the man who did Halloween... if Memoirs wants to get serious, why is Chevy Chase in the lead?“

war im Washington Post zu lesen. Das drückt ein ernsthaftes Erwartungsproblem aus: weder Carpenter- noch Chase-Fans bekamen, was sie sich erhofft hatten – und die meisten anderen waren überall dazwischen, außer im grünen Bereich. So sagte ein US-Kritiker, Carpenter sei offensichtlich von Aliens entführt und durch eine seelenlose Imitation seiner selbst ersetzt worden, die den Film gedreht habe. MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN wurde als Mediokrität, als Genre-Mix ohne Kohäsion, als selbstzweckhaftes Spezialeffekt-Spektakel ohne richtiges Drehbuch und Charaktere, als kommerzieller Ausverkauf geschimpft. Auch in Deutschland kam der Film größtenteils nicht viel besser weg. Aber Carpenter hat einmal über sich selbst gesagt: „In France, I'm an auteur; in Germany, a filmmaker; in Britain; a genre film director; and, in the USA, a bum.“ So wurde sein Film dann auch in den Cahiers du cinéma gelobt:

„Der Film wäre nichts ohne Carpenters Stil, der in meinen Augen unnachahmbar und blendend ist: eine Figur durchquert die Straße in einer Totalen, der unsichtbare Mann wird im Regen lichtdurchlässig, oder die langen Verfolgungsjagden in den verlassenen Straßen San Franciscos. So viele Einstellungen, die aus Carpenter einen der letzten großen Stilisten Hollywoods machen, im besten Sinne des Wortes. Er nimmt das Kino ernst, ohne jemals das Bewusstsein darüber zu verlieren, was für ein leichtgewichtiges Thema er hier behandelt. Das reicht, um Memoirs Of An Invisible Man zu einem der verspieltesten, anregendsten und intelligentesten Filme zu machen, die uns das amerikanische Kino in letzter Zeit hat sehen lassen.“

Das schrieb Nicolas Saada (später selber Filmemacher) im Leitmedium der französischen Filmkritik. Recht hat er: MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist einer der sträflich unterschätztesten Filme Carpenters, und meiner Meinung nach auch einer seiner besten. Es besteht (für mich) kein Zweifel: Dieser Film wurde von einem Meisterregisseur im vollsten Besitz seiner Kräfte und Könnerschaft realisiert – auch wenn dieser sich selbst von dieser faktischen Auftragsarbeit (ursprünglich sollte Ivan Reitman Regie führen) distanziert hat, als er ihr den üblichen Zusatz „John Carpenter‘s“ vor dem Titel verweigerte.

Mit einem Mix aus erstaunlicher Erzählökonomie und ausdrucksstarken Bildern arbeitet MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN sein rasantes Drehbuch ab. Keine Schnörkel, nichts Überflüssiges. Ein perfekter Aufbau, makellos durchgeführt. Vom ersten Bild (ein atemberaubender langsamer Kamera-Schwenk über die Skyline San Franciscos) bis zu den End-Credits. Der vielschichtige Umgang mit dem Protagonisten, also mit dem unsichtbaren Mann, ist wohl der größte Genie-Streich des Films: Carpenter macht das Unsichtbare sichtbar. Gerade das wird immer wieder bemängelt, weil das angeblich vor allen Dingen Ausdruck davon sei, dass man den Star des Films immer zeigen „müsse“. Man sähe halt Chevy Chase zu oft. Das kann sicherlich gut sein, und ganz bestimmt standen dahinter auch ganz pragmatische Budget-Überlegungen zur Einsparung von Spezialeffekten (MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN war mit 40 Mio. Dollar damals im gehobenen Budget-Mittelsektor – inflationsbereinigt wäre er heute sogar im hinteren Mittelfeld).

Das Zeigen oder Nichtzeigen des Protagonisten – und die vielen Zwischenstufen: partielles Zeigen oder Verfolgung der Kamera im „leeren“ Raum oder Zeigen von Nicks Einwirkungen oder Einnahme von Nicks point-of-view (letzteres auffällig verschwommen und weichgezeichnet – damit quasi als Traum codiert): damit spielt Carpenter sehr bewusst. Geschickt jongliert er mit dem Wissensvorsprung der Zuschauer, und den Wissenslücken der (sichtbaren) Film-Figuren. So erzeugt er in einer klassischen Hitchcock‘schen Weise Spannung, die sich des öfteren humorvoll entlädt. Darin ähnelt MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN dem vier Jahre zuvor entstandenen THEY LIVE, steht jedoch im Gegensatz zu noch früheren Filmen wie ASSAULT ON PRECINCT 13 oder HALLOWEEN, wo die meiste Zeit Wissensgleichheit zwischen Figuren und Zuschauer herrschte. Das Spiel mit dem Sichtbaren und dem Sichtbarmachen durchzieht den kompletten Film und fordert dabei den Zuschauer stets dazu auf, sich die Illusion der Unsichtbarkeit mitzudenken – MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN mag möglicherweise ein ziemlich dummer Film sein, aber zu keinem Moment hält er die Zuschauer für dumm.

Vielleicht demonstriert dies am deutlichsten die kleine und unscheinbare Szene mit dem Lieferanten: ein junger Mann bringt Lebensmittel vorbei, stellt diese auf den Küchentisch ab, wo er eine Abwesenheitsnotiz findet und daraufhin fängt er an, sich im Haus nach Wertgegenständen umzuschauen. Ist Nick abwesend? Wir wissen es zunächst nicht. Bis ein Kameraschwenk uns verrät, dass er da ist, den Lieferanten skeptisch beobachtet und ihm schließlich folgt. Als der Mann weiterhin in Wertgegenständen wühlt, flüstert ihm Nick von der Seite etwas zu, worauf dieser panisch flieht. Eine sehr schlichte und einfach, aber dennoch sehr effizient gefilmte Szene: ein eigener Act mit dramatischem Spannungsaufbau (der Lieferant weiß nicht, dass Nick da ist, aber wir) und eine kleine Szene, die in nicht einmal zwei Minuten sehr viel über die informellen, aber sehr mächtigen Kontrollfähigkeiten des unsichtbaren Nick.

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist zwar ein Multi-Genre-Film, leidet jedoch nicht eine Sekunde lang an Dissonanzen, wie sie zum Beispiel im oben genannten Zitat aus dem Washington Post erwähnt wurden: die Tonalitäten der verschiedenen Genres gehen flüssig ineinander über.

Natürlich ist MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN zunächst ein Science-Fiction-Film. Als solcher wurde er auch vielfach aufgrund seiner vermeintlichen Logiklöcher kritisiert: in einem Beitrag fragte jemand danach, warum man denn eigentlich den Dreck, der sich unter Nicks Fingernägeln sammelt, nicht sähe. Wie kleinlich. Natürlich sieht man den Mageninhalt Nicks, als er zum ersten Mal nach dem „Unfall“ isst (was zur vielleicht witzigsten Kotz-Szene der Filmgeschichte führt) – und später nicht mehr. Aber die Form folgt hier tatsächlich der Funktion: es geht in dieser ersten Szene darum, das Unbehagen eines Mannes mit seinem „neuen Körper“ darzustellen. Später hat er sich gewöhnt. Dogmatische Glaubwürdigkeitsfragen stünden hier nur der innerlich logischen Weiterentwicklung des Films im Wege.

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN auch ein Neo-Noir, und zu Beginn eine direkte Hommage an DOUBLE INDEMNITY: jeweils ein körperlich angeschlagener Mann zeichnet in einer Art Geständnis seine kürzlichen Erlebnisse auf. Und hinter dieser Aufzeichnung steht ein zunehmend desillusionierter Mann, der aus dem Off verbittert, fast zynisch seine eigenen Handlungen kommentiert. Inwiefern allerdings Alice als „femme fatale“ zu bezeichnen ist, sei dahingestellt (ich denke, eher nicht). Allerdings ist sie auch keine archetypische „Hawks‘ianische Frau“.

Vielmehr ist sie tatsächlich das Objekt einer Romanze, einer tragikomischen Liebesgeschichte, die den Film ebenso vorantreibt wie das Problem der physischen Unsichtbarkeit. Es ist eine Liebe auf den ersten Blick, die sich in eine Liebe des unmöglichen Blicks verwandelt: Nick kann Alice in die Augen schauen, aber nicht umgekehrt – zumindest nicht ohne Hilfsmittel. Die trotz aller Verrisse vielgelobte „Regen-Szene“ ist daher nicht nur ein toller und geradezu poetischer Special-Effect. Der Regen führt auch dazu, dass Alice dem unsichtbaren Mann erstmals richtig in die Augen schauen kann. Vielleicht ist das auch ein Wendepunkt in der Entwicklung der Nick-Figur.

Genauso wie dem Film vorgeworfen wurde, ein Science-Fiction-Film zu sein, wurde ihm auch vorgeworfen, eine Komödie zu sein und trotzdem von John Carpenter inszeniert worden zu sein. Ein hanebüchener Vorwurf: sind doch all seine Filme von Humor durchzogen (zugegeben der schwarzen und teils sehr brutalen Art) und war doch DARK STAR eine Art „gebrochene“ Slapstick-Komödie im Weltall. In MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN manifestiert sich der Slapstick in Form der schwierigen körperlichen und akrobatischen Herausforderungen, die das Leben als Unsichtbarer mit sich bringt. Herausforderungen wie zum Beispiel nachts ein Taxi zu bestellen (nämlich mit einem betrunkenen Mann als Hilfsmittel).

Freilich beherrscht Carpenter nicht nur Slapstick. Die Episode in Georges Haus lässt sich assoziativ als eine Art „gebrochene“ Woody-Allen-Komödie sehen: gutbürgerlich-neureiche Mittelschicht lässt sich bei einem Glas Wein über allgemeine und persönliche Befindlichkeiten aus, und diskutiert dabei über das Schicksal einer abwesenden Person, führt einen Diskurs über sie, na ja: lästert hauptsächlich über sie und verrät damit die allgemeine Flüchtigkeit der zwischenmenschlichen Bindungen, die Nick bis zum Unsichtbarsein pflegte – nur ist eben die diskutierte Person nur scheinbar abwesend.

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist nicht zuletzt auch eine milde Yuppie-Satire. Als Finanzanalyst ist Nick Halloway eigentlich ein eher unwahrscheinlicher Held für einen Film des dezidiert linken Alt-68er-Regisseurs Carpenter. In THEY LIVE (übrigens ein weiterer sträflich unterschätzter Film des Meisters) wäre er wahrscheinlich einer der kapitalistischen Aliens in Nadelstreifen-Tarnanzug gewesen. Zu Beginn hat Nick einen hervorragend bezahlten Job, eine schicke Wohnung, einen leichten und oberflächlichen Lebensstil. Er besucht regelmäßig einen Gentleman-Club für Neureiche, die sich ihres sozialen Status selbst vergewissern wollen (und wo der Barkeeper wohl Billig-Wodka in teuere Flaschen umfüllt). Viel Schein und wenig Sein. Im Rest des Films dreht sich diese Situation allmählich um. Nick hat seinen ganzen Schein verloren – wortwörtlich. Und findet sein Sein. Aber nicht sofort, denn das wäre ja zu einfach. Nach dem „Unfall“, in einer Situation existientieller Bedrohung, flieht er zunächst an bekannte Orte und denkt weiterhin den Kategorien, die er kennt. Daher kommt auch seine Absicht, sozial zurückgezogen ein Leben als millionenschwerer Börsenspekulant aufzubauen (so endet offenbar auch die gleichnamige Romanvorlage H. F. Saints aus dem Jahr 1988). In Georges Haus, und als er merkt, was Alice ihm bedeutet, denkt er schließlich doch um, und wandelt sich. Wird zum Menschen – auch „ohne“ Körper, ohne Schein. Aus dem Finanzanalysten Nick ist im Verlauf des Films ein Mensch geworden, der am Ende den 68er-Traum des „Aussteigers“ lebt (freilich in den Schweizer Alpen und nicht auf der „üblichen“ einsamen Insel). MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN glaubt an die Veränderlichkeit des Menschen, oder zumindest mancher Menschen, und ist damit die mildere „humanistische“ B-Seite des „zynischen“ THEY LIVE, wo die Kategorie (Un-)Sichtbarkeit bereits eine wichtige Rolle spielte.

Jetzt sind wir eigentlich schon bei der Frage, inwiefern der Film mehr als nur eine Sci-Fi-meets-Agenten-Gaudi ist. Abwegige Deutungsangebote gefällig? Wie wäre es damit: ein Film über prekäre Männlichkeit! Immer wieder entspinnt MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN fantastische Bedrohungsszenarien um die Hoden der männlichen Protagonisten. Verliert Nick mit seiner Sichtbarkeit auch seine Männlichkeit? Eine seiner ersten und dringendsten Ängste (er äußert sie, als er am „Unfallort“ in Ohnmacht fällt und kurze Zeit später abtransportiert wird) besteht jedenfalls darin, dass seine Eier bald in einer Petrischale landen könnten (O-Ton). Wem das nicht deutlich genug ist, sieht diese Angst in Nicks Traum manifestiert: sein Ruhmes-Traum (er ist sichtbar und ein allgemein beliebter Musik- und Sportstar) verwandelt sich in ein Alptraum, als Nick sich vor Alice auszieht und dabei offenbart, dass sein Geschlecht (noch?) unsichtbar ist. Jenkins (der am Ende dieses Traums auch plötzlich auftaucht) denkt ebenfalls in Hoden-Kategorien und bedroht seinen formellen Vorgesetzten Warren Singleton damit, dessen Testikeln in das Mittagessen seines bevorzugten Schlägers Morrissey zu verwandeln. Jedenfalls hat Nick, nachdem er seine Identität als oberflächlicher Yuppie abgelegt hat, schließlich seine Männlichkeit wieder gefunden und ein Kind gezeugt (der vielgescholtene Epilog erscheint so durchaus konsistent mit dem vorangegangenen).

Ohne MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN all zu sehr in ein Korsett der Aktualität pressen zu wollen: er ist sicherlich auch ein Film über die Möglichkeiten und Gefahren staatlicher Überwachung. Schließlich zeigt er die Konfrontation zwischen einem Agenten, der alles komplett unter Kontrolle und Überwachung halten möchte (es aber nicht kann und deshalb regelmäßig zu tödlicher Gewalt greift), und einem Unsichtbaren, der kraft seines physischen Zustands manchmal freiwillig, die meiste Zeit aber unfreiwillig zum Überwacher wird (und dem wir dann bei diesem Überwachen auch zusehen können, dürfen und müssen). Ein Film der überkreuzten Überwachungen, sowohl auf staatlicher wie auf privater Ebene. In letzterer verwandelt sich die besondere Beobachtungsgabe in Voyeurismus, und in diesem Bereich ist Nick dann auch durchaus überwachungsfreudiger: als er sich in Alices Zimmer befand und sie sich auszog, habe er sich bestimmt die Hände vor die Augen gehalten, versichert ihr Nick...

Howard Hawks abgöttisch zu lieben hindert nicht daran, Alfred Hitchcock ausgiebig zu huldigen und bei Carpenter sind das stets zwei Ergänzungsoptionen, und keine Gegensätze. MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist nicht nur ein sträflich unterschätzter Film, sondern auch eine vergessene Perle unter den vielen Hitchcock-Hommagen-Film dieser Welt. Er wurde schon als Carpenters persönlicher NORTH BY NORTHWEST bezeichnet, mit Chevy Chase als Cary Grant, Daryl Hannah als Eva Marie Saint und Sam Neill als James Mason. Die Darsteller-Analogien passen vielleicht weniger gut als die Ähnlichkeiten in Erzählform und Geschichte: Carpenters Film ist ebenso eine furiose Hetz-Jagd nach einem (hier: wörtlich) unsichtbaren Mann. Wie in einem guten Hitchcock ist die Hauptfigur kein Held, sondern ein „gewöhnlicher“ Mann, der in widrige Umstände gerät und von Kräften verfolgt wird, die er nicht kontrollieren kann. Wie oft bei Hitchcock gibt auch in MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN einen (sexuell aufgeladenen) Voyeurismus. Vielleicht ist es kein Zufall, dass in seinem unterschätztesten Film Carpenter eine Einstellung aus einem oft vergessenen, weil angeblich so „untypischen“ Hitchcock-Film, namentlich THE WRONG MAN, nachgestellt hat: das Gesicht einer unschuldigen Person verliert sich im Gesicht eines Verbrechers. Bei Hitchcock ist es ein Szenen-Übergang, bei Carpenter eine reflektierende Zugabteil-Scheibe. (Die Einstellung muss nicht nur als Spielerei abgetan werden: verschmelzen doch die Gesichter zweier Personen, die auf sehr dringliche, freilich aber verschiedene Weise Nick begehren)


Bei allen Meriten, die MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN sowieso hat, sollte man nicht vergessen, dass er auch ein hervorragender Schauspieler-Film ist. Den Unkenrufen zum Trotz: Chevy Chase passt perfekt in der Rolle als unsichtbarer Mann und die Chemie mit Daryl Hannah hat zumindest mich überzeugt. Die Unsicherheit, die Hannah teilweise ausstrahlt, kann man natürlich als Schwäche kritisieren, oder aber als glaubwürdige Erdung der Alice-Figur sehen (die eben keine unnahbare „Hitchcock-Blondine" ist, sondern eine Frau mit beiden Füßen auf dem Boden). Sam Neill, damals noch relativ unbekannt – JURASSIC PARK kam ein Jahr später raus –, spielt einen herrlich schmierigen Bösewicht, dem man seine Charme-Offensiven fast glauben möchte: dieses „fast“, das immer durch seine unangenehme und bedrohliche Erscheinung zerstört wird, kriegt er wunderbar hin! Seit jeher komme ich persönlich auch nicht darum herum, Michael McKean in der Rolle George Talbots herrlich komisch zu finden. Nur durch seine Äußerlichkeit: seine entfernte Ähnlichkeit mit einem gewissen langjährigen Premierminister Großbritanniens ist faszinierend.

Vier Facetten des Gregory Paul Martin
Das schauspielerische Sahnehäubchen des ganzen Films bildet jedoch der charismatische Gregory Paul Martin in seiner Rolle als Richard. Diese Figur wird vom Talbot-Ehepaar zusammen mit Alice zu einem Kurz-Urlaub in Georges Wochenendhaus eingeladen – offenbar ist der Hintergedanke dabei, dass Richard eine potentiell gute Partie für Alice sein könnte. Der Aufschneider, der große Töne schwingt, sich gerne in den Mittelpunkt stellt und für absolut toll hält, denkt das wohl auch. Aber daraus wird nichts. Denn schnell wird deutlich, dass sich hinter der Fassade eine gebrochene und fast lächerliche Figur verbirgt. Ein Style-Proll als Yuppie bzw. Yuppie als Style-Proll, dem Carpenter in THEY LIVE wahrscheinlich gnadenlos Nada auf den Hals gehetzt hätte, hier aber letztendlich doch irgendwie sympathisch ist (wenn auch nicht aus den Gründen, die Richard selbst denkt). Es ist eine ziemlich undankbare Rolle, die der Brite Gregory Paul Martin mit großer Bravour und einer „powerful commanding voice“ (O-Ton imdb: sehr treffend!) spielt. Im richtigen Leben scheint Martin ebenfalls ein Original zu sein. Er ist der Sohn des Musik-Produzenten und von manchen Leuten als „fünfter Beatle“ bezeichnete George Martin und ist von Haus aus Theaterschauspieler. Er besuchte Klassen zusammen mit Alan Rickman und stand auf der Bühne neben Daniel Day-Lewis und Ian McKellen. Zu sehen war er auch vor allen Dingen in US-amerikanischen TV-Serien. Daneben hat er auch einige Drehbücher verfasst, ein Bio-Lebensmittelunternehmen lanciert und sich als Astrologe betätigt (ist an einer Stelle die Aufforderung von Georges Frau an Richard, sein Ouija-Brett zu holen und eine Scéance zu halten, vielleicht eine Anspielung darauf?).

Was wäre aber auch ein Carpenter-Film ohne Carpenters Musik? Auch auf diese Frage hat MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN eine klare Antwort: es geht auch ohne den musikalischen Beitrag des Meisters selbst. Komponistin Shirley Walker hat, wenn man imdb glauben will, eine Premiere gefeiert: es war der erste Hollywood-Film mit einem komplett von einer Frau komponierten Orchester-Soundtrack. Später komponierte sie für Carpenter auch die Musik zu ESCAPE FROM L.A. und erreichte ein wesentlich größeres Publikum mit der FINAL DESTINATION-Reihe. Elektronischer Minimalismus à la früher Carpenter war ihr jedoch nicht gänzlich unbekannt: Ihren ersten Film-Credit hat sie als Synthesizer-Spielerin für APOCALYPSE NOW. Wenn sie nicht komponierte, wirkte sie als Dirigentin bei anderen Scores mit (z. B. Burtons BATMAN, BLACK RAIN, DAYS OF THUNDER, CHILD‘S PLAY 2, EDWARD SCISSORHANDS, BATMAN FOREVER). 2006 verstarb Walker mit nur 61 Jahren. Ihr wunderbarer Score für MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN bringt einen Hauch Pathetik, vor allen Dingen unterstützt er aber trefflich die Spannung der Bilder. Er ist dabei weniger hart und rhythmisch pointiert als Bernard Herrmanns Hitchcock-Arbeiten.

Es ist gut möglich, dass ich nunmehr bei MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN schon im zweistelligen Sichtungsbereich liege. Mit jeder weiteren Sichtung verliert der Film nicht nur nichts, sondern gewinnt vielleicht sogar an Wertschätzung meinerseits. Unter anderem diese wollte ich mit dieser Besprechung auch ausdrücken (und die „Aufzeichnungen zu einem verkannten Meisterwerk“ als potentielle Reihe im Blick behalten). Sie ist auch ein Aufruf dazu, gegenüber Sick Boys Lebenstheorie aus TRAINSPOTTING („at one point you've got it, then you lose it, and it's gone forever“) skeptisch zu sein und mit offenen Augen vermeintlich schlechte und nichtige „Spätwerke“ zu entdecken.


MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist zwar wie gesagt kein allgemein geliebter Film, aber dennoch in zahlreichen DVD-Editionen in Deutschland, Frankreich, UK und USA gut erhältlich.

Freitag, 21. Februar 2014

Das Salz des Meeres

Margot Benacerraf und ARAYA

REVERÓN
Venezuela 1952
Regie: Margot Benacerraf

ARAYA
Venezuela/Frankreich 1957/59
Regie: Margot Benacerraf
Darsteller: Familie Pereda, Familie Salazar, Familie Ortiz, weitere Laiendarsteller
Sprecher: Laurent Terzieff (franz. Fassung), José Ignacio Cabrujas (span. Fassung)

ARAYA
Das filmische Œuvre der 1926 in Caracas geborenen und dort aufgewachsenen Margot Benacerraf ist ausgesprochen übersichtlich: Gerade mal zwei fertiggestellte, dazu ein unvollendeter und leider verschollener Film, den sie mit Pablo Picasso drehte. Und doch nimmt sie in der venezolanischen - und darüber hinaus in der lateinamerikanischen - Filmgeschichte einen besonderen Rang ein. - Araya ist eine abgelegene Halbinsel im Nordosten Venezuelas, nicht allzu weit von Trinidad entfernt. Doch karibisches Flair gibt es hier nicht. Im Gegenteil - es ist ein öder, von der Sonne ausgedörrter Landstrich, in dem außer Kakteen, harten Gräsern und etwas Gehölz nichts wächst. Doch es gibt einen natürlichen Schatz: In einer flachen Lagune entsteht durch Verdunstung von Meerwasser Salz in rauen Mengen. Die Spanier entdeckten den Ort um 1500, und damals, als Salz mit Gold aufgewogen wurde, wurden hier enorme Reichtümer abtransportiert. Zum Schutz vor Piraten errichteten die Spanier eine gewaltige Festung - angeblich die zweitgrößte in der ganzen Karibik -, und Araya war (als einziger Ort im Gebiet des heutigen Venezuela) auf allen Karten Westindiens verzeichnet. Die Festung ist längst eine Ruine, doch das Salz wird immer noch abgebaut - und zwar 1957, als ARAYA gedreht wurde, mit weitgehend denselben Methoden wie seit 450 Jahren. Margot Benacerraf hat ihren Film über die Menschen und mit den Menschen gedreht, die an diesem unwirtlichen Ort leben, und sie hat ihnen damit ein Denkmal gesetzt.

ARAYA: Wir befinden uns nicht in Gizeh, sondern in Venezuela
Am modernsten war damals noch der Abtransport des Salzes: in Säcken auf den Ladeflächen offener Trucks zu einem nahegelegenen Hafen. Doch der Rest war Handarbeit. Das Salz wurde in Form großer poröser Platten mit den Händen direkt aus dem nicht einmal knietiefen Wasser der Lagune geholt, in kastenförmigen Kähnen verstaut, mit Stangen zu grobkörnigen Kristallen zerstoßen und noch einmal mit Meerwasser überspült, um es zu reinigen. Dann wurde es an Land gebracht und zum Trocknen ausgebreitet. Nach einem Tag schließlich wurde es mit Schubkarren und auf den Köpfen getragenen Körben zu teilweise riesigen Pyramiden aufgeschichtet. Die kleinsten wirtschaftlichen Einheiten dabei waren die Familien der Salzarbeiter (Salineros), die jeweils auf eigene Rechnung arbeiteten. Dabei gab es eine Arbeitsteilung nach verschiedenen Schichten, ein Teil der Arbeit wurde nachts verrichtet.

ARAYA
ARAYA ist keine Dokumentation im engeren Sinn, bei der eine vorgefundene Realität einfach abgefilmt wird, sondern ein nach einem detaillierten Drehbuch sorgfältig inszenierter Film. Schon vor Beginn der Dreharbeiten verbrachte Margot Benacerraf einige Zeit vor Ort, um sich mit den Bedingungen vertraut zu machen und das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, dann schrieb sie das Drehbuch, das dem Verlauf von 24 Stunden an einem der immer gleichen Tage folgt. Es beginnt mit einer kurzen Exposition, in der die Elemente - Himmel, Meer, die trockene Erde - wortlos vorgestellt werden; in der Mitte des Films (zugleich Mittagszeit des Tages) und am Ende gibt es vergleichbare Sequenzen. Danach folgt eine kurze Einführung in die Geschichte des Ortes, und der Rest des 82-minütigen Films ist einem Tag im Leben der Bewohner gewidmet, von 6 Uhr morgens bis in die Nacht hinein. Benacerraf bedient sich dabei dreier Familien aus drei verschiedenen Dörfern der Halbinsel.

ARAYA
Beltrán Pereda und seine Familie aus Manicuare verrichten die Nachtschicht, die bis 9 Uhr vormittags hinein dauert, tagsüber schlafen sie dann. Die jüngsten Söhne der Familie, die auch schon mitarbeiten müssen, sind noch keine 10 Jahre alt. Beltráns Schwester Luisa ist die beste Töpferin im Ort - und wie die anderen Frauen der Gegend hat sie noch nichts von der Töpferscheibe gehört. Dámaso Salazar und seine Söhne aus dem Dorf Araya am anderen Ufer der Lagune arbeiten tagsüber, von Sonnenauf- bis -untergang; Dámasos Frau Petra ist am Fuß der Pyramiden beschäftigt, wo das Salz mit Schaufeln in die Säcke befördert und abgewogen wird. In El Rincón, das nicht an der Lagune, sondern am offenen Meer liegt, leben keine Salineros, sondern Fischer, darunter Adolfo Ortiz vom Boot La Sensitiva. Auch er arbeitet hauptsächlich nachts. Adolfos Frau Isabel zieht tagsüber in den Dörfern der Salineros von Haus zu Haus, um die gefangenen Fische zu verkaufen; abends muss sie noch ins Gestrüpp, um den knorrigen Bäumen etwas Brennholz abzuringen. Ein unbeschwertes Leben hat (noch) Carmen, die kleine Tochter von Adolfo und Isabel. Sie sammelt am Strand Muscheln und Korallen, um damit mit ihrer Großmutter Gräber auf dem Friedhof zu schmücken - Blumen wachsen hier nirgends. Die Fischer von El Rincón und die Salineros leben in einer Symbiose - die einen beschaffen die Hauptnahrung für alle, die anderen liefern das Salz, mit dem die Fische haltbar gemacht werden. Autark ist die Gemeinschaft dennoch nicht: Trinkwasser wird in regelmäßigen Abständen von einem Tankwagen angeliefert. Verteilt wird es unter Aufsicht der ältesten Frau im Dorf nach einem Schlüssel, der sich nach der Anzahl der Familienmitglieder bemisst. ARAYA folgt in einem sorgfältig abgewogenen Rhythmus dem Lauf des Tages, zwischen den drei Familien wechselnd. Die nötigen Informationen übermittelt der Film nicht durch Dialoge, sondern mittels eines in sehr poetischer Sprache gehaltenen Off-Kommentars.

ARAYA: Petra Salazar beim Wiegen des Salzes
Gegen Ende des Films bricht die Dunkelheit herein. Adolfo Ortiz und die anderen Fischer stechen wieder in See, die Salazars gehen zu Bett, und für die Peredas beginnt eine neue Schicht, wodurch sich der Zyklus schließt. Als Zuschauer zieht man jetzt vielleicht schon ein Fazit dieses wunderbaren Films - da wird man von einer Serie von Sprengungen aus seiner Kontemplation gerissen, und schwere Baumaschinen rücken ins Bild. In Araya wird das Salz zukünftig mit industriellen Methoden abgebaut werden. Wie wird sich das auf die Lebensweise der alteingesessenen Bevölkerung auswirken? Werden die Salineros ein leichteres Leben haben, und werden alte Bräuche und die seit Jahrhunderten tradierten Lieder überleben? Das Voice-over formuliert das am Ende des Films noch als Frage, aber natürlich hat die Geschichte längst die Antwort gegeben: ARAYA beschreibt eine untergegangene Welt. Die Industrialisierung hat der Gegend keinen allgemeinen Wohlstand beschert, nur ein kleiner Teil der Männer wurde weiterhin beschäftigt, und die meisten sind weggezogen, um sich woanders Arbeit zu suchen. Die Erträge an Salz sind auch nicht so gestiegen wie seinerzeit erhofft: Ein Teil der damals errichteten Maschinen steht längst still und wird vom Salz zerfressen. Allerdings muss man nicht allen Aspekten dieser vergangenen Welt nachtrauern. Der Kommentar des Films mag poetisch sein, aber romantisch verklärend ist er nicht. Es wird sehr deutlich gemacht, dass es sich bei der Arbeit der Salineros um eine nicht endende Plackerei handelt. Der Schweiß floss in Strömen, der intensive Kontakt mit dem Salz führte häufig zu Wunden und Hautgeschwüren, und die Entlohnung war mehr als dürftig. Sozialkritisch im engeren Sinn ist ARAYA aber nicht. Dass es irgendwo auch Großhändler oder Konzerne geben musste, die durch das Schuften der Salineros reich wurden, kann man sich zwar denken, aber zur Sprache gebracht wird es im Film nicht. Es hätte auch schlecht ins Konzept eines poetischen Filmessays gepasst, der vor allem die Würde der Menschen von Araya betont.

ARAYA
Wie schon angemerkt, ist ARAYA ein sorgfältig durchinszenierter Film. Kaum eine Szene wurde "einfach so" abgefilmt, sondern immer gab es Regieanweisungen für die Darsteller. Bei den Familien hat Margot Benacerraf auch ein bisschen manipuliert: So war Carmen nicht wirklich die Enkelin von Großmutter Salazar, und Fortunato Pereda und eine junge Frau, die im Film ein Liebespaar sind, konnten sich in Wirklichkeit nicht ausstehen. ARAYA steht somit ein bisschen zwischen den Genres. An Vorläufern kann man einerseits Dokumentationen wie Luis Buñuels LAS HURDES und die Filme von Robert Flaherty ausmachen, insbesondere Flahertys MAN OF ARAN, andererseits mit Laiendarstellern gedrehte neorealistische Spielfilme wie etwa Viscontis LA TERRA TREMA. Margot Benacerraf hat sich wiederholt dagegen gewehrt, ARAYA als Dokumentation zu bezeichnen. Dem kann man aber nur zustimmen, wenn man diesen Begriff sehr eng definiert. Beispielsweise hat gerade Flaherty, der oft als Vater des Dokumentarfilms bezeichnet wird, auch kräftig manipuliert und inszeniert. In MAN OF ARAN etwa hat er aus echten Inselbewohnern eine fiktive Familie zusammengestellt, die nach seinen Regieanweisungen agiert, und er hat die Männer von Aran sogar animiert, eine seit vielen Jahren aufgegebene Tradition (nämlich die Jagd auf Riesenhaie von Ruderbooten aus) für den Film wieder aufzunehmen. In den sich steigernden Spannungsbögen dieses Films ist auch eine sorgsame Konstruktion des Gesamtaufbaus erkennbar. Wenn man akzeptiert, dass Dokumentarfilme immer ein gewisses Maß an Manipulation enthalten, mit einer großen Bandbreite im Ausmaß - Direct Cinema und Cinéma vérité am einen Ende des Spektrums, und Flaherty am anderen -, dann ist auch ARAYA ein Dokumentarfilm, natürlich am Flaherty-Ende. An Nachfolgern von ARAYA ist vor allem Glauber Rochas erster Spielfilm BARRAVENTO zu nennen. Rocha war 1959 als Journalist bei den Festspielen in Cannes, wo ARAYA Premiere hatte, anwesend. Er bewunderte den Film sehr und befreundete sich mit Benacerraf. Später hat Rocha mehrfach betont, dass ARAYA als eine Inspiration für das brasilianische Cinema Novo gedient hat. Ich fühlte mich auch etwas an Kaneto Shindōs DIE NACKTE INSEL erinnert, auch wenn der meines Wissens nicht von ARAYA beeinflusst wurde.

ARAYA
Margot Benacerrafs Eltern waren sephardische Juden aus dem Teil Marokkos, der spanisches Protektorat war. Nicht weniger als drei ihrer Onkel waren mit Französinnen verheiratet, deshalb lebte ein Teil ihrer Verwandtschaft in Frankreich. Der Medizin-Nobelpreisträger Baruj Benacerraf und der Mathematiker und Philosoph Paul Benacerraf waren ihre Cousins aus diesem Zweig der Familie. Wie schon erwähnt, wuchs sie in Caracas auf, wo sie ein Gymnasium und die Universität besuchte. In ihrer Jugend galt ihr Interesse der Literatur. 1944, als sie noch in die Schule ging, gewann sie bei einem staatenübergreifenden lateinamerikanischen Essay-Wettbewerb zum Thema "Einheit Lateinamerikas" den ersten Preis. An der Universität, wo das intellektuelle Klima stark von spanischen Exilanten, die das Land nach dem Bürgerkrieg verlassen hatten, geprägt war, schrieb sie ein Theaterstück mit dem Titel Creciente, das von Federico García Lorca beeinflusst war. Ihre Professoren reichten das Stück ohne ihr Wissen wiederum bei einem Wettbewerb ein, der von einer Regierungsstelle, der Universität und der Columbia University in New York veranstaltet wurde, und wieder gewann sie den ersten Preis. Jetzt hätte das Stück eigentlich in einer Auflage von 5000 Exemplaren veröffentlicht und am Nationaltheater aufgeführt werden sollen, doch das zerschlug sich, weil in Venezuela ein Staatsstreich stattfand und vorübergehend das Chaos ausbrach. Doch die Columbia University hatte als ihren Beitrag zum Preis ein dreimonatiges Stipendium spendiert, das dann sogar noch verlängert wurde. So machte sich Benacerraf also im Frühling 1949 auf nach New York, und ihr dortiger Dozent war kein Geringerer als Erwin Piscator, der an der New School for Social Research einen Dramatic Workshop initiiert hatte. Piscator förderte die gegenseitige Durchdringung von Film und Theater, aber Benacerraf, die aus den Kinos ihrer Heimat nur billige Importware aus Hollywood kannte, blieb zunächst auf Theater fixiert. Als sie aber einer der Filmstudenten, die im Stock über den Dramastudenten untergebracht waren, als Darstellerin für seinen Abschlussfilm requirierte, gab sie ihr Sträuben auf, begann sich für Film zu interessieren und begann auch, die technischen Grundlagen des Filmens aufzuschnappen. Eine Vorführung von Marcel Carnés LES ENFANTS DU PARADIS, die die Filmstudenten organisiert hatten, überzeugte sie schließlich restlos davon, das Filme Kunstwerke sein können.

Margot Benacerraf, l.u. mit Picasso in Vallauris (mit freundl. Genehmigung / courtesy of Milestone)
Als sie nach Abschluss ihres Studiums mit ihren Eltern auf Verwandtenbesuch in Paris war, wurde Benacerraf auf die dortige Filmhochschule IDHEC aufmerksam, bewarb sich, und wurde nach einer selektiven Aufnahmeprüfung angenommen, als eine von zehn Ausländern und eine von drei Frauen unter lauter Männern. Später bekannte Namen dieses IDHEC-Jahrgangs waren der Regisseur Robert Enrico und der Cutter Henri Lanoë. Das erste Jahr an der Filmhochschule, das vom November 1950 bis Juni 1951 dauerte, verlief enttäuschend, weil es nur Theorie gab - dem finanziell schlecht ausgestatteten Institut fehlten die Mittel zur praktischen Ausbildung der Studenten. Benacerraf, die ja schon eine geisteswissenschaftliche Universitätsausbildung hatte, wollte eigentlich die technischen Grundlagen lernen. So langweilte sie sich und schwänzte oft die Vorlesungen, um sich lieber Filme in den Kinos anzusehen. In den Ferien im Sommer 1951 war sie wieder in Caracas, und dort lief sie dem französischen Kulturattaché Gaston Diehl über den Weg, der ein Freund von Alain Resnais war und an einigen von Resnais' frühen Kurzfilmen über Maler und Bildhauer als Autor und bei VAN GOGH auch als Coproduzent beteiligt war. Nun wollte Diehl einen Film über den exzentrischen venezolanischen Maler Armando Reverón machen lassen, eigentlich von Resnais, aber der war mit einem anderen Projekt beschäftigt und lehnte ab. Und so bot Diehl Margot Benacerraf die Regie an.

ARAYA
REVERÓN ist in mancher Hinsicht schon ein Modell im Kleinen für ARAYA. Armando Reverón, der in seinen späten Jahren psychisch krank war, hatte sich schon in den 20er Jahren mit seinem Modell Juanita, die auch seine Lebensgefährtin und ab 1946 seine Frau war, in eine abgelegene Einsiedelei an der Küste zurückgezogen, um dort zu leben und zu malen. Der Ort war nicht ganz so abgelegen wie Araya, aber von Caracas aus nur umständlich zu erreichen. 1951 hatte Reverón schon einen Ruf als El Loco de Macuto (der Verrückte von Macuto). Wie bei ARAYA verbrachte Benacerraf auch hier zunächst einige Zeit bei Reverón und Juanita, um das Vertrauen des Malers zu gewinnen, dann schrieb sie ein detailliertes Drehbuch für den 23-minütigen Film. Für den Mittelteil des Films, der Reveróns Leben und Werk rekapituliert, fotografierte Benacerraf viele seiner Gemälde, und das war schwieriger, als es sich anhört. Reverón war damals ein bekannter Maler, aber noch kein Klassiker, dessen Werke im Nationalmuseum hingen wie heute. Benacerraf musste die Bilder mühsam bei Privatsammlern ausfindig machen, die sie dem Maler oft für ein Butterbrot abgekauft hatten, und mit deren Einverständnis fotografieren. Reverón identifizierte und datierte dann die Werke anhand der Fotos. Das erste und letzte Drittel des Films kreist Reverón sozusagen ein, indem sich die Kamera in zyklischen Bewegungen an das Anwesen und an den Maler selbst annähert und ihn schließlich beim Anfertigen eines Selbstportraits beobachtet. Auch hier folgt die Handlung (wenn man sie so nennen darf) dem Zyklus eines einzigen Tages, und wie die Salineros nahm auch Reverón, der von Film überhaupt keine konkrete Vorstellung hatte, Benacerrafs Regieanweisungen entgegen (und auch hier besteht Benacerraf darauf, dass es sich um keinen Dokumentarfilm handelt). Die eigentlichen Dreharbeiten, bei denen nur Benacerraf und ihr aus Jugoslawien stammender Kameramann Boris Doroslovacki (oder Doroslawaski - die Quellen sind sich nicht einig) zugange waren, waren in zwei Wochen erledigt, trotz der widrigen logistischen Gegebenheiten an diesem Ort, und obwohl Henry Nadler, der von Diehl vermittelte Produzent des Films, sehr mit Filmmaterial knauserte.

REVERÓN: Der Meister malt ein Selbstportrait. Im linken Spiegel sind zwei der Puppen zu sehen.
REVERÓN ist auch eine essayistische Erkundung des Verhältnisses von Wahn und Kreativität, und dafür war Armando Reverón eine geeignete Wahl. Neben seiner Malerei hatte er auch lebensgroße und für ihn beseelte Puppen angefertigt, und in der letzten Nacht vor der Abreise, nachdem Reverón das Selbstportrait vollendet hatte, kam es zu einer denkwürdigen Begebenheit: Benacerraf sollte nach Reveróns Anleitung im Kostüm einer Priesterin den individuell gestalteten Puppen, die auch jeweils einen Namen hatten, "ihre Sünden vergeben" - eine bizarre Mischung aus Wahngebilde, mystischer Zeremonie und künstlerischer Performance. Und Boris Doroslovacki sollte das alles mitfilmen, nach Reveróns Wunsch hätte das den Schluss des Films bilden sollen - doch auf Benacerrafs Anweisung hin tat der Kameramann nur so, als ob er filmte, weil kaum noch Filmmaterial übrig war und für den nächsten Tag noch ein paar Außenaufnahmen geplant waren, und auch, weil sie nicht selbst in ihrem Film auftreten wollte. Später hat sie bedauert, dass diese surreale nächtliche Zeremonie nicht auf Film gebannt wurde. Immerhin gibt es im Film expressive Aufnahmen der Puppen, die Benacerraf und Doroslovacki in einer der Nächte davor ohne Reveróns Anwesenheit machten. - Es gibt noch eine Parallele zwischen ARAYA und REVERÓN: Auch letzterer Film wurde gerade noch rechtzeitig gedreht. 1952 wurde Armando Reverón mit einem akuten Schub von Schizophrenie in eine psychiatrische Klinik eingeliefert und mit Elektroschocks behandelt, 1954 ist er gestorben.

ARAYA
Das Ende der Dreharbeiten war im Dezember 1951, und Benacerraf stand jetzt unter Zeitdruck, weil das zweite Jahr bei IDHEC bereits begonnen hatte und sie schleunigst zurückkehren musste, um nicht ausgeschlossen zu werden. Sie ging also zurück nach Paris, holte den versäumten Stoff nach und machte ihr Examen, und erst danach ging sie (ebenfalls in Paris) an Schnitt und Vertonung von REVERÓN. Einen wesentlichen Beitrag zur Wirkung des Films leistet der dicht strukturierte Soundtrack, für den Benacerraf den französischen Komponisten Guy Bernard gewinnen konnte. Teils exotische Hintergrundgeräusche, die Benacerraf mit einem tragbaren Tonbandgerät vor Ort aufgenommen hatte, werden sehr geschickt mit Bernards Musik gemischt. Im November 1952, fast ein Jahr nach dem Dreh, hatte REVERÓN schließlich Premiere auf einem Festival für Kunst-Dokumentationen, das Gaston Diehl organisiert hatte, und gewann dort den ersten Preis, und im Juni 1953 lief er unter großem Zuspruch des Publikums auf der 3. Berlinale. Festivalleiter Alfred Bauer konnte kaum glauben, dass diese kleingewachsene Frau diesen Film gedreht hatte - er dachte, sie sei die Tochter des Regisseurs, und er bat nach der Vorstellung "Herrn Benacerraf" auf das Podium. Berlin öffnete viele Türen. Benacerraf hatte nicht nur ihr erstes Fernsehinterview (für den NWDR, der damals auch noch für Berlin zuständig war), es waren auch André Bazin und Lotte Eisner anwesend, die begeisterte Artikel in Le Monde bzw. Cahiers du cinéma schrieben, und durch Eisners Vermittlung lernte Benacerraf Henri Langlois kennen, den Mitgründer und Leiter der Cinémathèque française. Die beiden wurden gute Freunde, und mit Langlois' Hilfe wurde REVERÓN auch in der Belgischen Cinémathèque in Brüssel und bei diversen anderen Gelegenheiten vorgeführt.

ARAYA
1953 erhielt Benacerraf durch ihre vielfältigen Kontakte zu Exilspaniern eine Einladung ins Atelier von Pablo Picasso in Paris, und Picasso wiederum lud sie ins südfranzösische Vallauris in der Nähe von Antibes ein, wo er regelmäßig Zeit mit Malen und Töpfern verbrachte. Picasso organisierte in Vallauris eine Freiluftaufführung von REVERÓN, war begeistert, und lud Benacerraf ein, einige Wochen in dem Ort zu verbringen, um einen Film mit ihm zu drehen. Nachdem es schon einige Filme über ihn gab, sollte es jetzt ein Film mit ihm sein, eine Art filmisches Tagebuch. Die Dreharbeiten im Sommer fanden in sehr lockerer und familiärer Atmosphäre statt und standen kurz vor dem Abschluss, doch dann wurde Picasso im September 1953 von seiner Lebensgefährtin Françoise Gilot mitsamt den gemeinsamen Kindern Claude und Paloma verlassen. Die gute Stimmung war dahin, und Picasso hatte anderes im Sinn als den Film. Nachdem Benacerraf einige Zeit untätig herumsaß, beschloss sie, vorerst nach Paris zurückzukehren, obwohl sie von Guy Bernard, der schon länger mit Picasso befreundet war (er hatte auch Resnais' GUERNICA vertont), gewarnt wurde, dass das das Ende des Films bedeuten könnte - und so kam es dann auch. Die verwendete Kamera hatte Picasso gehört, der auch das Filmmaterial bezahlt hatte, deshalb blieben die Aufnahmen bei ihm. Natürlich hatte Benacerraf vor, in absehbarer Zeit zurückzukommen und den Film fertigzustellen, aber die Gelegenheit dazu ergab sich nicht, und als Picasso im Lauf der Jahre mehrmals umzog, verlor sich irgendwann die Spur der Aufnahmen. Nach dem Selbstmord von Picassos zweiter Frau Jacqueline Roque im Jahr 1986 schwanden die Chancen, das Material doch noch aufzufinden, und es blieb bis heute verschollen.

ARAYA
1954 verbrachte Benacerraf ein halbes Jahr an einem von der UNESCO betriebenen audiovisuellen Zentrum in Mexiko (ihr Vorgänger auf diesem Posten war Chris Marker). Zwar war diese Zeit wegen überbordender Bürokratie wenig produktiv (angeblich musste man sogar wegen eines neuen Bleistifts einen Antrag an das UNESCO-Hauptquartier schicken), aber die Zeit war trotzdem von Bedeutung für sie. Erstens entwickelte sie erst in Mexiko ein Gefühl für eine gemeinsame lateinamerikanische Identität, was vorher aufgrund der Herkunft ihrer Eltern und ihres durch Exilspanier geprägten Studiums nicht der Fall war. Und zweitens konnte sie die Freundschaft zu Buñuel vertiefen, den sie schon in Paris kennengelernt hatte. Jedes Wochenende fuhr sie nach Mexiko City, um Buñuel und seine Freunde, viele davon exilspanische Künstler und Intellektuelle, zu treffen. Wieder in Venezuela, entwickelte Benacerraf Pläne für einen neuen Film. Ursprünglich sollte es ein Triptychon werden, ein Film aus drei jeweils ungefähr halbstündigen Episoden, von denen eine in den venezolanischen Anden, eine in der Ebene und eine an der Küste spielen sollte. Die Schauplätze für die ersten beiden Episoden hatte sie bereits gefunden, den für die Küste suchte sie noch, da stieß sie in einer Zeitschrift auf ein Foto von Araya - ein Ort, von dem sie bisher noch nichts gehört hatte. Sie fuhr hin, und bald war das Triptychon vergessen und ARAYA geboren. Damals bereits wusste sie, dass in einem halben Jahr die Industrialisierung in Araya Einzug halten würde, es bot sich also die einmalige Chance, diese Welt vor ihrem Untergang auf Film zu konservieren. Zunächst studierte Benacerraf die Geschichte der Halbinsel. Weil die Archive in Venezuela nichts Brauchbares hergaben, fuhr sie nach Spanien, und im "Indienarchiv" (Archivo General de Indias) in Sevilla wurde sie fündig und erfuhr alles, was sie wissen wollte.

ARAYA
Nachdem Benacerraf und die Einwohner sich gegenseitig miteinander vertraut gemacht hatten, entstand das Drehbuch, und dann wurde gedreht. Wie schon bei REVERÓN, dauerten auch bei ARAYA die eigentlichen Dreharbeiten deutlich kürzer als die Vorbereitungen - nämlich weniger als vier Wochen, im September und Oktober 1957. Und wie bei REVERÓN bestand das Team aus nur zwei Personen, Benacerraf und ihr Kameramann Giuseppe Nisoli, der für wunderbare Bilder sorgte. Anfangs hatten die beiden noch einen Assistenten dabei, aber der war so unorganisiert, dass er nach einer Woche gefeuert wurde. Wieder waren die logistischen Bedingungen schwierig, und wiederum gab es keine große Hilfe von Seiten der Produzenten. Als der Film in Cannes gezeigt wurde, mochte kaum jemand glauben, dass das Team aus nur zwei Leuten bestand. Insbesondere Kran-Aufnahmen über den Salzpyramiden benötigten einen professionellen Kamerakran mit Bedienmannschaft, so dachte man. Tatsächlich aber standen die Kamera und Nisoli auf einer ungesicherten Plattform, die an einem Kran hing, der von einer der bereits anwesenden Baufirmen entliehen wurde. Jeder Beauftragte für Arbeitsschutz wäre bei dem Anblick wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen. In Anbetracht der Umstände ging die Arbeit gut vonstatten, aber eine größere Panne gab es. Eigentlich sollte die kleine Carmen viel mehr Raum im Film einnehmen, aber durch ein technisches Problem wurde ein Großteil der Aufnahmen mit ihr ruiniert, was erst im Kopierwerk in Paris bemerkt wurde, so dass es nicht mehr korrigiert werden konnte. Ein eher skuriller Vorfall war das unangekündigte Auftauchen der Präsidentenyacht mit Diktator Marcos Pérez Jiménez, seinen Konkubinen und sonstiger Entourage an Bord. Viele der Einwohner von Araya lebten ohne offiziellen Trauschein zusammen, und der Herr Präsident hatte es sich in den Kopf gesetzt, das zu ändern, weshalb er auch einen katholischen Priester im Schlepptau hatte, der nun eine Massenhochzeit veranstaltete. Als der Anhang des Präsidenten die Filmausrüstung entdeckte, wurde Benacerraf aufgefordert, die Veranstaltung zu filmen, aber sie lehnte ab, weil wiederum das Filmmaterial knapp war, und wiederum hat sie das später bedauert. Mehr als zehn Jahre später fand diese leicht surreale Episode Eingang in eine Geschichte von Gabriel García Márquez mit dem etwas länglichen Titel "Die unglaubliche und traurige Geschichte von der einfältigen Eréndira und ihrer herzlosen Großmutter".

Crane shots - so geht das auch (mit freundl. Genehmigung / courtesy of Milestone)
Weil es in Venezuela nur zweitklassige Filmlabors gab, wurde das ganze Material nach Frankreich geschickt, und Benacerraf wollte bald hinterher reisen. Doch dann kam es zu Unruhen gegen den eben noch heiratsfördernden Diktator (der übrigens 1954 die "Sonderstufe des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland" - also die höchste Stufe des Bundesverdienstkreuzes - erhalten hatte), Chaos brach aus, und viele Freunde von Benacerraf wurden verhaftet. Diese wollte aus Solidarität jetzt das Land nicht verlassen, und so kam es, dass sie erst Mitte 1958, als sich die Lage nach dem Sturz des Diktators beruhigt hatte, nach Paris reiste und die aufwändige Postproduction in Angriff nahm. Wieder war Guy Bernard für den Soundtrack verantworltlich, der wiederum aus mit Tonband aufgenommenen Geräuschen und traditionellen Liedern und neuer Musik von Bernard zusammengemischt wurde. Zunächst fertigten Benacerraf, Bernard und die Cutterin eine dreistündige Fassung, die nach Ansicht der Beteiligten den internen Rhythmus der Handlung optimal unterstützte. Henri Langlois zeigte diese Fassung Jean Renoir, der daraufhin meinte, Benacerraf solle kein einziges Bild davon herausschneiden. Doch ein dreistündiger Film hätte damals im Verleih schlechte Chancen gehabt, und aus Cannes, wo der Film Premiere haben sollte, kam die Weisung, ihn drastisch zu kürzen, sonst würde er abgelehnt. So machte sich das Team also daran, den Film auf weniger als die Hälfte zu kürzen. Aus Zeit- und Kostengründen wurde dazu die dreistündige Fassung herangezogen, ohne eine Kopie anzufertigen, so dass die lange Fassung verloren ist. Benacerraf hat das später als den größten Fehler ihres Lebens bezeichnet. Weil inzwischen das Geld auszugehen drohte, wurde eine französische Firma als Partner an Bord geholt, so dass ARAYA offiziell eine venezolanisch-französische Produktion ist, obwohl es beim Dreh 1957 noch ein rein venezolanisches Projekt war.

ARAYA
Als letztes wurde der Text zum Voice-over geschrieben und aufgenommen. Den Text verfasste Benacerraf gemeinsam mit dem französischen Dichter Pierre Seghers. Gelegentlich wird Seghers als gleichberechtigter Drehbuchautor bei ARAYA bezeichnet, er war aber nur am Kommentar und nicht am eigentlichen Drehbuch beteiligt. Aus Zeitdruck, um rechtzeitig für Cannes fertig zu werden, wurde nur eine französische Fassung geschrieben und vom Schauspieler Laurent Terzieff gesprochen. Und dann war es schließlich soweit: Im Mai 1959 hatte ARAYA Premiere in Cannes, und er lief gegen Filme wie LES QUATRE CENTS COUPS, ORFEU NEGRO, NAZARIN und HIROSHIMA, MON AMOUR. ARAYA gewann den FIPRESCI-Preis (geteilt mit HIROSHIMA, MON AMOUR) sowie den Grand Prix de la Commission Superieure Technique. Danach lief er 1959 noch mit Besonderen Erwähnungen auf den Festivals von Locarno, Moskau, Edinburgh und Venedig, und es gab noch etliche andere Auszeichnungen. Leider konnte Benacerraf den Schwung der vielen Preise nicht für neue Filmprojekte ausnutzen, denn nach ARAYA wurde sie durch eine mysteriöse Krankheit für eineinhalb Jahre geschwächt und teilweise ans Bett gefesselt. Angebote gab es genug, aber sie musste sie alle ablehnen.

ARAYA
1965, als sie sich gesundheitlich erholt hatte, übernahm Benacerraf widerstrebend die Leitung des gerade gegründeten Venezolanischen Nationalen Instituts für Kultur und Schöne Künste (INCIBA). Sie hatte seit inzwischen sieben Jahren in Paris gelebt und wollte da eigentlich auch bleiben, aber dann ließ sie sich zur Rückkehr nach Venezuela überreden. Eine ihrer ersten Amtshandlungen war es, Landfahrzeuge und zwei Schiffe mit Filmprojektoren in den kulturell wenig erschlossenen Teil Venezuelas südlich des Orinoco zu entsenden, um der dortigen Bevölkerung Diashows und Filme vorzuführen (von denen etliche in dem UNESCO-Zentrum in Mexiko produziert wurden, in dem sie kurz gearbeitet hatte). Diese Aktion erinnert mich etwas an den Filmzug, mit dem Alexander Medwedkin in den 30er Jahren in der Sowjetunion umherfuhr. Benacerrafs nächster Streich folgte 1966: Nach dem Vorbild der Cinémathèque française gründete sie eine nationale Cinemateca in Caracas. Durch ihre Freundschaft mit Henri Langlois und Teilnahme an etlichen Konferenzen internationaler Cinémathèquen-Betreiber war sie genug mit der Materie vertraut, um diese Aufgabe meistern zu können. 1968 wollte Benacerraf wieder einmal einen Film drehen, und sie traf sich dazu in Barcelona mit Gabriel García Márquez, den sie kurz zuvor kennengelernt hatte. Gemeinsam schrieben sie mehrere Drehbuchfassungen zu "Eréndira" (ich beschränke mich jetzt auf die Kurzfassung des Titels), aber nachdem kein Produzent zu Benacerrafs Bedingungen (sie wollte nur in Venezuela oder Kolumbien drehen) den Film finanzieren wollte, veröffentlichte García Márquez den Stoff schließlich 1972 als Kurzgeschichte. Mitte der 70er Jahre schien Carlo Ponti den Film produzieren zu wollen, aber als er wegen eines Devisenvergehens großen Ärger mit der italienischen Justiz bekam, zerschlug sich das Projekt endgültig. In einem neuen Anlauf verfilmte schließlich der Brasilianer Ruy Guerra ohne Benacerrafs Beteiligung den Stoff 1983 in Mexiko (mit deutscher und französischer Beteiligung).

ARAYA: Carmen und ihre Großmutter
Im Lauf der Jahre entfaltete Benacerraf viele weitere film- und kulturpolitische Aktivitäten, die teilweise über Venezuela hinaus in Lateinamerika wirkten. So gründete sie 1991 zusammen mit García Márquez Latin Fundavisual zur Förderung audiovisueller Kunst in Lateinamerika. Für ihre Verdienste erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. ARAYA hatte aber trotz der vielen Preise in vielen Ländern Schwierigkeiten, in den Verleih zu kommen, was an der Schwierigkeit gelegen haben mag, ihn in die richtige Schublade zu stecken. In Venezuela kam er gar erst 1977 in die Kinos, und erst aus diesem Anlass wurde auch eine spanische Version des Voice-over geschrieben und vom Schriftsteller José Ignacio Cabrujas aufgenommen. 2005 wurde ein Versuch unternommen, ARAYA in den USA in die Kinos zu bekommen. Das scheiterte zwar aus finanziellen Gründen, aber die US-Firma Milestone, die auf die Wiederentdeckung alter Filmschätze spezialisiert ist, wurde auf ARAYA aufmerksam und restaurierte ihn aufwändig. Premiere der restaurierten Fassung war im Februar 2009 auf der Berlinale. Und 2011 schließlich erschien diese Fassung bei Milestone auf DVD, mit vorzüglicher Bildqualität, REVERÓN als Bonusfilm, Audiokommentaren (auf Englisch) von Benacerraf zu beiden Filmen und weiterem Bonusmaterial. Und regionalcodefrei ist diese vorbildliche Veröffentlichung auch noch. Hier gibt es eine offizielle Seite zum Film von Milestone mit weiteren Informationen, z.B. ein Press Kit als PDF.

ARAYA: Die Moderne bricht ein

Sonntag, 24. November 2013

Wenn es Nacht wird in Paris

TOUCHEZ PAS AU GRISBI (WENN ES NACHT WIRD IN PARIS)
Frankreich 1954
Regie: Jacques Becker
Darsteller: Jean Gabin (Max), René Dary (Riton), Lino Ventura (Angelo), Paul Frankeur (Pierrot), Michel Jourdan (Marco), Jeanne Moreau (Josy), Dora Doll (Lola), Marilyn Buferd (Betty)


Max und Riton, zwei gealterte Gangster und Freunde seit 20 Jahren, haben gerade das letzte, das ganz große Ding gedreht: In Orly erbeuteten sie Goldbarren im Wert von 50 Millionen (alten) Francs. Alles ging gut - niemand hat sie erkannt, niemand verdächtigt sie, das Gold ist sicher verstaut. Jetzt ist es an der Zeit, sich zur Ruhe zu setzen und einen bürgerlichen Lebensabend zu genießen. Doch natürlich kommt es anders. Der nicht sehr helle Riton verplappert sich gegenüber seiner Freundin, der Varietétänzerin Josy, ohne zu wissen, dass diese inzwischen genug von ihm hat und die neue Geliebte des Zuhälters und Drogenhändlers Angelo ist. Und der will nun den Kuchen für sich. Sein erster Versuch, Max und Riton durch seine Männer auszuschalten, scheitert, und die beiden sind nun gewarnt. Sie tauchen in der geheimen Zweitwohnung von Max unter. Max beabsichtigt, Angelo zu ignorieren, das Gold so schnell wie möglich bei seinem Onkel, einem Hehler, gegen Geld einzutauschen und dann endgültig abzutauchen. Doch der in seiner Ehre gekränkte Riton will sich an Josy rächen und wird dabei von Angelo geschnappt. Dieser setzt Max unter Druck: Ritons Leben im Austausch gegen das Gold. Mit Unterstützung des befreundeten Nachtclubbesitzers Pierrot und des jungen Kollegen Marco holt Max zum Gegenschlag aus. Beim Austausch von Gold gegen Geisel kommt es zum Showdown, der mit schwerem Gerät (Handgranaten und Maschinenpistolen) ausgetragen wird, und am Ende gibt es viele Tote, wenige Überlebende, und keinen Gewinner.

Nachtleben in Pigalle. Riton, Max, Marco (v.l.n.r.)
TOUCHEZ PAS AU GRISBI wurde zu einem Prototypen und herausragenden Beispiel des französischen Film noir und Kriminalfilms der 50er und 60er Jahre. An technischen Details des Verbrecherberufs zeigt er sich nicht interessiert. Einen minutiös geplanten und durchgeführten Einbruch oder Überfall, wie in RIFIFI oder mehrfach bei Jean-Pierre Melville, gibt es nicht zu sehen. Ganz im Gegenteil: Am Anfang des Films hat der Coup bereits stattgefunden, die Beute lagert scheinbar sicher im Kofferraum von Max' Auto in einer Tiefgarage. Umso mehr interessiert sich Jacques Becker für die Mechanismen von Freundschaft, Ehre und Verrat in der Gesellschaft der Gangster und Ganoven und die sich daraus ergebenden Zwänge und Rituale, und hier erweist sich TOUCHEZ PAS AU GRISBI dann doch als ein Vorläufer der Filme von Melville (der 11 Jahre jüngere Melville war auch ein Bewunderer von Becker). Ebenso interessiert zeigt sich der Film am wenig glamourösen und gelegentlich sogar spießbürgerlich wirkenden Alltag seiner Protagonisten. Die Abende verbringen sie meist in den Bistros und Nachtclubs rund um den Place Pigalle, das traditionelle Zentrum der Pariser Halb- und Unterwelt. Doch Max hat längst die Freude daran verloren, er sieht keinen Sinn mehr darin, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen, und er sehnt den seiner Meinung nach wohlverdienten Ruhestand herbei. In der Szene in Max' Geheimwohnung kann man ausgiebig dabei zusehen, wie Max das Abendessen serviert, seinen Freund mit sorgsam gefalteter Bettwäsche, Handtuch und Schlafanzug versorgt, wie sich die beiden älteren Herren im Pyjama die Zähne putzen (auch in Melvilles erstem Genre-Film BOB LE FLAMBEUR sieht man den Titelhelden im Schlafanzug), wie Riton im Spiegel skeptisch seine Falten und Tränensäcke begutachtet. In TOUCHEZ PAS AU GRISBI wird das Verbrecherdasein (und damit der Verbrecherfilm) entmythologisiert. In den Dialogen wird reichlich Argot verwendet, der traditionelle französische Verbrecher-Slang, was auch bereits im dem Film zugrunde liegenden Roman von Albert Simonin der Fall ist (das Buch enthielt sogar ein Glossar mit den einschlägigen Ausdrücken, um die Leser nicht zu überfordern).

Josy (links) und Lola
TOUCHEZ PAS AU GRISBI punktet auch mit den reich texturierten Schwarzweißbildern, die Becker und sein Kameramann Pierre Montazel schufen. WENN ES NACHT WIRD IN PARIS spielt fast vollständig in der Nacht, deshalb ist der deutsche Titel durchaus passend, auch wenn er nichts mit dem Originaltitel (der ungefähr "Hände weg von der Beute" bedeutet) zu tun hat. - Die Besetzungsliste des Films klingt heute wesentlich illustrer als damals. Lino Ventura spielt seine erste Rolle überhaupt, und er stolperte eher zufällig in dieses Abenteuer. Er hatte damals überhaupt keine Absichten, Schauspieler zu werden, und Becker kann man getrost als seinen Entdecker bezeichnen. Jeanne Moreau hatte auch erst einige wenig beachtete Rollen gespielt. Und Jean Gabins Karriere war nach den grandiosen Erfolgen der 30er Jahre in den 40ern deutlich ins Stocken geraten (er hatte in diesem Jahrzehnt nur sechs oder sieben Filme gedreht), und es war TOUCHEZ PAS AU GRISBI, der ihr wieder Schubkraft verlieh. Am ehesten war damals noch Paul Frankeur ein zugkräftiger Name, aber ein echter Star war er auch nicht. Dieses Fehlen großer Namen trug dazu bei, dass der Film relativ billig war.

Unterweltgrößen unter sich
Wie ich in meiner Renoir-Reihe schon erwähnte, war Jacques Becker in den 30er Jahren regelmäßig Jean Renoirs Regieassistent. Tatsächlich war er damals Renoirs engster Mitarbeiter, ein sehr guter Freund und zeitweilig fast ein Familienmitglied. Gelegentlich spielte er in den Renoir-Filmen auch kleinere Rollen. Nach ersten bescheidenen Regieversuchen in den 30er Jahren und einem Jahr in Kriegsgefangenschaft trat er 1942 mit seinem ersten Spielfilm hervor. Die Nähe zu Renoir hat dazu geführt, dass Becker trotz Meisterwerken wie CASQUE D'OR (GOLDHELM) und LE TROU (DAS LOCH) oft als Epigone des großen Meisters abgetan wurde, vergleichbar vielleicht mit dem ein Jahr später geborenen Rudolf Jugert, der (ebenfalls zu Unrecht) oft nur als Anhängsel von Helmut Käutner betrachtet wurde. Dabei sind auch einige seiner weniger bekannten Filme sehenswert, etwa ANTOINE ET ANTOINETTE (ZWEI IN PARIS), in dem die Suche nach einem verschwundenen Lotterieschein als Aufhänger dazu dient, die Alltagsnöte eines jungen Paars in Paris liebevoll auszubreiten (dieser Film hat ESA PAREJA FELIZ, den ersten Spielfilm von Juan Antonio Bardem und Luis García Berlanga, stark beeinflusst). "Ich bin Franzose, ich mache Filme über die Franzosen, ich schaue auf die Franzosen, ich interessiere mich für die Franzosen", sagte Becker (der eine schottische Mutter hatte) einmal in einem Interview.

Hochnotpeinliche Befragung eines gefangenen Gegners (rechts jeweils Pierrot)
TOUCHEZ PAS AU GRISBI ist in den USA bei Criterion und in England (jeweils unter dem Originaltitel), in Frankreich und in einigen anderen Ländern auf DVD erschienen (aber in Deutschland wieder mal nicht). Morgen läuft er als WENN ES NACHT WIRD IN PARIS um 20:15 Uhr auf arte.

Samstag, 5. Oktober 2013

Ein Fisch als Detektiv

POLAR (POLAR - UNTER DER SCHATTENLINIE, POLAR - EIN DETEKTIV SIEHT SCHWARZ)
Frankreich 1984
Regie: Jacques Bral
Darsteller: Jean-François Balmer (Eugène Tarpon), Sandra Montaigu (Charlotte Le Dantex), Roland Dubillard (Jean-Baptiste Haymann), Pierre Santini (Inspektor Coccioli), Marc Dudicourt (Le Loup), Jean-Paul Bonnaire (Gérard Sergent), Claude Chabrol (Théodore Lyssenko)

Eugène Tarpon
Jacques Brals POLAR ist eine wunderbare Hommage an den alten Film noir, an Hollywoods Schwarze Serie, und doch ein durch und durch französischer Film. Eugène Tarpon, der traurige Held der Geschichte, ist Privatdetektiv, ein Nachfahre im Geiste von Sam Spade und Philip Marlowe - mit einigen Abweichungen. Sein stilechtes Voice-over wird den Film durchgehend begleiten. Tarpon - wie ihm im Verlauf des Films mehrfach erklärt wird, obwohl er es natürlich ohnehin weiß, der Name einer Fischgattung (Tarpun auf Deutsch, wiss. Megalops) - war früher Gendarm, aber er hat den Dienst quittiert, nachdem er bei einer Demonstration versehentlich einen Demonstranten mit einer Tränengasgranate getötet hatte. Jetzt ist er also Detektiv - und zwar ein völlig erfolgloser. Er ist melancholisch, ziemlich lethargisch, und dass sein Büro im 4. Stock (ohne Lift) liegt, trägt auch nicht zu seinem Erfolg bei. Ein Stümper ist er aber nicht - er kennt die Regeln und die nötigen Tricks, und obwohl er kein sportlicher Typ ist, körperlich sogar schlaff und träge wirkt, kann er auch hinlangen, wenn es sein muss. Als ihn eine kleine Ratte mit Springmesser "überreden" will, ihn zu seinen Auftraggebern zu begleiten, überrumpelt und entwaffnet ihn Tarpon auf eine geradezu demütigende Weise. Die Szene erinnert etwas an John Hustons THE MALTESE FALCON, wo Sam Spade Mr. Gutmans Revolverhelden Wilmer Cook ähnlich vorführt. Doch Tarpons Kommentar dazu im Voice-over zeigt, dass er kein Sam Spade und kein Humphrey Bogart ist: "Ich hab dich geschlagen, weil du mir Angst gemacht hast. Kein Grund, darauf stolz zu sein."

Schutzloses Mädchen oder femme fatale?
Nach drei Monaten fast ohne Kunden, ohne Fall, steht Tarpon vor der Pleite, und er resigniert. Er ruft seine Mutter an und kündigt an, seine Zelte in Paris abzubrechen und in das kleine Dorf mit 50 Einwohnern zurückzukehren, aus dem er stammt. Doch natürlich kommt es anders. Als er das Büro eigentlich schon geschlossen hat, steht eine wunderschöne junge Frau vor der Tür und bittet um seine Hilfe. Charlotte Le Dantex, wie sie sich vorstellt, ist verzweifelt, weil ihre Freundin Louise Dupuis ermordet wurde, und weil sie jetzt fürchtet, dass die Polizei sie für die Mörderin halten wird. Denn eigentlich war Louise nicht wirklich ihre Freundin. Eigentlich mochte sie sie nicht mal. Eigentlich hasste sie sie sogar. Der pragmatische Tarpon drängt darauf, zunächst einmal die Polizei über den Mord zu informieren, doch Charlotte sträubt sich, und als Tarpon sie nicht ohne Anruf bei der Polizei gehen lassen will, gibt sie ihm einen Tritt in die Eier und verduftet. Tarpon will der Sache auf den Grund gehen und fährt mit dem Taxi (einen eigenen Wagen besitzt er nicht) zu Louises Adresse - und läuft geradewegs der Polizei in die Arme, die bereits am Tatort ermittelt. Und schon steckt Tarpon bis über beide Ohren in einem verworrenen Mordfall. Nacheinander treten verschiedene Personen an ihn heran, die alle etwas von ihm wollen. Zunächst verhört ihn Inspektor Coccioli, der den Mord bearbeitet, stundenlang; vor allem will er wissen, wo sich Charlotte Le Dantex aufhält, aber damit kann Tarpon nicht dienen, und weil nichts Konkretes gegen ihn vorliegt, wird er laufen gelassen. Vor dem Polizeipräsidium wird er von dem verkrachten und versoffenen Journalisten Haymann aufgegabelt, der eine Geschichte über den Mord schreiben will. Er glaubt, dass Tarpon mehr über den Fall weiß, als er zugibt, und er will von ihm mit Einzelheiten für seine Story versorgt werden. Später trifft Tarpon die Auftraggeber der kleinen Ratte, zwei Revolverhelden. Sie bringen ihn zu ihrem Chef in einer Waldgegend außerhalb von Paris. Der Chef, der sich in einem weißen Rolls-Royce kutschieren lässt, will ebenfalls wissen, wo sich Charlotte aufhält. Als Tarpon danach Haymann erzählt, dass er im Wald war, fragt dieser scherzhaft, ob er dem Wolf begegnet sei. Fortan ist der Chef im Rolls-Royce für Tarpon "der Wolf" - Le Loup. Seinen tatsächlichen Namen erfährt man bis zuletzt nicht.

Nach dem Verhör durch Coccioli sieht Tarpon nicht mehr frisch aus
Als nächstes steht Gérard Sergent bei Tarpon auf der Matte. Er hat Louise geliebt - zumindest behauptet er das -, und nun erklärt er ganz unverblümt, dass er ihren Mörder tot sehen will. Und als ersten Schritt dazu - Überraschung! - soll ihm Tarpon verraten, wo sich Charlotte Le Dantex befindet. Obwohl Tarpon protestiert, lässt ihm Sergent bei seinem Abschied einen Batzen Geld da. Der Reigen geht weiter: Zwei Ganoven entführen Tarpon und halten ihn in einer Bruchbude irgendwo außerhalb von Paris gefangen. Doch, o Wunder, sie wollen nicht wissen, wo Charlotte steckt. Mehr noch: Sie taucht plötzlich selbst in Tarpons Gefängnis auf, und sie kennt die Entführer, steckt anscheinend sogar mit ihnen unter einer Decke. Dann taucht auch der Drahtzieher der Entführung auf, der Fotograf Alfonsino, der mit Louise zu tun hatte, und er gibt den Befehl, Tarpon umzubringen. Gleichzeitig nimmt er Charlotte einen kleinen Gegenstand ab, der noch eine wichtige Rolle in dem Fall spielen wird, dann verschwindet er. Es steht also schlecht, doch da kreuzen auch die beiden "Sekretäre" (wie er sie nennt) von Le Loup auf und erschießen Alfonsinos Handlanger. Tarpon und Charlotte nutzen das Durcheinander zur Flucht, und um endlich aus der Schusslinie zu geraten, nehmen die beiden ein Zimmer in einem billigen Hotel. Charlotte, die ziemlich verzweifelt ist, oder vielleicht auch nur so tut, wirft sich Tarpon an den Hals, und sie schläft sogar mit ihm. Doch ganz traut er ihr nicht - zu Recht. Er beschattet sie, als sie ohne ihn das Atelier von Alfonsino aufsucht, und er findet dort Alfonsinos Leiche. Tarpon will jetzt Charlotte der Polizei ausliefern, und diese rückt nun mit einer neuen Geschichte heraus: Sie selbst hat Louise umgebracht. Die beiden hatten sich als 16-jährige Teenager kennengelernt und allerhand gemeinsam erlebt, aber Louise hatte sich immer mehr zu einem Ungeheuer entwickelt, das alle möglichen Menschen in ihrer Umgebung in den Abgrund riss, und Charlotte hatte sich durch den Mord aus der fatalen Abhängigkeit befreit - sagt sie. Den Mord an Alfonsino streitet sie aber ab. Als Tarpon sie noch einmal in Alfonsinos Atelier schleppt, steckt sie heimlich den Gegenstand wieder ein, den ihr Alfonsino zuvor abgenommen hatte. Danach verständigt Tarpon die Polizei von Alfonsinos Ableben, und er kann sich wieder einmal mit Coccioli herumschlagen.

Haymann
Fast immer hat Tarpon bisher nur reagiert, statt selbst zu agieren. Nur einmal dreht er den Spieß um und ergreift selbst die Initiative, um jemanden zu befragen, nämlich den Pornoregisseur Lyssenko (von Claude Chabrol mit einer guten Portion Selbstironie dargestellt), in dessen Filmen Louise mitgespielt hat, doch dabei erfährt er nicht viel, außer dass Lyssenko von einem Unbekannten bedroht wird. Unterdessen wurde Haymann von den "Sekretären" des Wolfs böse verprügelt, weil sie wissen wollten, wo Tarpon und Charlotte sind (und er beides nicht wusste). Als Le Loup noch einmal aufkreuzt, stellt sich heraus, worauf er wirklich aus ist, nämlich jenen ominösen Gegenstand, der schon mehrfach den Besitzer wechselte. Aus einem Zeitungsbericht, der nur kurz und undeutlich zu sehen ist, kann man entnehmen, dass es sich um eine wertvolle Statuette handelt. Der längst heillos verwickelte Fall strebt nun seinem Ende zu. Um es kurz zu machen: Charlotte wird verhaftet und wieder freigelassen, Sergent wird beim Versuch, Lyssenko zu ermorden, von Coccioli erschossen, Tarpon bekommt dabei auch eine Kugel von Sergent ab, wird aber im Krankenhaus wieder hochgepäppelt. Der tote Sergent wird von der Polizei als der Mörder von Alfonsino (was wahrscheinlich stimmt) und von Louise (was sicher nicht stimmt) präsentiert. Charlotte besucht Tarpon im Krankenhaus ein paar Mal, aber dann verschwindet sie, und Tarpon sieht sie nie wieder. Wegen der vielen Halbwahrheiten, die er der Polizei erzählt hat, wird er vom Untersuchungsrichter zur Schnecke gemacht, aber ohne formale Anschuldigung laufen gelassen. Und nach einigen Wochen bekommt Tarpon einen Brief von Charlotte mit einem Scheck über 30.000 Francs. Sie rät ihm, kein Depp zu sein, sondern den Scheck einzulösen, und er befolgt den Rat. Tarpon wurde mehrfach beschossen und entführt, aber es hätte schlimmer kommen können. Und er behält jetzt erst mal sein Detektivbüro.

Ein Ganove zuerst mit und dann ohne Messer
Uff! Am Ende hat man ein schwer durchschaubares Knäuel an Handlungsfäden vor sich, das man beim ersten Sehen des Films nur schwer nachvollziehen kann, und man kann trefflich über nicht aufgeklärte Hintergründe spekulieren (z.B., ob Charlotte von Anfang an in die Machenschaften um die Statuette verwickelt war und vielleicht sogar deshalb Louise getötet hat - was eine viel dunklere Figur aus ihr machen würde). Dass der Fall so verworren ist, ist keineswegs ein Versehen (wie etwa in LA NUIT DU CARREFOUR), sondern gehört erkennbar zum Konzept, und es erinnert natürlich an Vorbilder wie Howard Hawks' THE BIG SLEEP und an THE MALTESE FALCON. Eine konkrete Ähnlichkeit zu letzterem Film habe ich bereits erwähnt, und dass eine wertvolle Statuette zur Triebfeder des Geschehens wird, ruft natürlich das eponyme Utensil aus THE MALTESE FALCON ins Gedächtnis. Während in den Vorbildern meistens eine femme fatale zugegen ist, hat man bei POLAR gleich zwei davon, die tote Louise und die umso präsentere Charlotte.


POLAR endet nicht mit FIN, sondern À SUIVRE (FORTSETZUNG FOLGT), doch ein Sequel gibt es nicht - dabei wäre der Stoff dazu vorhanden gewesen. Denn der Film beruht auf dem 1973 erschienenen Roman Morgue pleine von Jean-Patrick Manchette, dem er 1976 mit Que d'os ! einen weiteren (und letzten) Roman mit Eugène Tarpon als Helden folgen ließ. Ich weiß aber nicht, ob beim Dreh von POLAR tatsächlich beabsichtigt war, auch Que d'os ! zu verfilmen. Jean-Patrick Manchette war in den 70er Jahren einer der führenden Autoren des Néo-polar, einer stärker politisch ausgerichteten Variante des Roman noir. Manchette wurde aufgrund seiner sprachlichen Meisterschaft auch von der "gehobenen" französischen und internationalen Literaturkritik anerkannt (sein Roman Nada fand Eingang in die geheiligten Hallen von Kindlers Literaturlexikon), und seine Vorlage trägt dazu bei, aus POLAR trotz aller Hommage doch einen sehr französischen Film zu machen. Dem dient auch die ungemein atmosphärische, den resignativen Geist des Films tragende Musik von Karl-Heinz Schäfer. Schäfer vertonte von 1973 bis 1993 gerade mal zehn Filme, darunter noch einen weiteren von Bral, ansonsten habe ich nicht viel über ihn herausgefunden, als dass er Komponist, Arrangeur und Dirigent war. Regisseur Jacques Bral, 1948 in Teheran geboren, hat auch nur ein schmales Œuvre von sechs Spielfilmen vorzuweisen, von denen ich außer POLAR keinen kenne. Nebenbei produzierte Bral 1989 Sam Fullers letzten Kinofilm STREET OF NO RETURN.


POLAR wird vom Anfang bis zum Ende getragen von Jean-François Balmer. Der gebürtige Schweizer und naturalisierte Franzose Balmer ist einfach umwerfend als Tarpon. Die Mischung aus Resignation und Berufsehre, aus Phlegma und genau dosierter Action gelingt ihm schlichtweg perfekt. Mit seinem weichen Erscheinungsbild und seiner sanften Stimme hat er, wie schon erwähnt, nichts von einem Bogart, eher schon ein bisschen von Robert Mitchum, aber er ist kein Epigone, sondern er erschafft eine völlig eigenständige Figur. Ich kenne nicht viele Filme des bis heute vielbeschäftigten Balmer (zusammen vielleicht ein halbes Dutzend), aber ich würde doch meinen, dass ihm mit Tarpon eine der Rollen seines Lebens gelungen ist. Aber auch Sandra Montaigu verfügt nicht nur über optische Reize, sondern spielt ausgezeichnet, und auch Roland Dubillard als Haymann und die anderen Nebendarsteller überzeugen. - POLAR ist in Frankreich auf einer DVD ohne Untertitel erschienen. Deutsche Untertitel gibt es zum Download auf einschlägigen Seiten.

Der Wolf und seine "Sekretäre" besuchen Haymann und Tarpon