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Montag, 9. November 2015

Themerson & Themerson - fast verlorene polnische Avantgarde

Auch die Autoren dieses Films [die Themersons selbst] versuchten während ihres ganzen Lebens, rückwärts zu gehen, aber vorwärts zu kommen. (Stefan Themerson unter Bezug auf DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES)

Schon mal von Stefan und Franciszka Themerson gehört? Als regelmäßiger Arte-Seher vielleicht, aber sonst wohl nicht unbedingt. Dabei sind die Themersons keineswegs vergessen: In ihrer Heimat Polen und ihrer Wahlheimat England erinnert man sich durchaus an sie, vielleicht auch in Frankreich, wo sie auch kurz lebten, aber hier zu Lande waren sie wohl von vornherein nie besonders prominent. Die beiden gehörten in den 30er Jahren zur polnischen Film-Avantgarde und drehten gemeinsam fünf experimentelle Filme, von denen leider nur einer überlebt hat. Im englischen Exil folgten noch zwei weitere Filme, so dass sich der erhaltene filmische Nachlass des Ehepaars auf gerade mal drei Werke beläuft. Im "Hauptberuf" (der Ausdruck passt bei den beiden nicht so recht) war Franciszka Zeichnerin und Malerin, Stefan Schriftsteller, Dichter und Essayist. Außerdem führten beide gemeinsam in ihrer englischen Zweitheimat über 30 Jahre lang einen sehr eigenwilligen Verlag. 2010 entstand als internationale Coproduktion (mit Beteiligung von Arte) ein 70-minütiger Dokumentarfilm über die Themersons, der ihr ganzes Leben abdeckt. Ich will mich hier hauptsächlich auf ihre Filme konzentrieren.

Stefan und Franciszka Themerson in THEMERSON & THEMERSON
Die Filmografie in der IMDb enthält derzeit nur die überlebenden drei Filme, und in der deutschen und englischen Wikipedia ist die Liste zwar vollständig, aber unübersichtlich und nur mit wenigen Informationen dargeboten. Deshalb hier zunächst die komplette Liste, einschließlich der Dokumentation. Die deutschen Titel der polnischen Filme sind nicht offiziell, sondern Übersetzungen der Originaltitel, die ich Wikipedia entnahm.

APTEKA (APOTHEKE)
Warschau 1930
3 Minuten
stumm
verschollen

EUROPA
Warschau 1931/32
15 Minuten
stumm
verschollen

DROBIAZG MELODYJNY (MUSIKALISCHES MOMENT)
Warschau 1933
3 Minuten
Musik: Maurice Ravel
verschollen

ZWARCIE (KURZSCHLUSS)
Warschau 1935
10 Minuten
Musik: Witold Lutosławski
verschollen

PRZYGODA CZŁOWIEKA POCZCIWEGO (DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES)
Warschau 1937
10 Minuten
Musik: Stefan Kisielewski

CALLING MR. SMITH
London 1943
10 Minuten
Farbe: Dufaycolor
Musik: Karol Szymanowski, J.S. Bach, Frédéric Chopin, Horst-Wessel-Lied

THE EYE & THE EAR
London 1944/45
10 Minuten
Musik: Karol Szymanowski

Drehbuch, Kamera, Regie und Schnitt jeweils die Themersons gemeinsam. Alle Filme wurden auf 35mm gedreht, und alle außer CALLING MR. SMITH in Schwarzweiß (PRZYGODA CZŁOWIEKA POCZCIWEGO enthielt jedoch ursprünglich eine kurze handcolorierte Sequenz, die nur in s/w erhalten ist).

THEMERSON & THEMERSON (auch THEMERSON AND THEMERSON)
Frankreich/Großbritannien/Polen 2010
Regie: Wiktoria Szymańska

Stefan (1910-1988) und Franciszka Themerson (1907-1988) entstammten beide polnisch-jüdischen Familien. Stefan wurde in Płock geboren, Franciszka als Tochter des Malers Jakub Weinles und einer Pianistin in Warschau. Während Franciszka schon als Kind ihr zeichnerisches Talent entdeckte, interessierte sich Stefan bereits als Jugendlicher für Radio-, Foto- und Filmtechnik sowie für die modernen Kunstströmungen. Mit 14 baute er sich einen Kristallempfänger, er verfertigte Collagen und Fotomontagen, von denen etliche in einem Literaturmagazin erschienen, und mit 18 veröffentlichte er in einem Magazin einen Artikel mit dem Titel "Über die Möglichkeiten des Radios" (Możliwości radiowe). Darin ging es keineswegs nur um das Radio, sondern um eine formale Gegenüberstellung von (mittels Radio transportierter) Musik und Film. Er vergleicht darin (I) die üblichen handlungsorientierten Filme mit Musik mit Gesang (wobei der Gesang so etwas wie eine Handlung transportiert), (II) sogenannte optische Musik (also abstrakte Filme wie etwa die von Oskar Fischinger und etwas später die von Mary Ellen Bute und Ted Nemeth) mit Instrumentalmusik, die zwar Bedeutung, aber keine Handlung hat, und schließlich (III) als letzte Stufe einzelne optische mit akustischen Sinneseindrücken, die jeder Bedeutung entkleidet sind, so dass man sie im Alltag gar nicht bewusst wahrnimmt. Und dann stellt er die rhetorische Frage, ob die formale Ähnlichkeit innerhalb der letzten Kategorie nicht dazu führt, dass man solche optischen und akustischen Eindrücke nicht miteinander verbinden könne, und ob das nicht die ultimative Kunstform für das gegenwärtige Zeitalter werden könne. Und damit hatte Stefan Themerson schon so etwas wie ein Programm für die eigenen kommenden Filme entworfen. Er beschließt den Artikel mit einem Blick in die Zukunft: Er stellt sich einen Mann vor, der, bequem in einem Sessel versunken (vielleicht sogar im Pyjama), mit Kopfhörer und einem Stereoskop vor den Augen, so eine multimediale "Radio-Phono-Vision" genießt.

Stefan begann 1928 in Warschau Physik zu studieren, wechselte aber bald zur Architektur. Irgendwann Ende der 20er Jahre lernte er Franciszka kennen, die an der Warschauer Kunstakademie studierte, und 1931 heirateten die beiden. Da hatten sie ihren ersten Film APTEKA schon fertiggestellt. Die meisten in den frühen 20er Jahren gedrehten abstrakten Filme wie die von Walther Ruttmann, Hans Richter und Viking Eggeling waren rein grafisch, und Fischinger sowie in den 30er Jahren Len Lye und Norman McLaren setzten diese Tradition fort. Doch schon in den 20er Jahren hatte sich auch die Tendenz entwickelt, reale Objekte zu filmen und mittels extremer Großaufnahme, ungewöhnlicher Kamerawinkel, Mehrfachbelichtung, rascher Montage etc. bis zur Abstraktion zu verfremden. Wichtigster Vorreiter in dieser Beziehung war BALLET MÉCANIQUE, den Dudley Murphy und Fernand Léger 1924 in Frankreich drehten. Einige Filmkritiker und Kunsttheoretiker forderten explizit eine Bevorzugung dieser Richtung, so in Polen 1928 die Kritikerin Stefania Zahorska. Die Themersons schlossen sich dieser Sichtweise an, und sie wurden zu Pionieren des abstrakten Films in ihrem Land. Zwar wurde in Polen schon in den 20er Jahren eifrig über das Thema debattiert, aber es wurde kein solcher Film fertiggestellt. (Der konstruktivistische Künstler Mieczysław Szczuka entwickelte konkrete Pläne dazu und hätte sie wohl auch umgesetzt, wenn er nicht 1927 tödlich verunglückt wäre.)

Parallel zu seiner frühen Beschäftigung mit Fotomontagen, die man durchaus als Vorstufe zum Filmen betrachten kann, begann sich Stefan für Fotogramme zu interessieren. Ein Fotogramm entsteht bekanntlich, wenn man Objekte auf einem Film, einer Fotoplatte oder lichtempfindlichem Papier platziert und direkt, also ohne Kamera, belichtet. Bei diffuser Beleuchtung wird dann die Auflagefläche der Objekte, bei gerichteter Beleuchtung zusätzlich die Schatten der Objekte fotografisch abgebildet. Im Avantgarde-Sektor hatten beispielsweise schon Man Ray und László Moholy-Nagy in den 20er Jahren mit Fotogrammen gearbeitet. Stefan verfiel nun auf die Idee, "bewegte Fotogramme", also Fotogramm-Filme, herzustellen. Wie kann das gelingen? Stefan baute dafür einen Tricktisch mit einer horizontalen Glasplatte, die mit halbtransparentem Papier belegt war, auf dem die zu filmenden Objekte platziert wurden. Stefan lag dann mit seiner Kamera (ein altes Ding mit Kurbel) unter dem Tisch und filmte (bzw. fotografierte in Einzelbildschaltung) die Umrisse und Schatten der Objekte auf dem Papier, während Franciszka schrittweise die Objekte und/oder die über dem Tisch angebrachten Lichtquellen bewegte (hier findet man eine Skizze des Tisches sowie einige Screenshots aus den Filmen). Technisch gesehen sind das keine Fotogramme mehr, weil ja wieder eine Kamera zum Einsatz kommt, aber der ästhetische Kern - die Abbildung nur von Umrissen bzw. Schatten - bleibt erhalten, so dass man mit etwas gutem Willen durchaus von bewegten Fotogrammen sprechen kann. Die Themerson'sche Konstruktion erinnert an den Tricktisch, den Walther Ruttmann 1920 konstruierte und patentieren ließ, um damit seine vier abstrakten OPUS-Filme zu realisieren, nur war bei Ruttmann die Lichtquelle unten und die Kamera oben, und es gab nicht nur eine, sondern drei übereinander angeordnete horizontale Glasplatten, von denen zwei verschiebbar waren.

Was die Themersons an den bewegten Fotogrammen reizte, war neben dem ästhetischen Resultat nicht zuletzt die Einfachheit des Verfahrens, die es ihnen - als Autodidakten im zunächst noch fast jugendlichen Alter mit primitiver Ausrüstung - ermöglichte, einfach so loszulegen und experimentelle Filme zu drehen. Und so setzten sie das Verfahren auch in allen ihren Filmen ein, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, kombiniert mit anderen Techniken. - In APTEKA (APOTHEKE) werden die Fotogramme ausgiebig benutzt, und bei den abgebildeten Objekten handelt es sich um Utensilien, wie man sie in einer Apotheke oder in einem Chemielabor findet. Im Vergleich zum recht kurzen APTEKA war EUROPA deutlich ambitionierter. Es handelt sich um eine Interpretation des gleichnamigen Gedichts des polnischen futuristischen Dichters Anatol Stern, geschrieben 1925 und 1929 veröffentlicht. Der Futurismus reüssierte nicht nur in Italien und Russland, sondern hatte für einen begrenzten Zeitraum (ca. 1919-22) auch ein Standbein in Polen, bevor hier Dadaismus und Konstruktivismus die vorherrschenden Richtungen der Avantgarde wurden (Sterns Gedicht ist also in einem gewissen Sinn schon ein Nachzügler). Die polnischen Futuristen verweigerten sich aber, unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs stehend, anders als ihre italienischen Kollegen der bedingunglosen Verherrlichung der Maschinen und des Kriegs. Ideologisch stand Stern auch eher den Dadaisten nahe als jemandem wie Marinetti, und sein Poem ist eine grimmig-wüste Anklage gegen ein Europa, das, gerade einen vernichtenden Krieg hinter sich, schon auf den nächsten zusteuert. Sterns "Europa" ist, wie auch andere Werke des polnischen Futurismus, schon sehr "filmisch" geschrieben, und es bestand nicht nur aus Text, sondern war in collagenhafter Form mit Bildern und Fotomontagen angereichert, die die Künstlerin Teresa Żarnower (auch Żarnowerówna geschrieben) und der oben schon erwähnte Mieczysław Szczuka beisteuerten. Stefan Themerson schrieb 1988 in einem Brief, dass Sterns Gedicht nicht die Inspiration für das Drehbuch zu EUROPA war, sondern das Gedicht war das Drehbuch. Neben bewegten Fotogrammen gab es in dem Film weitere Stop-Motion-Animationen, die teilweise auch rückwärts liefen, nackte Frauen (Modelle von der Kunstakademie) und Großaufnahmen von menschlichen Körperteilen (das sah vielleicht ähnlich aus wie gut zehn Jahre später in GEOGRAPHY OF THE BODY von Willard Maas und Marie Menken), sowie weitere Motive und technische Kunstgriffe. Und am Ende gibt es, sozusagen als hoffnungsvollen Kontrapunkt, ein nacktes Kleinkind auf einer Wiese.

Überlebendes Standbild aus APTEKA
Die nächsten beiden Filme waren Auftragsarbeiten (die Themersons hatten sich also - mit EUROPA mehr als mit dem verhalten aufgenommenen APTEKA - schon einen gewissen Namen gemacht). DROBIAZG MELODYJNY (MUSIKALISCHES MOMENT) hat jemand namens Wanda Golinska in Auftrag gegeben, um Werbung für ihr Geschäft zu machen (um welche Art von Geschäft es sich handelte, darüber differieren die Angaben). Wieder gibt es bewegte Fotogramme, jetzt erstmals mit Ton, nämlich im Ablauf synchronisiert mit einer Musik von Ravel. Bei ZWARCIE (KURZSCHLUSS) handelt es sich um einen Informationsfilm über die Gefahren der Elektrizität, der von einem Institut für Soziale Angelegenheiten (Instytut Spraw Społecznych) in Warschau beauftragt wurde. Für die semi-abstrakten Teile des Films entstand zuerst die Musik von Witold Lutosławski, danach wurden die Bilder gedreht und zur Musik synchronisiert. Die oben erwähnte Kritikerin Stefania Zahorska schrieb 1936 Folgendes über den Film: "... ein Poem von Objekten, Linien, Lichtern - es ist ein Drama der Elektrizität, es ist ein Kurzschluss von Formen außer Atem". MUSIKALISCHES MOMENT und KURZSCHLUSS wurden nicht nur in Avantgardezirkeln gezeigt wie die beiden ersten Filme, sondern sie liefen auch in regulären Kinos.

Und schließlich noch PRZYGODA CZŁOWIEKA POCZCIWEG (DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES), der einzige Film aus der polnischen Phase der Themersons, der überlebt hat:



Es handelt sich um eine surreale Parabel, die den Nonkonformismus feiert, oder, wie es im Vorspann heißt, um eine "irrationale Humoreske". "Es wird sich kein Loch im Himmel auftun, wenn man mal rückwärts geht", meint der Chef zu seinen zwei Trägern, die sich beim Abtransport eines Spiegelschranks etwas blöd anstellen. Das hört zufällig ein Beamter (der brave Mann) am Telefon mit, und er zieht seine eigenen Schlüsse daraus: Stimmt - man könnte ja wirklich mal rückwärts gehen. Doch einfach so rückwärts gehen, das geht nicht! Wo kämen wir da hin? "Nieder mit dem Rückwärtsgehen!" steht auf den Schildern der Demonstranten, die einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft bilden, "gewiss wird sich da ein Loch im Himmel auftun! Wir alle gehen vorwärts!" Doch die beiden Rückwärtsgeher lassen sich nicht beirren - und eigentlich könnte man es ja auch mal mit dem Fliegen versuchen. "Sie müssen die Metapher verstehen, meine Damen und Herren", sagt am Ende der brave Mann mit der Flöte. Das Kleinkind am Schluss ist vermutlich dasselbe, mit dem schon EUROPA endete (aber Stefan Themerson war sich da offenbar nicht mehr ganz sicher, als er 1973 den Inhalt von EUROPA in einem Brief zusammenfasste). Bewegte Fotogramme gibt es hier nur kurz gegen Ende bei den stilisierten Vögeln, und in dieser Sequenz gab es auch die erwähnte Handcolorierung. (Die "fotogrammierten" Vögel der Themersons erinnern mich an die Falkentraumsequenz, die Walther Ruttmann für Fritz Langs DIE NIBELUNGEN beisteuerte.)

Von 1931 (unter einem etwas anderen Namen schon ein oder zwei Jahre vorher) bis 1935 existierte in Warschau eine "Vereinigung der Liebhaber des künstlerischen Films" (Stowarzyszenie Miłośników Filmu Artystycznego, abgekürzt START). Zu den Mitgliedern, die meisten anfangs noch Studenten, zählten u.a. die Regisseurin Wanda Jakubowska, die Regisseure Aleksander Ford und Eugeniusz Cękalski, der Kameramann und Regisseur Stanisław Wohl und der spätere bedeutende Filmhistoriker Jerzy Toeplitz. Die Themersons pflegten engen Kontakt zu der Gruppe und waren mit den meisten Mitgliedern befreundet. 1935 gründeten sie quasi als Nachfolgeorganisation für START eine "Kooperative der Filmautoren" (Spółdzielnia Autorów Filmowych, SAF). Unter dem Dutzend Mitgliedern befanden sich neben Stefan und Franciszka und den oben erwähnten START-Mitgliedern (außer Toeplitz, der sich zwischenzeitlich in London aufhielt) auch der Komponist Witold Lutosławski. Die Kooperative produzierte eine Reihe von meist kurzen Filmen ihrer Mitglieder, darunter auch DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES. 1937 gründeten die Themersons als Zeitschrift der Kooperative das Journal f.a. (film artystyczny), mit Stefan als Herausgeber und Franciszka als Art Director. 1936 und 1937 waren sie nach London bzw. Paris gereist, um Avantgardefilme für Vorführungen in Polen zu entleihen, und die nach den Prinzipien der Neuen Typografie gestaltete Zeitschrift sollte diese Vorführungen publizistisch begleiten. In London trafen sie László Moholy-Nagy und John Grierson, die Zentralfigur der britischen Dokumentarfilmbewegung, und Letzterer versorgte sie mit Filmen aus dem Dunstkreis der von ihm geleiteten GPO Film Unit: THE SONG OF CEYLON von Basil Wright, COAL FACE von Alberto Cavalcanti, NIGHT MAIL von Harry Watt und Basil Wright, A COLOUR BOX und RAINBOW DANCE von Len Lye. Besonders die abstrakten Filme von Lye hatten es den Themersons angetan. Die erste Ausgabe von f.a. begleitete die Vorführung dieser Filme, die im Mai 1937 stattfand, und sie enthielt u.a. Artikel von Lye, Moholy-Nagy und Grierson. In Paris versorgten sich die Themersons vorwiegend mit Werken aus den 20er Jahren wie BALLET MÉCANIQUE, Man Rays LE RETOUR À LA RAISON, René Clairs ENTR'ACTE und Henri Chomettes CINQ MINUTES DE CINÉMA PUR, PRÉTEXTE von Alfred Sandy und LA ZONE von Georges Lacombe. In der schnelllebigen Avantgarde jener Jahre waren diese Filme 1937 eigentlich schon wieder veraltet, aber in Polen waren sie noch nie gezeigt worden. Die Themersons wollten sie eigentlich in einer Tour im ganzen Land vorführen, aber zu ihrem Verdruss erhielten sie nur Lizenzen für Warschau. Die zweite Ausgabe von f.a. widmete sich diesen französischen Filmen. Die Zeitschrift war dreisprachig Polnisch/Englisch/Französisch, ich weiß aber nicht, ob beide Ausgaben dreisprachig oder die erste Polnisch/Englisch und die zweite Polnisch/Französisch war. Heft Nr. 2 enthielt auch einen Essay von Stefan mit dem Titel O potrzebie tworzenia widzeń, der als der wichtigste theoretische Text über den Avantgardefilm im Polen der Zwischenkriegszeit gilt. 1983 erschien er stark überarbeitet und erweitert unter dem Titel The Urge to Create Visions auf Englisch neu. - Von ihren Avantgarde-Aktivitäten hätten die Themersons in Polen kaum leben können, aber sie veröffentlichten auch eine Reihe von erfolgreichen Kinderbüchern, mit Texten von Stefan und Illustrationen von Franciszka, und Stefan verfasste auch Texte für Schulbücher.

Von f.a. war noch eine dritte Ausgabe geplant, die sich dem polnischen experimentellen Film hätte widmen sollen, doch dazu kam es nicht mehr, weil die Themersons im Winter 1937/38 nach Paris übersiedelten. Das war eine rein künstlerisch begründete Entscheidung: Sie wollten in der internationalen Hauptstadt der Avantgarde Anschluss gewinnen. "Wenn man schrieb, malte oder Filme machte, musste man einfach nach Paris", schrieb Stefan 1986 in einem Brief. Schnell knüpften sie Kontakte zu anderen Künstlern und Intellektuellen; Franciszka malte und schuf Illustrationen für den Verlag Flammarion, Stefan schrieb Artikel für Zeitschriften sowie weiterhin Beiträge für polnische Schulbücher, und in ihrer Freizeit dachten sie sich neue Filmprojekte aus. Doch der vielversprechende Anfang wurde durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs jäh abgewürgt. Das Paar meldete sich zur Polnischen Exil-Armee in Frankreich (wie beispielsweise auch Emil-Edwin Reinert). Franciszka wurde als Kartographin der Polnischen Exilregierung zugeteilt, Stefan diente als einfacher Soldat, und dadurch wurden sie getrennt. Nach der französischen Niederlage 1940 wurde Franciszka mit einem Truppentransporter nach England evakuiert, wo sie weiterhin für die dorthin übersiedelte Exilregierung arbeitete, während Stefan in Frankreich zurückblieb. Er schlug sich ins unbesetzte Vichy-Frankreich durch, wo er mehr oder weniger im Untergrund lebte, denn als Jude war er auch dort von Deportation in die Vernichtungslager bedroht. Er vertrieb sich die Zeit mit der Arbeit an einem Roman und dem Schreiben von Gedichten, während es Franciszka von London aus mit Hilfe des Roten Kreuzes gelang, seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Mit organisatorischer Unterstützung von England aus gelang es Stefan schließlich Ende 1942, Frankreich zu verlassen und über Spanien und Portugal nach England zu gelangen. Nach einer kurzen Zeit in Schottland ließ sich das Paar 1944 in Maida Vale nieder, einem Viertel im Londoner Stadtteil Paddington, wo sie für den Rest ihres Lebens wohnten.

Die Themersons in der Polnischen Exil-Armee
Die Themersons hatten Kopien ihrer fünf Filme von Polen nach Paris mitgenommen und bei Kriegsausbruch im Film-Entwicklunslabor Vitfer hinterlegt, doch dort wurden sie von den Nazis konfisziert. Was dann mit den Filmen geschah, ist unbekannt - es fand sich keine Spur mehr von ihnen. Auch die in Polen zurückgebliebenen Filmrollen gingen während Krieg und Besatzung spurlos verloren, nur eine schon stark abgenutzte Kopie von DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES tauchte nach Kriegsende auf wundersame Weise in der Nähe von Moskau auf, die Themersons erfuhren aber zunächst nichts davon. Die Filmrolle wurde an das Zentrale Filmarchiv in Warschau geschickt und von dort schließlich an die Filmhochschule in Łódź weitergereicht. Erst als Ende 1960 das Zentrale Filmarchiv eine Veranstaltung zum 30-jährigen Jubiläum von START durchführte und dabei auch DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES vorführte, erfuhren Stefan und Franciszka durch einen Brief des Filmarchivs, dass doch noch einer ihrer polnischen Filme überlebt hatte. In seiner Antwort an das Filmarchiv zeigte sich Stefan sehr erfreut darüber, aber zugleich stellte er die bange Frage, ob nicht nur die physische Kopie, sondern auch der Film selbst dem Zahn der Zeit widerstanden hatte, oder ob es sich nur noch um eine belanglose Kuriosität aus einer vergangenen Zeit handeln würde (ob er daraufhin eine Antwort aus Warschau erhielt, ist mir nicht bekannt). Unter den Filmstudenten in Łódź, die dort DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES zu Gesicht bekamen, dürfte sich auch ein gewisser Roman Polanski befunden haben, denn in Polanskis mehrfach preisgekröntem Kurzfilm DWAJ LUDZIE Z SZAFĄ (ZWEI MÄNNER UND EIN SCHRANK) von 1958 wird ebenfalls ein Schrank mit Spiegel von zwei Männern durch die Gegend getragen. Von einer Freundin darauf angesprochen, meinten die Themersons gelassen: "Polen ist ein Land, in dem zwei Leute einen Schrank tragen müssen - das passiert eben alle 20 oder 30 Jahre!"

Zwei Männer und ein Spiegelschrank - links bei den Themersons, rechts bei Polanski
In London drehten die Themersons während des Krieges ihre letzten beiden Filme, und zwar im Auftrag der Polnischen Exilregierung. CALLING MR. SMITH von 1943 ist inhaltlich ein astreiner Anti-Nazi-Propagandafilm, aber formal auch schon fast avantgardistisch:



Das hier verwendete Farbverfahren Dufaycolor war eines der beiden europäischen Farbfilmverfahren (das andere war Gasparcolor), die in den 30er und 40er Jahren in Europa vorwiegend für Animationsfilme verwendet wurden (auch Len Lye benutzte beide Verfahren, auch in den Filmen, die 1937 in Polen gezeigt wurden). Erstaunlicherweise hatte die britische Zensurbehörde BBFC Einwände gegen den Film, weil ihr manche Bilder zu drastisch waren, vor allem eine an einem Galgen hängende Frau. Produziert wurde CALLING MR. SMITH laut Credits von einem E. Cekalski - es ist kein Anderer als das frühere START- und SAF-Mitglied Eugeniusz Cękalski. Er war zunächst in Paris und dann in London Leiter der Filmabteilung der polnischen Exilregierung, und er inszenierte in England auch selbst eine Reihe von kurzen Dokumentar- und Propagandafilmen, meist in Zusammenarbeit mit dem Schauspieler und Produzenten Derrick de Marney. Nach dem Krieg ging er zurück nach Polen, inszenierte weiter Filme und beteiligte sich am Aufbau der Filmhochschule Łódź. Cękalski starb 1952 mit 45 Jahren.

CALLING MR. SMITH - die Zensoren mochten dieses Bild nicht
Mit THE EYE & THE EAR wandten sich die Themersons wieder einem Thema zu, das Stefan schon in seinem frühen Essay "Über die Möglichkeiten des Radios" von 1928 beschäftigt hatte: Ob und wie man akustische und visuelle Eindrücke auf eine irgendwie logische, also nicht rein willkürliche, Art und Weise miteinander synchronisieren oder aufeinander abbilden könne:



Als Anschauungsmaterial dienen vier Stücke des Komponisten Karol Szymanowski. Es singt die aus der Schweiz stammende Sopranistin Sophie Wyss, und der als Dirigent genannte Ronald Biggs war selbstverständlich nicht der spätere legendäre Posträuber, sondern ein Namensvetter. Einmal mehr kommen bewegte Fotogramme ausgiebig zum Einsatz. Bei diesen letzten beiden Filmen waren die Themersons wohl nicht mehr mit vollem Einsatz bei der Sache - jedenfalls schrieb Stefan Ende 1945 in einem Brief an Aleksander Ford, dass sie diese Filme mehr aufgrund der äußeren Umstände denn aus einem echten künstlerischen Drang heraus realisiert hätten. Das Thema von THE EYE & THE EAR beschäftigte zumindest Stefan jedoch weiter. Noch bis in die 60er Jahre hinein trug er sich mit dem Gedanken, ein Gerät zu bauen (oder von einem Techniker bauen zu lassen), mit dem sich die Gesetze der gegenseitigen Abbildung von optischen und akustischen Reizen (falls es solche Gesetze überhaupt gäbe) erforschen ließen, und er nannte ein solches Gerät mal Synæstetic Sight and Sound Co-ordinator, mal Phonovisor. Doch zur praktischen Umsetzung fehlte immer das Geld, so dass diese Pläne nie realisiert wurden. In einem Brief von 1963, in dem er den damaligen Stand seiner Gedanken zu diesem Thema darlegte, wünschte sich Stefan auch die Möglichkeit, aus grafischen Mustern automatisiert Töne und Musik zu erzeugen. Vermutlich wusste er damals nicht, dass ausgerechnet in England so etwas gerade entwickelt wurde, nämlich Oramics von Daphne Oram. Dabei handelte es sich um einen analogen Synthesizer, der durch auf 35mm-Filmstreifen gezeichnete Muster programmiert wurde.

Nach dem Krieg wurde Aleksander Ford, Freund und SAF-Kollege der Themersons, im nunmehr kommunistischen Polen für einige Jahre Leiter des gesamten verstaatlichten Filmwesens. Im Herbst 1945 entsandte er eine zweiköpfige Delegation nach London, bestehend aus den START- bzw. SAF-Veteranen und Themerson-Freunden Jerzy Toeplitz und Stanisław Wohl, um das Paar zur Rückkehr nach Polen zu bewegen. Doch die Frage der Themersons, ob sie in Polen wieder frei in ihrem alten Stil Filme machen könnten, musste von den Emissären verneint werden, und so lehnten Stefan und Franciszka dankend ab und blieben lieber in England, und sie schrieben den oben erwähnten Brief an Ford, in dem sie hoffnungsvoll den Werken einer neuen polnischen Avantgarde unter Fords Patronat entgegensahen (offenbar ahnten sie da noch nicht, dass der strikt verordnete "Sozialistische Realismus" kaum noch Experimente zuließ). Wie es den Themersons wohl in Polen ergangen wäre? Darüber kann man natürlich nur vage Spekulationen anstellen. Da mit Ford, Toeplitz und Cękalski mindesten drei frühere START- und SAF-Mitglieder führende Positionen an der Filmhochschule Łódź innehatten, wären vielleicht auch Stefan und Franciszka als Dozenten dort untergekommen. Und als Juden wären sie vermutlich 1968 unter Druck geraten. Im Gefolge des Sechstagekriegs von 1967 kam es in Polen zu einer staatlich verordneten antisemitischen Kampagne, die sich nach Studentenunruhen im Frühjahr 1968 noch verstärkte. Aleksander Ford, Jude und immer überzeugter Kommunist, sah sich plötzlich heftigen Anfeindungen ausgesetzt, verlor alle öffentlichen Positionen und wurde ins Exil gedrängt. Ab 1968 lebte und arbeitete er nacheinander in Israel, Dänemark, Westdeutschland und in den USA, aber seine beiden in der Emigration gedrehten Filme hatten keinen Erfolg, er wurde nirgends richtig heimisch, und 1980 nahm er sich in einem Hotel in Florida das Leben. Auch Toeplitz, ebenfalls Jude, kam unter Druck. Er verließ Polen erst 1972 und ließ sich in Australien nieder, wo er sich eine zweite akademische Karriere aufbaute und seine schon in den 50er Jahren begonnene sechsbändige Filmgeschichte vollendete.

1948 gründeten die Themersons Gaberbocchus Press, einen ambitionierten kleinen Verlag, der liebevoll gestaltete und handwerklich sorgfältig erstellte Bücher in kleiner Auflage herausbrachte (die ersten beiden Titel wurden sogar noch - natürlich in sehr kleiner Auflage - mit einer Handpresse in ihrer eigenen Wohnung gedruckt). Der Verlag wurde zum wichtigsten Lebensinhalt in ihrer zweiten Lebenshälfte. "Gaberbocchus" ist die latinisierte Version von "Jabberwocky" - Lewis Carrolls Onkel Hassard H. Dodgson hatte das bekannte Nonsensgedicht ins Lateinische übersetzt (wobei es noch mindestens zwei weitere lateinische Versionen gibt). Gaberbocchus Press existierte als unabhängiger Verlag bis 1979, und in diesen gut 30 Jahren erschienen darin 60 Bücher - neben Stefans Werken (Romane, Gedichte, Essays und theoretische Schriften) englische Übersetzungen von so illustren Autoren wie Kurt Schwitters (die Themersons hatten Schwitters 1944 kennengelernt und sich mit ihm befreundet), Alfred Jarry, Guillaume Apollinaire und Raymond Queneau, die oft in Zusammenarbeit mit der bedeutenden Übersetzerin Barbara Wright entstanden. Auch Anatol Sterns "Europa" erschien bei Gaberbocchus, übersetzt von Stefan selbst zusammen mit dem Beat-Poeten (und Schwitters-Verehrer) Michael Horovitz, Aesop und Christian Dietrich Grabbe kamen zu Ehren, und Bertrand Russell veröffentlichte zwei Bücher bei Gaberbocchus (und er schrieb für Stefans in Südfrankreich begonnenen Roman "Professor Mmaa's Lecture" ein Vorwort). Mit zunehmendem Alter wurden die kinderlosen Themersons für etliche der von ihnen protegierten Autoren und Kümstler zu väterlichen bzw. mütterlichen Freunden. 1979 verkauften sie Gaberbocchus auf ihren eigenen Wunsch hin an den holländischen Verlag De Harmonie. - Ab 1958 betrieben die Themersons für einige Jahre den Gaberbocchus Common Room, eine Art Mischung aus Pub und Künstlersalon, in dem regelmäßig Treffen und Diskussionen von Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern (darunter Bertrand Russell) stattfanden und auch (natürlich experimentelle) Filme gezeigt wurden.

Franciszka Themerson schuf nicht nur Gemälde und Zeichnungen, die regelmäßig in Ausstellungen gezeigt wurden, sondern auch viele Illustrationen für bei Gaberbocchus erschienene Bücher. Besonders angetan hatte es ihr Alfred Jarrys Ubu roi. Für die 1951 bei Gaberbocchus erschienene, von Barbara Wright übersetzte Fassung steuerte sie über 200 Illustrationen bei, sie schuf die Kostüme und das Bühnenbild für eine sehr erfolgreiche Produktion des Stücks an Michael Meschkes Stockholmer "Marionettentheater", und sie kreierte schließlich eine eigene Comic-Version, die aus 90 meterlangen Zeichnungen bestand. - Stefan und Franciszka Themerson starben beide 1988 in London, im Abstand von gut zwei Monaten.

Franciszkas Kreationen für Ubu roi in Stockholm
Von den in Polen zurückgebliebenen Mitgliedern von Stefans und Franciszkas jüdischen Familien hatte fast niemand Krieg und Holocaust überstanden. Aber Franciszkas 1933 geborene Nichte Jasia Reichardt hatte überlebt, und 1946 machten die Themersons sie ausfindig und holten sie zu sich nach London, um für sie zu sorgen. Jasia Reichardt wurde eine bekannte Kunstkritikerin und Ausstellungsgestalterin, die sich für zeitgenössische Kunstströmungen und vor allem für Computerkunst engagierte. Mit von ihr kuratierten Ausstellungen wie Between Poetry and Painting (1965) und Cybernetic Serendipity (1968) hat sie sich bleibende Verdienste erworben. Nach dem Tod der Themersons übernahm sie deren umfangreichen künstlerischen Nachlass und überführte ihn in eine Stiftung, die sie zusammen mit dem Künstler und Kunsthistoriker Nick Wadley verwaltete. Im Januar 2015 wurde das gesamte Archiv an die Polnische Nationalbibliothek übereignet, in Form von über 200 Kartons mit einem Gesamtgewicht von 3,5 Tonnen nach Warschau gebracht und von der polnischen Kultusministerin persönlich in Empfang genommen.

Die verlorenen Filme der Themersons haben bei manchen späteren Zeitgenossen die Fantasie angeregt und den Wunsch nach einer "Rekonstruktion" geweckt. Der 1956 in Łódź geborene Piotr Zarębski versuchte sich 1988 an einer Rekonstruktion von EUROPA mit dem Titel EUROPA II, wobei er sich auf erhaltene Standbilder aus dem Original, das Drehbuch und persönliche Informationen von Stefan Themerson stütze. Dieser gab Zarębski brieflich den Rat, sich nicht an einer engen Rekonstruktion, sondern lieber an einer freien Interpretation zu versuchen. Wie weit Zarębski diesen Rat befolgte, weiß ich nicht. - Und der 1957 geborene Amerikaner Bruce Checefsky legte 2001 bzw. 2008 Rekonstruktionen von APOTHEKE und MUSIKALISCHES MOMENT vor (Ausschnitte: 1, 2, 3), wobei er sich auf ähnliche Quellen stützte wie Zarębski. Wie nahe all diese Rekonstruktionen dem jeweiligen Original kommen, kann ich natürlich nicht beurteilen (und sonst vermutlich auch niemand mehr).

Animierte Credits im Stil der Themersons
2010 legte die junge Regisseurin Wiktoria Szymańska als ihren ersten Film die gut 70-minütige Doku THEMERSON & THEMERSON vor. Es gibt reichlich Archivmaterial zu sehen, und der englische Lebensabschnitt des Paars wird von etlichen Wegbegleitern erhellt, darunter Jasia Reichardt, Barbara Wright (die 2009 verstarb und somit gerade noch rechtzeitig interviewt wurde), Michael Horovitz (der es sich nicht nehmen ließ, ein Nies-Gedicht von Schwitters zu rezitieren) und die Malerin und Schriftstellerin Cozette de Charmoy, deren erstes Buch The True Life of Sweeney Todd bei Gaberbocchus verlegt wurde, sowie einige mehr. Durch diese persönlichen Sichtweisen entsteht ein informatives und warmherziges Portrait des eigenwilligen und leicht versponnenen Paars. Auch bei der formalen Gestaltung hat sich die Regisseurin Mühe gegeben, so sind etwa die animierten Credits im Stil von Franciszkas Zeichnungen und Stefans "semantischen Gedichten" gestaltet. - Die englische Firma LUX hat in Zusammenarbeit mit einem polnischen Kunstzentrum eine DVD mit den drei überlebenden Filmen der Themersons herausgebracht (im Gegensatz zur YouTube-Version hat DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES hier engl. Untertitel). Die Scheibe selbst enthält kein Bonusmaterial und somit nur ungefähr eine halbe Stunde Film, es gibt aber ein zweisprachiges (Englisch/Polnisch) Booklet mit ca. 40 engl. Seiten. Dieses Büchlein ist sehr infornativ und bildet eine der Quellen für diesen Artikel, verfügt allerdings über eine lausige Klebebindung - mir fliegen jetzt schon alle Seiten einzeln entgegen. Die DVD findet sich zumindest derzeit nicht bei den üblichen Online-Shops, kann aber direkt bei LUX bestellt werden.

Dienstag, 14. Juli 2015

Casa Ricordi: Oper als Film, Film als Oper

Oder: Ein Reader's Digest der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts

CASA RICORDI (DAS HAUS RICORDI)
Italien/Frankreich 1954
Regie: Carmine Gallone
Darsteller: Paolo Stoppa (Giovanni Ricordi), Renzo Giovampietro (Tito I Ricordi), Andrea Checchi (Giulio Ricordi), Roland Alexandre (Gioachino Rossini), Marcello Mastroianni (Gaetano Donizetti), Maurice Ronet (Vincenzo Bellini), Fosco Giachetti (Giuseppe Verdi), Gabriele Ferzetti (Giacomo Puccini), Märta Torén (Isabella Colbran), Roldano Lupi (Domenico Barbaja), Micheline Presle (Virginia Marchi), Nadia Gray (Giulia Grisi), Myriam Bru (Luisa Lewis), Elisa Cegani (Giuseppina Strepponi), Fausto Tozzi (Arrigo Boito), Danièle Delorme (Maria)

Giovanni Ricordi in der Scala
Rossini, Donizetti, Bellini, Verdi, Puccini. Die klangvollen Namen stehen für rund hundert Jahre italienischer Operngeschichte, die grob vom Beginn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts reicht, und CASA RICORDI ist ein Episodenfilm, der jedem der fünf Meister einen Abschnitt widmet. Gekrönt sind die Episoden jeweils durch eine Arie des in diesem Abschnitt behandelten Komponisten, dargeboten auf einer Opernbühne im farbenfroh-opulenten Stil des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich um Ausschnitte aus Rossinis "Der Barbier von Sevilla", Donizettis "Der Liebestrank", Bellinis "Die Puritaner", Verdis "Othello" und Puccinis "La Bohème". Carmine Gallone stellte dazu keine Opernsänger auf die Bühne, sondern Schauspieler, und ließ sie von professionellen Sängern stimmlich doubeln - darunter so klangvolle Namen wie Mario del Monaco (der den Othello singt) und Renata Tebaldi (Mimi in "La Bohème"). Als Aufhänger und verbindende Klammer des Ganzen fungiert eine Familien- und Firmengeschichte: Der in Mailand beheimatete Musikverlag Casa Ricordi wurde bald nach seiner Gründung im Jahr 1808 zum weltweit führenden Verlag für Opernpartituren und sonstige klassische Musik, und CASA RICORDI folgt über mehrere Generationen den Leitern des Verlags, der ca. 150 Jahre lang ein Familienbetrieb blieb (ohne intensiv auf deren Geschicke einzugehen - im Vordergrund stehen immer die Komponisten). Auch die fünf im Film behandelten Tonsetzer waren alle bei Casa Ricordi unter Vertrag.

Rossini und Isabella Colbran
Während bei den meisten italienischen und französischen Episodenfilmen der 50er und 60er Jahre jede Episode von einem anderen Regisseur realisiert wurde, lag hier alles in den Händen von Carmine Gallone. Allerdings gibt es sechs Drehbuchautoren (einer davon ist Gallone), und bei jedem ist übereinstimmend in der IMDb "story and screenplay" vermerkt. Ohne dass ich eine Bestätigung dafür gefunden hätte, legt das den Verdacht nahe, dass einer von ihnen für die Rahmenhandlung und von den anderen jeder für eine Episode verantwortlich war - insofern also doch ein typischer Episodenfilm. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht und nachgeprüft, was an der Handlung authentisch und was erfunden ist - von einem solchen Film erwartet ohnehin niemand historische Genauigkeit. Das Folgende ist also der Inhalt des Films, aber nicht unbedingt im Detail die historische Wahrheit.

Der "Barbier von Sevilla" - erst Debakel, dann Triumph
1808 im napoleonisch regierten Mailand: Der Drucker Giovanni Ricordi macht mit überall angeklebten Flugblättern Reklame für seine Künste, und das bringt ihm einen Auftrag des damals schon renommierten Opernhauses, der Scala, ein: Er soll Noten in einem Rekordtempo drucken, das kein Konkurrent liefern kann. Ricordi nimmt den Auftrag an und gestaltet die Konditionen zu scheinbar für ihn ungünstigen Bedingungen um: Statt sich in Geld bezahlen zu lassen, verlangt er die Berge an altem, mit Noten beschriebenem Papier (samt Verwertungsrechten), das in den Kellergewölben der Scala unbeachtet vor sich hin gammelt. Der Intendant der Oper hält ihn für verrückt, doch in Wirklichkeit hat sich Ricordi damit eine Goldgrube eröffnet. Im sich schnell entwickelnden Markt für Partituren erlangt Casa Ricordi bald ein Quasi-Monopol, und Giovanni kann von den Direktoren der Opernhäuser ebenso wie von der Laufkundschaft viel höhere Preise verlangen, als sie bislang üblich waren. Doch er handelt nicht nur eigennützig: In bisher ungekanntem Ausmaß beteiligt er auch die Komponisten an den Einnahmen, und er gewinnt so ihr Vertrauen, ja ihre Zuneigung, und er kann viele mit langfristigen Verträgen an sein Haus binden.

Donizetti und Virginia Marchi; unten Marchi in "Der Liebestrank"
Gleich einer der ersten seiner neuen Klienten ist ein abgerissener junger Hungerleider, ein gewisser Gioachino Rossini, den er erst einmal mit einem von seiner Frau gekochten Gulasch aufpäppeln muss, bevor über Musik und Geschäfte gesprochen werden kann. Nach ersten Erfolgen arbeitet Rossini an einer Vertonung des Librettos "Der Barbier von Sevilla", und das ist ein gewagtes Unterfangen, weil bereits Jahre zuvor Giovanni Paisiello dasselbe Libretto zu einer Oper gemacht hatte. Paisiello hat viele fanatische Anhänger, die es als Majestätsbeleidigung auffassen werden, wenn ein Emporkömmling denselben Stoff nochmal in die Finger nimmt und damit die Künste ihres Idols in Frage stellt. Rossini hat auch ein hausgemachtes Problem: Er ist ein heißblütiger Frauenheld, und er beginnt eine Affäre mit der Sängerin Isabella Colbran, die eigentlich mit Rossinis Freund Domenico Barbaja liiert ist, dem Impresario des Opernhauses in Neapel, wo er seine ersten Opern zur Aufführung brachte. Eigentlich wollte Barbaja seinen Freund gegen Paisiello unterstützen, aber zufällig bekommt er Wind vom Verhältnis Rossinis mit Isabella, und so macht er nun das Gegenteil. So gerät die Uraufführung in Rom zum Debakel mit teilweise unfreiwillig komischen Einlagen. Anhänger Paisiellos und bezahlte Störer pfeifen pausenlos, und Rossini ist am Boden zerstört. Doch sein Aufstieg lässt sich nicht verhindern: Ricordi hält an ihm fest, setzt sofort eine neue Aufführung mit aufgeschlossenerem Publikum durch, und die gerät zum Triumph. Selbst Barbaja hat ein Einsehen und gibt der Oper ebenso wie Rossini und Isabella seinen Segen.

Generationenwechsel - Giovanni und Tito Ricordi
Der Einzige, der bei der ersten Aufführung Rossini verteidigt hat, war ein junger Mann, der selbst Musiker ist. Er stellt sich Ricordi als Gaetano Donizetti vor und wird bald selbst unter Vertrag genommen. In einem raffiniertem Schachzug erledigt Ricordi gleich mehrere Probleme gleichzeitig. Denn er selbst und mit ihm zusammenarbeitende Operndirektoren leiden unter den Launen der Diva Virginia Marchi, der man nichts recht machen kann, und die wegen jeder Kleinigkeit vor Gericht zieht. Ricordi arrangiert Proben von Donizetti mit Marchi, und trotz einiger Irritationen zwischen den beiden ist am Ende Marchi einmal zufrieden, Donizetti hat eine erstklassige Sängerin für die Titelpartie, die Direktoren akzeptieren Donizettis Werk für ihr Haus, und so steht einer triumphalen Premiere nichts mehr im Weg - und Donizetti und Virginia werden auch noch ein Paar. - Jahre später. Giovanni Ricordis Sohn Tito ist inzwischen ein junger Mann, der sich im Verlag engagiert, und - teilweise gegen den Widerstand seines Vaters - einige Neuerungen einführt, z.B. neue Druckverfahren. Nun wird er nach Paris geschickt, wo Vincenzo Bellini lebt und arbeitet, bereits ein Starkomponist. Doch in letzter Zeit hat man nichts mehr von ihm gehört, es gibt nur Gerüchte über seine angegriffene Gesundheit. Tito reist also nach Paris, um sich nach Bellinis Befinden zu erkundigen. Wie sich erweist, wird Bellini von seiner Geliebten Luisa Lewis in einer Villa außerhalb von Paris abgeschirmt und vor seinen Freunden, die ihn besuchen wollen, verleugnet - angeblich, um ihn zu schonen, aber in Wirklichkeit aus Eigennutz, weil sie ihn mit niemandem teilen will, wie der Arzt des tatsächlich kranken Bellini konstatiert. Insbesondere vor Bellinis früherer Geliebten Giulia Grisi, die zugleich die Sängerin seiner großen Partien ist, will sie ihn fernhalten. Erst als er am Abend der Premiere seiner neuen und letzten Oper im Fieberwahn zusammenbricht, erkennt Luisa ihren Fehler. Sie fährt mit einer Kutsche in die Oper, gesteht ihre Machenschaften und fordert Giulia, Tito und den mit Bellini befreundeten Rossini auf, mit ihr zu Bellini in die Villa zu kommen. In einer rasenden nächtlichen Kutschfahrt bei Gewitter, die wie ein Ausflug in den Gothic Horror wirkt, eilen die vier in die Villa - nur um Bellini tot auf dem Boden liegend vorzufinden. Verzweifelt bricht Luisa über ihm zusammen.

"Die Puritaner"; Bellini liegt krank darnieder; Giulia Grisi, Tito Ricordi und Rossini in Bellinis
Sterbezimmer; der tote Bellini und Luisa Lewis - Finale wie in der Oper
Erneuter Sprung in die Zukunft: Giovanni Ricordi ist tot, Tito ist der Chef des Hauses Ricordi, und der immer noch expandierende Verlag hat ein neues, größeres Gebäude bezogen. Titos Sohn Giulio stößt sich in den Revolutionswirren 1848 die Hörner ab und engagiert sich dann ebenfalls im Verlag. Der neue Star des Hauses heißt Giuseppe Verdi. Doch nachdem er für "Ein Maskenball" schlechte Kritiken erntet, gerät Verdi in eine tiefe Schaffenskrise. Die neue Mode der Wagner-Oper hat auch in Italien ihre Anhänger gefunden, und Verdi wird von einem Teil der Kritiker als altmodisch geschmäht. Beleidigt beschließt der Maestro, überhaupt keine Musik mehr zu schreiben, sondern sich als Edel-Bauer auf sein Landgut zurückzuziehen. Verdis Frau Giuseppina und sein Librettist Arrigo Boito können nur mit Mühe verhindern, dass er die schon begonnene Partitur zu "Othello" vernichtet, aber weder sie noch Giulio Ricordi (der in die Fußstapfen von Tito getreten ist, der sich zur Ruhe gesetzt hat) können ihn dazu bewegen, wieder zu komponieren. Der Umschwung kommt erst, als Verdi nach Parma fährt und mit seiner Kutsche mitten zwischen die Fronten von rebellierenden Armen und schussbereiter Polizei gerät. Als man ihn erkennt, stimmen die Massen spontan den Gefangenchor aus "Nabucco" an, und nun begreift Verdi, wer sein wahres Publikum ist: nicht die Kritiker, mögen sie ihn feiern oder verdammen, sondern das einfache Volk, das seine Musik liebt. Er macht sich wieder an die Arbeit zum "Othello", und einmal mehr endet eine Episode in diesem Film mit einer umjubelten Premiere.

Verdi als Ehrengast bei den Ricordis und zwischen den Fronten in Parma
Und schließlich Giacomo Puccini. Wir befinden uns mittlerweile im Jahr 1895, "im Zeitalter des Eiffelturms", wie jemand im Film sagt, denn Puccini recherchiert in Paris. Das Café Momus im Quartier Latin, in dem sich die Protagonisten von Henri Murgers Scènes de la vie de bohème trafen, existiert schon lange nicht mehr, doch Puccini will jenen Stoff zu einer Oper mit dem Titel "La Bohème" machen. In einer Parallele zwischen Roman und Oper einerseits und der Wirklichkeit andererseits lernt Puccini eine Clique junger Künstler kennen, die ohne Geld, aber sorglos in den Tag hinein leben. Eine von ihnen ist Maria, und Puccini verliebt sich in sie. Doch wie Mimi, die Heldin von "La Bohème", leidet auch Maria an der Schwindsucht, aber sie verschweigt Puccini ihren Zustand. Die Premiere von "La Bohème" findet in Italien statt, und Puccini war zur Vorbereitung schon - ohne Maria - einige Wochen anwesend. Nun soll zum Premierenabend Giulio Ricordis Sohn, der wie sein Großvater Tito heißt (zur besseren Unterscheidung werden sie auch als Tito I und Tito II bezeichnet), Maria mit dem Zug aus Paris holen. Doch er bringt nur die Nachricht, dass sie vor vier Wochen gestorben ist. So endet diese Episode für Puccini mit einem künstlerischen Erfolg, aber in Trauer. Und damit endet auch der Film - nein, nicht ganz. Als Giulio Ricordi wieder im Verlagshaus ist, wartet dort ein junger Musiker, der um ein Gespräch gebeten hat, und der zum Zeitvertreib ein paar seiner eigenen Noten auf dem Klavier spielt. Giulio hält einige Momente inne und lauscht interessiert den Klängen, bevor er sich dem jungen Mann zuwendet. Das Leben geht weiter, und die Musikgeschichte auch ...

Othello und die tote Desdemona
Man muss weder Opernexperte noch Opernliebhaber sein, um CASA RICORDI etwas abgewinnen zu können (wie ich als Opernmuffel hiermit ausdrücklich bestätige). Der Film ist in keiner Weise tiefschürfend, aber er bietet ansehnliche Schauwerte, insbesondere prächtige Technicolor-Farben, und mit seiner episodischen und anekdotenhaften Struktur wird er über seine Länge von ungefähr zwei Stunden hinweg nie langatmig, sondern bietet kurzweilige Unterhaltung (wobei die deutsche Version, die ich gesehen habe, um ungefähr 10 Minuten gekürzt ist). Große Gefühle und Dramatik (eben wie in der Oper) gibt es auch, vor allem das Finale der Bellini-Episode ist hier fast eine Oper im Kleinen.

Puccini und Maria
So etwas wie ein Reader's Digest (was ich hier nicht abwertend meine) ist CASA RICORDI nicht nur in Bezug auf 100 Jahre Operngeschichte, sondern auch hinsichtlich Carmine Gallones Schaffen. Gallone (1885-1973) war ein sehr produktiver Regisseur, der seit 1913 ca. 125 Filme drehte und dabei natürlich verschiedene Genres bediente. So schuf er etwa aufwändige Historienepen, z.B. eine dreistündige Stummfilmfassung von DIE LETZTEN TAGE VON POMPEJI (1926), den im Zweiten Punischen Krieg spielenden KARTHAGOS FALL (1937), der als der teuerste Film des faschistischen Italien gilt, MESSALINA (1951), DER KURIER DES ZAREN (1956, die Version mit Curd Jürgens) und zuletzt KARTHAGO IN FLAMMEN (1960, diesmal ist es der Dritte Punische Krieg). Bei uns ist Gallone wahrscheinlich am besten als Regisseur des dritten und vierten der Don-Camillo-Filme mit Fernandel und Gino Cervi in Erinnerung. Aber sein eigentliches Metier war der Opernfilm: MADAME BUTTERFLY (1939), RIGOLETTO (1946), VERDIS LA TRAVIATA (1947, auch als DIE KAMELIENDAME), IHRE WUNDERBARE LÜGE (1947, wie der Originaltitel ADDIO MIMÌ! schon vermuten lässt, handelt es sich um "La Bohème"), DER TROUBADOUR (1949), LA LEGGENDA DI FAUST (1949, nach "Mefistofele" von Arrigo Boito, der nicht nur Librettist, sondern auch Komponist war), SIZILIANISCHE LEIDENSCHAFT (CAVALLERIA RUSTICANA, 1955), MADAME BUTTERFLY (1954), und schließlich TOSCA (1956). Dazu kamen noch einige Musikerbiografien wie DREI FRAUEN UM VERDI (1938), MELODIE ETERNE (1940, mit Gino Cervi als Mozart - kein Witz!), und PUCCINI - LIEBLING DER FRAUEN (1953). Fosco Giachetti, Gallones Verdi in CASA RICORDI, spielte auch schon im Film von 1938 den Maestro, und auch Gabriele Ferzetti war schon im Puccini-Film von 1953 in der Titelrolle zu sehen, wo auch Märta Torén, Nadia Gray, Myriam Bru und Paolo Stoppa mitspielten, die allesamt in CASA RICORDI wieder auftauchten. Bei all diesen (und noch weiteren) Filmen konnte Gallone auf begnadete Stimmen zurückgreifen (als Schauspieler oder Sänger-Doubles), wie etwa mehrfach Beniamino Gigli, Jan Kiepura und Maria Cebotari. CASA RICORDI bildet also so etwas wie einen Schnelldurchlauf, einen (wenn auch sicher nicht repräsentativen) Querschnitt durch Gallones Werk als Opernfilmregisseur.

"La Bohème" - Mimi auf ihrem Sterbebett; Marias Platz in der Vorstellung bleibt frei
CASA RICORDI ist in Italien auf DVD erschienen (ohne fremdsprachige Untertitel). Die Originalfassung ist derzeit auch auf YouTube zu finden (ebenfalls ohne Untertitel). Die deutsche Fassung mit einer Fernseh-Laufzeit von 104 Minuten (was einer Kino-Laufzeit von gut 108 Minuten entspricht) war letztens in mindestens zwei Dritten Programmen zu sehen. Vielleicht lohnt es sich, darauf zu achten, ob sie nochmal irgendwo läuft.

Giulio Ricordi, bereit für einen neuen Klienten - vielleicht ein neues Genie

Dienstag, 3. Februar 2015

LE CORBEAU - ein Rabe schreibt anonyme Briefe

Dies ist die leicht überarbeitete Version eines Artikels, den ich 2004 (ohne Bilder) in der Newsgroup de.rec.film.misc und 2006 als PDF in der Filmzentrale veröffentlicht hatte.


LE CORBEAU (DER RABE)
Frankreich 1943
Regie: Henri-Georges Clouzot
Darsteller: Pierre Fresnay (Dr. Remy Germain), Ginette Leclerc (Denise Saillens), Pierre Larquey (Dr. Michel Vorzet), Micheline Francey (Laura Vorzet), Héléna Manson (Marie Corbin), Sylvie (François' Mutter), Liliane Maigné (Rolande Saillens)

LE CORBEAU hat Henri-Georges Clouzot jede Menge Ärger eingetragen, und er hätte beinahe seine Karriere ruiniert, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. Doch der Reihe nach!

Der Schauplatz
Eine kleine Stadt, hier oder anderswo.

Mit dieser Einblendung am Ende der Anfangs-Credits wird der Zuschauer auf den Schauplatz eingestimmt, und eine Kamerafahrt visualisiert die Worte: Ein Schwenk über die Dächer der Stadt in einer ländlichen Gegend, eine alte Kirche, ein pittoresker Friedhof. Man befindet sich in einem abgeschlossenen Mikrokosmos. - Ein Bauernhof, ein paar hundert Meter außerhalb der Stadt: Dr. Remy Germain verlässt mit blutbesudelten Händen das Haus und wäscht sie sich in einem Bottich. Er hat gerade eine Operation - wohl einen Kaiserschnitt - durchgeführt; die Mutter lebt, das Kind ist tot. Dr. Germain ist der Held - wenn man ihn denn so nennen will - unserer Geschichte. Er macht seine Arbeit als Arzt professionell und pflichtbewusst, aber er ist ein abweisender Charakter von einer bisweilen arrogant wirkenden Distanziertheit.

Dr. Remy Germain ...
Ins städtische Krankenhaus zurückgekehrt, spricht ihn sein Kollege Dr. Bertrand auf das Ergebnis der Operation an, verweist darauf, dass das Resultat - Mutter lebt, Kind tot - bei Germain schon mehrmals vorgekommen sei, und beschuldigt ihn unverhohlen, eine (damals streng verbotene) Abtreibung durchgeführt zu haben, was Germain jedoch erzürnt zurückweist. Der hinzugekommene Chefarzt Dr. Delorme entschärft den Streit, indem er die beiden einlädt, ein Gangrän zu besichtigen: "Eine wahre Sehenswürdigkeit", stellt er abgebrüht fest, "unbezahlbar!". Zuvor schon hat er seine eigene Frau in einer Nebenbemerkung unverblümt als "Kuh" bezeichnet, "aber glücklicherweise habe ich noch meine Pfeife, und Alkohol natürlich". Schon in den ersten knappen Dialogen offenbart sich Clouzots bitteres, sarkastisches Menschenbild.

... hat eine Auseinandersetzung mit Dr. Bertrand
Wir lernen weitere Menschen im Umfeld des Krankenhauses kennen. Da ist die altjüngferlich wirkende Krankenschwester Marie Corbin. Sie ist nicht wirklich hässlich, aber mit ihrem verkniffenen Gesichtsausdruck und mit ihrer nonnenähnlichen Schwesterntracht, die sie auch in ihrer Freizeit trägt, wirkt sie alles andere als attraktiv. Ihr schroffes Wesen, auch den Patienten gegenüber, sorgt dafür, dass sie sich allgemeiner Unbeliebtheit erfreut. Ganz anders Maries jüngere Schwester Laura Vorzet, die als freiwillige Helferin zeitweise im Krankenhaus arbeitet. Laura ist jung, hübsch, freundlich und beliebt. Marie wirft ihrer Schwester vor, dass sie sich nur deshalb so oft im Krankenhaus aufhält, weil sie Dr. Germain nachstellt, und sie bezeichnet Laura offen als Hure. Laura ist die Ehefrau des wesentlich älteren Dr. Michel Vorzet, des Leiters der psychiatrischen Abteilung im Krankenhaus.

Marie Corbin (links) und ihre Schwester Laura Vorzet
Dieser Dr. Vorzet ist ein Spötter, ein geistreicher Zyniker mit einer guten Portion Selbstironie. Bei seinem ersten Auftritt kommt er gerade von einem Fachkongress nach Hause, und er begrüßt Laura mit folgender kleinen Ansprache:
"Ich kenne nichts Absurderes als Ärztekongresse - ausgenommen Psychiaterkongresse. Niemand hört den Vortragenden zu - gottseidank! Anderenfalls gäbe es schallendes Gelächter. Der einzige nützliche Zweck dieser Veranstaltungen ist, dass Provinzärzte die Gelegenheit erhalten, ihre Frauen mit Pariserinnen zu betrügen."
Der Routinier Pierre Larquey ist die Idealbesetzung für Vorzet. Larquey war schon 47 Jahre alt, als er 1931 ernsthaft ins Filmgeschäft einstieg, aber das hielt ihn nicht davon ab, in noch etwa 200 Filmen mitzuwirken, darunter insgesamt fünf von Clouzot.

Dr. Vorzet
Unterdessen ertappt Germain Marie Corbin, wie sie einen von ihm verfassten Brief aus seinem Ärztekittel zieht. Er nimmt ihr den an Laura adressierten Brief ab und zerreißt ihn. Zugleich stellt er sie zur Rede, weil im Medikamentenschrank des Krankenhauses Morphium abhanden gekommen ist. Er beschuldigt sie, das Morphium gestohlen zu haben, und fordert sie auf, es wiederzubeschaffen. Das Betäubungsmittel wird dringend für François benötigt, einen jungen Patienten. Er leidet an Leberkrebs und hat noch höchstens zwei Wochen zu leben, aber man verheimlicht ihm seinen Zustand. - Dr. Germain bewohnt eine Wohnung in den oberen Stockwerken des örtlichen Schulgebäudes; sein Vermieter Saillens ist zugleich der Schuldirektor. Dessen 14-jährige Tochter Rolande schleicht im Haus herum und benimmt sich merkwürdig, wenn Germain in der Nähe ist. Zuhause angekommen, wird Germain von Saillens gebeten, nach seiner jüngeren Schwester Denise Saillens zu sehen, die ebenfalls im Schulhaus wohnt, weil sie krank sei. Doch Germain findet schnell heraus, dass ihr nichts fehlt - die laszive, männermordende Denise wollte sich nur untersuchen lassen, um ihn zu verführen, doch er lässt sie abblitzen.

François und seine Mutter
Kurz darauf erfährt Germain, dass Laura einen anonymen Brief erhalten hat. Darin wird sie beschimpft und beschuldigt, Germains Geliebte zu sein. Doch auch er selbst hat einen ähnlichen Brief erhalten. "Du Lüstling", heißt es da, "hör auf, mit Vorzets Frau Laura-die-Hure herumzumachen". Der in großen Blockbuchstaben geschriebene Brief ist mit LE CORBEAU unterzeichnet, zu deutsch "der Rabe", und er ist noch mit einem gezeichneten Raben verziert. Damit nicht genug: Auch Dr. Vorzet erhält einen Brief, in dem er auf das angebliche Verhältnis von Laura und Germain hingewiesen wird. Er spricht Germain daraufhin an, doch er beruhigt ihn sogleich, weil er den Beschuldigungen keinen Glauben schenkt. Doch er teilt ihm mit, dass auch Chefarzt Dr. Delorme einen Brief vom "Raben" erhalten habe, in dem Germain der Abtreibung bezichtigt wird. Vorzet berichtet Germain auch von seinen psychiatrischen Erfahrungen mit den Verfassern solcher anonymen Briefe. Vorzet doziert, dass es sich um keinen einfachen Verleumder handle, sondern um einen Kranken. Jeder könne dahinterstecken - sogar Germain selbst, weil es bei solchen Irren durchaus vorkäme, dass sie sich selbst belasten. Als Germain nach einer kleinen Pause antwortet, dass auch Vorzet der Rabe sein könnte, antwortet dieser augenzwinkernd "Und warum nicht?". Später wird Vorzet seine Vermutungen über den Raben Germain gegenüber noch präzisieren: Sexuell Verklemmte, alte Jungfern, Impotente, hässliche alte Männer, Krüppel - unter solchen Personen müsse man den Schuldigen suchen.

Rolande Saillens
Innerhalb kurzer Zeit häufen sich nun die Briefe, und das Themenspektrum verbreitert sich, auch wenn Germain der am häufigsten Angegriffene bleibt. Dr. Delorme erhält einen Brief, in dem Monsieur Bonnevie, der Schatzmeister des Krankenhauses, beschuldigt wird, vertrauliche Details einer Ausschreibung an einen Freund verraten zu haben, um ihm einen finanziellen Vorteil zu verschaffen. Als Delorme Bonnevie zur Rede stellt, macht der zunächst ein betretenes Gesicht, doch dann kontert er kühl, indem er seinerseits einen Brief zückt. Darin wird er aufgefordert, seine guten Beziehungen zum "Abtreiber Germain" aufrechtzuerhalten, weil er seine Dienste vielleicht bald brauchen könne. Dann nämlich, wenn seine (Bonnevies) Tochter weiterhin so oft im Büro von Delorme gesehen werde. Delorme tritt daraufhin den geordneten Rückzug an: Beide sind sich flugs einig, dass an den Vorwürfen nicht das Geringste dran sei. Die Art und Weise, wie die beiden ehrenwerten Herren die Situation handhaben, macht unmissverständlich klar, dass zumindest diese Anschuldigungen der Wahrheit entsprechen. Der Rabe ist nicht nur einfach ein Spinner, sondern er verfügt über Insiderwissen.

Denise Saillens lackiert sich die Zehennägel
Niemand ist mehr vor den Schmähungen sicher, vor allem die Honoratioren: Der Apotheker soll gepanschte Medikamente verhökern, dem Bürgermeister sollen von seiner Frau Hörner aufgesetzt werden, und so weiter. Die allgemeine Verunsicherung steigt, oder - wie es Dr. Vorzet ausdrückt - die Stadt leidet an einem Fieber. Vorzet macht sich den Spaß und trägt alle bekannt gewordenen Briefe in ein Diagramm ein, das wie die Temperaturkurve eines Patienten aufgebaut ist. Da Germain nach wie vor die Hauptzielscheibe ist, beginnt man, in seiner Vergangenheit zu forschen, wie ihm von Vorzet mitgeteilt wird. Dabei tut sich eine Ungereimtheit auf. Germain behauptete, früher in Grenoble praktiziert zu haben, doch im dortigen Ärzteregister fand man nun keinen Dr. Germain, ausgenommen einen, der unter dem Namen Germain Monatte nach Paris ging und ein berühmter Gehirnchirurg wurde. Bei diesem Gespräch teilt Vorzet Germain auch mit, dass die Behörden inzwischen Marie Corbin als Hauptverdächtige betrachten. Doch Vorzet, der mit Marie verlobt war, bevor er Laura heiratete, hält sie für unschuldig.

Der erste Brief des Raben
Inzwischen wird Germain wieder einmal zu Denise gerufen, doch diesmal ist sie wirklich krank. Dabei entdeckt er, dass sie stark hinkt, was sie normalerweise mit speziellem Schuhwerk verschleiert. Sie verdankt diese Behinderung einem zurückliegenden Autounfall, wie sie ihm erzählt, und sie fragt ihn, ob sie deshalb weniger attraktiv sei. Es wird klar, dass ihr sexuell aggressives Verhalten als Kompensationsmechanismus für ihre Gehbehinderung dient. "Es ist meine Rache am Leben", formuliert sie das. Germain taut jetzt endlich etwas auf. Er hat Denise erzählt, dass er vom Leben Frieden erwartet und totales Vergessen. Denise erwidert, dass sie ihm kein totales Vergessen geben kann, aber Vergessen für ein paar Stunden - und das zähle auch. Diesmal hat Denise Erfolg - Germain verbringt die Nacht bei ihr. Während gleichzeitig Rolande heulend in ihrem Zimmer sitzt. Es ist offensichtlich - sie ist in Germain verknallt. Am nächsten Morgen will Germain jedoch nicht mehr viel von Denise wissen, und er eröffnet ihr, dass er vorhat, die Stadt zu verlassen. Sie beschimpft ihn daraufhin als Feigling und Schwächling und stellt ihm als Zeichen ihrer Verachtung einen ausgestopften Raben, den sie aus einer Kiste in einer Abstellkammer hervorkramt, vor die Tür.

Monsieur Bonnevie (links) und Chefarzt Dr. Delorme
Ein Selbstmord lässt die Lage in der Stadt eskalieren. François, der Krebspatient, wurde vom Raben über seinen aussichtslosen Zustand informiert. Daraufhin hat er sich mit einem Rasiermesser, das ihm seine Mutter kurz zuvor ins Krankenhaus brachte, die Kehle durchgeschnitten. - Nicht nur die Behörden, sondern auch ein Großteil der Bevölkerung verdächtigt inzwischen Marie Corbin, die ohnehin niemand leiden kann. Anstatt eines geplanten Stadtfestes findet nun die Beisetzung von François statt - unter Teilnahme aller Honoratioren, die den lebenden François wohl kaum eines Blickes gewürdigt hätten. Der Unterpräfekt hält eine Ansprache, die schon rein inhaltlich vor hohlem Pathos trieft. Dazu wird sie auch noch in einem übertrieben melodischen Singsang vorgetragen und von ausladender Gestik begleitet und so von Clouzot vollends der Lächerlichkeit preisgegeben. Als während des Leichenzugs aus einem Kranz, den Marie Corbin angebracht hatte, ein Brief des Raben hervorflattert, droht der Volkszorn überzukochen. Marie, die inzwischen vom Krankenhaus entlassen wurde, flüchtet sich in ihre Wohnung, wo bereits Vandalen ihren Spiegel zertrümmert und die Wände beschmiert haben. Als der Mob heranzieht, will sie durch den Hinterausgang flüchten, doch dort wird sie bereits von zwei Polizisten erwartet und abgeführt.

Rendezvous zwischen Dr. Germain und Laura Vorzet
Nach Maries Verhaftung ist es zunächst ruhig - keine Briefe mehr. Dr. Germain nützt die Gelegenheit, um zu packen. Denise macht ihm eine Szene. Sie erklärt, dass sie ihn liebe, doch er glaubt ihr nicht. Er behauptet, dass sie ihm nur eine Abschiedsszene vorspiele. Darauf wirft sie ihm vor, dass er das sei, was sie am meisten verachtet - ein Bourgeois. - Aus Germains Abreise wird so schnell nichts. Während einer Messe, bei der fast die ganze Stadt anwesend ist, flattert ein Brief des Raben von der Empore ins Kirchenschiff. Damit ist die immer noch inhaftierte Marie Corbin aus dem Schneider. Und bald gibt es wieder so viele neue Briefe wie zuvor. Die Honoratioren tagen erneut, der Bürgermeister fürchtet um seine Wiederwahl. Da hat der stellvertretende Staatsanwalt - zugleich Dr. Delormes Sohn - eine Idee: Das Hauptziel des Raben ist wie eh und je Dr. Germain. Wenn man schon den Raben nicht finden kann, vielleicht sollte man dann versuchen, Dr. Germain loszuwerden? Gesagt, getan. In Germains Sprechstunde taucht eine Frau auf, die eine rührselige Geschichte erzählt und um eine Abtreibung bittet. Doch Germain lehnt schroff ab. Als er sie unwirsch aus dem Sprechzimmer weist, erkennt sie ihn wieder: Er hatte ihr vor Jahren nach einem Unfall durch seine ärztliche Kunst das Leben gerettet. Sie gibt ihre Maskerade auf und enthüllt den Plan: Sie wurde für 10.000 Francs angeheuert. Hätte sich Germain auf die Abtreibung eingelassen, wäre er dran gewesen.

Denise macht bei Dr. Germain Fortschritte
Unterdessen erfährt der Unterpräfekt aus der Pariser Zeitung, dass er versetzt wurde, und gerät darüber mit den anderen Würdenträgern in Streit. In die Auseinandersetzung platzt Germain und hält ihnen eine Standpauke. Er erklärt den verdutzten Herren, dass er jener berühmte Gehirnchirurg Germain Monatte aus Paris sei. Vor Jahren war seine Frau schwanger, und als es Komplikationen gab, versuchte ein Gynäkologe, sowohl Mutter als auch Kind zu retten - wobei beide starben. Damals fasste Germain den Entschluss, inkognito in die Provinz zu gehen und es besser zu machen als sein Kollege seinerzeit. Die Herrschaften sind konsterniert, doch der stellvertretende Staatsanwalt hat schon einen neuen Plan. Auf der Empore in der Kirche, von der der Brief herabflog, befanden sich nur 18 Personen, und einer von ihnen muss der Rabe sein. Diese 18 Personen werden nun zum Diktat gebeten. Vorzet erläutert die Idee: Auch bei Blockbuchstaben gibt es ein charakteristisches Schriftbild. Dieses könne man zwar kurzfristig verbergen, aber bei einem lang genug andauernden Test werde es zum Durchbruch kommen und den Raben verraten. So werden also alle Verdächtigen unter Polizeibewachung in einem Klassenzimmer in der Schule versammelt, um Originalbriefe des Raben niederzuschreiben. Germain, erklärter Atheist, war nicht in der Kirche, und Marie Corbin saß im Gefängnis, aber sonst sind viele Bekannte versammelt: Denise, Laura, Dr. Bertrand, Schatzmeister Bonnevie, Schuldirektor Saillens, seine Tochter Rolande. Dr. Vorzet und der stellvertretende Staatsanwalt lesen die Texte vor, Vorzet soll anschließend als graphologischer Gutachter fungieren. Das Diktat beginnt - und zieht sich Stunden um Stunden hin. Die Szene ist eine recht grimmige Parodie auf das Klassendiktat, eine Säule (nicht nur) des französischen Grundschulunterrichts. Nach vielen Dutzenden von Briefen - die Nacht ist längst hereingebrochen - bricht Denise ohnmächtig über der Schulbank zusammen. Die Veranstaltung ist zu Ende, doch ein eindeutiges Ergebnis hat sie nicht erbracht. Der Schriftvergleich blieb ohne Ergebnis, der Rabe ist noch immer unerkannt.

Noch ein Rabe
Bei einer nächtlichen Zusammenkunft von Vorzet und Germain (auf die ich später noch einmal zurückkommen werde) macht Vorzet ein überraschendes Geständnis: Er ist morphiumsüchtig, und Marie Corbin hat die Ampullen für ihn, ihren Ex-Verlobten, den sie noch immer liebt, gestohlen. Am nächsten Morgen trifft Germain auf die Mutter von François, dem toten Krebspatienten. Sie macht eine merkwürdige Andeutung: Sie behauptet, den Raben ziemlich sicher zu kennen, aber sie verrät nicht, wen sie im Sinn hat. Sie zeigt Germain das Rasiermesser, mit dem sich ihr Sohn den Hals durchschnitt. Wenn sie absolut sicher sei, den Raben zu kennen, dann werde das Messer abermals in Aktion treten und den Schuldigen bestrafen. Germain versucht, ihr den Gedanken an Selbstjustiz auszureden, aber offensichtlich mit wenig Erfolg.

Fast ein Staatsbegräbnis für François; der Unterpräfekt hält eine Rede
Am selben Tag findet Germain in Denises Zimmer einen an ihn gerichteten Brief des Raben. Darin steht, dass Denises Schwächeanfall beim Diktat darauf zurückzuführen sei, dass sie von ihm schwanger sei. Germain versteckt sich vor der hereinkommenden Denise und ertappt sie dabei, wie sie den Brief in ein Kuvert steckt und adressiert. Natürlich hält er sie nun für den Raben und stellt sie zur Rede. Doch Denise versichert, dass das ihr erster solcher Brief sei. Sie habe es nicht fertiggebracht, mit ihm über ihre Schwangerschaft zu sprechen, und deshalb sei sie auf die Idee gekommen, die Botschaft dem Raben unterzuschieben. Germain ist hin- und hergerissen: Soll er ihr glauben oder nicht? Am Ende ist er geneigt, ihr zu glauben, auch wenn Zweifel bleiben. Denise fordert ihn daraufhin auf, zu Vorzet zu gehen, um nach dem Rechten zu sehen. Laura habe bei ihr angerufen, weil sie eine Todesdrohung vom Raben erhalten habe. Germain eilt in die Wohnung der Vorzets, doch Laura empfängt ihn befremdet. Sie weiß von keiner Todesdrohung und sie hat Denise nicht angerufen - behauptet sie. Germain ist verwirrt. Hat Denise gelogen? Wenn ja, warum? Oder lügt Laura?

Ein zerbrochener Spiegel als Metapher: Marie Corbin vor den Scherben ihres heilen Selbstbildes

An dieser Stelle - rund 8 Minuten vor Ende des Films - unterbreche ich die Handlung, um mich Clouzots Lebenslauf und der Entstehungsgeschichte von LE CORBEAU zuzuwenden. Wer erfahren will, wer nun wirklich der Rabe ist, kann es am Ende des Artikels nachlesen.

Clouzot wurde 1907 in der französischen Stadt Niort geboren. Die eigentlich vorgesehene Laufbahn in der Marine zerschlug sich wegen seiner Kurzsichtigkeit. Er begann daraufhin ein Studium mit dem Berufsziel eines Diplomaten, das er jedoch abbrechen musste, als die Weltwirtschaftskrise das Vermögen seiner Eltern dahinraffte. Er wechselte nun als Journalist zu einem Boulevardblatt. Bei einem Interview lernte er 1931 den Filmproduzenten Adolphe Osso kennen, der ihn einlud, als Cutter und Drehbuchbearbeiter in seiner Firma zu arbeiten. Clouzot hatte sein Metier gefunden.

Henri-Georges Clouzot (1975)
Schon 1931 inszenierte er mit LA TERREUR DES BATIGNOLLES auch einen eigenen Kurzfilm. 1932 ging er nach Deutschland. Clouzot arbeitete als Regieassistent bei E.A. Dupont und beim damals noch in Deutschland wirkenden Anatole Litvak. Daneben fertigte Clouzot bei der UFA Alternativversionen deutscher Filme an. In einer Zeit, als Synchronisationen noch unüblich waren, wurden gelegentlich verschiedene Sprachfassungen eines Films gleichzeitig gedreht - am selben Set, aber mit anderen Schauspielern. Bekannte Beispiele sind etwa Hitchcocks MURDER!, von dem gleichzeitig eine deutsche Version entstand, oder die spanischsprachige Version von Tod Brownings DRACULA. Wie nicht anders zu erwarten, war Clouzot für französische Sprachfassungen der UFA-Filme zuständig. Künstlerische Freiheiten dürfte er dabei kaum besessen haben, deshalb sollte man diese Filme nicht als eigenständige Regiearbeiten werten.

Dr. Vorzets “Fieberkurve” nach Marie Corbins Verhaftung
Clouzots erster eigener Spielfilm schien nahe, doch es kam anders: 1933 zwang ihn eine schwere Lungenerkrankung zu einem fünfjährigen Aufenthalt in einem Sanatorium. Er vertrieb sich die Zeit mit dem Schreiben von Theaterstücken und Drehbüchern, die jedoch zunächst nicht realisiert wurden. Clouzots chronisch schlechte Gesundheit sollte ihn auch später immer wieder an der Arbeit hindern und war mitverantwortlich für seinen zahlenmäßig geringen Ausstoß an Filmen. 1938 war Clouzot soweit wiederhergestellt, dass er ins Geschäft zurückkehren konnte. Die französische Firma CICC verfilmte drei Drehbücher, an denen er beteiligt war. 1941 erhielt er dann ein verlockendes Angebot - freilich eines mit Pferdefuß, wie sich später erweisen sollte.

Krisensitzung der Honoratioren
Nach der Niederlage der französischen Truppen im Juni 1940 und der darauffolgenden deutschen Besetzung des nördlichen Frankreich war die französische Filmindustrie schwer angeschlagen. In dieser Situation witterte Joseph Goebbels eine Chance, den Franzosen die Niederlage etwas zu versüßen, um im Gegenzug den Besatzungstruppen das Leben zu vereinfachen. Ende 1940 wurde in Frankreich die Produktionsfirma Continental Films gegründet. Sie stand unter deutscher Kontrolle und wurde mit deutschem Geld finanziert. Erklärter Auftrag war es, mit französischem Personal anspruchslose, billige Unterhaltungsfilme zu drehen, um das Volk bei Laune zu halten.

Das Konzept ging zunächst auf. Bald dominierte Continental den französischen Filmmarkt. Zwar gab es weiterhin rein französische Produktionsfirmen, aber sie hatten gegen Continental einen schweren Stand. Als Leiter von Continental war der Produzent Alfred Greven von Goebbels nach Frankreich delegiert worden. Greven machte nun Clouzot das Angebot, als fest angestellter Drehbuchschreiber bei Continental einzusteigen, und Clouzot nahm an. Möglicherweise kannte Greven Clouzot schon von dessen Zeit bei der UFA. Jedenfalls war er offenbar von seinen Fähigkeiten überzeugt, denn Clouzot avancierte dann gleich zum Leiter der Drehbuchabteilung bei Continental. Greven interpretierte den Auftrag für Continental etwas frei. Er war bestrebt, neben dem verordneten Flachsinn auch qualitätvollere Filme zu produzieren, freilich ohne den Bereich des Unterhaltungsfilms zu verlassen. So kam es, dass Continental neben oberflächlichen Komödien etwa auch handwerklich solide Kriminalfilme produzierte. Neben Verfilmungen von Simenon-Stoffen wurde 1941 die Verfilmung eines Romans des belgischen Krimi-Autors Stanislas-André Steeman in Angriff genommen. Das Drehbuch zu LE DERNIER DES SIX schrieb Clouzot, Regie führte Georges Lacombe. Es ging um einen französischen Inspektor mit einem komplizierten polnischen Namen, den er der Einfachheit halber zu "Wens" verkürzte. Bei den Ermittlungen unterstützt wird er von seiner Geliebten, einer Schauspielerin. Das von Pierre Fresnay und Suzy Delair gespielte flamboyante Ermittler-Pärchen wurde gelegentlich mit William Powell und Myrna Loy in den DÜNNER-MANN-Filmen verglichen.

Dr. Delorme und sein Sohn, der stellvertretende Staatsanwalt
Der locker-leicht inszenierte Film hatte Erfolg, und so wurde ein Sequel anberaumt. Und nun war es soweit: Clouzot durfte endlich selbst Regie führen. L'ASSASSIN HABITE... AU 21 (dt. DER MÖRDER WOHNT IN NR. 21), wieder nach einem Roman von Steeman, ist professionell inszeniert, besitzt pointierte Dialoge und, trotz des leichten Inszenierungsstils, bereits sarkastische und düstere Momente, die Clouzots spätere Richtung erahnen lassen. Nachdem Clouzots Regie-Erstling gut angekommen war, wählte er als nächstes einen Stoff, der lose auf einer wahren Begebenheit beruhte. 1922 kam es in der französischen Kleinstadt Tulle zu einem Skandal: Es wurde eine Unzahl von anonymen Schmähbriefen versandt. Die Affäre erregte überregionale Aufmerksamkeit, und Louis Chavance ließ sich davon 1932 zu einer ersten Drehbuchfassung unter dem Titel L'Œil du serpent inspirieren. Clouzot stieß auf das bislang unverfilmte Script und tat sich mit Chavance zusammen, um das Buch zu überarbeiten. Zur Vorbereitung studierte Clouzot eine wissenschaftliche Abhandlung über die Verfasser solcher anonymer Pamphlete, und es würde mich nicht wundern, wenn Dr. Vorzets Ausführungen über diesen Personenkreis sinngemäß diesem Werk entnommen wären.

Unterdessen befand sich Alfred Greven in einer etwas prekären Lage. 1942 brachte Continental LA SYMPHONIE FANTASTIQUE heraus, eine Biographie des Komponisten Hector Berlioz. Der Film wurde für seine Qualität gelobt, aber er schien geeignet, den französischen Nationalstolz zu befördern, was natürlich Continentals Auftrag krass zuwiderlief, und so handelte sich Greven eine ernste Rüge von Goebbels ein. Als nun Clouzot das Drehbuch für LE CORBEAU vorlegte, erkannte Greven die politische Brisanz des Stoffes und sträubte sich heftig dagegen. Es gab damals eine Kampagne der Gestapo, die die französische Bevölkerung aufrief, Résistance-Mitglieder zu verpfeifen (übrigens mit beachtlichem Erfolg). Greven war klar, dass der Stoff von LE CORBEAU als Kommentar zu solchen Denunziationen verstanden werden konnte. Aber irgendwie gelang es Clouzot, sich durchzusetzen.

Ein denkwürdiges Diktat. Am Pult sitzend Dr. Vorzet
Nachdem das Projekt erst einmal genehmigt war, besaß Clouzot volle künstlerische Freiheit. Die Dreharbeiten fanden zum größten Teil in einer Kleinstadt in der Nähe von Paris statt. Zeit und Filmmaterial waren knapp bemessen, aber ähnlich wie Hitchcock, mit dem er oft verglichen wurde, war Clouzot ein Regisseur, der schon zu Beginn der Dreharbeiten den fertigen Film im Kopf hatte, und der seine Schauspieler mit sehr exakten Instruktionen versah, was zu tun war, so dass sehr zügig und konzentriert gearbeitet werden konnte. Ginette Leclerc, die Darstellerin der Denise, zeigte sich von dieser Arbeitsweise sehr angetan. Clouzot habe das Optimum aus ihr herausgeholt, erzählte sie später, und er habe sie "seine Violine" genannt, auf der er seine Melodie spielte. Pierre Fresnay dagegen empfand die Dreharbeiten als schwierig, und zwar deshalb, weil Clouzot am Set stets übelgelaunt war. Fresnay war zu seiner Zeit ein großer Star des französischen Kinos. Er war mit MARIUS, FANNY und CÉSAR, die zusammen die sogenannte Marseille-Trilogie bilden, zu nationaler Bekanntheit aufgestiegen und spielte insgesamt in rund 60 Filmen. Sein aus heutiger Sicht wohl wichtigster war Jean Renoirs LA GRANDE ILLUSION, wo er den aristokratischen Offizier de Boeldieu verkörperte. Er hatte auch die Hauptrolle in den beiden Wens-Filmen gespielt.

Gruppenbild mit Herrn: Marie Corbin, Denise, Germain und Laura (v.l.n.r.)
Clouzot galt in späteren Jahren als ein Regisseur, der seine Schauspieler nicht nur seelisch, sondern auch körperlich malträtierte, wenn es ihm angemessen erschien. In QUAI DES ORFÈVRES gibt es eine Szene, in der der von Bernard Blier gespielte Charakter einem zermürbenden Polizeiverhör unterzogen wird. Um Blier in die richtige Stimmung zu versetzen, hat ihn Clouzot heftig geohrfeigt. Auch Suzy Delair und Simone Renant sollen in diesem Film nicht ungeschoren davongekommen sein. Von Clouzots beiden Continental-Filmen ist ein derartiges Verhalten jedoch noch nicht überliefert. Aber neben Fresnay berichteten auch andere Zeitgenossen von Clouzots abweisendem Charakter und seiner permanent schlechten Laune - Wesenszüge, die nicht ohne Einfluss auf seine Filme blieben. Tatsächlich legte LE CORBEAU den Grundstein zu Clouzots Ruf, der große Misanthrop unter den französischen Regisseuren gewesen zu sein. Dagegen konnte Clouzot kein Vorwurf gemacht werden, was sein persönliches Verhalten den Nazis gegenüber betraf. Es wird berichtet, dass er seine Mitarbeiter vor Übergriffen schützte und Juden half.

Schon in den 30er Jahren wurden französische Filme aus dem Bereich des "Poetischen Realismus" gelegentlich mit der Bezeichnung Film noir belegt, aber international bekannt wurde der Begriff erst, als ihn die französischen Filmkritiker Nino Frank und Jean-Pierre Chartier 1946 auf Hollywoods "Schwarze Serie" anwandten, die 1941 mit John Hustons THE MALTESE FALCON ihren Ausgang nahm. LE CORBEAU wurde nun - trotz der früheren Verwendung des Begriffs - gelegentlich als der erste französische Film noir bezeichnet. Das mag vielleicht etwas übertrieben sein, aber LE CORBEAU verfügt über einige der klassischen Ingredienzien: Ein pessimistisches Menschenbild, zynische Dialoge, und eine Schwarzweißfotografie, die mit ausgeprägten Licht- und Schatten-Effekten arbeitet.

Schattenspiele an der Wand
Was die visuelle Gestaltung des Films betrifft, so drängt sich diese zwar nicht in den Vordergrund, aber es gibt doch genug noir-typische Szenen, um das Erscheinungsbild des Films mitzuprägen. Etwa ein Dialog von Vorzet und Germain nach dem Diktat: Die beiden sind nächtens allein in einem Raum in der Schule zurückgeblieben. Es handelt sich um die Szene, in der Vorzet auch das Geständnis seiner Morphiumsucht macht. Das Zimmer wird nur von einer Lampe mit einem kleinen, hoch angebrachten Schirm, der die Glühbirne nicht verdeckt, spärlich erleuchtet. Wenn nicht ein großer Globus herumstehen würde, könnte man sich an ein Hinterzimmer in einer zwielichtigen Absteige oder an ein schäbiges Polizeirevier erinnert fühlen, wie man es aus amerikanischen Filmen der Schwarzen Serie kennt. Vorzet wirft Germain starres Schwarzweißdenken vor: "Sie glauben, dass jedermann völlig gut oder völlig schlecht ist. Dass das Gute hell ist und das Böse dunkel. Aber wo beginnt das Eine und das Andere? Wo endet das Böse? Sind Sie auf der guten oder der bösen Seite?" Dazu versetzt Vorzet die Lampe in Schwingung, so dass die Gesichter der beiden abwechselnd in Licht und Schatten getaucht sind.

Dr. Vorzet versetzt eine Lampe in Schwingung und hält einen Vortrag über Hell und Dunkel
Bei aller Düsternis verfügt LE CORBEAU auch über Humor, freilich einen bösen, sarkastischen Humor, der oft den zynischen Bemerkungen der Protagonisten entspringt, wie im Fall des Gangräns. Typisch für Clouzot ist auch die erwähnte Messe: Der Priester steht auf der Kanzel und preist den Herrn, weil der Spuk (nach Marie Corbins Verhaftung) ein Ende hatte. "Erhebt eure Herzen", predigt er der versammelten Gemeinde, "von der Furcht befreit, zu Jesus!" Und alle Leute erheben die Köpfe und blicken andachtsvoll nach oben. Aber nicht etwa, weil sie da oben Jesus erblicken würden, sondern weil just in diesem Moment der neue Brief des Raben gemächlich von der Galerie herabtrudelt.

Der Pfarrer predigt der Gemeinde, die eine Überraschung von oben erlebt
Clouzots Attacken richten sich zwar überwiegend gegen die Honoratioren der Stadt, aber auch die Kleinbürger bekommen ihr Fett weg. Etwa die Ladenbesitzerin, die neuerdings jeden, der im Briefkasten auf der anderen Straßenseite Post einwirft, mit Namen und Uhrzeit notiert. Und ihre Nichte will sie nicht mehr von Germain behandelt wissen, sondern sie wechselt zu dessen Konkurrenten Dr. Bertrand. Aber statt ihm einfach die Wahrheit zu sagen, tischt sie ihm scheinheilig ein Märchen auf. Als er unverrichteter Dinge ihren Laden verlässt, erinnert sie ihn freundlich daran, ihr die Rechnung zu schicken. Und als er dann draußen ist, sagt sie gehässig "... ich wette, dieser Schuft hat die Nerven und schickt sie tatsächlich!" Oder der Leiter des Postamts. Er hält seinen Untergebenen eine Ansprache, dass Briefe unter allen Umständen an die Adressaten ausgeliefert werden müssten. Das sei die Größe (grandeur im Original) und Pflicht des Postdienstes. Und dann fischt er einen an seine Frau adressierten Brief aus dem Verteiler und nimmt ihn an sich. "Sie wird ihn [den Brief] nie zu Gesicht bekommen", kommentiert einer der Postangestellten, und zweifellos hat er recht. Mit solchen Miniatur-Nebenhandlungen schafft es Clouzot mühelos, ein Panoptikum der kleinen Bösartigkeiten auszubreiten. Im Verlauf der Handlung wird auch klar, dass es neben dem eigentlichen Raben jede Menge Trittbrettfahrer geben muss, die die Situation nutzen, um ihre eigenen anonymen Briefe zu versenden.

Eine scheinheilige Ladenbesitzerin; der Leiter des Postamts
LE CORBEAU hatte im September 1943 Premiere. Er wurde vom Publikum und von der Presse im besetzten Frankreich gut aufgenommen. Die Nazis aber waren überhaupt nicht glücklich mit dem Film. Es liegt auf der Hand, dass man LE CORBEAU einen politischen Subtext zuschreiben kann, der in einem Kommentar zur Okkupation Frankreichs und zu Denunziationen von Seiten der Bevölkerung besteht. "Seit dieser Sturm von Hass und Verleumdung unsere Stadt getroffen hat", erklärt Vorzet einmal, "wurden alle moralischen Werte korrumpiert." Und etwas später Germain: "Diese Art von Krise hat einen Zweck. Wie ein Rekonvaleszent nach einer Krankheit geht man stärker, bewusster daraus hervor. Es ist schrecklich zuzugeben, aber das Böse ist notwendig." Zu allem Überfluss gab es eine Werbekampagne für LE CORBEAU, die mit dem Slogan "Denunziation - die Schande des Jahrhunderts" arbeitete. Wie erwähnt, profitierten die Deutschen erheblich von Informanten in der französischen Bevölkerung, und es gab eine regelrechte Ermunterungskampagne zu solcher Kollaboration. Da nimmt es nicht Wunder, dass die deutschen Behörden sofort einschritten. Die Werbekampagne mit dem anstößigen Slogan musste nach wenigen Tagen gestoppt werden. Gelegentlich liest man auch, dass die Aufführung des Films selbst von den Nazis verboten wurde, aber das war offenbar nicht der Fall. Allerdings beschwerten sie sich bei Alfred Greven über Clouzot, der ihn daraufhin feuerte.

Krise zwischen Denise und Germain ...
Man mag sich vielleicht fragen, wie es LE CORBEAU überhaupt in die Kinos schaffte. Zwar gab es damals eine staatliche Filmzensur, die dem Vichy-Regime unterstand, aber die war für Continental-Filme - und nur für diese - nicht zuständig. Continental gab sich zwar dem Publikum gegenüber den Anschein einer französischen Firma, aber in der Frage der Zensur stellte sich Greven auf den Standpunkt, dass Continental eine deutsche Firma sei und deshalb nicht der französischen Zensur unterstünde, und er kam damit durch. Wäre LE CORBEAU von irgendeiner anderen Firma produziert worden, wäre er wahrscheinlich nicht unbeschadet durch die Zensur geschlüpft.

... und Versöhnung
Abgesehen von der politischen Konnotation ist LE CORBEAU auch eine Abhandlung über das Gute und Böse im Menschen. Vorzets nächtliche Ansprache an Germain ist hierfür eine Schlüsselszene. Clouzot drückte das 1975 in einem Fernsehinterview folgendermaßen aus: "Es war ein Weg, um gewisse Dinge auszudrücken, die ich seit der Kindheit fühlte. [...] Diese Balance zwischen Dunkel und Hell, zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Gut und Böse, kommt tief aus meinem Herzen." Und über die Rolle der Spannung in seinen Filmen (nicht nur LE CORBEAU): "Es ist der beste Weg, um den Zuschauern etwas unterzuschieben, das sie sonst nicht schlucken würden. Sie werden den Rest akzeptieren, weil sie von der Spannung am Haken gehalten werden wie ein Fisch." - Neben der politischen und der psychologisch-philosophischen Ebene funktioniert LE CORBEAU natürlich auch als Thriller - wenn auch nicht perfekt, weil einige Fragen offen bleiben. So bleibt völlig unklar, woher François' Mutter den Raben zu kennen glaubte. Und nicht alle Personen stehen am Ende in ihrer Motivation und ihren Handlungen wirklich schlüssig da. Aber der Genuss von LE CORBEAU wird durch solche Schönheitsfehler nicht ernsthaft beeinträchtigt.

Clouzots Schwierigkeiten mit den Nazis nach dem Start von LE CORBEAU schützten ihn nicht vor Gegenwind von ganz anderer Seite. Clouzot wurde von Seiten der Résistance und der Exilregierung des "Freien Frankreich" heftig attackiert. Man behauptete, die Darstellung der Stadt und ihrer Bewohner sei antifranzösische (und damit automatisch pro-deutsche) Propaganda, und Clouzot sei somit ein Kollaborateur. Dass der Film von Continental produziert wurde, tat ein Übriges. Die publizistischen Angriffe waren außerordentlich heftig, und angeblich gab es sogar ein von Radio London verkündetes Todesurteil gegen Clouzot. Das erzählte er jedenfalls im erwähnten Fernsehinterview von 1975.

Welche Rolle spielt Laura?
Nach der Befreiung Frankreichs gingen Clouzots Schwierigkeiten erst richtig los. Er wurde nun von allen politischen Kräften angegriffen. Die Linken, insbesondere die Kommunisten, warfen Clouzot weiterhin Kollaboration vor, außerdem Defätismus und mangelnden Widerstandsgeist. Zwar war klar, dass niemand im besetzten Frankreich offen antideutsche Filme hätte drehen können, aber man stellte LE CORBEAU zeitgenössischen Filmen wie etwa Jean Grémillons LE CIEL EST À VOUS gegenüber, einer heroisch angehauchten Geschichte im Fliegermilieu, die diesen Vorstellungen zufolge den wahren französischen Widerstandsgeist verkörpert hätte. Die Rechten warfen Clouzot ebenfalls antifranzösische Gesinnung und Nihilismus vor. Zudem bemängelten klerikal-konservative Kreise die offensive Sexualität von Denise, mit der Clouzot unverhohlen sympathisierte (was er im Interview von 1975 explizit bestätigte), Germains ebenso offenen Atheismus und die mehrmalige Erwähnung des Tabuthemas Abtreibung. Und ganz allgemein mochte man im Nachkriegsfrankreich nur ungern an die Kollaboration und die Denunziationen großer Bevölkerungsteile erinnert werden. Es gab eine Große Koalition des Vergebens und Vergessens, man sah sich am liebsten als ein Volk von lauter Résistance-Mitgliedern. So saß Clouzot zwischen allen Stühlen und sah sich heftigsten publizistischen Attacken ausgesetzt.

Doch dabei blieb es nicht - es kam auch zu Maßnahmen von staatlicher Seite. Zwar war von einem Todesurteil keine Rede mehr, aber die Aufführung von LE CORBEAU wurde verboten. Dazu gab es "Reinigungsverfahren" gegen der Kollaboration Verdächtigte, die man entfernt mit den Entnazifizierungsverfahren in Deutschland vergleichen konnte. Unter den Angeklagten befanden sich auch sieben Regisseure, und einer von ihnen war Clouzot. Die meisten der Beschuldigten in diesen Tribunalen kamen mit öffentlichen Rügen davon, aber einige der schwerer Belasteten erhielten mehrjährige Berufsverbote. Clouzot jedoch wurde gleich zu lebenslangem Arbeitsverbot im Filmgeschäft verurteilt. Das Gremium, das über ihn zu Gericht saß, bestand aus drei Personen, von denen zwei Regisseure waren. Keine sehr talentierten, wie Bertrand Tavernier in einem Video-Interview feststellte. (Taverniers 2002 entstandener Spielfilm LAISSEZ-PASSER spielt vor dem Hintergrund der Filmwirtschaft im besetzten Frankreich, weshalb er dieses Thema sorgfältig recherchiert hat.) Einer von den dreien hatte LE CORBEAU überhaupt nicht gesehen, wie sich im Verlauf der Verhandlung herausstellte.

Germain verabschiedet sich von Laura - und macht dabei eine Entdeckung
Doch schon früh fanden sich auch Verteidiger für Clouzot. Einer von ihnen war Jean Cocteau, der den tieferen Gehalt von LE CORBEAU begriffen hatte und den Film mit den Werken sozialkritischer Schriftsteller wie Guy de Maupassant und Émile Zola verglich. Auch der Drehbuchautor Jean-Paul le Chanois (der Jude und Kommunist war) trat frühzeitig für Clouzot ein, ebenso Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Das harte Urteil gegen Clouzot beendete die Debatte nicht, sondern fachte sie zusätzlich an. Es fanden sich zunehmend weitere Fürsprecher für Clouzot, vor allem Künstler und Intellektuelle, darunter Regie-Kollegen wie René Clair, Marcel Carné, Marcel L'Herbier und Jacques Becker. Die Debatte wurde hauptsächlich in offenen Briefen und Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln ausgetragen. Sie war ausgesprochen heftig und lang andauernd, doch am Ende verfehlten die Stimmen für Clouzot ihre Wirkung nicht. Clouzots Berufsverbot wurde stillschweigend von lebenslänglich zu zwei Jahren verkürzt. Eine offizielle Begnadigung oder ein Wiederaufnahmeverfahren scheint es nicht gegeben zu haben, jedenfalls liegen keine entsprechenden Dokumente vor. Insgesamt lagen am Ende zwischen den Dreharbeiten zu LE CORBEAU und Clouzots nächstem Film rund vier Jahre. Wie schon während seiner Zeit im Lungensanatorium, nutzte Clouzot die Zeit zum Schreiben von Drehbüchern, von denen dann jedoch keines realisiert wurde. Darunter befand sich auch ein gemeinsames Projekt mit Sartre, mit dem er sich befreundet hatte, nämlich die Adaption eines Romans von Vladimir Nabokov.

1947 stand die Frage an, ob man LE CORBEAU wieder in den Kinos zeigen sollte. Es gab nach wie vor heftige Attacken gegen Clouzot, insbesondere von Seiten der kommunistischen Presse, die forderte, dass LE CORBEAU verboten bleiben müsse. Dabei war jedoch eine Portion Heuchelei im Spiel, denn schon bevor LE CORBEAU wieder für die Kinos zugelassen wurde, lief er in sogenannten Cinéclubs. Das waren geschlossene Veranstaltungen, die jedoch vor vollen Häusern stattfanden und entsprechende Einnahmen brachten. Und viele dieser Cinéclubs befanden sich im Besitz der Kommunistischen Partei. Der Drehbuchautor Henri Jeanson (u.a. an PÉPÉ LE MOKO und HÔTEL DU NORD beteiligt) wies im September 1947 in einem geistreichen Zeitschriftenartikel auf diesen Widerspruch hin und lobte LE CORBEAU als Meisterwerk. Auch viele von Clouzots Gegnern hatten inzwischen die filmische Qualität von LE CORBEAU anerkannt und konzentrierten sich dafür umso mehr auf den Continental-Aspekt. So etwa der Schriftsteller Joseph Kessel, Autor von erfolgreich verfilmten Romanen wie Belle de jour und La Passante du Sans-Souci. In einer direkten Antwort auf Jeanson in derselben Zeitschrift schrieb er, dass Clouzot mit deutschem Geld ein angenehmes Leben führte, während dieselben Deutschen, die ihn bezahlten, gleichzeitig in Oradour wüteten und die Krematorien mit französischen Leichen beheizten. Der ziemlich polemische Artikel endet damit, dass es keinen großen Unterschied gemacht hätte, wenn die Deutschen den Krieg gewonnen hätten - "für Herrn Clouzot".

Laura wird abtransportiert
Doch insgesamt hatte sich das Meinungsklima zugunsten von Clouzot gewendet. Auch die 1947 noch einmal hochgekochte Debatte ebbte schließlich ab, wenn sie auch nicht vollends verstummte, sondern Clouzot bis an sein Lebensende gelegentlich wieder einholte. Während der Streit um die Wiederzulassung von LE CORBEAU noch im Gang war, konnte Clouzot einen neuen Film in Angriff nehmen. Nachdem Clouzots Arbeitsverbot aufgehoben worden war, trat ein russischstämmiger Filmproduzent an ihn heran und bot ihm an, einen Stoff nach eigener Wahl zu inszenieren, freilich mit der Auflage, dass es kommerziell erfolgsträchtig und weniger brisant als LE CORBEAU werden solle. Clouzot schlug einen Roman von Stanislas-André Steeman vor, den er vor Jahren gelesen hatte. Der Produzent war sofort einverstanden. Die Dreharbeiten fanden im Frühjahr 1947 statt, und obwohl zwischenzeitlich der Produzent wechselte, konnte der Film ohne größere Probleme fertiggestellt werden. QUAI DES ORFÈVRES ist ein hervorragender, stimmungsvoller Film noir mit einem überragenden Louis Jouvet in der Hauptrolle. Die Uraufführung fand im Oktober '47 statt. Der Film wurde bei Publikum und Kritik ein großer Erfolg und gewann noch im selben Jahr beim Internationalen Filmfestival in Venedig den Großen Preis für die beste Regie. Clouzots Karriere war gerettet.

Louis Jouvet (links) und Bernard Blier in QUAI DES ORFÈVRES
Und das war gut so. Nach MANON, einer sehr freien Verfilmung von Abbé Prévosts Roman Histoire du chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, nach MIQUETTE ET SA MÈRE sowie der Beteiligung an einem Episodenfilm, drehte Clouzot in den 50er-Jahren mit LE SALAIRE DE LA PEUR (LOHN DER ANGST) und LES DIABOLIQUES (DIE TEUFLISCHEN) zwei Filme, die zu zeitlosen Klassikern des Spannungskinos werden sollten. Es folgte ein Dokumentarfilm über den mit ihm befreundeten Pablo Picasso. Dabei ließ er Picasso auf transparente Leinwände malen, durch die hindurch er sowohl den Meister als auch die entstehenden Werke filmen konnte, wobei Picasso seine Gedanken beim kreativen Vorgang erläuterte. 1984 wurde LE MYSTÈRE PICASSO von der französischen Regierung zum nationalen Kulturerbe erklärt - wohl eher wegen Picassos Bedeutung als wegen der von Clouzot, aber immerhin. Dann kam mit LES ESPIONS ein interessanter, aber etwas unausgegoren wirkender Agentenfilm am Rande der Parodie sowie der Gerichtsfilm LA VÉRITÉ mit Brigitte Bardot in der Hauptrolle. Die Sozialkritik darin wirkt etwas aufgesetzt, aber der Film verfügt über einen sehr schönen zynischen Schluss - da ist Clouzot nochmal ganz der Alte.

Danach neigte sich Clouzots Laufbahn langsam ihrem Ende entgegen. Einerseits machte ihm seine chronisch schlechte Gesundheit wieder zusehends zu schaffen. Und andererseits hatte er etwas den Anschluss an den Zeitgeist verloren, der da Nouvelle Vague hieß. Das Verhältnis von Clouzot zu den meisten Vertretern der Nouvelle Vague war von gegenseitiger Abneigung geprägt. Einerseits stand Clouzot für die Protagonisten der neuen Richtung für das, was sie "Papas Kino" nannten und heftig attackierten. Andererseits wurde wieder seine Continental-Vergangenheit gegen ihn vorgebracht, etwa von Jacques Rivette. Nur François Truffaut, der LE CORBEAU oft gesehen hatte und sehr schätzte, sah Clouzot differenzierter. 1963 begann Clouzot mit den Dreharbeiten zu L'ENFER nach einem eigenen Stoff. Doch zunächst kam es zu Verzögerungen, weil sich Clouzot in über-perfektionistischer Manier verzettelte, und weil der Hauptdarsteller Serge Reggiani erkrankte (oder eine Erkrankung vorschob, um sich aus den sich endlos hinziehenden und für ihn zermürbenden Dreharbeiten zu verabschieden) und ausgewechselt werden musste, dann erlitt Clouzot selbst einen schweren Herzanfall. Er musste die Dreharbeiten abbrechen und nahm sie nicht wieder auf. Mehr über dieses faszinierende gescheiterte Projekt erfährt man im 2009 entstandenen Dokumentarfilm L'ENFER D'HENRI-GEORGES CLOUZOT (DIE HÖLLE VON HENRI-GEORGES CLOUZOT) von Serge Bromberg und Ruxandra Medrea. 1992 kaufte Claude Chabrol den Stoff und verfilmte ihn 1994 unter dem nämlichen Titel L'ENFER.

Denise und Germain finden sich endgültig
Es folgte eine Reihe von Musikfilmen, für das französische Fernsehen auf 35 mm gedreht, in Zusammenarbeit mit Herbert von Karajan. Die Filme zeigen den Maestro, der sich von der Zusammenarbeit mit Clouzot begeistert zeigte, jeweils bei Proben und einem Konzert. Von ursprünglich geplanten 13 Folgen wurden fünf realisiert. Schließlich vollendete Clouzot 1968 mit LA PRISONNIÈRE einen letzten Spielfilm, danach zog er sich zurück. Henri-Georges Clouzot starb 1977 in Paris. Dem internationalen Publikum ist er vor allem mit LE SALAIRE DE LA PEUR und LES DIABOLIQUES in Erinnerung geblieben, aber seine frühen Meisterwerke LE CORBEAU und QUAI DES ORFÈVRES lohnen ein Wiedersehen.


Und jetzt, wie versprochen, der Rest der Handlung mit der Entlarvung des Raben:


Germain will von Laura zu Denise zurück, um sie neuerlich zu befragen. Doch als er sich von Laura verabschiedet, entdeckt er frische Tinte an ihren Fingern. Sofort ist sein Misstrauen geweckt, und er durchsucht ihren Schreibtisch. Dort findet er ein Löschblatt, auf dem sich der Text des letzten Briefs des Raben abzeichnet. Durch seine lautstarken Vorhaltungen wird Dr. Vorzet herbeigelockt. Germain zeigt ihm das Löschblatt, und Vorzet gesteht, dass er schon letzte Nacht entdeckt habe, dass Laura der Rabe sei, aber er habe es nicht übers Herz gebracht, seine Frau zu verraten. Er bittet Germain nun, das Beweisstück der Polizei zu übergeben. Doch Germain zögert. Vorzets nächtliche Privatvorlesung über Gut und Böse hat seine Ansichten etwas ins Wanken gebracht. Er schlägt Vorzet vor, Laura psychiatrisch zu behandeln, statt sie der Justiz auszuliefern. Vorzet ist einverstanden, und weil er nicht seine eigene Frau einweisen darf, unterschreibt Germain das entsprechende Formular. Währenddessen erhält Vorzet einen Anruf: Denise ist abermals ohnmächtig geworden und dabei die Treppe hinabgestürzt. Laura, die an der Tür gelauscht hat, kommt jetzt herein und bestürmt Germain, ihrem Mann nicht zu glauben. Sie gibt nur zu, dass sie den ersten Brief des Raben geschrieben hat, um damit Germain an sich zu binden. Doch dann sei ihr Vorzet auf die Schliche gekommen, und alle anderen Briefe habe er ihr zwangsweise diktiert. Aber Germain glaubt ihr nun kein Wort mehr und eilt zurück zu Denise. Wenig später wird die kreischende Laura von zwei Sanitätern in einen Ambulanzwagen verfrachtet und mitgenommen.

Der tote Dr. Vorzet (vor ihm das aufgeklappte Rasiermesser) ...
Denise geht es mittlerweile schon wieder besser, aber Germain entdeckt, dass er sich Sorgen sowohl um Denise als auch um das ungeborene Kind gemacht hat. Denise gesteht, dass sie sich selbst die Treppe hinabgestürzt hat. Germain hat nun seine Vergangenheit hinter sich gelassen und ist zu einem gemeinsamen Leben mit Denise - samt Kind - bereit. Wie um das zu unterstreichen, öffnet er das Fenster, so dass der Lärm der auf dem Schulhof spielenden Kinder hereindringt. Bei seinem ersten Krankenbesuch bei Denise hat er eben dieses Fenster geschlossen, weil ihn der Lärm der Kinder nervte, wie er ganz offen zugab. Natürlich erzählt er Denise dann, was sich im Hause Vorzet zutrug. Doch Denise hält seine Überzeugung, dass Laura der Rabe sei, für Unsinn. Sie überzeugt ihn, dass die Todesangst bei ihrem Anruf keineswegs gespielt, sondern echt gewesen sei. Germain gerät nun ins Grübeln. Wenn Laura doch nicht der Rabe ist, dann kommt nur noch einer in Frage ...

... und seine Mörderin
Germain eilt also nochmals zur Wohnung Vorzet. Als er Dr. Vorzet zur Rede stellen will, findet er ihn tot vor - vornübergebeugt auf dem Schreibtisch in einer Blutlache liegend, vor sich einen letzten Brief des Raben, fast vollendet, daneben das Rasiermesser, das schon François den Tod gebracht hatte. Es war also tatsächlich Vorzet der Rabe. Während Germain Vorzet findet, schleicht die schwarz verhüllte Gestalt von François' Mutter aus dem Haus. Germain sieht aus dem Fenster und erblickt die Frau, die sich noch einmal kurz umdreht. Dann geht sie langsam die Straße hinab.

- FIN


LE CORBEAU ist (unter seinem deutschen Titel) ohne erwähnenswerte Extras bei Arthaus auf DVD erschienen. Empfehlen kann ich die US-Ausgabe von Criterion, die vorzügliches Bonusmaterial mitbringt. Mindestens eine englische und diverse französische Ausgaben gibt es ebenfalls.