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Montag, 22. Februar 2016

Mit André Malraux im Spanischen Bürgerkrieg

André Malraux war nicht nur ein bedeutender linker Schriftsteller und Intellektueller, und später ein umtriebiger gaullistischer Kulturpolitiker, er hat auch als Regisseur einen einzigen Film gedreht, und um den soll es hier gehen.

SIERRA DE TERUEL (auch ESPOIR, dt. HOFFNUNG)
Spanien/Frankreich 1939/45
Regie: André Malraux
Darsteller: Andrés Mejuto (Hauptmann Muñoz), Nicolás Rodríguez (Pilot Márquez), José Sempere (Kommandant Peña), José María Lado (Bauer), Julio Peña (Attignies), Pedro Codina (Hauptmann Schreiner)

Ein Bomber landet mit brennendem Triebwerk ...
Von den Romanen über den Spanischen Bürgerkrieg dürften Malraux' L'Espoir (Die Hoffnung, 1937) und Ernest Hemingways For Whom the Bell Tolls (Wem die Stunde schlägt, 1940) zu den bedeutendsten zählen, und beide wurden zeitnah verfilmt. Aber während Sam Woods FOR WHOM THE BELL TOLLS zu einem breiten Hollywood-Epos mit Gary Cooper und Ingrid Bergman geriet, das man auch heute noch gelegentlich im Fernsehprogramm findet, ist Malraux' Verfilmung seines eigenen Stoffs ein kleiner, aber feiner Film, der außerhalb Spaniens und Frankreichs kaum bekannt wurde (auch wenn er 1961 mal in der ARD lief). Und fast wäre er noch vor seiner Kinopremiere 1945 vom Erdboden verschwunden, denn nur zwei Kopien haben mit Müh' und Not die Zeit des Zweiten Weltkriegs überstanden. Wie es dazu kam, ist eine verwickelte und selbst fast filmreife Geschichte, die ich hier ausführlich wiedergeben will. - Zwischen Malraux und Hemingway herrschte übrigens eine innige Feindschaft. Zwar respektierten sie sich künstlerisch durchaus, aber persönlich waren sie sich zuwider. Malraux verachtete Hemingways Machismo, Angeberei und (wie er meinte) simples Gemüt, Hemingway wiederum war von Malraux' ermüdenden philosophischen Monologen und seinem Dandytum genervt, und er beschuldigte ihn, sich aus Feigheit zu früh aus dem Bürgerkrieg davongeschlichen zu haben (sicher zu Unrecht - mehr darüber weiter unten). Aber das nur am Rande - hier soll es nicht weiter um Hemingway gehen.

... und am Boden warten gebannt die Kameraden
SIERRA DE TERUEL beleuchtet in seiner kurzen Laufzeit von ca. 75 Minuten fragmentarisch eine Episode aus dem Bürgerkrieg im Jahr 1937, in einer Phase, als die republikanischen Truppen und die Freiwilligenverbände gegenüber den Franquisten bereits in der Defensive waren, aber noch nicht auf verlorenem Posten standen. Ort des Geschehens ist die Stadt Teruel und die umliegenden Dörfer und Berge. Die etwas inkohärente Struktur des Films liegt einerseits daran, dass er nicht wie geplant fertiggestellt werden konnte, und ist andererseits bereits im Roman angelegt, der keinen hervorgehobenen Helden und keinen einzelnen großen Spannungsbogen enthält, sondern kaleidoskopisch verschiedene Schauplätze und Handlungsepisoden vorstellt. Daraus hat Malraux, der auch der Hauptautor des Drehbuchs war, für den Film nur einen kleinen Ausschnitt übernommen, und er hat bewusst einen anderen Titel als den des Romans für den Film gewählt. Gedreht wurde der größte Teil in und um Barcelona, und einige Szenen, die in Spanien nicht mehr realisiert werden konnten, entstanden in Pariser Studios. Die Sprache des Films ist Spanisch, und es kamen ausschließlich spanische Darsteller zum Einsatz - für die größeren Rollen vorwiegend professionelle und semiprofessionelle Schauspieler, aber keine Stars, und es wurden auch viele Laiendarsteller verwendet, einschließlich eines gerade frisch rekrutierten Regiments republikanischer Soldaten, das für eine Massenszene am Schluss abgestellt wurde. Malraux' Schriftstellerkollege Max Aub, der auch einer der drei Regieassistenten war (die anderen beiden hießen Boris Peskine und Denis Marion), übersetzte Malraux' Dialoge ins Spanische.

Schlichte Trauerfeier für einen italienischen Flieger
Damit der Film nicht zu elliptisch oder gar unverständlich wirkt, sind über die Laufzeit verteilt sieben Texttafeln (auf Französisch) mit Erklärungen zur jeweiligen strategischen Situation untergebracht. Im Zentrum des Geschehens steht eine Brücke in der Nähe der Ortschaft Linas, die die Republikaner unbedingt zerstören müssen, um die Truppen Francos vom Nachschub abzuschneiden und den eigenen Kräften das Vorrücken zu ermöglichen. Eine Flugstaffel der republikanischen Luftwaffe hat bisher erfolglos versucht, die Brücke zu bombardieren - die eigenen Flugzeuge sind nicht nur veraltet, der Gegner ist mit seinen Jagdflugzeugen auch zahlenmäßig weit überlegen. Gerade hat einer der erfolglosen Bomber eine Bruchlandung auf dem Flugplatz hingelegt, und Kommandant Peña, der Kommandeur der Staffel, hält eine schlichte Abschiedsrede für einen tödlich verletzten italienischen Flieger, der als Freiwiliger in der Staffel diente.


Doch nicht nur die reguläre Armee kämpft gegen die Putschisten, sondern auch der größte Teil der Bevölkerung ist solidarisch mit den Regierungstruppen und beteiligt sich tatkräftig, und, wenn es sein muss, auch kämpfend am Krieg. Doch wie der Film zeigt, fehlt es an allen Ecken und Enden an der Ausrüstung: Es gibt nicht genug Gewehre für die kampffähigen Männer, auf Peñas Flugplatz funktioniert das Telefon nicht zuverlässig, und ein Teil der Flugzeuge steht nutzlos ohne Motoren im Hangar. Umso größer ist die Einsatzbereitschaft der Offiziere, Soldaten und Freiwilligen. Da ist etwa der Deutsche Schreiner, der im ersten Weltkrieg Kampfpilot war, aber seit 1918 nicht mehr geflogen ist und seitdem im Bergbau tätig war. Obwohl seine Sehkraft nachgelassen hat, meldet er sich freiwillig als Flieger - und legt prompt eine Bruchlandung hin, die er aber heil übersteht. Immerhin sieht er noch gut genug, um als Bordschütze in einem der Bomber nützlich zu sein. Bei Verdun standen er und einige seiner internationalen neuen Kameraden noch auf verschiedenen Seiten, wie einer von ihnen anmerkt. In einer anderen Episode erhalten Dörfler, die eigentlich gegen die Faschisten kämpfen sollten, nicht die erhofften Gewehre, sondern nur Dynamit. Sie machen das Beste daraus, indem sie aus dem Sprengstoff und improvisierten Behältern Sprengfallen für den vorrückenden Gegner basteln. Auch echter Heldenmut wird im Film gezeigt: Als eine informelle Kampfgruppe das von den Franquisten besetzte Teruel verlassen will, um den Bewohnern im Hinterland Anweisungen und Unterstützung zukommen zu lassen, gelingt das nur, weil zwei Mitglieder - ohne Befehl, sondern auf eigene Initiative - in einer Kamikaze-Aktion mit einem dafür geklautem Wagen eine Kanone samt Bedienungsmannschaft rammen und dabei den Tod finden. Doch im Vordergrund stehen nicht solche Heldentaten, sondern die Solidarität: Die Solidarität der zusammengewürfelten republikanischen Armee untereinander, mit der Zivilbevölkerung, und vor allem die Solidarität der Bevölkerung mit der Truppe. Während SIERRA DE TERUEL in allen Details ein sehr realistischer Film ist, ist seine Gesamtwirkung die eines Filmpoems.


Später im Film entdeckt ein namenlos bleibender Bauer in der Nähe seines Dorfes das neu angelegte Flugfeld der Franquisten, von dem aus ihre Jagdflugzeuge die Bombardierung der Brücke verhindern. (In einigen Quellen wird der Bauer José genannt, aber wenn ich nichts überhört habe, fällt der Name im Film nicht - vielleicht stammt er aus dem nicht vollständig verfilmten Drehbuch oder aus dem Roman.) Der Bauer meldet seine Entdeckung beim örtlichen Volksfrontkomitee in Linas, und von dort wird er mit einem Führer zu Kommandant Peña geschickt, um den genauen Standort zu melden, damit zuerst das feindliche Flugfeld und danach hoffentlich die Brücke bombardiert werden kann. Etwas unvorsichtig, laufen die beiden Männer im letzten franquistisch besetzten Dorf vor dem eigenen Gebiet einem pro-franquistischen Bewohner in die Arme, der den Führer erschießt. Doch der Bauer kann ihn niederstechen und gelangt unversehrt zum Flugplatz der Staffel. Weil er den Standort verbal oder auf Karten schlecht beschreiben kann, aber behauptet, dass er jederzeit dort hinfindet, wird vereinbart, dass er beim sofort anberaumten nächsten Einsatz einfach mitfliegt. Um die Erfolgsaussichten zu steigern, soll der Start der beiden noch einsatzfähigen Bomber bei Nacht erfolgen. Weil aber der Flugplatz überhaupt keine adäquate Beleuchtung hat, werden in eiligen Verhandlungen mit den Bewohnern und Bürgermeistern der umliegenden Dörfer Autos als improvisierte Lichtquellen organisiert. Der riskante Start bei Dunkelheit glückt, doch schnell zeigt sich, dass der Bauer den Mund etwas zu voll genommen hat: Aus der Vogelperspektive fehlt ihm jede Orientierung, er ist kaum in der Lage, Teruel zu erkennen, und er ist auch sichtlich verängstigt. Erst als der Bomber mit ihm in gefährlich niedriger Höhe über sein eigenes Dorf und die Straße nach Saragossa fliegt, gewinnt er doch noch den Überblick und findet den gegnerischen Flugplatz. Dieser wird erfolgreich bombardiert, und anschließend kann auch endlich die Brücke zerstört werden.

Der Bauer - vielleicht heißt er José
Aber just in diesem Moment erscheint eine gegnerische Jagdstaffel und verwickelt die beiden Bomber in einen heftigen Luftkampf. Diese Flug- und Luftkampfszenen sind sehr realistisch und durchaus spektakulär gefilmt - hier zeigt sich sehr deutlich Malraux' technisch-militärische Expertise als Führer einer Kampfstaffel im Bürgerkrieg. Einige der feindlichen Jäger können abgeschossen werden, und als schließlich eigene Jäger aus Madrid zu Hilfe kommen, drehen die Gegner ab. Doch während der eine Bomber problemlos zum Flugplatz zurückkehrt und landet, wurde der andere bereits getroffen, und er stürzt in einer unwegsamen Bergregion ab. Hier nun kommt die militärische Handlung des Films zu ihrem Ende, doch es folgt noch eine Art Epilog, der den eigentlichen Höhepunkt bildet. Wenn der ganze Film ein Poem ist, dann ist die letzte knappe Viertelstunde geradezu ein Hymnus.


Kommandant Peña nimmt telefonisch Kontakt mit den Dörfern in den Bergen auf, und er erfährt, dass die toten und verwundeten Besatzungsmitglieder bereits geborgen und in eines der Dörfer gebracht wurden. Er bittet die Dörfler, seine Männer auf Tragen in die Ebene zu transportieren, er selbst werde ihnen mit einem Krankenwagen so weit wie möglich entgegenfahren. Und die Dorfbewohner erfüllen die Bitte, doch es machen sich mehr auf den Weg, als gebraucht werden, viel mehr - Dutzende, Hunderte, Aberhunderte strömen herbei (in dieser Sequenz kamen die schon erwähnten 2000 bis 2500 Rekruten als Komparsen zum Einsatz). Einer bringt es auf den Punkt: Als ein junger Mann fragt, was das soll, weil man einem Toten doch nicht mehr helfen kann, antwortet ein Alter: "Aber ich kann ihm noch danken!" Es ist nicht einfach ein Verwundeten- und Totentransport, der sich da langsam die Berghänge hinabbewegt, es ist ein Trauer- und Ehrenzug einer ganzen Region, und, wenn man so will, stellvertretend eines ganzen Landes. Etliche Kritiker fühlten sich durch diese Sequenz an Tintorettos Aufstieg zum Kalvarienberg erinnert (Malraux hat dieses Gemälde auch in einem seiner Werke erwähnt), und einige Sekunden am Anfang sind sehr deutlich vom Motiv der Kreuzabnahme in der christlichen Kunst inspiriert, aber auch Assoziationen zu russischen Revolutionsfilmen stellen sich ein, von PANZERKREUZER POTEMKIN (die Bevölkerung von Odessa erweist dem toten Matrosen Wakulintschuk ihre Reverenz) bis zu Dsiga Wertows DREI LIEDER ÜBER LENIN (Menschenmassen pilgern zur aufgebahrten Leiche Lenins).


Bei diesem Zug kommt auch erstmals Filmmusik zum Einsatz. Abgesehen von ein bisschen diegetischer Musik (mal singen ein paar Soldaten ein Kampflied, mal spielt einer auf der Mundharmonika) gab es bis dahin nur Dialoge und Kampf- und sonstige Hintergrundgeräusche zu hören (was für den realistischen Eindruck mit verantwortlich ist). Doch für die Schlusssequenz komponierte Darius Milhaud auf Malraux' Bitte eine ungefähr 14-minütige Originalmusik mit dem Titel Cortège funèbre, was Trauerzug, Leichenzug bedeutet (in einigen Quellen ist zur Musik nur von 11 Minuten die Rede, tatsächlich dauert sie aber 14 Minuten). In der öffentlich zugänglichen Fassung des Films hört man einen Ausschnitt aus Milhauds Musik auch zu den Anfangscredits, allerdings stammen diese von 1945. Ob die Originalcredits von 1939 mit Musik unterlegt waren, ist mir nicht bekannt. - SIERRA DE TERUEL ist also ein Film über die eigenen Leute, es ist dagegen kein Film über und gegen die Faschisten, denn diese kommen im Film kaum vor. Sie sind natürlich der Gegner im Hintergrund, aber man bekommt sie fast nicht zu Gesicht, und der Luftkampf ist die einzige größere Kampfszene. Keiner der Feinde ist als Individuum erkennbar, abgesehen von dem einen, der den Führer des Bauern erschießt. Auch in den Dialogen wird der Feind nicht dämonisiert, sondern es wird nur in nüchternen taktischen Kategorien über ihn gesprochen.


Wie kam es nun zu diesem bemerkenswerten Film? Als im Sommer 1936 der Putsch von General Franco nicht niedergeschlagen werden konnte, sondern in einen Bürgerkrieg mündete, meldete sich Malraux schon nach wenigen Tagen als Freiwilliger, um zur Unterstützung der republikanischen Regierung eine internationale Flugstaffel aufzustellen. Malraux besorgte nicht nur die Flugzeuge aus Frankreich (veraltete zweimotorige Bomber vom Typ Potez 540), er wurde auch Kommandant der Staffel, obwohl er überhaupt kein Pilot war. Bis Ende 1936 flog er 65 Feindeinsätze. Ein Mitglied der Staffel, ein gewisser Jules Segnaire, hat sich später erinnert:
Ich war mit ihm über Teruel, als wir überall um uns Flakfeuer hatten. Malraux riskierte sein Leben so wie jeder der Kameraden. Aber seine Rolle war offensichtlich noch wichtiger, erstens, weil er die Staffel kommandieren musste, und zweitens, weil er sie versorgen musste. Wenn es Flugzeuge gab, dann war das ihm zu verdanken.
Ein PKW greift ein Geschütz an
Im November 1936, als Francos Truppen mit deutscher und italienischer Hilfe die Lufthoheit gewonnen hatten, wurde die Staffel in die regulären republikanischen Streitkräfte integriert, und bald darauf beendete Malraux sein fliegerisches Engagement. Er hat sich aber nicht davongestohlen, wie Hemingway meinte, sondern die spanische Regierung wusste besseres mit ihrem prominenten Unterstützer anzufangen, als ihn in weiteren Luftkämpfen zu verheizen. Die linke Volksfrontregierung, die im Februar 1936 die Wahlen gewonnen hatte, war in den meisten europäischen Staaten und in den USA nicht gut gelitten, und so gab es im Bürgerkrieg außer durch die Sowjetunion und (in bescheidenem Ausmaß) durch Mexiko keine militärische Unterstützung eines Staates für die Republik, während Franco durch Deutschland, Italien und Portugal sehr massiv unterstützt wurde. Selbst Frankreich, wo ebenfalls eine linke Volksfront regierte, blieb neutral. Deshalb reiste Malraux im Februar 1937 auf Wunsch der spanischen Regierung zu einer ausgedehnten Vortragstour in die USA und nach Kanada, um Stimmung für die Republik zu machen. Und wenn er schon keinen politischen Umschwung herbeiführen konnte, so sollte er wenigstens Geldspenden einwerben. Malraux' amerikanischer Verleger Robert K. Haas vom New Yorker Verlag Random House, mit dem Malraux auch befreundet war, und mit den Republikanern sympathisierende amerikanische Schriftsteller wie Sinclair Lewis, Clifford Odets und Hemingway leisteten Unterstützung bei der Image- und Fundraisingkampagne. Wie schon erwähnt, wurde aus der Bekanntschaft zwischen Malraux und Hemingway bald Feindschaft.

Ausbruch aus Teruel
Nach seiner Rückkehr nach Frankreich schrieb Malraux zügig seinen Roman L'Espoir nieder, der schon in den Monaten zuvor in seinem Geist und auf Notizzetteln Gestalt angenommen hatte. Das Werk kam im Dezember 1937 heraus und hatte in Frankreich unmittelbar Erfolg. Der Roman ist alles andere als ein Propagandastück, sondern er weist Malraux ebenso wie seine drei früheren Romane als einen frühen Vertreter des Existenzialismus aus, dennoch (oder vielleicht gerade deshalb) schaffte er es, gute Stimmung für die Sache der spanischen Republik zu machen. Deshalb schlug die spanische Regierung Malraux vor, einen Film aus dem Roman mit der Regierung als Produzentin und Malraux selbst als Regisseur zu machen, um den Propagandaeffekt fortzusetzen. Malraux stimmte zu, und im Mai 1938 wurde die Sache endgültig vereinbart. Gedreht wurde von Sommer 1938 bis Anfang 1939, und die Dreharbeiten fanden von Anfang an unter widrigen materiellen Umständen statt. Das Studio, das in Barcelona zur Verfügung stand, war eigentlich halbwegs modern eingerichtet, aber mittlerweile zwei Jahre Krieg hatten ihre Spuren hinterlassen und die Einrichtung arg in Mitleidenschaft gezogen. Einiges an Ausrüstung, wie Lampen, Make-up und Filmmaterial, musste aus Frankreich bezogen werden. Die Entwicklung des belichteten Film fand in Paris statt, so dass Kameramann Louis Page und Malraux die "rushes" immer erst nach ungefähr einem Monat zu sehen bekamen. Obendrein fiel regelmäßig der Strom aus, wenn es Luftalarm gab, und Luftalarm gab es fast jeden Tag.

Veraltete französische Bomber
Als die Franquisten Ende Januar 1939 Barcelona eroberten, kamen die Dreharbeiten zu einem abrupten Ende, und das Filmteam musste das Land fluchtartig verlassen. Zu diesem Zeitpunkt waren ungefähr die Hälfte der vom Drehbuch vorgesehenen Szenen abgedreht, aber wie schon geschrieben, konnte ein Teil der fehlenden Szenen in Frankreich nachgeholt werden. Weil die alte spanische Regierung nun als Produzentin ausfiel (und bald zu existieren aufhörte), sprang der Flieger, Abenteurer und spätere Politiker Édouard Corniglion-Molinier als Produzent ein. Er hatte mit seinem Freund Malraux in Spanien gekämpft, und er hatte bereits 1927 ein Filmstudio in Nizza gekauft, und bis 1938 auch schon mindestens vier Filme selbst produziert, darunter Marcel Carnés DRÔLE DE DRAME und MOLLENARD, der schon aufgrund seines Regisseurs Robert Siodmak Interesse erweckt. Bei SIERRA DE TERUEL dürfte er nur für die Organisation des Nachdrehs zuständig gewesen sein, während vermutlich nur wenig oder kein Geld von ihm im Film steckt. SIERRA DE TERUEL war der letzte Film Corniglion-Moliniers als Produzent, der Zweite Weltkrieg lenkte sein Geschick in andere Bahnen.

Bomberbesatzung
Im Sommer 1939 schließlich war SIERRA DE TERUEL soweit fertig gedreht und geschnitten, dass Malraux zufrieden war, und die überbrückenden Zwischentitel sowie französische Untertitel für die Dialoge waren angefertigt. Am 11. August kam es zu einer privaten Vorführung des Films, und unter den eingeladenen Zuschauern war auch der mit Malraux befreundete Louis Aragon. Wie alle anderen Anwesenden war er begeistert, und er verfasste eine ausführliche und sehr lobende Kritik, die schon am nächsten Tag veröffentlicht wurde. Es ist dies die einzige Rezension, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg erschien, und der die Originalfasssung des Film zugrunde liegt. SIERRA DE TERUEL hätte im Herbst in den französischen Kinos anlaufen sollen, doch der Zweite Weltkrieg machte einen Strich durch die Rechnung. In Frankreich wusste man nicht so recht, ob sich nicht Franco für die militärische Hilfe revanchieren und auf deutscher Seite in den Krieg eintreten würde. Um ihn nicht zu provozieren, wurde die Aufführung des Films von der französischen Regierung verboten. Die Initiative dazu kam von Marschall Pétain, der seit März 1939 französischer Botschafter im nunmehr franquistischen Spanien war. Man darf also vermuten, dass Franco selbst oder jemand aus seinem Umfeld einen Wink in Richtung Paris gab.

Der Bauer verliert auf seinem vermutlich ersten Flug die Orientierung
Als nach der Kriegserklärung in Frankreich die allgemeine Mobilmachung erklärt wurde, wurde auch Malraux eingezogen. Im Juni 1940 wurde er verwundet und gefangengenommen. Er war in der Kathedrale von Sens interniert, die in ein Kriegsgefangenenlager umfunktioniert worden war, doch im November des Jahres gelang ihm die Flucht, und er schlug sich ins unbesetzte Südfrankreich durch. Mit sich im Gepäck hatte er die, wie er glaubte, einzige noch existierende Kopie von SIERRA DE TERUEL. Denn als die Nazis das nördliche Frankreich besetzten, machten sie nicht nur Jagd auf missliebige Personen, sondern auch auf missliebige Filme, und zu denen zählte auch SIERRA DE TERUEL. Das Negativ und alle erreichbaren Kopien wurden gezielt aufgespürt und vernichtet. Wenn die bisher erzählte Entstehungsgeschichte von SIERRA DE TERUEL selbst schon filmreif ist, so beginnt nun eine neue Episode, die wiederum Stoff für einen Film liefern könnte, in dem ein neuer Held die Bühne betritt. Und der heißt Varian Fry.

Spanien aus der Sicht eines Bombers
Nach der schnellen Niederlage der französischen Streitkräfte im Sommer 1940 wurde das von Vichy aus regierte unbesetzte Südfrankreich zu einem vorläufigen Zufluchtsort für Flüchtlinge aus halb Europa. Es war aber auch eine riesige Mausefalle, aus der kaum ein Entkommen möglich schien. Deshalb gründeten schon im Juni 1940 deutsche und österreichische Emigranten, amerikanische Intellektuelle und gut betuchte liberale Gönner das Emergency Rescue Committee (ERC), um Flüchtlinge aus Frankreich auszuschleusen, wobei das besondere Augenmerk auf Künstlern und Intellektuellen lag. Als Agent des ERC vor Ort wurde der Harvard-Absolvent und Journalist Varian Fry (1907-67) nach Frankreich geschickt, um von Marseille aus eine Fluchthilfeorganisation aufzubauen. Und das tat er mit ungeahntem Erfolg. Fry organisierte ein Netz von Fluchthelfern, besorgte echte und gefälschte Pässe und Visa, versorgte Flüchtlinge mit Geld, und in ziemlich genau einem Jahr konnte er zwischen 2000 und 4000 Menschen aus Frankreich ausschleusen, einen Teil per Schiff aus dem Hafen von Marseille, die meisten aber zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien, von wo aus sie mit Duldung der spanischen Behörden nach Portugal gelangten, wo dann die Weiterreise in die USA oder in andere Länder möglich war. Fry war durch seine Tätigkeit als Journalist für mehrere international ausgerichtete amerikanische Magazine, und dann durch seine Fluchthilfetätigkeit, mit dem Aussehen wichtiger europäischer Künstler, Intellektueller und politischer Aktivisten vertraut. Als er eines Tages im Dezember 1940 in der Nähe von Nizza zu tun hatte, erkannte er in einer Straßenbahn Malraux, der gerade erst vor einigen Tagen im unbesetzten Teil Frankreichs angekommen war.

Die ominöse Brücke wird zerstört
Fry sprach Malraux an, um ihm seine Hilfe anzubieten, doch Malraux wollte zunächst in Frankreich bleiben. Malraux besuchte aber im Januar 1941 Fry in Marseille, und in den folgenden Wochen und Monaten trafen sie sich noch mehrmals, um dieses und jenes zu besprechen. Und dabei äußerte Malraux auch die Bitte an Fry, die Kopie von SIERRA DE TERUEL außer Landes zu schmuggeln, am besten in die USA. Denn Malraux wusste, dass er von der Gestapo gesucht wurde, außerdem rechnete er damit, dass auch der Vichy-Staat irgendwann von den Deutschen besetzt werden würde (was dann ja auch geschah), so dass sein Film in Frankreich auf Dauer nicht sicher war. Fry war von der Bedeutung von SIERRA DE TERUEL als Kunstwerk und als Zeitdokument schnell überzeugt und sagte seine Hilfe zu. Doch das war leichter gesagt als getan. Zwar konnten auf der Pyrenäenroute auch kleinere Gegenstände außer Landes geschafft werden, doch waren die in acht Dosen verpackten Filmrollen dafür zu unhandlich und auffällig. Und in Spanien wäre der Film natürlich sofort vernichtet worden, wenn man ihn entdeckt hätte. So kam als sicheres Transportmittel für Fry nur Diplomatenpost in Betracht. Das unbesetzte Frankreich war formal ein unabhängiger Staat, mit dem die USA nach wie vor diplomatische Beziehungen unterhielten, und Diplomatenpost konnte somit ohne Kontrollen durch französische Behörden das Land verlassen. Doch auch hier taten sich Schwierigkeiten auf, denn das amerikanische Außenministerium stand den Aktivitäten des Emergency Rescue Committee ablehnend gegenüber. Der liberale Diplomat Harry Bingham hatte als amerikanischer Vizekonsul in Marseille entgegen den Anweisungen seiner Vorgesetzten Fry tatkräftig unterstützt (eigentlich hieß er Hiram Bingham IV - sein Vater, der Gelehrte und Politiker Hiram Bingham III, hatte einst als Archäologe die Ruinen von Machu Picchu ausgegraben). Doch Anfang Mai 1941 wurde Bingham von seinem Posten abberufen und nach Lissabon versetzt (eine offizielle Begründung dafür gab es nicht, aber man darf es als Strafversetzung betrachten). Weder im Konsulat in Marseille noch in der amerikanischen Botschaft in Vichy konnte Fry etwas für Malraux ausrichten.

Bordschützen gegen Jagdflieger
Im Juli 1941 wurde die Lage langsam eng. Frys Tätigkeit blieb den französischen Behörden und den Deutschen natürlich nicht auf Dauer verborgen. Die Nazis protestierten, und sowohl die Behörden als auch die amerikanische Botschaft legten Fry immer dringender nahe, seine Aktivitäten zu unterlassen, was der aber beharrlich ignorierte. Bereits im Dezember 1940 war er zum ersten Mal verhaftet, aber nach einigen Tagen wieder freigelassen worden. Im Juli nun wurde er ins Polizeikommissariat von Marseille vorgeladen, wo man ihm eröffnete, dass er bis spätestens 14. August Frankreich verlassen müsse, andernfalls werde er verhaftet. Ohne Fry hatte Malraux kaum noch eine Chance gehabt, den Film auszuschmuggeln, aber fast im letzten Moment kam die rettende Idee. Malraux hatte bei einem seiner Gespräche mit Fry erwähnt, dass er Archibald MacLeish kannte, einen liberalen Dichter und Politiker, der von 1939 bis 1944 auf persönlichen Wunsch von F.D. Roosevelt auch Leiter der amerikanischen Kongressbibliothek in Washington war. Nun entstand der Plan, Malraux' Kopie von SIERRA DE TERUEL der Library of Congress als Geschenk anzubieten, um auf diesem Weg doch noch einen Transport per Diplomatenpost zu ermöglichen. Malraux stellte Fry eine schriftliche Vollmacht aus, damit der nach eigenem Ermessen alle nötigen Schritte ergreifen konnte, und damit wurde Fry wieder einmal im Konsulat in Marseille vorstellig. Diesmal war man wohlwollender als sonst, vielleicht, weil man wusste, dass man den Störfaktor Fry bald los sein würde. Generalkonsul Fullerton, der Chef von Bingham bis zu dessen Versetzung, schickte am 25. Juli ein Telegramm ans Außenministerium nach Washington mit Malraux' Angebot und der Bitte, es an MacLeish weiterzuleiten. Fry hatte im Konsulat ausdrücklich um Vertraulichkeit gebeten, weil nicht nur der Film im Fall der Konfiszierung unweigerlich vernichtet werden würde, sondern auch Malraux nach wie vor von der Auslieferung an die Gestapo bedroht war. Doch das Telegramm wurde unverschlüsselt gesendet, und wahrscheinlich wurde es von den französischen Behörden abgehört. Ohnehin war Fullerton offenbar nicht ganz bei der Sache - im Telegramm wird der Film "Terruel Dela Sierra" genannt.

Bergdorf
Die Mühlen der amerikanischen Bürokratie mahlten offenbar nicht besonders schnell. Erst am 4. August wurde das Telegramm vom Außenministerium an die Kongressbibliothek weitergereicht. MacLeish war gerade abwesend, aber sein Stellvertreter und spätere Nachfolger Luther Evans erkannte den Wert des Angebots und nahm es in seiner Antwort am nächsten Tag an. Wieder ließ man sich im Ministerium Zeit - am 15. August wurde die Bibliothek informiert, dass ein entsprechendes Telegramm nach Marseille geschickt worden war. Amerikanische Konsulatsbeamte setzten Malraux direkt davon in Kenntnis. Als der Fry informieren wollte, erfuhr er, dass sein Freund inzwischen in Gewahrsam genommen und ohne weitere Umschweife per Zug über Spanien nach Portugal abgeschoben worden war. Fry machte später das vermutlich abgehörte Telegramm für seine schnelle Abschiebung mit verantwortlich. Ohne Fry musste Malraux nun selbst mit den Konsulatsmitarbeitern klarkommen, und die standen einem bekannten Linken wie ihm misstrauisch bis feindselig gegenüber (Bingham war hier wirklich eine einsame Ausnahme). Und prompt wurden ihm Steine in den Weg gelegt: Trotz der Anweisung aus Washington sollte er eine Bescheinigung beibringen, dass die Filmrollen nicht feuergefährlich sind, sonst würden sie nicht in die Diplomatenpost aufgenommen. Das konnte er nicht, und so passierte erst einmal nichts - und Monate vergingen.

Kreuzabnahme, säkulare Art
Nach seiner Ausweisung zog Fry noch einige Wochen lang von Lissabon aus die Fäden seiner Organisation, dann kehrte er im November 1941 in die USA zurück. Unter den Dingen, die er dort als erstes erledigte, war auch, sich nach dem Verbleib von SIERRA DE TERUEL zu erkundigen. Von Malraux' amerikanischem Freund und Verleger Robert Haas, dem Malraux über seine Lage geschrieben hatte, erfuhr Fry, dass der Film immer noch in Frankreich war. Deshalb schrieb er am 21. November einen Brief an Archibald MacLeish, in dem er die Situation ausführlich darlegte und auf die Dringlichkeit und die nötige Vertraulichkeit hinwies. Wie schon Monate zuvor Luther Evans, reagierte nun MacLeish sofort. Am 25. November schrieb er einen Brief an den Außenminister persönlich, in dem er um Erledigung der Angelegenheit bat, und nun war es MacLeish, der Vertraulichkeit einforderte. Im Ministerium ließ man sich wie gewohnt Zeit, aber am 19. Dezember erhielt MacLeish eine Eingangsbestätigung seines Schreibens und die Mitteilung, dass nun ein weiteres Telegramm mit dem gewünschten Inhalt nach Marseille geschickt wird. Am 17. Januar schließlich informierte das Ministerium MacLeish, dass die Nichtentflammbarkeit des Films zertifiziert wurde und er nun per Diplomatenpost expediert wird. Diese Sendung machte dann aber offenbar noch eine längere Rundreise, denn erst am 1. Juni 1942 trafen die acht Filmrollen in der Kongressbibliothek ein - fast ein Jahr, nachdem Malraux sein Angebot an die Bibliothek gemacht hatte. Malraux erfuhr erst Wochen später von Robert Haas, der MacLeish angerufen hatte, dass sein Film endlich in Sicherheit war.

Ein Verwundeten- und Leichentransport wird zu einer Prozession
Die Kongressbibliothek entlieh SIERRA DE TERUEL bald darauf an das Museum of Modern Art in New York. Iris Barry, die Filmkuratorin des MoMA, ließ eine einleitende Texttafel hinzufügen, in der der Film vorgestellt und gelobt, aber auch als "zu lang" bezeichnet wird, aber von sonstigen Eingriffen blieb diese Kopie verschont. In dieser Form wurde SIERRA DE TERUEL im November 1944 in den Räumlichkeiten des Museums und dann nochmal im April 1945 andernorts in Manhattan vorgeführt, dann wurde er an die Kongressbibliothek zurückgegeben. Dort wurde er eingemottet - und dann praktisch vergessen. Fast drei Jahrzehnte dauerte der Dornröschenschlaf dieser Kopie. Erst der amerikanische Malraux-Experte Walter G. Langlois, damals an der University of Kentucky, spürte sie auf und berichtete im Januar 1973 in einem ausführlichen Artikel in der hauseigenen Zeitschrift der Kongressbibliothek über den Film, und wie er nach Washington gelangte. Dieser sehr lesenswerte Text bildet die wichtigste Quelle für die zweite Hälfte meines Artikels.


Doch unterdessen hatte SIERRA DE TERUEL - unter einem neuen Titel - schon längst den Weg in die Welt gefunden. Denn als 1944 Paris befreit worden war, wurde Inventur gemacht, und dabei tauchte in einem Lager von Pathé eine weitere Kopie des Films auf, verpackt in einer Kiste, die fälschlich mit "DRÔLE DE DRAME" beschriftet war. Wie schon erwähnt, war auch dieser Film von Édouard Corniglion-Molinier produziert worden. Ob es sich dabei um ein Versehen oder bewusste Tarnung handelte, konnte im Nachhinein nicht mehr ermittelt werden. Diese Version kaufte dann ein Produzent oder Verleiher, dessen Identität anscheinend nebulös ist - vielleicht handelte es sich dabei um einen gewissen Arys Nissotti. Wer immer es war, er wollte den Film noch 1944 in die französischen Kinos bringen, wurde jedoch von den Kinobetreibern abgewiesen, die wohl dachten, dass sich ein kriegsmüdes Publikun nicht dafür interessieren würde. Doch der neue Besitzer des Films gab nicht auf - um ihn den Kinobesitzern doch noch schmackhaft zu machen, nahm er gravierende Eingriffe vor. Als erstes wurde der Film in ESPOIR umbenannt, um sich an den immer noch populären Roman anzuhängen (im Gegensatz zum Romantitel L'Espoir kommt der neue Filmtitel aber ohne Artikel aus). Immerhin wurde der Originaltitel als Untertitel in den (auch neu gestalteten) Credits und auf Plakaten beibehalten. Sodann wurden die schon 1939 hergestellten französischen Untertitel durch von Denis Marion neu übersetzte ersetzt, weil, wie man meinte, sich der Sprachgebrauch in den vergangenen sechs Jahren soweit verändert hatte, dass manches an den alten Untertiteln mittlerweile unverständlich geworden war. Auch die erklärenden Zwischentitel wurden wohl nochmal überarbeitet.

Kommandant Peña und eine Bäuerin
Als dritte Maßnahme wurde eine dreiminütige gefilmte Einführung von Maurice Schumann dem Film vorangestellt. Schumann war ein prominenter Widerstandskämpfer und nach dem Krieg ein Politiker, der es bis zum Außenminister unter Präsident Pompidou brachte. In der Einführung sitzt Schumann in Uniform an einem Schreibtisch und spricht über den Film, wobei er Parallelen zwischen dem Kampf der Republikaner in Spanien und dem Kampf der Résistance in Frankreich zieht. Damit sollte wohl die Handlung näher an das französische Publikum herangerückt werden, das sich nach der Befreiung gern als ein Volk von lauter Résistance-Kämpfern sah. Als gravierendste Maßnahme wurde SIERRA DE TERUEL bzw. nun ESPOIR gekürzt. Ungefähr zur selben Zeit wie Iris Barry hielt auch der neue Besitzer den Film für zu lang, und auch für zu repetitiv - letzteres deshalb, weil eine Totale mit der Prozession in Form eines gespiegelten Z am Berghang in der Schlusssequenz mehrfach vorkam, um den epischen Charakter des Geschehens zu betonen. Davon blieb nur die letzte Instanz ganz am Schluss übrig. Insgesamt wurden je nach Quelle drei oder über vier Minuten aus dem ohnehin nicht langen Film herausgeschnitten, und die Kürzungen betrafen hauptsächlich die Schlussphase des Films. Dabei hätte gerade diese Sequenz unversehrt bleiben müssen, denn durch die Eingriffe wurde nicht nur der von Malraux intendierte visuelle Fluss gestört, sondern auch Milhauds Musik hörbar zerschnitten. An all diesen Änderungen wurde Malraux nicht beteiligt. Wahrscheinlich wurde er auch durch sein erneutes militärisches Engagement gegen Kriegsende und dann durch seinen Einstieg in die Politik daran gehindert, sich 1944/45 um seinen Film zu kümmern.

Epische Totale - im Original mehrfach, im Kino nur einmal zu sehen
Die Änderungen hatten vordergründig Erfolg: ESPOIR kam im Juni 1945 nun doch noch ins Kino. Von den Kritikern wurde er wohlwollend aufgenommen, und er gewann sogar einen Prix Louis-Delluc, aber an der Kasse fiel er durch. Er wurde bald wieder aus dem Verleih genommen und eingemottet, wenn auch nicht so gründlich wie die Washingtoner Version. Ein Vierteljahrhundert später erwarb eine Firma mit dem schönen Namen Les Grands Films Classiques die Rechte und brachte SIERRA DE TERUEL (der auch jetzt noch ESPOIR hieß) in die Arthouse-Kinos - mit ungeahntem Erfolg. Publikum und Kritik waren begeistert, nicht nur in Frankreich, sondern auch im Ausland. Der zweite Frühling des Films sowie die Wiederauffindung der Originalfassung schlugen sich auch publizistisch in Büchern und Zeitschriftenartikeln nieder - die 70er Jahre sind das Jahrzehnt der intensivsten Beschäftigung mit SIERRA DE TERUEL. Danach flaute das Interesse wieder etwas ab, verschwand aber nicht vollständig. So hat etwa Godard Ausschnitte aus dem Film in HISTOIRE(S) DU CINÉMA: UNE VAGUE NOUVELLE (1998) und FILM SOCIALISME (2010) untergebracht.

Maurice Schumann bei seiner Einleitung
In Spanien durften der Film ebenso wie Malraux' Roman erstmals 1978 erscheinen. In den 90er Jahren beschloss man in der Filmoteca Española in Madrid, eine Kopie zu erwerben, und nach Prüfung des Ausgangsmaterials entschied man sich naheliegenderweise für die Fassung der Kongressbibliothek. Es wurde eine hochwertige Nasskopie angefertigt, die Kratzer praktisch unsichtbar macht, zusätzlich wurde der Ton digital verbessert. Diese vermutlich bis heute beste Fassung von SIERRA DE TERUEL wurde 1997 beim Filmfestival in San Sebastián gezeigt. Die Fassung von 1945/1970 gibt es auf einer spanischen und einer französischen DVD, die in Aufmachung und Ausstattung fast identisch sind. Im Gegensatz zur spanischen hat die französische Scheibe jedoch nicht nur französische, sondern auch englische Untertitel. Die Schumann'sche Einleitung liegt nicht im Film selbst, sondern im Bonusmaterial vor (ich nehme an, dass sie bereits 1970 wieder entfernt wurde, weiß es aber nicht sicher). Für die DVDs wurde 2003 eine "Restaurierung" vorgenommen, aber dabei wurde nur die Bild- und Tonqualität verbessert (mit sehr bescheidenem Erfolg), dagegen wurde kein fehlendes Material ergänzt. Eine Veröffentlichung der Washingtoner bzw. der Madrider Fassung auf DVD oder Blu-ray wäre sehr wünschenswert. Derzeit findet man die 1970er Fassung auch auf YouTube, allerdings in grausam schlechter Bildqualität, obendrein mit stark beschnittenem Bild und falschem Seitenformat, dafür mit guten deutschen Untertiteln.

Ein Film ändert nach sechs Jahren seinen Titel; rechts die erste Texttafel

Montag, 9. November 2015

Themerson & Themerson - fast verlorene polnische Avantgarde

Auch die Autoren dieses Films [die Themersons selbst] versuchten während ihres ganzen Lebens, rückwärts zu gehen, aber vorwärts zu kommen. (Stefan Themerson unter Bezug auf DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES)

Schon mal von Stefan und Franciszka Themerson gehört? Als regelmäßiger Arte-Seher vielleicht, aber sonst wohl nicht unbedingt. Dabei sind die Themersons keineswegs vergessen: In ihrer Heimat Polen und ihrer Wahlheimat England erinnert man sich durchaus an sie, vielleicht auch in Frankreich, wo sie auch kurz lebten, aber hier zu Lande waren sie wohl von vornherein nie besonders prominent. Die beiden gehörten in den 30er Jahren zur polnischen Film-Avantgarde und drehten gemeinsam fünf experimentelle Filme, von denen leider nur einer überlebt hat. Im englischen Exil folgten noch zwei weitere Filme, so dass sich der erhaltene filmische Nachlass des Ehepaars auf gerade mal drei Werke beläuft. Im "Hauptberuf" (der Ausdruck passt bei den beiden nicht so recht) war Franciszka Zeichnerin und Malerin, Stefan Schriftsteller, Dichter und Essayist. Außerdem führten beide gemeinsam in ihrer englischen Zweitheimat über 30 Jahre lang einen sehr eigenwilligen Verlag. 2010 entstand als internationale Coproduktion (mit Beteiligung von Arte) ein 70-minütiger Dokumentarfilm über die Themersons, der ihr ganzes Leben abdeckt. Ich will mich hier hauptsächlich auf ihre Filme konzentrieren.

Stefan und Franciszka Themerson in THEMERSON & THEMERSON
Die Filmografie in der IMDb enthält derzeit nur die überlebenden drei Filme, und in der deutschen und englischen Wikipedia ist die Liste zwar vollständig, aber unübersichtlich und nur mit wenigen Informationen dargeboten. Deshalb hier zunächst die komplette Liste, einschließlich der Dokumentation. Die deutschen Titel der polnischen Filme sind nicht offiziell, sondern Übersetzungen der Originaltitel, die ich Wikipedia entnahm.

APTEKA (APOTHEKE)
Warschau 1930
3 Minuten
stumm
verschollen

EUROPA
Warschau 1931/32
15 Minuten
stumm
verschollen

DROBIAZG MELODYJNY (MUSIKALISCHES MOMENT)
Warschau 1933
3 Minuten
Musik: Maurice Ravel
verschollen

ZWARCIE (KURZSCHLUSS)
Warschau 1935
10 Minuten
Musik: Witold Lutosławski
verschollen

PRZYGODA CZŁOWIEKA POCZCIWEGO (DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES)
Warschau 1937
10 Minuten
Musik: Stefan Kisielewski

CALLING MR. SMITH
London 1943
10 Minuten
Farbe: Dufaycolor
Musik: Karol Szymanowski, J.S. Bach, Frédéric Chopin, Horst-Wessel-Lied

THE EYE & THE EAR
London 1944/45
10 Minuten
Musik: Karol Szymanowski

Drehbuch, Kamera, Regie und Schnitt jeweils die Themersons gemeinsam. Alle Filme wurden auf 35mm gedreht, und alle außer CALLING MR. SMITH in Schwarzweiß (PRZYGODA CZŁOWIEKA POCZCIWEGO enthielt jedoch ursprünglich eine kurze handcolorierte Sequenz, die nur in s/w erhalten ist).

THEMERSON & THEMERSON (auch THEMERSON AND THEMERSON)
Frankreich/Großbritannien/Polen 2010
Regie: Wiktoria Szymańska

Stefan (1910-1988) und Franciszka Themerson (1907-1988) entstammten beide polnisch-jüdischen Familien. Stefan wurde in Płock geboren, Franciszka als Tochter des Malers Jakub Weinles und einer Pianistin in Warschau. Während Franciszka schon als Kind ihr zeichnerisches Talent entdeckte, interessierte sich Stefan bereits als Jugendlicher für Radio-, Foto- und Filmtechnik sowie für die modernen Kunstströmungen. Mit 14 baute er sich einen Kristallempfänger, er verfertigte Collagen und Fotomontagen, von denen etliche in einem Literaturmagazin erschienen, und mit 18 veröffentlichte er in einem Magazin einen Artikel mit dem Titel "Über die Möglichkeiten des Radios" (Możliwości radiowe). Darin ging es keineswegs nur um das Radio, sondern um eine formale Gegenüberstellung von (mittels Radio transportierter) Musik und Film. Er vergleicht darin (I) die üblichen handlungsorientierten Filme mit Musik mit Gesang (wobei der Gesang so etwas wie eine Handlung transportiert), (II) sogenannte optische Musik (also abstrakte Filme wie etwa die von Oskar Fischinger und etwas später die von Mary Ellen Bute und Ted Nemeth) mit Instrumentalmusik, die zwar Bedeutung, aber keine Handlung hat, und schließlich (III) als letzte Stufe einzelne optische mit akustischen Sinneseindrücken, die jeder Bedeutung entkleidet sind, so dass man sie im Alltag gar nicht bewusst wahrnimmt. Und dann stellt er die rhetorische Frage, ob die formale Ähnlichkeit innerhalb der letzten Kategorie nicht dazu führt, dass man solche optischen und akustischen Eindrücke nicht miteinander verbinden könne, und ob das nicht die ultimative Kunstform für das gegenwärtige Zeitalter werden könne. Und damit hatte Stefan Themerson schon so etwas wie ein Programm für die eigenen kommenden Filme entworfen. Er beschließt den Artikel mit einem Blick in die Zukunft: Er stellt sich einen Mann vor, der, bequem in einem Sessel versunken (vielleicht sogar im Pyjama), mit Kopfhörer und einem Stereoskop vor den Augen, so eine multimediale "Radio-Phono-Vision" genießt.

Stefan begann 1928 in Warschau Physik zu studieren, wechselte aber bald zur Architektur. Irgendwann Ende der 20er Jahre lernte er Franciszka kennen, die an der Warschauer Kunstakademie studierte, und 1931 heirateten die beiden. Da hatten sie ihren ersten Film APTEKA schon fertiggestellt. Die meisten in den frühen 20er Jahren gedrehten abstrakten Filme wie die von Walther Ruttmann, Hans Richter und Viking Eggeling waren rein grafisch, und Fischinger sowie in den 30er Jahren Len Lye und Norman McLaren setzten diese Tradition fort. Doch schon in den 20er Jahren hatte sich auch die Tendenz entwickelt, reale Objekte zu filmen und mittels extremer Großaufnahme, ungewöhnlicher Kamerawinkel, Mehrfachbelichtung, rascher Montage etc. bis zur Abstraktion zu verfremden. Wichtigster Vorreiter in dieser Beziehung war BALLET MÉCANIQUE, den Dudley Murphy und Fernand Léger 1924 in Frankreich drehten. Einige Filmkritiker und Kunsttheoretiker forderten explizit eine Bevorzugung dieser Richtung, so in Polen 1928 die Kritikerin Stefania Zahorska. Die Themersons schlossen sich dieser Sichtweise an, und sie wurden zu Pionieren des abstrakten Films in ihrem Land. Zwar wurde in Polen schon in den 20er Jahren eifrig über das Thema debattiert, aber es wurde kein solcher Film fertiggestellt. (Der konstruktivistische Künstler Mieczysław Szczuka entwickelte konkrete Pläne dazu und hätte sie wohl auch umgesetzt, wenn er nicht 1927 tödlich verunglückt wäre.)

Parallel zu seiner frühen Beschäftigung mit Fotomontagen, die man durchaus als Vorstufe zum Filmen betrachten kann, begann sich Stefan für Fotogramme zu interessieren. Ein Fotogramm entsteht bekanntlich, wenn man Objekte auf einem Film, einer Fotoplatte oder lichtempfindlichem Papier platziert und direkt, also ohne Kamera, belichtet. Bei diffuser Beleuchtung wird dann die Auflagefläche der Objekte, bei gerichteter Beleuchtung zusätzlich die Schatten der Objekte fotografisch abgebildet. Im Avantgarde-Sektor hatten beispielsweise schon Man Ray und László Moholy-Nagy in den 20er Jahren mit Fotogrammen gearbeitet. Stefan verfiel nun auf die Idee, "bewegte Fotogramme", also Fotogramm-Filme, herzustellen. Wie kann das gelingen? Stefan baute dafür einen Tricktisch mit einer horizontalen Glasplatte, die mit halbtransparentem Papier belegt war, auf dem die zu filmenden Objekte platziert wurden. Stefan lag dann mit seiner Kamera (ein altes Ding mit Kurbel) unter dem Tisch und filmte (bzw. fotografierte in Einzelbildschaltung) die Umrisse und Schatten der Objekte auf dem Papier, während Franciszka schrittweise die Objekte und/oder die über dem Tisch angebrachten Lichtquellen bewegte (hier findet man eine Skizze des Tisches sowie einige Screenshots aus den Filmen). Technisch gesehen sind das keine Fotogramme mehr, weil ja wieder eine Kamera zum Einsatz kommt, aber der ästhetische Kern - die Abbildung nur von Umrissen bzw. Schatten - bleibt erhalten, so dass man mit etwas gutem Willen durchaus von bewegten Fotogrammen sprechen kann. Die Themerson'sche Konstruktion erinnert an den Tricktisch, den Walther Ruttmann 1920 konstruierte und patentieren ließ, um damit seine vier abstrakten OPUS-Filme zu realisieren, nur war bei Ruttmann die Lichtquelle unten und die Kamera oben, und es gab nicht nur eine, sondern drei übereinander angeordnete horizontale Glasplatten, von denen zwei verschiebbar waren.

Was die Themersons an den bewegten Fotogrammen reizte, war neben dem ästhetischen Resultat nicht zuletzt die Einfachheit des Verfahrens, die es ihnen - als Autodidakten im zunächst noch fast jugendlichen Alter mit primitiver Ausrüstung - ermöglichte, einfach so loszulegen und experimentelle Filme zu drehen. Und so setzten sie das Verfahren auch in allen ihren Filmen ein, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, kombiniert mit anderen Techniken. - In APTEKA (APOTHEKE) werden die Fotogramme ausgiebig benutzt, und bei den abgebildeten Objekten handelt es sich um Utensilien, wie man sie in einer Apotheke oder in einem Chemielabor findet. Im Vergleich zum recht kurzen APTEKA war EUROPA deutlich ambitionierter. Es handelt sich um eine Interpretation des gleichnamigen Gedichts des polnischen futuristischen Dichters Anatol Stern, geschrieben 1925 und 1929 veröffentlicht. Der Futurismus reüssierte nicht nur in Italien und Russland, sondern hatte für einen begrenzten Zeitraum (ca. 1919-22) auch ein Standbein in Polen, bevor hier Dadaismus und Konstruktivismus die vorherrschenden Richtungen der Avantgarde wurden (Sterns Gedicht ist also in einem gewissen Sinn schon ein Nachzügler). Die polnischen Futuristen verweigerten sich aber, unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs stehend, anders als ihre italienischen Kollegen der bedingunglosen Verherrlichung der Maschinen und des Kriegs. Ideologisch stand Stern auch eher den Dadaisten nahe als jemandem wie Marinetti, und sein Poem ist eine grimmig-wüste Anklage gegen ein Europa, das, gerade einen vernichtenden Krieg hinter sich, schon auf den nächsten zusteuert. Sterns "Europa" ist, wie auch andere Werke des polnischen Futurismus, schon sehr "filmisch" geschrieben, und es bestand nicht nur aus Text, sondern war in collagenhafter Form mit Bildern und Fotomontagen angereichert, die die Künstlerin Teresa Żarnower (auch Żarnowerówna geschrieben) und der oben schon erwähnte Mieczysław Szczuka beisteuerten. Stefan Themerson schrieb 1988 in einem Brief, dass Sterns Gedicht nicht die Inspiration für das Drehbuch zu EUROPA war, sondern das Gedicht war das Drehbuch. Neben bewegten Fotogrammen gab es in dem Film weitere Stop-Motion-Animationen, die teilweise auch rückwärts liefen, nackte Frauen (Modelle von der Kunstakademie) und Großaufnahmen von menschlichen Körperteilen (das sah vielleicht ähnlich aus wie gut zehn Jahre später in GEOGRAPHY OF THE BODY von Willard Maas und Marie Menken), sowie weitere Motive und technische Kunstgriffe. Und am Ende gibt es, sozusagen als hoffnungsvollen Kontrapunkt, ein nacktes Kleinkind auf einer Wiese.

Überlebendes Standbild aus APTEKA
Die nächsten beiden Filme waren Auftragsarbeiten (die Themersons hatten sich also - mit EUROPA mehr als mit dem verhalten aufgenommenen APTEKA - schon einen gewissen Namen gemacht). DROBIAZG MELODYJNY (MUSIKALISCHES MOMENT) hat jemand namens Wanda Golinska in Auftrag gegeben, um Werbung für ihr Geschäft zu machen (um welche Art von Geschäft es sich handelte, darüber differieren die Angaben). Wieder gibt es bewegte Fotogramme, jetzt erstmals mit Ton, nämlich im Ablauf synchronisiert mit einer Musik von Ravel. Bei ZWARCIE (KURZSCHLUSS) handelt es sich um einen Informationsfilm über die Gefahren der Elektrizität, der von einem Institut für Soziale Angelegenheiten (Instytut Spraw Społecznych) in Warschau beauftragt wurde. Für die semi-abstrakten Teile des Films entstand zuerst die Musik von Witold Lutosławski, danach wurden die Bilder gedreht und zur Musik synchronisiert. Die oben erwähnte Kritikerin Stefania Zahorska schrieb 1936 Folgendes über den Film: "... ein Poem von Objekten, Linien, Lichtern - es ist ein Drama der Elektrizität, es ist ein Kurzschluss von Formen außer Atem". MUSIKALISCHES MOMENT und KURZSCHLUSS wurden nicht nur in Avantgardezirkeln gezeigt wie die beiden ersten Filme, sondern sie liefen auch in regulären Kinos.

Und schließlich noch PRZYGODA CZŁOWIEKA POCZCIWEG (DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES), der einzige Film aus der polnischen Phase der Themersons, der überlebt hat:



Es handelt sich um eine surreale Parabel, die den Nonkonformismus feiert, oder, wie es im Vorspann heißt, um eine "irrationale Humoreske". "Es wird sich kein Loch im Himmel auftun, wenn man mal rückwärts geht", meint der Chef zu seinen zwei Trägern, die sich beim Abtransport eines Spiegelschranks etwas blöd anstellen. Das hört zufällig ein Beamter (der brave Mann) am Telefon mit, und er zieht seine eigenen Schlüsse daraus: Stimmt - man könnte ja wirklich mal rückwärts gehen. Doch einfach so rückwärts gehen, das geht nicht! Wo kämen wir da hin? "Nieder mit dem Rückwärtsgehen!" steht auf den Schildern der Demonstranten, die einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft bilden, "gewiss wird sich da ein Loch im Himmel auftun! Wir alle gehen vorwärts!" Doch die beiden Rückwärtsgeher lassen sich nicht beirren - und eigentlich könnte man es ja auch mal mit dem Fliegen versuchen. "Sie müssen die Metapher verstehen, meine Damen und Herren", sagt am Ende der brave Mann mit der Flöte. Das Kleinkind am Schluss ist vermutlich dasselbe, mit dem schon EUROPA endete (aber Stefan Themerson war sich da offenbar nicht mehr ganz sicher, als er 1973 den Inhalt von EUROPA in einem Brief zusammenfasste). Bewegte Fotogramme gibt es hier nur kurz gegen Ende bei den stilisierten Vögeln, und in dieser Sequenz gab es auch die erwähnte Handcolorierung. (Die "fotogrammierten" Vögel der Themersons erinnern mich an die Falkentraumsequenz, die Walther Ruttmann für Fritz Langs DIE NIBELUNGEN beisteuerte.)

Von 1931 (unter einem etwas anderen Namen schon ein oder zwei Jahre vorher) bis 1935 existierte in Warschau eine "Vereinigung der Liebhaber des künstlerischen Films" (Stowarzyszenie Miłośników Filmu Artystycznego, abgekürzt START). Zu den Mitgliedern, die meisten anfangs noch Studenten, zählten u.a. die Regisseurin Wanda Jakubowska, die Regisseure Aleksander Ford und Eugeniusz Cękalski, der Kameramann und Regisseur Stanisław Wohl und der spätere bedeutende Filmhistoriker Jerzy Toeplitz. Die Themersons pflegten engen Kontakt zu der Gruppe und waren mit den meisten Mitgliedern befreundet. 1935 gründeten sie quasi als Nachfolgeorganisation für START eine "Kooperative der Filmautoren" (Spółdzielnia Autorów Filmowych, SAF). Unter dem Dutzend Mitgliedern befanden sich neben Stefan und Franciszka und den oben erwähnten START-Mitgliedern (außer Toeplitz, der sich zwischenzeitlich in London aufhielt) auch der Komponist Witold Lutosławski. Die Kooperative produzierte eine Reihe von meist kurzen Filmen ihrer Mitglieder, darunter auch DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES. 1937 gründeten die Themersons als Zeitschrift der Kooperative das Journal f.a. (film artystyczny), mit Stefan als Herausgeber und Franciszka als Art Director. 1936 und 1937 waren sie nach London bzw. Paris gereist, um Avantgardefilme für Vorführungen in Polen zu entleihen, und die nach den Prinzipien der Neuen Typografie gestaltete Zeitschrift sollte diese Vorführungen publizistisch begleiten. In London trafen sie László Moholy-Nagy und John Grierson, die Zentralfigur der britischen Dokumentarfilmbewegung, und Letzterer versorgte sie mit Filmen aus dem Dunstkreis der von ihm geleiteten GPO Film Unit: THE SONG OF CEYLON von Basil Wright, COAL FACE von Alberto Cavalcanti, NIGHT MAIL von Harry Watt und Basil Wright, A COLOUR BOX und RAINBOW DANCE von Len Lye. Besonders die abstrakten Filme von Lye hatten es den Themersons angetan. Die erste Ausgabe von f.a. begleitete die Vorführung dieser Filme, die im Mai 1937 stattfand, und sie enthielt u.a. Artikel von Lye, Moholy-Nagy und Grierson. In Paris versorgten sich die Themersons vorwiegend mit Werken aus den 20er Jahren wie BALLET MÉCANIQUE, Man Rays LE RETOUR À LA RAISON, René Clairs ENTR'ACTE und Henri Chomettes CINQ MINUTES DE CINÉMA PUR, PRÉTEXTE von Alfred Sandy und LA ZONE von Georges Lacombe. In der schnelllebigen Avantgarde jener Jahre waren diese Filme 1937 eigentlich schon wieder veraltet, aber in Polen waren sie noch nie gezeigt worden. Die Themersons wollten sie eigentlich in einer Tour im ganzen Land vorführen, aber zu ihrem Verdruss erhielten sie nur Lizenzen für Warschau. Die zweite Ausgabe von f.a. widmete sich diesen französischen Filmen. Die Zeitschrift war dreisprachig Polnisch/Englisch/Französisch, ich weiß aber nicht, ob beide Ausgaben dreisprachig oder die erste Polnisch/Englisch und die zweite Polnisch/Französisch war. Heft Nr. 2 enthielt auch einen Essay von Stefan mit dem Titel O potrzebie tworzenia widzeń, der als der wichtigste theoretische Text über den Avantgardefilm im Polen der Zwischenkriegszeit gilt. 1983 erschien er stark überarbeitet und erweitert unter dem Titel The Urge to Create Visions auf Englisch neu. - Von ihren Avantgarde-Aktivitäten hätten die Themersons in Polen kaum leben können, aber sie veröffentlichten auch eine Reihe von erfolgreichen Kinderbüchern, mit Texten von Stefan und Illustrationen von Franciszka, und Stefan verfasste auch Texte für Schulbücher.

Von f.a. war noch eine dritte Ausgabe geplant, die sich dem polnischen experimentellen Film hätte widmen sollen, doch dazu kam es nicht mehr, weil die Themersons im Winter 1937/38 nach Paris übersiedelten. Das war eine rein künstlerisch begründete Entscheidung: Sie wollten in der internationalen Hauptstadt der Avantgarde Anschluss gewinnen. "Wenn man schrieb, malte oder Filme machte, musste man einfach nach Paris", schrieb Stefan 1986 in einem Brief. Schnell knüpften sie Kontakte zu anderen Künstlern und Intellektuellen; Franciszka malte und schuf Illustrationen für den Verlag Flammarion, Stefan schrieb Artikel für Zeitschriften sowie weiterhin Beiträge für polnische Schulbücher, und in ihrer Freizeit dachten sie sich neue Filmprojekte aus. Doch der vielversprechende Anfang wurde durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs jäh abgewürgt. Das Paar meldete sich zur Polnischen Exil-Armee in Frankreich (wie beispielsweise auch Emil-Edwin Reinert). Franciszka wurde als Kartographin der Polnischen Exilregierung zugeteilt, Stefan diente als einfacher Soldat, und dadurch wurden sie getrennt. Nach der französischen Niederlage 1940 wurde Franciszka mit einem Truppentransporter nach England evakuiert, wo sie weiterhin für die dorthin übersiedelte Exilregierung arbeitete, während Stefan in Frankreich zurückblieb. Er schlug sich ins unbesetzte Vichy-Frankreich durch, wo er mehr oder weniger im Untergrund lebte, denn als Jude war er auch dort von Deportation in die Vernichtungslager bedroht. Er vertrieb sich die Zeit mit der Arbeit an einem Roman und dem Schreiben von Gedichten, während es Franciszka von London aus mit Hilfe des Roten Kreuzes gelang, seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Mit organisatorischer Unterstützung von England aus gelang es Stefan schließlich Ende 1942, Frankreich zu verlassen und über Spanien und Portugal nach England zu gelangen. Nach einer kurzen Zeit in Schottland ließ sich das Paar 1944 in Maida Vale nieder, einem Viertel im Londoner Stadtteil Paddington, wo sie für den Rest ihres Lebens wohnten.

Die Themersons in der Polnischen Exil-Armee
Die Themersons hatten Kopien ihrer fünf Filme von Polen nach Paris mitgenommen und bei Kriegsausbruch im Film-Entwicklunslabor Vitfer hinterlegt, doch dort wurden sie von den Nazis konfisziert. Was dann mit den Filmen geschah, ist unbekannt - es fand sich keine Spur mehr von ihnen. Auch die in Polen zurückgebliebenen Filmrollen gingen während Krieg und Besatzung spurlos verloren, nur eine schon stark abgenutzte Kopie von DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES tauchte nach Kriegsende auf wundersame Weise in der Nähe von Moskau auf, die Themersons erfuhren aber zunächst nichts davon. Die Filmrolle wurde an das Zentrale Filmarchiv in Warschau geschickt und von dort schließlich an die Filmhochschule in Łódź weitergereicht. Erst als Ende 1960 das Zentrale Filmarchiv eine Veranstaltung zum 30-jährigen Jubiläum von START durchführte und dabei auch DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES vorführte, erfuhren Stefan und Franciszka durch einen Brief des Filmarchivs, dass doch noch einer ihrer polnischen Filme überlebt hatte. In seiner Antwort an das Filmarchiv zeigte sich Stefan sehr erfreut darüber, aber zugleich stellte er die bange Frage, ob nicht nur die physische Kopie, sondern auch der Film selbst dem Zahn der Zeit widerstanden hatte, oder ob es sich nur noch um eine belanglose Kuriosität aus einer vergangenen Zeit handeln würde (ob er daraufhin eine Antwort aus Warschau erhielt, ist mir nicht bekannt). Unter den Filmstudenten in Łódź, die dort DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES zu Gesicht bekamen, dürfte sich auch ein gewisser Roman Polanski befunden haben, denn in Polanskis mehrfach preisgekröntem Kurzfilm DWAJ LUDZIE Z SZAFĄ (ZWEI MÄNNER UND EIN SCHRANK) von 1958 wird ebenfalls ein Schrank mit Spiegel von zwei Männern durch die Gegend getragen. Von einer Freundin darauf angesprochen, meinten die Themersons gelassen: "Polen ist ein Land, in dem zwei Leute einen Schrank tragen müssen - das passiert eben alle 20 oder 30 Jahre!"

Zwei Männer und ein Spiegelschrank - links bei den Themersons, rechts bei Polanski
In London drehten die Themersons während des Krieges ihre letzten beiden Filme, und zwar im Auftrag der Polnischen Exilregierung. CALLING MR. SMITH von 1943 ist inhaltlich ein astreiner Anti-Nazi-Propagandafilm, aber formal auch schon fast avantgardistisch:



Das hier verwendete Farbverfahren Dufaycolor war eines der beiden europäischen Farbfilmverfahren (das andere war Gasparcolor), die in den 30er und 40er Jahren in Europa vorwiegend für Animationsfilme verwendet wurden (auch Len Lye benutzte beide Verfahren, auch in den Filmen, die 1937 in Polen gezeigt wurden). Erstaunlicherweise hatte die britische Zensurbehörde BBFC Einwände gegen den Film, weil ihr manche Bilder zu drastisch waren, vor allem eine an einem Galgen hängende Frau. Produziert wurde CALLING MR. SMITH laut Credits von einem E. Cekalski - es ist kein Anderer als das frühere START- und SAF-Mitglied Eugeniusz Cękalski. Er war zunächst in Paris und dann in London Leiter der Filmabteilung der polnischen Exilregierung, und er inszenierte in England auch selbst eine Reihe von kurzen Dokumentar- und Propagandafilmen, meist in Zusammenarbeit mit dem Schauspieler und Produzenten Derrick de Marney. Nach dem Krieg ging er zurück nach Polen, inszenierte weiter Filme und beteiligte sich am Aufbau der Filmhochschule Łódź. Cękalski starb 1952 mit 45 Jahren.

CALLING MR. SMITH - die Zensoren mochten dieses Bild nicht
Mit THE EYE & THE EAR wandten sich die Themersons wieder einem Thema zu, das Stefan schon in seinem frühen Essay "Über die Möglichkeiten des Radios" von 1928 beschäftigt hatte: Ob und wie man akustische und visuelle Eindrücke auf eine irgendwie logische, also nicht rein willkürliche, Art und Weise miteinander synchronisieren oder aufeinander abbilden könne:



Als Anschauungsmaterial dienen vier Stücke des Komponisten Karol Szymanowski. Es singt die aus der Schweiz stammende Sopranistin Sophie Wyss, und der als Dirigent genannte Ronald Biggs war selbstverständlich nicht der spätere legendäre Posträuber, sondern ein Namensvetter. Einmal mehr kommen bewegte Fotogramme ausgiebig zum Einsatz. Bei diesen letzten beiden Filmen waren die Themersons wohl nicht mehr mit vollem Einsatz bei der Sache - jedenfalls schrieb Stefan Ende 1945 in einem Brief an Aleksander Ford, dass sie diese Filme mehr aufgrund der äußeren Umstände denn aus einem echten künstlerischen Drang heraus realisiert hätten. Das Thema von THE EYE & THE EAR beschäftigte zumindest Stefan jedoch weiter. Noch bis in die 60er Jahre hinein trug er sich mit dem Gedanken, ein Gerät zu bauen (oder von einem Techniker bauen zu lassen), mit dem sich die Gesetze der gegenseitigen Abbildung von optischen und akustischen Reizen (falls es solche Gesetze überhaupt gäbe) erforschen ließen, und er nannte ein solches Gerät mal Synæstetic Sight and Sound Co-ordinator, mal Phonovisor. Doch zur praktischen Umsetzung fehlte immer das Geld, so dass diese Pläne nie realisiert wurden. In einem Brief von 1963, in dem er den damaligen Stand seiner Gedanken zu diesem Thema darlegte, wünschte sich Stefan auch die Möglichkeit, aus grafischen Mustern automatisiert Töne und Musik zu erzeugen. Vermutlich wusste er damals nicht, dass ausgerechnet in England so etwas gerade entwickelt wurde, nämlich Oramics von Daphne Oram. Dabei handelte es sich um einen analogen Synthesizer, der durch auf 35mm-Filmstreifen gezeichnete Muster programmiert wurde.

Nach dem Krieg wurde Aleksander Ford, Freund und SAF-Kollege der Themersons, im nunmehr kommunistischen Polen für einige Jahre Leiter des gesamten verstaatlichten Filmwesens. Im Herbst 1945 entsandte er eine zweiköpfige Delegation nach London, bestehend aus den START- bzw. SAF-Veteranen und Themerson-Freunden Jerzy Toeplitz und Stanisław Wohl, um das Paar zur Rückkehr nach Polen zu bewegen. Doch die Frage der Themersons, ob sie in Polen wieder frei in ihrem alten Stil Filme machen könnten, musste von den Emissären verneint werden, und so lehnten Stefan und Franciszka dankend ab und blieben lieber in England, und sie schrieben den oben erwähnten Brief an Ford, in dem sie hoffnungsvoll den Werken einer neuen polnischen Avantgarde unter Fords Patronat entgegensahen (offenbar ahnten sie da noch nicht, dass der strikt verordnete "Sozialistische Realismus" kaum noch Experimente zuließ). Wie es den Themersons wohl in Polen ergangen wäre? Darüber kann man natürlich nur vage Spekulationen anstellen. Da mit Ford, Toeplitz und Cękalski mindesten drei frühere START- und SAF-Mitglieder führende Positionen an der Filmhochschule Łódź innehatten, wären vielleicht auch Stefan und Franciszka als Dozenten dort untergekommen. Und als Juden wären sie vermutlich 1968 unter Druck geraten. Im Gefolge des Sechstagekriegs von 1967 kam es in Polen zu einer staatlich verordneten antisemitischen Kampagne, die sich nach Studentenunruhen im Frühjahr 1968 noch verstärkte. Aleksander Ford, Jude und immer überzeugter Kommunist, sah sich plötzlich heftigen Anfeindungen ausgesetzt, verlor alle öffentlichen Positionen und wurde ins Exil gedrängt. Ab 1968 lebte und arbeitete er nacheinander in Israel, Dänemark, Westdeutschland und in den USA, aber seine beiden in der Emigration gedrehten Filme hatten keinen Erfolg, er wurde nirgends richtig heimisch, und 1980 nahm er sich in einem Hotel in Florida das Leben. Auch Toeplitz, ebenfalls Jude, kam unter Druck. Er verließ Polen erst 1972 und ließ sich in Australien nieder, wo er sich eine zweite akademische Karriere aufbaute und seine schon in den 50er Jahren begonnene sechsbändige Filmgeschichte vollendete.

1948 gründeten die Themersons Gaberbocchus Press, einen ambitionierten kleinen Verlag, der liebevoll gestaltete und handwerklich sorgfältig erstellte Bücher in kleiner Auflage herausbrachte (die ersten beiden Titel wurden sogar noch - natürlich in sehr kleiner Auflage - mit einer Handpresse in ihrer eigenen Wohnung gedruckt). Der Verlag wurde zum wichtigsten Lebensinhalt in ihrer zweiten Lebenshälfte. "Gaberbocchus" ist die latinisierte Version von "Jabberwocky" - Lewis Carrolls Onkel Hassard H. Dodgson hatte das bekannte Nonsensgedicht ins Lateinische übersetzt (wobei es noch mindestens zwei weitere lateinische Versionen gibt). Gaberbocchus Press existierte als unabhängiger Verlag bis 1979, und in diesen gut 30 Jahren erschienen darin 60 Bücher - neben Stefans Werken (Romane, Gedichte, Essays und theoretische Schriften) englische Übersetzungen von so illustren Autoren wie Kurt Schwitters (die Themersons hatten Schwitters 1944 kennengelernt und sich mit ihm befreundet), Alfred Jarry, Guillaume Apollinaire und Raymond Queneau, die oft in Zusammenarbeit mit der bedeutenden Übersetzerin Barbara Wright entstanden. Auch Anatol Sterns "Europa" erschien bei Gaberbocchus, übersetzt von Stefan selbst zusammen mit dem Beat-Poeten (und Schwitters-Verehrer) Michael Horovitz, Aesop und Christian Dietrich Grabbe kamen zu Ehren, und Bertrand Russell veröffentlichte zwei Bücher bei Gaberbocchus (und er schrieb für Stefans in Südfrankreich begonnenen Roman "Professor Mmaa's Lecture" ein Vorwort). Mit zunehmendem Alter wurden die kinderlosen Themersons für etliche der von ihnen protegierten Autoren und Kümstler zu väterlichen bzw. mütterlichen Freunden. 1979 verkauften sie Gaberbocchus auf ihren eigenen Wunsch hin an den holländischen Verlag De Harmonie. - Ab 1958 betrieben die Themersons für einige Jahre den Gaberbocchus Common Room, eine Art Mischung aus Pub und Künstlersalon, in dem regelmäßig Treffen und Diskussionen von Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern (darunter Bertrand Russell) stattfanden und auch (natürlich experimentelle) Filme gezeigt wurden.

Franciszka Themerson schuf nicht nur Gemälde und Zeichnungen, die regelmäßig in Ausstellungen gezeigt wurden, sondern auch viele Illustrationen für bei Gaberbocchus erschienene Bücher. Besonders angetan hatte es ihr Alfred Jarrys Ubu roi. Für die 1951 bei Gaberbocchus erschienene, von Barbara Wright übersetzte Fassung steuerte sie über 200 Illustrationen bei, sie schuf die Kostüme und das Bühnenbild für eine sehr erfolgreiche Produktion des Stücks an Michael Meschkes Stockholmer "Marionettentheater", und sie kreierte schließlich eine eigene Comic-Version, die aus 90 meterlangen Zeichnungen bestand. - Stefan und Franciszka Themerson starben beide 1988 in London, im Abstand von gut zwei Monaten.

Franciszkas Kreationen für Ubu roi in Stockholm
Von den in Polen zurückgebliebenen Mitgliedern von Stefans und Franciszkas jüdischen Familien hatte fast niemand Krieg und Holocaust überstanden. Aber Franciszkas 1933 geborene Nichte Jasia Reichardt hatte überlebt, und 1946 machten die Themersons sie ausfindig und holten sie zu sich nach London, um für sie zu sorgen. Jasia Reichardt wurde eine bekannte Kunstkritikerin und Ausstellungsgestalterin, die sich für zeitgenössische Kunstströmungen und vor allem für Computerkunst engagierte. Mit von ihr kuratierten Ausstellungen wie Between Poetry and Painting (1965) und Cybernetic Serendipity (1968) hat sie sich bleibende Verdienste erworben. Nach dem Tod der Themersons übernahm sie deren umfangreichen künstlerischen Nachlass und überführte ihn in eine Stiftung, die sie zusammen mit dem Künstler und Kunsthistoriker Nick Wadley verwaltete. Im Januar 2015 wurde das gesamte Archiv an die Polnische Nationalbibliothek übereignet, in Form von über 200 Kartons mit einem Gesamtgewicht von 3,5 Tonnen nach Warschau gebracht und von der polnischen Kultusministerin persönlich in Empfang genommen.

Die verlorenen Filme der Themersons haben bei manchen späteren Zeitgenossen die Fantasie angeregt und den Wunsch nach einer "Rekonstruktion" geweckt. Der 1956 in Łódź geborene Piotr Zarębski versuchte sich 1988 an einer Rekonstruktion von EUROPA mit dem Titel EUROPA II, wobei er sich auf erhaltene Standbilder aus dem Original, das Drehbuch und persönliche Informationen von Stefan Themerson stütze. Dieser gab Zarębski brieflich den Rat, sich nicht an einer engen Rekonstruktion, sondern lieber an einer freien Interpretation zu versuchen. Wie weit Zarębski diesen Rat befolgte, weiß ich nicht. - Und der 1957 geborene Amerikaner Bruce Checefsky legte 2001 bzw. 2008 Rekonstruktionen von APOTHEKE und MUSIKALISCHES MOMENT vor (Ausschnitte: 1, 2, 3), wobei er sich auf ähnliche Quellen stützte wie Zarębski. Wie nahe all diese Rekonstruktionen dem jeweiligen Original kommen, kann ich natürlich nicht beurteilen (und sonst vermutlich auch niemand mehr).

Animierte Credits im Stil der Themersons
2010 legte die junge Regisseurin Wiktoria Szymańska als ihren ersten Film die gut 70-minütige Doku THEMERSON & THEMERSON vor. Es gibt reichlich Archivmaterial zu sehen, und der englische Lebensabschnitt des Paars wird von etlichen Wegbegleitern erhellt, darunter Jasia Reichardt, Barbara Wright (die 2009 verstarb und somit gerade noch rechtzeitig interviewt wurde), Michael Horovitz (der es sich nicht nehmen ließ, ein Nies-Gedicht von Schwitters zu rezitieren) und die Malerin und Schriftstellerin Cozette de Charmoy, deren erstes Buch The True Life of Sweeney Todd bei Gaberbocchus verlegt wurde, sowie einige mehr. Durch diese persönlichen Sichtweisen entsteht ein informatives und warmherziges Portrait des eigenwilligen und leicht versponnenen Paars. Auch bei der formalen Gestaltung hat sich die Regisseurin Mühe gegeben, so sind etwa die animierten Credits im Stil von Franciszkas Zeichnungen und Stefans "semantischen Gedichten" gestaltet. - Die englische Firma LUX hat in Zusammenarbeit mit einem polnischen Kunstzentrum eine DVD mit den drei überlebenden Filmen der Themersons herausgebracht (im Gegensatz zur YouTube-Version hat DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES hier engl. Untertitel). Die Scheibe selbst enthält kein Bonusmaterial und somit nur ungefähr eine halbe Stunde Film, es gibt aber ein zweisprachiges (Englisch/Polnisch) Booklet mit ca. 40 engl. Seiten. Dieses Büchlein ist sehr infornativ und bildet eine der Quellen für diesen Artikel, verfügt allerdings über eine lausige Klebebindung - mir fliegen jetzt schon alle Seiten einzeln entgegen. Die DVD findet sich zumindest derzeit nicht bei den üblichen Online-Shops, kann aber direkt bei LUX bestellt werden.

Dienstag, 14. Juli 2015

Casa Ricordi: Oper als Film, Film als Oper

Oder: Ein Reader's Digest der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts

CASA RICORDI (DAS HAUS RICORDI)
Italien/Frankreich 1954
Regie: Carmine Gallone
Darsteller: Paolo Stoppa (Giovanni Ricordi), Renzo Giovampietro (Tito I Ricordi), Andrea Checchi (Giulio Ricordi), Roland Alexandre (Gioachino Rossini), Marcello Mastroianni (Gaetano Donizetti), Maurice Ronet (Vincenzo Bellini), Fosco Giachetti (Giuseppe Verdi), Gabriele Ferzetti (Giacomo Puccini), Märta Torén (Isabella Colbran), Roldano Lupi (Domenico Barbaja), Micheline Presle (Virginia Marchi), Nadia Gray (Giulia Grisi), Myriam Bru (Luisa Lewis), Elisa Cegani (Giuseppina Strepponi), Fausto Tozzi (Arrigo Boito), Danièle Delorme (Maria)

Giovanni Ricordi in der Scala
Rossini, Donizetti, Bellini, Verdi, Puccini. Die klangvollen Namen stehen für rund hundert Jahre italienischer Operngeschichte, die grob vom Beginn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts reicht, und CASA RICORDI ist ein Episodenfilm, der jedem der fünf Meister einen Abschnitt widmet. Gekrönt sind die Episoden jeweils durch eine Arie des in diesem Abschnitt behandelten Komponisten, dargeboten auf einer Opernbühne im farbenfroh-opulenten Stil des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich um Ausschnitte aus Rossinis "Der Barbier von Sevilla", Donizettis "Der Liebestrank", Bellinis "Die Puritaner", Verdis "Othello" und Puccinis "La Bohème". Carmine Gallone stellte dazu keine Opernsänger auf die Bühne, sondern Schauspieler, und ließ sie von professionellen Sängern stimmlich doubeln - darunter so klangvolle Namen wie Mario del Monaco (der den Othello singt) und Renata Tebaldi (Mimi in "La Bohème"). Als Aufhänger und verbindende Klammer des Ganzen fungiert eine Familien- und Firmengeschichte: Der in Mailand beheimatete Musikverlag Casa Ricordi wurde bald nach seiner Gründung im Jahr 1808 zum weltweit führenden Verlag für Opernpartituren und sonstige klassische Musik, und CASA RICORDI folgt über mehrere Generationen den Leitern des Verlags, der ca. 150 Jahre lang ein Familienbetrieb blieb (ohne intensiv auf deren Geschicke einzugehen - im Vordergrund stehen immer die Komponisten). Auch die fünf im Film behandelten Tonsetzer waren alle bei Casa Ricordi unter Vertrag.

Rossini und Isabella Colbran
Während bei den meisten italienischen und französischen Episodenfilmen der 50er und 60er Jahre jede Episode von einem anderen Regisseur realisiert wurde, lag hier alles in den Händen von Carmine Gallone. Allerdings gibt es sechs Drehbuchautoren (einer davon ist Gallone), und bei jedem ist übereinstimmend in der IMDb "story and screenplay" vermerkt. Ohne dass ich eine Bestätigung dafür gefunden hätte, legt das den Verdacht nahe, dass einer von ihnen für die Rahmenhandlung und von den anderen jeder für eine Episode verantwortlich war - insofern also doch ein typischer Episodenfilm. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht und nachgeprüft, was an der Handlung authentisch und was erfunden ist - von einem solchen Film erwartet ohnehin niemand historische Genauigkeit. Das Folgende ist also der Inhalt des Films, aber nicht unbedingt im Detail die historische Wahrheit.

Der "Barbier von Sevilla" - erst Debakel, dann Triumph
1808 im napoleonisch regierten Mailand: Der Drucker Giovanni Ricordi macht mit überall angeklebten Flugblättern Reklame für seine Künste, und das bringt ihm einen Auftrag des damals schon renommierten Opernhauses, der Scala, ein: Er soll Noten in einem Rekordtempo drucken, das kein Konkurrent liefern kann. Ricordi nimmt den Auftrag an und gestaltet die Konditionen zu scheinbar für ihn ungünstigen Bedingungen um: Statt sich in Geld bezahlen zu lassen, verlangt er die Berge an altem, mit Noten beschriebenem Papier (samt Verwertungsrechten), das in den Kellergewölben der Scala unbeachtet vor sich hin gammelt. Der Intendant der Oper hält ihn für verrückt, doch in Wirklichkeit hat sich Ricordi damit eine Goldgrube eröffnet. Im sich schnell entwickelnden Markt für Partituren erlangt Casa Ricordi bald ein Quasi-Monopol, und Giovanni kann von den Direktoren der Opernhäuser ebenso wie von der Laufkundschaft viel höhere Preise verlangen, als sie bislang üblich waren. Doch er handelt nicht nur eigennützig: In bisher ungekanntem Ausmaß beteiligt er auch die Komponisten an den Einnahmen, und er gewinnt so ihr Vertrauen, ja ihre Zuneigung, und er kann viele mit langfristigen Verträgen an sein Haus binden.

Donizetti und Virginia Marchi; unten Marchi in "Der Liebestrank"
Gleich einer der ersten seiner neuen Klienten ist ein abgerissener junger Hungerleider, ein gewisser Gioachino Rossini, den er erst einmal mit einem von seiner Frau gekochten Gulasch aufpäppeln muss, bevor über Musik und Geschäfte gesprochen werden kann. Nach ersten Erfolgen arbeitet Rossini an einer Vertonung des Librettos "Der Barbier von Sevilla", und das ist ein gewagtes Unterfangen, weil bereits Jahre zuvor Giovanni Paisiello dasselbe Libretto zu einer Oper gemacht hatte. Paisiello hat viele fanatische Anhänger, die es als Majestätsbeleidigung auffassen werden, wenn ein Emporkömmling denselben Stoff nochmal in die Finger nimmt und damit die Künste ihres Idols in Frage stellt. Rossini hat auch ein hausgemachtes Problem: Er ist ein heißblütiger Frauenheld, und er beginnt eine Affäre mit der Sängerin Isabella Colbran, die eigentlich mit Rossinis Freund Domenico Barbaja liiert ist, dem Impresario des Opernhauses in Neapel, wo er seine ersten Opern zur Aufführung brachte. Eigentlich wollte Barbaja seinen Freund gegen Paisiello unterstützen, aber zufällig bekommt er Wind vom Verhältnis Rossinis mit Isabella, und so macht er nun das Gegenteil. So gerät die Uraufführung in Rom zum Debakel mit teilweise unfreiwillig komischen Einlagen. Anhänger Paisiellos und bezahlte Störer pfeifen pausenlos, und Rossini ist am Boden zerstört. Doch sein Aufstieg lässt sich nicht verhindern: Ricordi hält an ihm fest, setzt sofort eine neue Aufführung mit aufgeschlossenerem Publikum durch, und die gerät zum Triumph. Selbst Barbaja hat ein Einsehen und gibt der Oper ebenso wie Rossini und Isabella seinen Segen.

Generationenwechsel - Giovanni und Tito Ricordi
Der Einzige, der bei der ersten Aufführung Rossini verteidigt hat, war ein junger Mann, der selbst Musiker ist. Er stellt sich Ricordi als Gaetano Donizetti vor und wird bald selbst unter Vertrag genommen. In einem raffiniertem Schachzug erledigt Ricordi gleich mehrere Probleme gleichzeitig. Denn er selbst und mit ihm zusammenarbeitende Operndirektoren leiden unter den Launen der Diva Virginia Marchi, der man nichts recht machen kann, und die wegen jeder Kleinigkeit vor Gericht zieht. Ricordi arrangiert Proben von Donizetti mit Marchi, und trotz einiger Irritationen zwischen den beiden ist am Ende Marchi einmal zufrieden, Donizetti hat eine erstklassige Sängerin für die Titelpartie, die Direktoren akzeptieren Donizettis Werk für ihr Haus, und so steht einer triumphalen Premiere nichts mehr im Weg - und Donizetti und Virginia werden auch noch ein Paar. - Jahre später. Giovanni Ricordis Sohn Tito ist inzwischen ein junger Mann, der sich im Verlag engagiert, und - teilweise gegen den Widerstand seines Vaters - einige Neuerungen einführt, z.B. neue Druckverfahren. Nun wird er nach Paris geschickt, wo Vincenzo Bellini lebt und arbeitet, bereits ein Starkomponist. Doch in letzter Zeit hat man nichts mehr von ihm gehört, es gibt nur Gerüchte über seine angegriffene Gesundheit. Tito reist also nach Paris, um sich nach Bellinis Befinden zu erkundigen. Wie sich erweist, wird Bellini von seiner Geliebten Luisa Lewis in einer Villa außerhalb von Paris abgeschirmt und vor seinen Freunden, die ihn besuchen wollen, verleugnet - angeblich, um ihn zu schonen, aber in Wirklichkeit aus Eigennutz, weil sie ihn mit niemandem teilen will, wie der Arzt des tatsächlich kranken Bellini konstatiert. Insbesondere vor Bellinis früherer Geliebten Giulia Grisi, die zugleich die Sängerin seiner großen Partien ist, will sie ihn fernhalten. Erst als er am Abend der Premiere seiner neuen und letzten Oper im Fieberwahn zusammenbricht, erkennt Luisa ihren Fehler. Sie fährt mit einer Kutsche in die Oper, gesteht ihre Machenschaften und fordert Giulia, Tito und den mit Bellini befreundeten Rossini auf, mit ihr zu Bellini in die Villa zu kommen. In einer rasenden nächtlichen Kutschfahrt bei Gewitter, die wie ein Ausflug in den Gothic Horror wirkt, eilen die vier in die Villa - nur um Bellini tot auf dem Boden liegend vorzufinden. Verzweifelt bricht Luisa über ihm zusammen.

"Die Puritaner"; Bellini liegt krank darnieder; Giulia Grisi, Tito Ricordi und Rossini in Bellinis
Sterbezimmer; der tote Bellini und Luisa Lewis - Finale wie in der Oper
Erneuter Sprung in die Zukunft: Giovanni Ricordi ist tot, Tito ist der Chef des Hauses Ricordi, und der immer noch expandierende Verlag hat ein neues, größeres Gebäude bezogen. Titos Sohn Giulio stößt sich in den Revolutionswirren 1848 die Hörner ab und engagiert sich dann ebenfalls im Verlag. Der neue Star des Hauses heißt Giuseppe Verdi. Doch nachdem er für "Ein Maskenball" schlechte Kritiken erntet, gerät Verdi in eine tiefe Schaffenskrise. Die neue Mode der Wagner-Oper hat auch in Italien ihre Anhänger gefunden, und Verdi wird von einem Teil der Kritiker als altmodisch geschmäht. Beleidigt beschließt der Maestro, überhaupt keine Musik mehr zu schreiben, sondern sich als Edel-Bauer auf sein Landgut zurückzuziehen. Verdis Frau Giuseppina und sein Librettist Arrigo Boito können nur mit Mühe verhindern, dass er die schon begonnene Partitur zu "Othello" vernichtet, aber weder sie noch Giulio Ricordi (der in die Fußstapfen von Tito getreten ist, der sich zur Ruhe gesetzt hat) können ihn dazu bewegen, wieder zu komponieren. Der Umschwung kommt erst, als Verdi nach Parma fährt und mit seiner Kutsche mitten zwischen die Fronten von rebellierenden Armen und schussbereiter Polizei gerät. Als man ihn erkennt, stimmen die Massen spontan den Gefangenchor aus "Nabucco" an, und nun begreift Verdi, wer sein wahres Publikum ist: nicht die Kritiker, mögen sie ihn feiern oder verdammen, sondern das einfache Volk, das seine Musik liebt. Er macht sich wieder an die Arbeit zum "Othello", und einmal mehr endet eine Episode in diesem Film mit einer umjubelten Premiere.

Verdi als Ehrengast bei den Ricordis und zwischen den Fronten in Parma
Und schließlich Giacomo Puccini. Wir befinden uns mittlerweile im Jahr 1895, "im Zeitalter des Eiffelturms", wie jemand im Film sagt, denn Puccini recherchiert in Paris. Das Café Momus im Quartier Latin, in dem sich die Protagonisten von Henri Murgers Scènes de la vie de bohème trafen, existiert schon lange nicht mehr, doch Puccini will jenen Stoff zu einer Oper mit dem Titel "La Bohème" machen. In einer Parallele zwischen Roman und Oper einerseits und der Wirklichkeit andererseits lernt Puccini eine Clique junger Künstler kennen, die ohne Geld, aber sorglos in den Tag hinein leben. Eine von ihnen ist Maria, und Puccini verliebt sich in sie. Doch wie Mimi, die Heldin von "La Bohème", leidet auch Maria an der Schwindsucht, aber sie verschweigt Puccini ihren Zustand. Die Premiere von "La Bohème" findet in Italien statt, und Puccini war zur Vorbereitung schon - ohne Maria - einige Wochen anwesend. Nun soll zum Premierenabend Giulio Ricordis Sohn, der wie sein Großvater Tito heißt (zur besseren Unterscheidung werden sie auch als Tito I und Tito II bezeichnet), Maria mit dem Zug aus Paris holen. Doch er bringt nur die Nachricht, dass sie vor vier Wochen gestorben ist. So endet diese Episode für Puccini mit einem künstlerischen Erfolg, aber in Trauer. Und damit endet auch der Film - nein, nicht ganz. Als Giulio Ricordi wieder im Verlagshaus ist, wartet dort ein junger Musiker, der um ein Gespräch gebeten hat, und der zum Zeitvertreib ein paar seiner eigenen Noten auf dem Klavier spielt. Giulio hält einige Momente inne und lauscht interessiert den Klängen, bevor er sich dem jungen Mann zuwendet. Das Leben geht weiter, und die Musikgeschichte auch ...

Othello und die tote Desdemona
Man muss weder Opernexperte noch Opernliebhaber sein, um CASA RICORDI etwas abgewinnen zu können (wie ich als Opernmuffel hiermit ausdrücklich bestätige). Der Film ist in keiner Weise tiefschürfend, aber er bietet ansehnliche Schauwerte, insbesondere prächtige Technicolor-Farben, und mit seiner episodischen und anekdotenhaften Struktur wird er über seine Länge von ungefähr zwei Stunden hinweg nie langatmig, sondern bietet kurzweilige Unterhaltung (wobei die deutsche Version, die ich gesehen habe, um ungefähr 10 Minuten gekürzt ist). Große Gefühle und Dramatik (eben wie in der Oper) gibt es auch, vor allem das Finale der Bellini-Episode ist hier fast eine Oper im Kleinen.

Puccini und Maria
So etwas wie ein Reader's Digest (was ich hier nicht abwertend meine) ist CASA RICORDI nicht nur in Bezug auf 100 Jahre Operngeschichte, sondern auch hinsichtlich Carmine Gallones Schaffen. Gallone (1885-1973) war ein sehr produktiver Regisseur, der seit 1913 ca. 125 Filme drehte und dabei natürlich verschiedene Genres bediente. So schuf er etwa aufwändige Historienepen, z.B. eine dreistündige Stummfilmfassung von DIE LETZTEN TAGE VON POMPEJI (1926), den im Zweiten Punischen Krieg spielenden KARTHAGOS FALL (1937), der als der teuerste Film des faschistischen Italien gilt, MESSALINA (1951), DER KURIER DES ZAREN (1956, die Version mit Curd Jürgens) und zuletzt KARTHAGO IN FLAMMEN (1960, diesmal ist es der Dritte Punische Krieg). Bei uns ist Gallone wahrscheinlich am besten als Regisseur des dritten und vierten der Don-Camillo-Filme mit Fernandel und Gino Cervi in Erinnerung. Aber sein eigentliches Metier war der Opernfilm: MADAME BUTTERFLY (1939), RIGOLETTO (1946), VERDIS LA TRAVIATA (1947, auch als DIE KAMELIENDAME), IHRE WUNDERBARE LÜGE (1947, wie der Originaltitel ADDIO MIMÌ! schon vermuten lässt, handelt es sich um "La Bohème"), DER TROUBADOUR (1949), LA LEGGENDA DI FAUST (1949, nach "Mefistofele" von Arrigo Boito, der nicht nur Librettist, sondern auch Komponist war), SIZILIANISCHE LEIDENSCHAFT (CAVALLERIA RUSTICANA, 1955), MADAME BUTTERFLY (1954), und schließlich TOSCA (1956). Dazu kamen noch einige Musikerbiografien wie DREI FRAUEN UM VERDI (1938), MELODIE ETERNE (1940, mit Gino Cervi als Mozart - kein Witz!), und PUCCINI - LIEBLING DER FRAUEN (1953). Fosco Giachetti, Gallones Verdi in CASA RICORDI, spielte auch schon im Film von 1938 den Maestro, und auch Gabriele Ferzetti war schon im Puccini-Film von 1953 in der Titelrolle zu sehen, wo auch Märta Torén, Nadia Gray, Myriam Bru und Paolo Stoppa mitspielten, die allesamt in CASA RICORDI wieder auftauchten. Bei all diesen (und noch weiteren) Filmen konnte Gallone auf begnadete Stimmen zurückgreifen (als Schauspieler oder Sänger-Doubles), wie etwa mehrfach Beniamino Gigli, Jan Kiepura und Maria Cebotari. CASA RICORDI bildet also so etwas wie einen Schnelldurchlauf, einen (wenn auch sicher nicht repräsentativen) Querschnitt durch Gallones Werk als Opernfilmregisseur.

"La Bohème" - Mimi auf ihrem Sterbebett; Marias Platz in der Vorstellung bleibt frei
CASA RICORDI ist in Italien auf DVD erschienen (ohne fremdsprachige Untertitel). Die Originalfassung ist derzeit auch auf YouTube zu finden (ebenfalls ohne Untertitel). Die deutsche Fassung mit einer Fernseh-Laufzeit von 104 Minuten (was einer Kino-Laufzeit von gut 108 Minuten entspricht) war letztens in mindestens zwei Dritten Programmen zu sehen. Vielleicht lohnt es sich, darauf zu achten, ob sie nochmal irgendwo läuft.

Giulio Ricordi, bereit für einen neuen Klienten - vielleicht ein neues Genie