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Dienstag, 21. Dezember 2021

Bella, selvaggia Italia – in Cinerama! Bericht vom 7. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms (Teil 1)

Endlich wieder Terza! Das meisterwartete Kinoereignis 2021 fand vom 25. bis 29. August 2021 statt. Nach mehreren Ausgaben in Nürnberg und in Frankfurt am Main ging es dieses Jahr nach Karlsruhe: um der großen Zuschauerschaft in Pandemiezeiten genügend Abstand zu ermöglichen, brauchte es ein größeres Kino als im Frankfurter Filmmuseum, und dieses fand sich mit der Schauburg in Karlsruhe, Heimat der in Off-Festivalliebhaberkreisen geschätzten 70mm- und Technicolor-Festivals. Statt hybrid oder online oder remote oder was auch immer – mehr Kino! Ein Saal mit 350 Plätzen und einer riesigen Cinerama-Leinwand.

Wie immer beim Terza gilt: die Filme liefen auf 35mm-Kopien. Doch auch da gab es dieses Jahr Ausnahmen (nämlich: 70mm).



Mittwoch, 25. August 2021


ab 19.00 Uhr




ARRIVERDERCI ROMA

Regie: Roy Rowland

Italien/USA 1957

105 Minuten, dF

Der Schlagersänger Marc Revere (Mario Lanza) reist nach Rom, um dort seine nach einem Eifersuchtsstreit entschwundene Verlobte Carol (Peggie Castle) zu suchen. In der Ewigen Stadt kommt er bei seinem entfernten Cousin Beppo (Renato Rascel) unter und freundet sich mit der jungen Raffaela (Marisia Allasio) an, die sich in ihn verliebt.

Beschwingt und leicht startete das 7. Terza mit einem italienisch-US-amerikanischen Musical, das ganz auf den italienischstämmigen US-Startenor Mario Lanza zugeschnitten war. In ihrer schönen Einführung sprach Bilquis Castaño Manias unter anderem über die sehr schwierigen Produktionsumstände des Films: Lanza, zu diesem Zeitpunkt schon von schwerem Alkoholismus geprägt (er starb zwei Jahre später), erwies sich als sehr kapriziöser und schwieriger Star, der sich immer wieder über die billigeren Produktionsbedingungen in Italien (im Vergleich zu den USA) echauffierte und (alkoholbedingt) immer wieder Probleme mit seiner Stimme hatte. Am fertigen Film merkt man das kaum an: ARRIVERDERCI ROMA wirkt wie ein locker aus der Hüfte geschossener Film und keineswegs wie das Ergebnis einer Produktionshölle. Gleichwohl Lanza natürlich die tragende Säule des Films ist, bietet der Film auch viele andere Attraktionen.

Am großartigsten ist ARRIVERDERCI ROMA nämlich dann, wenn er Plot Plot sein lässt und sich vollkommen selbstvergessen in seinen Revuenummern verliert. "There's Gonna Be a Party Tonight" ist ein früher glorreicher Höhepunkt, bei dem Mario Lanza zusammen mit seinen Kumpanen zunächst mit Einkäufen aus einem Laden herauskommt, und anschließend singend, tanzend und akrobatierend durch das populäre Viertel spaziert und sämtliche Passanten zu einer großen Sause einlädt. Eine Explosion aus Musik, Bewegung, Gewusel, Lebensfreude, gefilmt in langen, eleganten und trotz ihrer scheinbaren Einfachheit völlig umwerfenden Kamerafahrten. Die Szene kulminiert an der menschengefüllten Außentreppe eines populären Wohngebäudes (ein Ausschnitt ist hier zu sehen).

Hier einige Worte zum besonderen Kinosaal in der Karlsruher Schauburg mit seiner 7 x 17 Meter großen, leicht gekrümmten Leinwand: es war ein absolutes Fest in Sachen Kino-Immersion. Bei ARRIVERDERCI ROMA fiel dann auch recht schnell auf, dass besonders seitliche Kamerafahrten (gerade natürlich in Cinemascope) wesentlich "swooshig'er" erlebbar waren als auf kleineren, "normalen" Leinwänden (geschweige denn auf einem Bildschirm). Der Detailreichtum von ARRIVERDERCI ROMA war teils absolut atemberaubend: die Feier, die nach "There's Gonna Be a Party Tonight" in Beppos Wohnung stattfindet, zeigte geradezu ein musikalisches Panoramagemälde der Lebensfreude (gleichwohl nebenbei hier der zentrale Konflikt des Films angedeutet wird: Raffaela liebt Marc, doch er beachtet sie nicht und tanzt einfach mit einer anderen Frau).

Mit dem "eigentlichen Superstar des Films" (Zitat aus Bilquis' Einführung), nämlich Rom, ist alles möglich. Nach eben beschriebener Sause lädt ein unbekannter, aber sehr dankbarer Partygast Marc, Raffaela und Beppo zu einer Hubschrauber-Spritztour ein (sic!). Alle vier steigen ein (Beppo nimmt seine Gitarre mit, man weiß ja nie, wann man sie braucht) und dann fliegen sie über Rom. Und dieser Flug hat es in sich: nicht nur Plot, sondern auch Musical-Nummern werden mehrere Minuten lang völlig links liegen gelassen für einen Entdeckungsflug durch die Lüfte der Ewigen Stadt: Ruinen in Vororten, moderne Neubauten, die Innenstadt mit dem Kolosseum, das Viktor-Emanuelsdenkmal – all dies wird aus der Luft besichtigt. Für mehrere Minuten stoppt der Film, um Rom dieses Kino-Tribut zu setzen.

Angesichts von so vielen, im positiven Sinne "selbstzweckhaften" Attraktionen ist es geradezu ein Schock, als Marc dann doch endlich wieder seine entflohene Verlobte zufällig trifft und dann wieder ein wenig Plot abgearbeitet werden muss, um schließlich in einem denkbar grausamen Happy-End zu münden: Marc und Raffaela finden doch zusammen, während Beppo, der sich während des Films in Raffaela verliebt hat und sich zunehmend als eigentlicher Sympathieträger von ARRIVERDERCI ROMA erwiesen hat (Marc entpuppt sich doch als recht egoistische, selbstgefällige – mit Verlaub – Arschgeige: die Einladung "There's Gonna Be a Party Tonight" beispielsweise spricht er aus für Delikatessen, die nicht mit seinem Geld gekauft wurden), ganz alleine und traurig zurückbleiben muss.

Ein kleines Lieblingsdetail: auf einem Geländer im Eingangsbereich von Beppos Wohnung befand sich der abgetrennte, behelmte Kopf eine antiken, weiblichen Statue. Sie war immer wieder in mehreren Einstellungen prominent zu sehen, allerdings meist etwas verrutscht und an anderer Stelle. Continuity-Fetischisten würden wohl "Goof" schreien: ich sage eher, das ist ein Kuleschow-Effekt ohne Montage. Der Kopf schien eher ein "griechischer" (römischer?) Chor zu sein, der die Handlung aus dem Hintergrund heraus kommentierte. War die Szene fröhlich, blickte der Kopf fröhlich. War die Szene gerade traurig, blickte auch der Kopf traurig – freilich, ohne natürlich sich irgendwie geändert zu haben, es war ja der gleiche Kopf. In einer Szene war er aber gefährlich nah an der Kante des Geländers und ich befürchtete etwas, dass er herunterfallen könnte...



ab 21.45 Uhr


Die 7. Ausgabe des Terza hielt für die Zuschauer eine besondere Cine-Delikatesse bereit: über die fünf Tage verteilt lief eine kleine Retrospektive mit fünf Kurzfilmen von Peter Tscherkassky. Nun, Peter Tscherkassky ist Österreicher und seine Filme sind auch österreichische Produktionen – in seinen bildgewaltigen Experimentalfilmen benutzt er allerdings immer wieder "found footage" aus fremden Filmen, darunter eben auch italienische Genrefilme! Für die beiden Festivalleiter Andreas Beilharz und Christoph Draxtra war diese kleine Verbindung Grund genug, das Festival hier etwas über den Tellerrand hinaus schauen zu lassen.

Nicht jedem hat dieses Sonderprogramm gefallen. Ich persönlich fand es absolut großartig und auf jeden Fall eine große Bereicherung für ein ohnehin schon überreiches Programm.


DREAM WORK

Regie: Peter Tscherkassky

Österreich 2001

11 Minuten

Aus den Träumen einer jungen Frau...

Peter Tscherkasskys Filme sind wilde und spektakuläre Formexplosionen – und dabei absolut materialfetischistisch. Found Footage wird verfremdet, verdunkelt, erhellt, zerschnitten, in Negativ invertiert, übereinander gelegt, die Tonspur wird gleichermaßen attackiert und bearbeitet. Zu sehen sind Filme, bei denen ich nach ihrem Erleben auf 35mm auf einer riesigen Kinoleinwand Zweifel habe, ob sie in ihrer entfesselten Wildheit digital überhaupt "abbildbar" sind.

DREAM WORK, einer von Tscherkasskys Filmen aus einer Cinemascope-Serie, ist in der Erinnerung mittlerweile etwas verblasst im Vergleich zu einigen anderen, die im Laufe des Festivals noch gezeigt werden sollten. Das mindert nicht den überwältigenden Einschlag, den meine erste Begegnung mit Tscherkassky hatte.





IL GATTO A NOVE CODE ("Die neunschwänzige Katze")

Regie: Dario Argento

Italien/Frankreich/BRD 1971

112 Minuten, OmU

Ein Einbruch in einem Institut für Genetik zieht eine Reihe von Morden nach sich. Der Journalist Carlo Giordani (James Franciscus) und der erblindete Rentner und Ex-Journalist Franco Arno (Karl Malden) versuchen zusammen, das Rätsel zu lösen, werden aber rasch selbst zur Zielscheibe des Mörders. 

Die erste Begegnung mit dem Film beim 1. Jenaer Paradies-Festival war eher unbefriedigend: Dario Argentos zweite Regiearbeit hatte mich mehr oder minder gepflegt gelangweilt. Meine Hoffnung, ihm bei der zweiten Sichtung (jetzt in vollständiger italienischer Originalfassung im Vergleich zur deutschen, um etwa 22 Minuten geschnittenen Kinokopie) näher zu kommen, wurde leider enttäuscht. Ich werde mit ihm irgendwie nicht warm.

Dennoch gibt es doch das eine oder andere, was ein wenig hängen geblieben ist. Die minutiösen, teilweise experimentellen Montagen, die mit fast subliminalen Bildeinschüben arbeiten (immer wieder ist ganz kurz eine Extremnahaufnahme auf Augen zu sehen), sehen schon ziemlich toll aus auf der großen Leinwand. Die Szene, die mir schon bei der ersten Sichtung als eine Art visueller Höhepunkt des ganzen Films im Gedächtnis blieb, nämlich die rasante Autofahrt der Catherine Spaak mit James Franciscus, war auch diesmal ein Fest: ein neckisches Spiel der Verführung (Spaak baggert Franciscus mit ihrem halsbrecherischen Fahrstil an) mit leichten Screwball-Elementen, aufgelöst in einer atemberaubenden Actionszene.

Und Karl Malden hat aus meiner Sicht zwar in besseren Filmen mitgespielt, aber er hat doch eine sehr schöne Rolle. Gerade Maldens Figur und ihre Interaktion mit der Nichte (aber auch mit Franciscus' Reporter) ist wunderbar – und tatsächlich noch mal ein Beweis, dass Argento eben kein kalter Formalist ist, dem Figuren egal sind. Letzteres wird auch gegen Ende in einem kurzen Augenblick sichtbar: Giordani erhebt schwere Beschuldigungen gegen Anna (Spaak), die dann aber in wenigen Sekunden wie ein Kartenhaus zusammenfallen. In einem kurzen Blickwechsel zwischen den beiden, die sich vorher eigentlich lieb hatten, wird klar, dass etwas unwiderruflich kaputt gegangen ist. Ein sehr starker, emotionaler Moment, inhaltich weit entfernt von den schaulustigen Attraktionen, mit denen Argento gemeinhin assoziiert wird.

Ein klein wenig enttäuscht hat mich auch Ennio Morricones Score, der mir insgesamt etwas beliebig, austauschbar erschien. Doch auch hier: das zärtlich-einfühlsame Thema, das Franco Arno und seine Nichte geschenkt bekommen, bringt dem Film eine sehr ergreifende Emotionalität (hier zu hören). Und die Musikbegleitung zum Showdown, die eine funky-bluesige Basslinie und ein dissonant-kakophone Klänge aufeinandertreffen lässt (hier zu hören), frass sich fast bis zum Einschlafen als Ohrwurm in meinen Kopf.



Donnerstag, 26. August 2021


ab 12.30 Uhr


INSTRUCTIONS FOR A LIGHT AND SOUND MACHINE

Regie: Peter Tscherkassky

Österreich 2005

17 Minuten

IL BUONO, IL BRUTTO, IL CATTIVO... neu montiert und verdichtet.

Vor INSTRUCTIONS FOR A LIGHT AND SOUND MACHINE lief der Trailer zu "Zwei glorreiche Halunken", nun lief der Film in einer Art ultrakondensierten, verfremdeten, verdichteten, zugespitzten Kurzfassung. Tscherkasskys Filme sind wie bereits gesagt keine "normalen" (also narrativen) Filme, sondern überwältigende, berauschende und hypnotisierende Totalerlebnisse. In INSTRUCTIONS FOR A LIGHT AND SOUND MACHINE kulminiert in einer wilden Schiesserei: rasenden, stark verfremdete Bilder des Films mit einer stakkatoartigen Abfolge ohrenbetäubender Schüsse.


Weniger experimentell, dafür heiterer ging der erste, dem Western gewidmete Filmblock des Tages weiter...




SETTE PISTOLE PER I MACGREGOR ("Die sieben Pistolen des MacGregor")

Regie: Franco Giraldi

Italien/Spanien 1966

93 Minuten, dF

Die sieben Brüder MacGregor wollen ihr Vieh in einer weitab ihrer Farm entfernten Stadt verkaufen. Dort werden sie vom Viehbaron Crawford, der zugleich örtlicher Gangster-Pate ist, zunächst ins Gefängnis gebracht. Später legen sie sich mit Crawfords furchterregendem Handlanger Santillana an.

Ein Film, der mit einer zünftigen Schiesserei beginnt, das ist schon mal gar nicht schlecht... Richtig großartig war aber, dass hier eine Bande zäher, harter Banditen und Viehdiebe zwei älteren Ehepaaren und Viehzüchtern gegenüberstanden: letztere etwas silbrig im Haar, knautschig im Gesicht, dafür aber mit einem flotten Spruch auf den Lippen und mit ordentlich viel Energie zum Ärschetreten – bzw. zum Totschießen von rüpelhaften Banditen. Dabei standen die zwei älteren Damen ihren jeweiligen Gemahlen in Sachen Sprüche- und vor allem Schießlust keineswegs nach, auch wenn die beiden Herren doch nicht nur mit Pistolen und Gewehren, sondern auch mit einer Mini-Kanone hantieren durften (und sich vor dem Abschuss noch streiten, wer abfeuern darf). Durch die Übermacht der Banditen kommen sie doch etwas in Bedrängnis, doch dann helfen ihnen die sieben jungen MacGregors in letzter Minute aus der Patsche (die Verwandtschaftsverhältnisse blieben etwas obskur und unklar – aber auf jeden Fall war es ein Klan!).

Der actionreiche Prolog setzte den Ton für den ganzen Film: es passiert immer irgendetwas Unterhaltsames in SETTE PISTOLE PER I MACGREGOR, es gibt immer irgendeine schöne Idee zum Würzen der Vorgänge, es bewegt sich immer etwas und trotz Toten bleibt die Stimmung stets heiter, weit entfernt von Melancholie, Zynismus, Nihilismus und Bitterkeit vieler Italowestern, mit Komödienelementen, ohne in Klamauk zu fallen. Es ist ein "naiver" und "gutmütiger" (im besten Sinne dieser Worte) Genrefilm, der mit unzähligen schönen Einfällen punktet: die Gebrüder, die in der Knastzelle mit ihren gesammelten Stiefelsporen und einer Schnur eine Do-It-Yourself-Fräsmaschine bauen, um zu entkommen (einer der Brüder spielt für den Sheriff unentwegt Mundharmonika, um das Geräusch zu überdecken); der MacGregor, der sich als Doppelagent in Santillanas Bande eingeschmuggelt hat, unterhält sich mit seinem Bruder bei einer fingierten Schießerei an einem sichtgeschützten Ort, doch beide schießen immer mal wieder in die Luft, um für die Böswatze den Schein zu bewahren; eine spektakuläre Rettungsaktion in allerletzten Minute, bei der die sekundengenaue Sprengung eines Wasserturms eine zentrale Rolle spielt; und ein Duell-Showdown, bei dem ein Messerkampf in einem Brunnen mit Mühlrad endet – und schließlich auf das Mühlrad, dann in das Innere des sich drehenden Mühlrads verlagert wird – und last but not least: Cowboys in Schottenröcken! Das ganze begleitet von einer schwungvollen Musik des Meisters Ennio Morricone, die selbst Tote zu einer zünftigen Saloon-Schlägerei animieren dürfte (höre hier).


Vor dem Western-Block versprach uns Christoph mit SETTE PISTOLE PER I MACGREGOR einen heiteren Film, "bevor wir euch danach in die Hölle schicken"...



ab 15.30 Uhr


ADDIO ZIO TOM ("Addio, Onkel Tom!")

Regie: Gualtiero Jacopetti, Franco Prosperi

Italien 1971

120 Minuten, dF

Zwei Journalisten aus Italien reisen in die Südstaaten vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg, um über die Sklaverei zu berichten. Sie werden auf ihrer Tour mit einem menschenverachtenden System voller abscheulicher Gewalt konfrontiert.

Nach SVEZIA INFERNO E PARADISO und ROLF beim 4. Terza 2017, L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH und SPELL (DOLCE MATTATOIO) beim 6. Terza 2019 nun ADDIO ZIO TOM als "transgressiver" Film beim 7. Terza. Und tatsächlich war Jacopettis und Prosperis Post-Mondo-Mockumentary vielleicht noch kontroverser und schwieriger als der ohnehin herausfordernde L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH: mehrere Zuschauer fanden den Film abscheulich, ekelhaft, nannten ihn gar eine Körperverletzung... Reaktionen, die ziemlich verständlich sind. Ich persönlich halte ihn für einen Höhepunkt des 7. Terzas, für den beeindruckendsten Film des Festivals – wenngleich ich Mühe habe, ihn als "normalen" Film zu bezeichnen. Er bildet zweifelsohne eine eigene Kategorie.

Der Film ist eine fast zweistündige Nachstellung von Gewalttaten, Erniedrigungen, Übergriffen, Folterungen, Vergewaltigungen, Morden und allgemeinen dehumanisierenden Handlungen aus der Zeit der Sklaverei in den USA, nachgestellt von Darstellern, trotz vieler kleiner, in sich abgeschlossenen Episoden weitestgehend frei von dramaturgischer, narrativer Kohärenz. Ein infernalischer Film wahrlich!

Ein möglicher Ankerpunkt zur Aufdröselung, Interpretation, vielleicht Annäherung an dieses Monstrum findet sich meiner Meinung nach in einem wunderbaren Text von Oliver Nöding zu MANDINGO: vieles, was Oliver zu Richard Fleischers Film geschrieben hat, kann man sehr passend auf ADDIO ZIO TOM übertragen – meiner Meinung nach vielleicht sogar noch passender. MANDINGO mag von der "Totalität des Systems Sklaverei" handeln, doch ich finde, dass dies in Fleischers Film höchstens in Ansätzen wirklich umgesetzt wurde, weil eben MANDINGO noch an die dramaturgischen Regeln des Melodrama gebunden war. Jacopetti und Prosperi haben diese "Totalität" in ADDIO ZIO TOM nicht nur inhaltlich, sondern auch formal umgesetzt: im Gegensatz zu Fleischer sind sie von erzählerischer Dramaturgie, von klassischen Spannungsbögen, von individuellen Protagonisten, vom Zwang einer mundgerechten Darreichung völlig befreit. Das System Sklaverei ist der Protagonist von ADDIO ZIO TOM und beherrscht (um nicht zu sagen: durchherrscht) über weite Strecken den Film inhaltlich und formal.

In seiner Annäherung an ein unmenschliches System, an exzessive und barbarische Massenverbrechen ist der Vergleich mit L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH durchaus spannend: die Erklärung (oder besser: die Entlastung), dass die Täter einfach böse und schlechte Menschen sind und die Opfer einfach erbarmungswürdige und gute Menschen sind, verweigert der Film. Die meisten Sklavenhalter in diesem Film sind freundlich und höflich auftrende Menschen, die ihre zwei Gäste immer zuvorkommend begrüßen. Einige sind sogar äußerst kumpelhafte, blödend-witzige Typen (wobei aber auch gerne mal einem Konkurrenten in den Hinterkopf geschossen wird). Nur die Sklavenhalter des Prologs, die bei einem grotesken Festmahl besucht werden (schwarze Kinder kauern unter dem Tisch und werden zwischendurch wie Tiere mit Essensresten gefüttert), treten offen feindselig, explizit anti-europäisch und anti-katholisch. Dennoch: Nettigkeit und Niedertracht sind in ADDIO ZIO TOM stets zwei Seiten der gleichen Medaille.

Dass Sklaverei ein System ist, das nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer (wobei Täter und Opfer sehr vielschichtige Kategorien sind: was der Film auch durchaus zeigt) korrumpiert, zu Mittätern an ihrem eigenen Platz im System macht, zeigt der Film immer wieder auf verstörende Arten. Am harmlosesten ist ein befragter Sklave, der in seinem Interview seine eigene Stellung als Sklave als letztendlich gar nicht so unbequem rechtfertigt: als "freier" Arbeiter wäre er nicht viel besser dran, als Sklave wird er zumindest als teure Investition gut gepflegt. Wesentlich ruppiger geht es zu, wenn ein Sklave zur Kastration verurteilt, und eine größere Menschenmenge von Sklaven sich an dem Schauspiel ebenso wie eine weiße Passantin voller Schadenfreude delektiert.

ADDIO ZIO TOM spielt nicht nur auf "Onkel Toms Hütte" an (deren Autorin hat zu Beginn des Films beim grotesken Festmahl einen Auftritt, wo sie als durchaus selbstgerechte Person rüberkommt), sondern spielt mehrmals auch indirekt auf GONE WITH THE WIND an. Manche Szenen des Films wirken durch die Figuren-Konstellation ein wenig wie eine groteske "Hinter den Kulissen"-Reportage über den Wirtschaftsalltag in der Tara-Plantation. Da geht es drunter und drüber, in der Küche herrscht der blanke Irrsinn, es wuselt hin und her, kleine Kinder essen die Kirschen von den frisch dekorierten Kuchen herunter oder toben wild herum, währenddessen geht es im Schlafzimmer der weißen Töchter ebenso chaotisch zu, die große "Mammie" kommandiert auch ihre jungen Herrinnen gerne rum, während verzweifelt versucht wird, ein Kleidungsknäuel wieder in einzelne Bestandteile zu trennen, damit die jungen Damen fein gekleidet zum Bankett erscheinen können. Wenn dann das Bankett vorbei ist, lässt die "Mammie" Abends die jungen schwarzen Mädchen antreten, kontrolliert ihre genitale Sauberkeit und schickt sie dann als Sexobjekte in die Gästezimmer der männlichen Hausgäste (dieser Teil wurde in GONE WITH THE WIND übergangen).

Das Perfide an ADDIO ZIO TOM ist, dass er die Zuschauer durch seine Inszenierung während seiner Laufzeit zum aktiven Teil des Systems Sklaverei macht. Es gibt praktisch keine vierte Wand in diesem Film, die die Zuschauerschaft vor dem ganzen Schmutz und der extremen Gewalt schützt. Am unangenehmsten ist die Szene, in der die Kamera zum Point of View einer der beiden italienischen Journalisten (bzw. eigentlich des Kameramanns selbst) wird: eine sehr junge, vielleicht allenfalls 13-jährige Sklavin kommt in das Zimmer, bietet ihren Körper dem Mann an, reibt sich im Bett quasi an ihn, während sich der Mann eine Zeitlang dagegen wehrt. Der Zuschauer wird hier direkt zum Kinderschänder, zum Vergewaltiger gemacht. ADDIO ZIO TOM überrollt dich nicht nur und drückt dich flach auf den Boden (das ist ja erst mal gar nicht so schwer): er reisst dich dann auch wieder hoch und zwingt dich, mitzumachen.

Den Zuschauer zum Rädchen des Systems Sklaverei machen: das schafft auf unterschwellige Art auch die dramaturgisch völlig erratische Form und der Non-Stop-Modus in der Präsentation von Gewalttaten und Abscheulichkeiten. Es entsteht eine Art Gewöhnungs- und Abstumpfungseffekt: noch eine Gewalttat, noch eine Abscheulichkeit, und noch eine, und noch eine, und noch eine, und noch eine... Das Präsentierte wird zur "Normalität" innerhalb des Universums, die der Film präsentiert. Die Totalität des Systems Sklaverei erreicht den Zuschauer allmählich fast schon unterbewusst.

In einigen wunderschönen, elegisch in Zeitlupe gefilmten Bildern tollen ein weißes Mädchen und ein schwarzer Junge zusammen über eine Wiese. Der sanfte Hügel, der die beiden verdeckt, verschwindet durch die Kamerafahrt allmählich und man sieht, dass das weiße Mädchen den schwarzen Jungen an einer Halskette führt. Ein kurzzeitig im Rahmen dieses Films utopisch erscheinendes Bild verwandelt sich mit einer kleinen Perspektivverschiebung in einen Alptraum – bzw. führt uns zurück in die "Normalität" der Sklaverei.

Diese elegischen Bilder sind auch ein integraler Bestandteil des Films: ADDIO ZIO TOM ist visuell absolut atemberaubend, formal wahnwitzig in seinen wilden Kamerafahrten, Zooms, Schwenks, seinen extremen Weitwinkel- und Fischaugen-Einstellungen, seinen minutiös elaborierten Bildkompositionen in Scope, teils gefilmt im Dämmerlicht zwischen Sonnenuntergang und Nacht. Jacopetti und Prosperi hatten sich schon in AFRICA ADDIO als große visuelle Stilisten erwiesen und das gleiche Team macht auch bei ADDIO ZIO TOM ganze Arbeit. Das ganze auf einer Cinerama-Leinwand zu sehen dürfte den Effekt noch einmal potenziert haben.

Es sind auch diese Brüche, die ADDIO ZIO TOM so faszinierend machen: grauenerregende Abscheulichkeiten und zum Weinen schöne Bilder. Inhaltliche Brüche werden auch immer wieder deutlich sichtbar gemacht, der Film macht seine eigene Inszeniertheit, seine eigene Konstruktion transparent. Zu Beginn fliegt ein Helikopter über die Baumwollplantagen, über die Herrenhäuser der Sklavenhalter: der Rotorenwind fegt mit ordentlicher Zugkraft über die Baumwollarbeiter und die schick gekleideten Damen, die alle dem Kamerateam zuwinken. Beim Abschluss einer Versicherung für einen neu gekauften Sklaven wird die Vertragsunterzeichnung verzögert, weil der Füllfederhalter streikt – aus dem Off hält der Kameramann bzw. der italienische Journalist den Vertragspartnern einen modernen Kugelschreiber hin. Söldner, die entflohene Sklaven gejagt und getötet haben, arrangieren ihre "Beute" zu einem makabren Leichenberg, posieren damit vor einem Fotografen – und nach dem Schnappschuss werden die Toten lebendig, stehen auf und laufen aus dem Bildausschnitt raus. Und gegen Ende des Films gibt es einige "Vorblenden" mit einer neuen Rahmenhandlung: ein schwarzer Mann, der Anfang der 1970er an einem Strand einen Bericht über einen Sklavenaufstand liest und sich die geschilderten Morde in die Jetzt-Zeit imaginiert.

Die Krönung des Films ist, wie so oft im italienischen Kino, die Musik. Es gibt ein schwungvolles Thema (hier zu hören), das mich melodisch ein klein wenig an "Summer Vine" erinnert, mit Marschmusikelementen aber einem Drive, der zu einer Komödie ganz gut passen würde (vielleicht zu einer Militärkomödie? – passenderweise und natürlich völlig unpassenderweise ist er wohl als Teil einer Score-Kompilation italienischer Komödien aus den 1970ern erschienen). Das emotionale Herzstück ist allerdings das das melancholische, elegische, fast operatische Liebesthema (hier zu hören), das Ortolani wieder einmal als größten potentiellen Disney-Songkomponisten der Welt zeigt (und das Nicolas Winding Refn für sein DRIVE verwendet hat – wen es interessiert: hier ein kurzes Video mit einer Q-and-A-Einführung von Refn zu einem Screening von ADDIO ZIO TOM).

Ich schrieb vorhin von Brüchen: ADDIO ZIO TOM zeigt seine Abscheulichkeiten größtenteils ungerührt, ohne sichtbare moralische Positionierung (letzteres macht den Film wohl auch so schwierig: er bietet den Zuschauern keine Möglichkeit zur einfachen Distanzierung oder zur Selbstbestätigung). Es gibt jedoch einen sehr auffallenden Moment, in dem er einem der Opfer offensichtlich die Hand reicht und Mitgefühl bezeugt: auf einer Sklavenzuchtfarm, bei der junge Frauen zum Sex mit "Deckern" gezwungen werden, wird die Prozedur vom jovialen, freundlichen Unternehmenschef den italienischen Besuchern demonstriert. Eine junge Frau wird zu ihrem "Decker" geleitet. Der Film zeigt ihren Weg als lange, elegische Kamerafahrt in Zeitlupe, Ortolanis melancholisches Thema schwillt an, wer genau hinsieht, erblickt eine Träne, die ihr über das Gesicht läuft...


Ich könnte wahrscheinlich noch weitere 10.000 Zeichen zu ADDIO ZIO TOM schreiben. Und dann noch mal 10.000 mehr. Belassen wir es mal hier. Nach Ende des Films ging ein sehr kleiner Teil der Zuschauerschaft nicht auswärtig essen, sondern verblieb im Innenhof des Kinos und nahm das einmalige Cateringangebot der Kinoküche an. Bei Tomatensuppe und Quiche wurde weiter über das Erlebnis ADDIO ZIO TOM diskutiert. Mit dabei war auch Alexander Schultz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn, der auch die Einführung zum Film gehalten hat. Er erläuterte noch einige Details zur gezeigten Kopie (diese war gekürzt um einige Passagen gegen Ende, als Schwarze in der Jetztzeit in einer Sklavenaufstandnachstellung einen weißen Haushalt attackieren und nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Kinder ermorden; ebenso war der Abspann geschnitten, mit der Erklärung der Macher, dass dies ein Dokumentarfilm sei und die dargestellten Personen existiert haben und mit der Danksagung an die haitianische Regierung und besonders Präsident François Duvalier für die Hilfe beim Dreh) und zu verschiedenen Schnittfassungen des Films.

Gestärkt und bereit für einen wieder etwas "normaleren" Film...



ab 20.00 Uhr


UN KILLER PER SUA MAESTÀ ("Zucker für den Mörder")

Regie: Maurice Cloche, Federico Chentrens

Italien/Frankreich/BRD 1968

93 Minuten, dF

Ein mysteriöser Killer mit Hang zu Süßigkeiten (Bruno Cremer) versucht einen Potentaten aus dem Mittleren Osten (Lukas Amann), der in Rom weilt, zu ermorden. CIA-Agent Mark Stone (Kerwin Mathews) und sein Assistent Costa (Venantino Venantini) versuchen, den König zu beschützen und gleichzeitig dem Killer auf die Spur zu kommen.

Gemäß Howard Hawks besteht ein guter Film aus mindestens drei guten Szenen und keiner schlechten. UN KILLER PER SUA MAESTÀ hat gleich vier ganz tolle Szenen und nichts, was wirklich negativ auffällt – ein guter Film also, wenn auch für mich persönlich kein großer Höhepunkt des Terza.

Richtig Laune kommt schon mal auf, als Stone und Costa die Gemächer des Königs zwecks Absicherung begutachten müssen, und dabei quasi in dessen Harem hineinstolpern. Im Laufe des Films folgen dann auch drei großartige Actionszenen: ein Kampf zwischen Stone und einer größeren Schlägerbande in einer Tiefgarage, bei der schließlich auch ein halbes Dutzend leere Ölfässer zum spektakulären Einsatz kommen; eine Verfolgungsjagd durch einen Park mit überdimensionalen Skulpturen, die dann auch zum Verstecken und zum Runterspringen aktiv genutzt werden (der Höhepunkt des Films!); ein ausgedehnter Kampf im Lager eines Schlachthofs.

Der Protagonist Mark Stone ist, sagen wir mal... bodenständig (wer mäkeln möchte, würde ihn wohl als "farblos" bezeichnen), wird aber dafür von einer ganzen Menge toller Nebendarsteller flankiert. Natürlich zuallererst der Assistent Costa, gespielt vom wunderbaren Venantino Venantini, ein etwas einfältiger Typ, der ständig nur an Frauen denkt, seinen Körper mithilfe von Workout-Gurten stählt, die er auch mal an Hoteldeko anbringt (totale Zerstörung des Hotelzimmers erfolgt dann sogleich). Bruno Cremer geht natürlich immer, besonders wenn er einen süßigkeitensüchtigen Profikiller spielt. Und Gordon Mitchell als brutaler Schläger ist dann auch das Sahnehäubchen.



ab 22.30 Uhr



LA CASA 4 ("Witchcraft – Das Böse lebt")

Regie: Fabrizio Laurenti

Italien/USA 1988

95 Minuten, dF

Leslie (Leslie Cumming) und Gary (David Hasselhoff) untersuchen ein Haus auf einer neuenglischen Insel, in dem einmal eine Hexe gewohnt haben soll. Die Familie Brooks, unter anderem die schwangere Jane (Linda Blair), besucht zusammen mit einem Hausmakler das Gebäude, um es vielleicht aufzukaufen. Ein Sturm kommt auf und in dem einsamen Haus festgesetzt werden die Besucher von der Hexe in Schwarz (Hildegard Knef) heimgesucht.

David Hasselhoff, Linda Blair und Hildegard Knef in einem Film! Das liest sich zu merkwürdig und irgendwie auch großartig, um wahr zu sein. Am Ende war der Film leider zu wahr, um großartig zu sein – oder so ähnlich... Produziert von Joe D'Amatos "Filmirage" wabert der Film somnambul vor sich hin: eine durchaus D'Amato'eske Atmosphäre, ohne jedoch die Meisterschaft von Onkel Joe zu erreichen und ohne wirklich die für dessen Filme typische, hypnotische Wirkung zu entfalten (zumindest nicht bei mir – der Film fand durchaus sehr begeisterte Anhänger).

LA CASA 4 ist ebenso wenig der vierte Teil einer Filmreihe wie ZOMBI 2 das Sequel eines anderen Films: "La casa" war in Italien der Verleihtitel von Sam Raimis THE EVIL DEAD (1981) und "La casa 2" der Titel von Raimis Sequel EVIL DEAD II (1987). Im Jahr 1988 sprang dann Umberto Lenzis Puppenhorrorfilm LA CASA 3 auf den Erfolgszug von Raimis Filmen, und kurz darauf folgte dann eben LA CASA 4 (der jedoch inhaltlich nicht mit LA CASA 3 zusammenhing). Nun... Filme, die irgendwie gleich aussehen im Titel, das passt ein bisschen zu Darstellerinnen, die in der Spätabendmüdigkeit und in dem etwas schlafwandlerischen Rhythmus des Films auch ein wenig ähnlich aussehen. So habe ich tatsächlich für fast zwei Drittel des Films Leslie Cumming und Linda Blair verwechselt, was den Film für mich zwischendurch noch viel rätselhafter gemacht hat, weil Leslies Figur, die Freundin von David Hasselhoffs Gary, ihm gegenüber immer betont, dass sie ihre Jungfräulichkeit bis zur Ehe bewahren will (die Hasselhoff'schen Cockblocking-Momente sind immer ein kleines Fest), aber andererseits auch schwanger ist – war da unbefleckte Empfängnis im Spiel? Ein anderer leicht übernächtigter Co-Zuschauer, der wie ich auch Teile des Films verschlief, hatte auch das gleiche Verwechslungsproblem.

Wie dem auch sei... LA CASA 4 zog etwas an mir vorbei, ließ mich gedanklich zwischendurch immer wieder aussteigen und schaukelte mich gegen Ende dann auch in eine fiese Sekundenschlaf-Attacke, die alptraumartiger war als das, was im Film selbst alptraumartig sein sollte: ein Sheriff und sein Assistent fliegen mit einem Helikopter zur Insel, um die verschollenen Protagonisten zu suchen; ich selbst nickte ein, schreckte wieder auf und sah, dass die beiden immer noch im Helikopter flogen und nach den verschwundenen Personen suchten – das passierte etwa drei, vier, fünf Mal. Jedes Mal, wenn ich wieder erwachte, war der suchende Helikopter noch da...



Freitag, 27. August 2021


ab 12.30 Uhr


HANNO CAMBIATO FACCIA ("Wettlauf gegen den Tod")

Regie: Corrado Farina

Italien 1971

92 Minuten, OmU

Der kleine Angestellte eines Autokonzerns Alberto Valle (Giuliano Esperati) wird vom Konzernchef Giovanni Nosferatu (Adolfo Celi) nicht nur befördert, sondern auch zu einem Wochenende auf dessen Landsitz eingeladen. Die luxuriöse Villa wirkt ebenso bedrohlich wie der Gastgeber.

Zweite Sichtung des Films. Auch diese leider wieder sehr unterwältigend.

Der Dracula-Stoff als antikapitalistische Allegorie: was sich auf dem Papier sehr verlockend liest, wirkte für mich extrem bleiern, träge, grobklotzig, thesenfilmig. Seine Themen (Konsum- und Überwachungsgesellschaft, Warenfetischismus, die totalitären Ansprüche des Kapitalismus, der Ausverkauf des 68er-Aufbruchs) trägt HANNO CAMBIATO FACCIA schon sehr an der Oberfläche, und zwar so, dass es auch der dümmste anzunehmende Zuschauer versteht. Der Film hat durchaus einen Fuß im Bereich des Paranoiafilms: eine große Korporation hält sämtliche Fäden über alle Bereiche des Lebens in der Hand, kontrolliert nicht nur die "systemrelevanten" Institutionen (Wirtschaft, Politik, Presse, Kirche), sondern auch sämtliche "oppositionellen" Stimmen, um den Schein zu wahren. Aus heutiger Sicht wirkt der Film so auch weniger "gesellschaftskritisch" und scharf analytisch als vielmehr wie eine grobklötzige, aus einem dumpfen Bauchgefühl heraus geborene Verschwörungserzählung.

Die Themendichte des Films passt auch überhaupt nicht zu dem, was man über weite Strecken sieht: ein Kammerspiel in einer Gruselvilla. Dieses bekommt auch keine Chance zur Entfaltung, wenn die allumfassende Totalität des Kapitalismus immer wieder in geschwätzigen Dialogszenen auf den Punkt gebracht werden muss. Hinzu kommt, dass der Valle-Darsteller Giuliano Esperati für mich besonders uncharismatisch, fad, farblos, uninspiriert wirkte: das passt einerseits zur thematischen Konzeption des Films, der eine unbedeutende Figur in die Rädchen einer kapitalistischen Maschinerie hineinwirft, machte den Film für mich auf die Dauer leider besonders anstrengend und träge.

Schade... Die Grundidee des Films ist eigentlich charmant, mit dem großartigen Adolfo Celi kann man eigentlich nichts verkehrt machen. Und die Farbdramaturgie des Films ist absolut beeindruckend in ihrer gnadenlosen Konsequenz: HANNO CAMBIATO FACCIA präsentiert sich fast ausschließlich in monochromatischen Braun-, Orange- und Grautönen, ohne jegliches Blau und Grün, ohne knalliges Rot (mit Ausnahme einer Ampel zu Beginn des Films, ein Hinweis auf die Farbechtheit der Agfa-Kopie). Die monochrome Farbpalette passt meiner Meinung nach irgendwie auch nicht zu den Themen des Films (dass Kapitalismus auch sexy, also entsprechend auch quietschbunt aussehen kann an der Oberfläche, fällt dem Film nicht ein), schafft aber eine durchaus ganz eigensinnige visuelle Atmosphäre.



ab 15.00 Uhr


SKY OVER HOLLAND

Regie: John Fernhout

Niederlande 1967

22 Minuten, 70mm

Ein Dokumentarfilm über die Niederlande in fliegenden, rasenden 70mm-Bildern.

Dieses Jahr gab es beim Terza eine kleine Premiere, möglich dank der technischen Ausstattung des Schauburg-Kinos: nämlich eine 70mm-Projektion! Doch leider hat die Kopie des Hauptfilms ERCOLE ALLA CONQUISTA DI ATLANTIDE große Teile ihrer Farbpracht eingebüsst und war nur noch monochromatisch rötlich angehaucht zu sehen. SKY OVER HOLLAND lief als nicht-italienischer Vorfilm dann auch, um wenigstens in einem Kurzfilm 70mm nicht nur in seiner ganzen Schärfe, sondern auch in seiner Farbpracht zu erleben.

"Guck doch mal, was für coole Sachen wir mit 70mm alles anstellen können!" dürfte das Leitmotto von SKY OVER HOLLAND gewesen sein. Rasende Sturzflüge aus dem wolkigen Himmel auf Wiesenlandschaften, wahnwitzige Verfolgungsjagden in den Amsterdamer Grachten, wuselige, extrem tiefenschafte, an Bosch-Gemälde erinnernde Impressionen von Viehmärkten – und wieder zurück in den Himmel mit einem Blick auf geometrisch angeordnete Felder verschiedenfarbiger Tulpen (gewissermaßen die Mondrian-Tableaus des Films).

Ein Sensationsfilm wahrlich, ideal für eine überdimensionierte Leinwand wie jene in der Karlsruher Schauburg.




ERCOLE ALLA CONQUISTA DI ATLANTIDE ("Herkules erobert Atlantis")

Regie: Vittorio Cottafavi

Italien/Frankreich 1961

103 Minuten, 70mm, dF

Androkles, der König von Theben zieht mit Herkules, dessen Sohn und deren Helfer Timoteus auf eine Schifffahrt, um den Drohungen gegen Theben aus der Ferne auf den Grund zu gehen. Ihr Schiff kentert, Androkles verschwindet, Herkules und seine beiden Begleiter müssen ihren König in Atlantis suchen. Dort erwarten eine intrigante Herrscherin und viele kaputtgezüchtete Zombie-Krieger. 

"Die Anfangskeilerei der Herkuleskumpane ist so hinreißend inszeniert und mit so wendiger Kamera aufgenommen, daß ich sie dem steifen Pathos in Eisensteins vielgerühmter Schlacht auf dem Peipussee ohne Bedenken vorziehe." So ist es in einer zeitgenössischen Rezension in der Filmkritik zu lesen. Tatsächlich kann ein Film, der mit so einer beschwingten Tavernenschlägerei anfängt, gar nicht schlecht sein. In einem Western wäre das eine schöne Saloonschlägerei und der running gag der ganzen Szene besteht darin, dass Herkules zwar anwesend ist, sich aber aktiv darum bemüht, uninvolviert zu bleiben, weil er gerade isst und trinkt. Sein Eingreifen, während um ihn herum sich alle prügeln, besteht nur darin, das Verschütten seines Weines und eine Schädigung seiner Hammelkeule zu verhindern.

Der britische Bodybuilder Reg Park war als Herkules schon einmal beim Terza 2018 zu sehen, nämlich in Mario Bavas ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA. Als Präsenz ist er mir in Cottafavis Film nun besser in Erinnerung geblieben, zum einen, weil ich bei letzterem nicht zwischendurch eingeschlafen bin, zum anderen, weil seine Darstellung des Herkules doch wesentlich sympathischerer als im Bava-Film. So trägt Park den Film auch mühelos auf seinen monumentalen Schultern – natürlich auch nicht zuletzt, weil ERCOLE ALLA CONQUISTA DI ATLANTIDE einfach auch ein toller, im positiven Sinne "naiver" Genrefilm voller schöner Attraktionen ist. Da gibt es nicht nur Parks ölige Muskeln zu bewundern, sondern auch eine Gummi-Einhorn-Eidechse (na ja, eine Monster-Eidechse mit einem Horn), verstrahlt aussehende Mutantenkämpfer, ausladende Palastinnenräume voller Prachtsäle und dunkler, geheimnisvoller Verliese – und am Ende wird Atlantis in einer geradezu rauschhaften Zerstörungsorgie dem Boden gleichgemacht, dass es nur so explodierte und donnerte.

Trotz der wunderbar knackigen Schärfe der Kopie wurde das Sichtungsvergnügen durch den Rotstich doch etwas gezügelt: lediglich ein leichter, sepiafarbener Hauch war an blaßer, monochromer Restfarbe übrig geblieben. Vielleicht hätte mich der Film mehr umgehauen in voller Farbpracht: so bleibt "nur" ein sehr kurzweiliges, flottes Abenteuer-Vergnügen in Erinnerung.


Machen wir hier kurz vor Hälfte des Programms eine kleine Pause. Im zweiten Teil werden uns dann unter anderem hungrige Kannibalen und vereinsamte deutsche Soldaten, rebellische Knastinsassinnen und verliebte Kreuzritterinnen begegnen.

Sonntag, 21. Februar 2021

In eigener Sache: Audiokommentar zu "Gangster sterben zweimal"


Wer auf "Whoknows Presents" meine Texte liest, sollte in der Regel ein bisschen Zeit mitbringen. Und wer mich gerne lange liest, kann mir demnächst auch lange zuhören, sogar über 100 Minuten: am 19. März erscheint Mino Guerrinis Heist-Movie GANGSTERS '70 ("Gangster sterben zweimal") in einer wunderschönen Liebhaber-Bluray-Edition beim Label Forgotten Film Entertainment, zum ersten Mal ungeschnitten und im korrekten Scope-Bildformat (hier bestellbar direkt bei Forgotten Film Entertainment). Unter den zahlreichen Bonusmaterialien befindet sich unter anderem auch ein Audiokommentar mit dem wunderbaren Robert Wagner von Eskalierende Träume sowie meiner Wenigkeit. Wir fachsimpeln zusammen unter anderem über die Verbindungen zwischen Mickey Mouse und Mario Bava, über Nasenstift-Fetischismus und die niederschmetternde Glamourlosigkeit von Lunches unter Kriminellen, über die Nutzung von Rouge bei alternden Männern und exklusive Auto-Sonderserien von Lamborghini... Wem das zu langweilig wird, kann natürlich auch zum anderen Audiokommentar mit Udo Rotenberg und Konstantin Hockwin switchen. Oder einfach wieder zum Filmton wechseln...


... denn die Hauptattraktion der Edition bleibt natürlich der Film selbst: eine Heist-Geschichte um einen alternden Gangster (Joseph Cotten), der frisch aus dem Gefängnis entlassen einen letzten großen Coup, nämlich einen Raubüberfall auf einen Geldtransport am Flughafen, wagen möchte – wobei schon recht früh vieles schief geht. Klingt zunächst sehr klassisch, doch schon nach wenigen Minuten fällt auf, dass "Gangster sterben zweimal" vor allem visuell ein ungemein aufregender Film ist: ein prachtvoller Scope-Film mit einer sehr expressiven Bildgestaltung, bei der immer wieder Figuren von Gegenständen an den Rand gedrängt werden, mit Jumpcuts und gekippten Perspektiven (teils kopfüber), einigen spektakulären Handkameraszenen, Zooms, dazu immer wieder lange Momente, die komplett in Spiegelungen gefilmt oder von gespiegeltem Glas verdeckt sind. Einige der kurzen, eruptiven Actionsequenzen und Schiessereien erinnerten Robert an die Actioninszenierung des Hong Konger Kinos der 1980er (hier sozusagen etwa 15 Jahre vorweg genommen). GANGSTERS '70 wird in der restaurierten Edition von Forgotten Film Entertainment als zweite Veröffentlichung der "Italo-Cinema Collection" fantastisch aussehen. Und er wird toll klingen: die Bilder werden von Egisto Macchis dissonant-avantgardistischen Score wunderbar getrieben.


Der Regisseur, Mino Guerrini, hatte mich in seinem an THE IPCRESS FILE angelehnten Eurospy-Film SICARIO 77, VIVO O MORTO schon beim Terza Visione 2018 mit seiner expressiven Inszenierung beeindruckt. Von den Darstellern ist natürlich vor allem Joseph Cotten bekannt, doch im Laufe des Films avanciert der eher unbekanntere Giulio Brogi zur eigentlichen schauspielerischen Attraktion des Films. Er spielt einen durch Drogensucht gefallenen Sportschützen-Champion, der unter Not in den Coup involviert wird. Seine Figur erinnert ein wenig an Yves Montands trinksüchtigen Scharfschützen in Jean-Pierre Melvilles zwei Jahre später in die Kinos gestarteten LE CERCLE ROUGE. Mit Melvilles Film teilt "Gangster sterben zweimal" auch die melancholische, schwermütige, pessimistische und bedrückende Atmosphäre und das Gefühl einer merkwürdig entvölkerten, abstrakten Genre-Parallelwelt (hier gleichwohl weniger amerika-fetischistisch).


"Gangster sterben zweimal" – der deutsche Verleihtitel ist tatsächlich sehr schön und treffend – ging, soweit ich es nachvollziehen konnte, trotz Vertrieb bin in die USA beim Publikum Ende der 1960er Jahre unter. Als poliziesco all'italiana kam er in Italien wohl zu früh, vor der großen Welle (und der Originaltitel war wohl nicht gerade sehr catchy). Als klassischer, amerikanisch inspirierter Heist-Movie kam er wohl zu spät (bzw. konnte nicht wie Melville mit publikumswirksamen Stars aufwarten). Seine größtenteils unsympathischen und schwierigen Charaktere machen ihn eher unwohlfühlig... Jetzt müsste aber endlich die Zeit für ihn gekommen sein. In vier Sichtungen innerhalb von knapp drei Monaten, vom ersten Kennenlernen bis zum gemeinsamen Einsprechen des Audiokommentars mit Robert, hat mich der Film immer wieder gefesselt und verblüfft.


Und jetzt kann er auch dich immer wieder fesseln und verblüffen, lieber Leser!

Sonntag, 1. November 2020

Bericht vom 6. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms (Teil 2)

Was bisher geschah... Hier zum ersten Teil meines Berichts zum Terza Visione 2019

 Samstag 27. Juli 2019


14.00 Uhr


IL PIACERE ("Die Lust")

Regie: Joe D'Amato

Italien 1985

85 Minuten

Deutsche Kinopremiere

Venedig in den 1930er Jahren: Gérard (Gabriele Tinti) trauert seiner verstorbenen Geliebten Leonora (Andrea Guzon) nach. Leonoras Kinder aus einer früheren Beziehung reisen zur Beerdigung an: Während Edmund (Marco Mattioli) – trotz seiner Vorliebe, sich in Stresssituationen die Brust geben zu lassen (notfalls von seiner Schwester) – eine ziemliche Spaßbremse ist, zehrt sich Ursula (auch Andrea Guzon) danach, ihre Unschuld an Gérard zu verlieren und an seiner Seite den Platz ihrer Mutter einzunehmen.


Gérard schwelgt in erotischen Erinnerungen

Ich bin mir noch etwas unschlüssig, ob übermüdet der falsche oder eben gerade der richtige Zustand ist, um IL PIACERE zu sehen. Mehr als dass ich den Film bewußt geschaut habe, scheint sich der Film eher über meine durch einen zu kurzen Schlaf schon gedämpften Sinne gelegt zu haben. Er ist vorbei gerauscht wie ein Traum, mit Bruchstücken, die sehr klar erscheinen – und vielem, was sich in die Vergessenheit verirrt hat. Gabriele Tinti, der schwer melancholisch vor dem Phonographen sitzt und selbstvergessen der Stimme seiner ehemaligen Geliebten zuhört. Flüchtiger Sex in einer Nebengasse während des venezianischen Karnevals. Opiumvernebelter Sex in einem Bordell unter den wachsamen Augen Laura Gemsers. Der Handjob im Kino. Und natürlich der Spazierausritt mit Gérard und Ursula: sie gibt ihrem Pferd ganz sanft die Sporen, dieses trabt etwas schneller – "Galopp" wäre für das Tempo, das Ursulas Pferd jetzt hat, eine völlig lächerliche Übertreibung. Gérard eilt ihr nach und ermahnt sie, dass sie nicht so schnell galoppieren solle, das könne schließlich gefährlich werden... Eine absolut treffende Zusammenfassung für die ästhetische Haltung von IL PIACERE, wahrscheinlich (?) insgesamt für Joe D'Amatos Regiearbeiten, die eher dem kontemplativen als dem Aktionskino zuzuordnen sind.

Arthur Pokorny, (einer) der größte(n) D'Amato-Spezialist(en)? im D-A-CH-Raum, der die italienische Kopie aus seinem Privatarchiv mitgebracht hatte, stimmte das Publikum mit einer der schönsten Einführungen des Terza 2019 auf den Film ein. Am Sonntagabend, nach dem letzten Festivalfilm, erzählte er in lockerer Runde noch etwas weiter von D'Amatos Arbeitsstil und dem Umgang mit seiner Crew, der offenbar genau so tiefenentspannt war wie seine Filme: trotz des hohen Drucks, der auf Filmdrehs mit niedrigen Budgets lastet, war die Atmosphäre an seinen Sets wohl stets freundlich und entspannt, er selbst wohl ein gutgelaunter Mann, der immer einen lustigen Spruch parat hatte. Vielleicht gerade deswegen und weil er – von Haus aus Kameramann – stets seine Filme selbst fotografierte, konnten sie in einem irren Tempo abgedreht werden und dabei (zumindest trifft das auf IL PIACERE zu) wesentlich teurer und edler aussehen als das, was sie gekostet haben.

Kamil Moll, der auch beim Terza war, hat hier im Weird-Magazin über IL PIACERE geschrieben.




16.00 Uhr


I FIDANZATI DELLA MORTE ("Die Verlobten des Todes")

Regie: Romolo Marcellini

Italien 1957

93 Minuten

Der waghalsige Motorradrennfahrer Carlo (Rik Battaglia) trennt sich von seinem bisherigen Hersteller und versucht sein Glück stattdessen beim kleineren Rennstall seines Schwiegervaters Lorenzo (Hans Albers) – und geht dann auch noch fremd, als er – ein verheirateter Mann – eine Affäre mit der schönen Lucia (Sylva Koscina) beginnt. Das macht die Vorbereitung auf das große Rennen schwieriger, besonders als der technische Direktor seines ehemaligen Rennstalls auch mitmischt und mit Lucia anbandeln möchte.


In der Werkstatt des Tüftlers Lorzeno

Motorradrennen und melodramatische Intrigen... was wie eine vielversprechende Mischung klingt, hat mich persönlich eher gelangweilt und wenig bei der Stange gehalten (immer noch diese Müdigkeit!). Es gibt keinen Zweifel daran, dass I FIDANZATI DELLA MORTE toll aussieht und wunderschön fotografiert ist. Mein größtes Problem war wohl der Protagonist, der als kerniger Anpacker, als Individualist mit starkem Willen erscheinen sollte, für mich aber vor allem – mit Verlaub – als selbstgefällige Macho-Arschgeige rüberkam, als Egoist, der sämtliche Frauen um sich (in erster Linie seine Ehefrau und seine Geliebte) verächtlich behandelt und zudem auch noch auf der Rennstrecke im Dienst seines Egoismus andere Leute in Gefahr bringt. Es half nicht, dass Rik Battaglia nur mäßig charismatisch wirkte, während sein Gegenspieler durchaus als italienische Version von Marlon Brando durchgehen könnte.

Die großen "kleinen" Höhepunkte von I FIDANZATI DELLA MORTE waren allerdings die Auftritte Hans Albers', der hier wirklich allem und allen die Show stiehlt und sich mit seinem ganzen Charisma in die Lorenzo-Rolle hineinwirft: ein alter Haudegen, der mit der Begeisterung von gefühlt dreitausend Teenagern an Motoroptimierungen tüftelt – nicht, um das große Geld zu machen (er lässt seine Erfindungen auch nicht patentieren) sondern einfach nur der Schönheit der Sache wegen. Ein echter Idealist... I FIDANZATI DELLA MORTE war nicht mein Film, aber wie gerne hätte ich den passenden abendfüllenden Film zu Albers' Lorenzo gesehen.




Heute war der inoffizielle Doppelgänger-Tag des Terza 2019...


20.00 Uhr


MANIA

Regie: Renato Polselli

Italien 1974

85 Minuten

Deutschlandpremiere

Lisa (Eva Spadaro) war einst mit dem "mad scientist" Brecht (Brad Euston) verheiratet, hatte jedoch auch eine Affäre mit dessen Zwillingsbruder Germano (ebenso Brad Euston). Als die Affäre aufflog, flogen bei einem Unfall auch gleich die halbe Villa und Brecht mit in die Luft. Jahre später kehrt Lisa, von grausigen Visionen und Halluzinationen geplagt, mit ihrem neuesten Liebhaber, dem ehemaligen Assistenten Brechts, in die Villa zurück. Dort erwarten sie nicht nur ein rollstuhlfahrender, im Gesicht verstümmelter und sich sehr erratisch verhaltender Germano sowie die mittlerweile stumme, weil völlig traumatisierte Haushälterin Brechts, sondern offenbar auch Brechts Geist, der beunruhigende Zwischenfälle auslöst...


Lisa und Germano in der "haunted villa"

Nach LA MORTE SCENDE LEGGERA war MANIA beim Terza 2019 ein weiterer toller Beitrag aus der "poverty row" der italienischen Filmindustrie: ein recht unbeschreiblicher Hybrid aus Haunted-House-Gothic-Horror und hysterisch-psychotischem Melodrama. 

Der Titel, MANIA, ist Programm: permanent am Rande des völligen Nervenzusammenbruchs. Es ist ein Film über Personen am Rande des Wahnsinns, die wahnsinnige Dinge machen und ist konsequent in einem wahnsinnigen Stil inszeniert. MANIA ist ein wilder, anarchischer Film, der die Logik der "normalen" Vernunft hinter sich lässt und nur der Logik des Wahnsinns folgt. Er hat die Form eines Gothic-Horror-Films, der seine Hochzeit eher in den 1950er und 1960er Jahren hatte, wirkt aber zugleich sehr viel moderner, fast schon postmodern. Lisa landet an einer Stelle des Films plötzlich aus dem Nichts in ein Netz und wird von Aalen, die scheinbar auch aus dem Nichts kommen, angegriffen. Das schien mir den berüchtigten Spinnenangriff aus L'ALDILÀ vorwegzunehmen: es gibt keine Erklärung für das Grauen, sondern nur das Grauen (also zumindest in dem Moment selbst: wie auch in LA MORTE SCENDE LEGGERA entpuppt sich in MANIA alles als geschickte Inszenierung, während in L'ALDILÀ alles Zeichen einer wahrhaftigen höllischen Apokalypse war).

MANIA ist einerseits merkwürdig somnambul, wirkt tatsächlich oft wie ein sehr, sehr langsamer Alptraum, manchmal scheint es, als würde sich das ganze Treiben in dem besessenen Haus unter Wasser sich abspielen, leicht verlangsamt und wie durch einen Schleier beobachtet... Andererseits hat der Film aber auch ein geradezu irrsinniges Tempo, weil fast jede neue Szene eine völlige Überraschung ist: man weiß nie, was als nächstes passieren wird. MANIA löst auf sehr grundlegende Art eines der großen Versprechen des Kinos ein: alles ist möglich, alles ist machbar!

MANIA ist billig, schäbig, holprig – und trotzdem von A bis Z völlig konzise. Er verlangt vom Zuschauer wahrhaftig sehr viel "suspension of disbelief", weil er sich kaum für konzise Spezialeffekte interessiert. Mehr als wie ein "fertiger" Film wirkt MANIA über weite Strecken eher wie eine grobe, unfertige Skizze. Ein bisschen ist es wie in der bildenden Kunst: eine grobe Skizze enthält nicht die feinen Qualitäten eines fertigen, filigranen Gemäldes – ist dafür aber oft viel unmittelbarer, direkter, zugespitzter, mit einer roheren Energie aufgeladen. Jede Geste, jeder Ausdruck extrem stilisiert: ist Polselli ein "primitiver Expressionist"? Primitiv im analytischen Sinne gemeint: MANIA ist dem ursprünglichen, "rohen" Expressionismus wahrscheinlich viel näher als teurere Horror-Gothic-Produktionen der Zeit, die der Popart näher stehen. Der indirekte Vergleich zur Stummfilmära bedeutet nicht, dass der Film stumm wäre: es wird sehr viel, sehr laut und sehr exaltiert geschrieen, gekreischt und geheult.

Ein Teil des Publikums im krachend vollen Saal (die vollste Vorstellung des ganzen Terza 2019, soweit ich mich erinnere) machte sich leider lustig über das exaltiert-manische Spiel der Darsteller, über das schäbig-expressionistische Dekor, über defizitäre Spezialeffekte, über die totale Hingabe an die Logik oder besser gesagt die Anarchie des Alptraums. Schade, denn für mich gehörte MANIA zu den Höhepunkten des Terza Visione 2019 und war bei weitem der beste Film am Samstag.




22.30 Uhr


JOCKS

Regie: Riccardo Sesani

Italien 1984

104 Minuten

Deutschlandpremiere

Ein trampender amerikanischer DJ und ein italienischer Truckfahrer tun sich (nach einem ordentlichen Faustkampf) zusammen, um in einer kleinen Provinzstadt die größte Disco-Party aller Zeiten zu organisieren. Zwischendurch gibt es weitere Faustkämpfe, ein Techtelmechtel mit der jungen Verwandten einer Geldgeberin – und am Schluss kommt eine futuristische Variante von Verdis "Aida" heraus.

Liebevolle Buddies im zum Liebesnest umgebauten Truck

Nachdem beim Terza Visione 2018 DANCE MUSIC den Freitagabend in eine ausgelassene Party verwandelt hatte, erwartete ich (und vielleicht so manch ein anderer Besucher) wohl etwas ähnliches von JOCKS, dem diesjährigen programmierten Tanzfilm. Für mich entwickelte sich der Film nach einem tollen ersten Drittel leider zu einer Enttäuschung. Als Tanzfilm, also als Film mit choreografierten Nummern, hatte JOCKS (von den letzten 20 Minuten abgesehen – dazu gleich mehr) nur wenig zu bieten. Vielmehr wirkte er im ersten Drittel eher wie eine Buddy-Komödie, bei der die Interaktion zwischen den beiden Helden etwa zur Hälfte aus Prügeleien bestand – also heißt: dass sie sich gegenseitig prügelten. Eine toxische Liebesbeziehung, wenn man so will, denn die homoerotischen Funken zwischen den beiden war fast mehr als unterschwellig. Die extrem exaltierten Umgangsformen des DJ rundeten den Eindruck ab: sein Verhalten würde in vielen anderen Filmen dieser Zeit (pessimistisch könnte man sagen: bis in die Mitte der 2000er Jahre) als homosexuelle "Codierung" durchgehen und zugleich auch der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Das Großartige ist, dass zumindest letzteres in JOCKS nicht passiert: der DJ ist ohne Wenn und Aber der Sympathieträger. "Lieber Zuschauer, hier ist unser Held, er ist ein bisschen exzentrisch und schrill, aber liebe ihn bitte so, wie er ist." – scheint der Film zu sagen. Ohne "Agenda" (eigentlich ein furchtbares Wort), sondern aus einer fröhlichen "Naivität" heraus.

Ich kann mich nicht wirklich gut an das zweite Drittel erinnern... nur, dass es für mich langweiliger wurde: eine große Anzahl an sehr zähen Expositionsdialogen, wenn ich mich recht erinnere? Und der Versuch, die Eintracht der beiden Helden durch die Einführung eines weiblichen "love interest" zu durchbrechen, weil es sich ja nun irgendwie doch gehört, dass es da einen weiblichen "love interest" geben muss...

Und schließlich das letzte Drittel, als dann die große Show, auf die die beiden unermüdlich hingearbeitet haben (nämlich die größte Discoparty aller Zeiten zu schmeißen), endlich gezeigt wird: statt Disco ein bizarr-futuristisches Glitzer-Happening mit einem Raumschiff, das sich langsam vom Bühnenboden erhebt, vielen merkwürdigen Alien-Kostümen, das ganze teilweise in Ruckel-Zeitlupe gefilmt, unterlegt von einer verfremdeten Elektro-Interpretation von Verdis "Aida". Wenn ich das gerade selbst lese, klingt das absolut super, aber ich erinnere mich, wie ich mich damals im Kinosessel gequält habe und irgendwann nur noch etwas entnervt das Ende des Films herbeigesehnt habe. Andere Zuschauer waren gerade von dem "Showdown" von JOCKS schwer begeistert und verteidigten ihn leidenschaftlich. Irgendwann werde ich den Film wohl noch mal gucken müssen.




Sonntag 28. Juli 2019


13.00 Uhr


QUANTE VOLTE... QUELLA NOTTE ("Vier Mal heute Nacht")

Regie: Mario Bava

Italien/BRD 1971

83 Minuten

Deutschlandpremiere

Der Playboy Gianni (Brett Halsey) spricht im Park Tina (Daniela Giordano) an und verabredet sich mit ihr zu einem Date. Nach einem Diskothekenbesuch gehen die beiden zu ihm nach Hause... und ab da verschwimmen die Ereignisse: hat er sie belästigt und zu vergewaltigen versucht (so Tinas Version der Geschichte)? Ist Tina eine Nymphomanin, die ihn mit ihrem sexuellen Appetit völlig ausgelaugt hat (so in Giannis Erinnerungen)? Ist Gianni eigentlich ein Homosexueller, der mit einem Nachbarn Sex hatte, während Tina von der lesbischen Kumpeline des Nachbarn vergewaltigt wurde – und alle hatten sich vorher in einem Schwulenclub getroffen, wo junge Mädchen sich nackt fotografieren lassen (so das Zeugenaussage der schmierigen, sexbesessenen und voyeuristisch veranlagten Hausmeisters des Wohnkomplexes, der Giannis Wohnung mit einem Fernglas beobachtet hat)? Oder war das ein ganz harmloser und keuscher Abend, bei dem aus Versehen Kleider zerrissen und Kopfverletzungen zugefügt wurden, weil man aufgrund eines vergessenen Schlüssels über das Einfahrtstor klettern musste (so erläutert von einem "allwissenden" Wissenschaftler, der in seinem weißen Kittel so aussieht, als könnte er mit Zahnbürsten Tomaten malträtieren)?


Eine Schaukel mitten in Giannis Wohnung – ein wenig exzentrisch, aber die Flasche J & B sorgt für die nötige Bodenständigkeit

Mario Bava wird in der Regel mit dem Giallo, dem Horrorfilm, dem Fantasyfilm in Verbindung gebracht. Welch eine Überraschung, dass er auch eine "commedia sexy", eine erotische Komödie gedreht hat (ein Fakt, der mir bis zu diesem Terza völlig unbekannt war). Gemäß der tollen Einführung von Katrin Doerksen verstand Bava diesen Film als reine Auftragsarbeit, um Geld für wirkliche Herzensprojekte zu gewinnen – und als eine Ehrenpflicht (seiner Meinung hätte man sich schnell den Ruf eingefangen, homosexuell zu sein, wenn man erotische Filmstoffe ablehnte). QUANTE VOLTE... QUELLA NOTTE wurde 1968 gedreht, aber kam erst 1971 in die Kinos (in Italien sogar nach ECOLOGIA DEL DELITTO aka REAZIONE A CATENA).

Bavas Film wird gemeinhin als die italienische Erotikkomödien-Fassung von Kurosawas RASHOMON angesehen, weil der Film die gleiche Geschichte aus vier unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Doch innerhalb von Bavas Werk könnte man ihn vielleicht als seinen ersten "Versuchsanordnungsfilm" bezeichnen, als erster Teil einer Trilogie, der dann die beiden "Abzähl-Mord-Filme" 5 BAMBOLE PER LA LUNA D'AGOSTO und ECOLOGIA DEL DELITTO aka REAZIONE A CATENA folgten.

Wie viele Bava-Filme ist QUANTE VOLTE... QUELLA NOTTE in erster Linie ein Atmosphärenfilm voller satter, teils psychedelischer Farben. Jede der vier Geschichten hat auch eine eigene Atmosphäre. Tinas Erzählung von ihrer versuchten Vergewaltigung kommt einem fast klassischen Thriller in ihrer latenten, zunehmenden und schließlich eskalierenden Bedrohlichkeit recht nahe. Giannis Version der Geschichte ist lüstern, anzüglich, geil und sexy und kommt dem puristischen Sexfilm (auch wenn QUANTE VOLTE... QUELLA NOTTE insgesamt visuell doch sehr züchtig bleibt) am nächsten. Die völlig ausschweifenden und wahnwitzigen Erinnerungen bzw. Fantasien und Obsessionen des Hausmeisters schließlich lassen QUANTE VOLTE... QUELLA NOTTE in ein groteskes, fast surreales Delirium kippen – und mehr als die konkurrierenden Erzählungen Giannis und Tinas wirkt die Episode wie eine Art losgekoppelter, der Kontrolle entglittener Nebenplot. Die letzte Episode schließlich erdet nach dem ganzen Delirium die ganze Geschichte wieder in etwas, was wie eine vorweggenommene Parodie eines Dr.-Best-Werbespots wirkt... und dann fahren Gianni und Tina glücklich im Morgengrauen in einem schnittigem Cabriolet in Richtung Sonnenaufgang...

Zusammengehalten wird das ganze von einem fantastischen Set-Design, wie man es von Mario Bavas Filmen gewohnt ist. Die Wohnung Giannis, der Schauplatz eines großen Teils des Films, ist ein echtes Pop-Art-Diorama aus quietschbunten Möbeln und bizarren Dekoobjekten. Im Schwulenclub während der Erzählung des Hausmeisters übertrifft sich Bava dann wieder einmal mit einem völlig jenseitigen, futuristischen Dekor und psychedelischen Lichteffekten. Wer wirklich ganz genau hinschaut, wird das leicht Artifizielle eines arrangierten Studios erkennen, aber angesichts des geringen Budgets, mit dem Bava arbeiten musste, ist ihm hier wieder einmal eine Augenweide gelungen.




16.30 Uhr


LA VIOLENZA: QUINTO POTERE ("Gewalt: Die fünfte Macht im Staat")

Regie: Florestano Vancini

Italien 1972

90 Minuten (deutsche Fassung) + 12 Minuten fehlender Epilog der italienischen Originalfassung (digital nachgereicht)

Bei einem Mordprozess sitzen über ein Dutzend Mitglieder zweier verfeindeter Mafia-Clans auf den Anklagebänken. In langen Rückblenden werden die Verbrechen der Gangster und ihre informelle, aber doch starke Macht über die örtliche bäuerliche und kleinstädtische Bevölkerung geschildert. 

LA VIOLENZA: QUINTO POTERE ist weniger ein klassischer "poliziesco" als vielmehr ein Gerichtsfilm mit Politthriller-Grundierung. Er erzählt sehr packend, mit einem manchmal semidokumentarisch wirkenden Stil über die Verflechtung von Mafia, Politik und Gesellschaft in Süditalien. Beide Fallstricke, die ihm potentiell im Weg liegen (als Gerichtsfilm, der zudem die Adaption eines Theaterstücks ist, zu statisch und unfilmisch zu sein – und als engagierter Antimafia-Film zugleich zum einfachen Thesenstück zu erstarren) umschifft der Film mit seiner eleganten Inszenierung und seinem nüchternen, unaufgeregten Ton. Wenn man über das komplett unterschiedliche Setting hinwegsieht erinnert LA VIOLENZA: QUINTO POTERE stilistisch an die späteren Korruptions-Thriller Sidney Lumets.

Der Grundton ist pessimistisch und dabei doch stark geerdet, es entspinnt sich eine Art Mini-Panorama über die Verflechtung von Mafia-Strukturen, wirtschaftlicher Armut und unterentwickelten Staatsstrukturen. Strukturen und Verflechtungen... LA VIOLENZA: QUINTO POTERE handelt in erster Linie tatsächlich davon, und so rückt keine der Figuren wirklich zum Protagonisten heran (zu sehen sind neben Mario Adorf als Gangster-Boss auch Enrico Maria Salerno als Staatsanwalt, Riccardo Cucciolla als gegen die Mafia engagierter Professor, Gastone Moschin als Mafia-Anwalt, Julien Giomar als Polizist und weitere). Ein echter Ensemblefilm ohne dramaturgische Hauptfigur – aber das heißt nicht, dass die Charaktere unwichtig seien, im Gegenteil. Der Film vergisst nie, dass es um Menschen geht: die ermordet, erpresst, ausgeraubt werden, oder dazu gezwungen werden, in diesem System mitzumachen. Ein emotionaler Höhepunkt ist sicherlich der Auftritt des Komikers Ciccio Ingrassia als kinderreicher, armer Mafiahelfer zwischen allen Stühlen: für die Mafiosi eine Spielfigur, deren man sich nach Nutzung entledigen kann, für die Staatsgewalt ein Mafia-Kollaborateur, den man im Gegensatz zu den "großen Fischen" relativ leicht inhaftieren kann. Ingrassia, der im Komiker-Duo Franco & Ciccio immer der weniger exaltierte Part war, bringt eine  wahrhaftige, erhabene und tragische Würde in seine Rolle. Am Ende muss er den Film (off-screen) mit einem Suizid verlassen, dem ihm die Mafia mithilfe einer ins Gefängnis geschmuggelten Klinge "schenkt" bzw. aufdrängt...




20.00 Uhr


SPELL (DOLCE MATTATOIO) ("Spell: Süßes Schlachthaus")

Regie: Alberto Cavallone

Italien 1977

104 Minuten

Deutschlandpremiere

In einem kleinen Dorf in der Nähe Roms, während die Vorbereitungen zu einem großen Fest mit religiöser Prozession anlaufen... ein kommunistischer Künstler in einer Schaffenskrise hat zunehmend Mühe, den Aggressionen und Autoaggressionen seiner psychisch kranken Frau (Jane Avril) Einhalt zu gebieten; der Metzgermeister des Dorfs träumt von sexuellen Abenteuern mit diversen Dorfeinwohnerinnen und befriedigt sich mit aufgespießten Kuhhälften in der Kühlkammer; ein junges Mädchen ist von ihrem eigenen Vater geschwängert worden; eine Frau, die von ihrem Ehemann voller Verachtung behandelt wird, flüchtet in zunehmend delirierende Sexträume; ein junger Fremder kommt in das Dorf und entflammt die Begierden der Bewohnerinnen.


Oben: Jane Avril (bürgerlich Maria Pia Luzi – Stammschauspielerin und Ehefrau Alberto Cavallones) als verrückte Rosanna und Martial Boschero (bei späteren Filmen Cavallones Produzent) als kommunistischer Künstler
Unten: die frustrierte Bäuerin und der schöne, geheimnisvolle Fremde / die Musterfamilie mit Inzestproblemen 

Alberto Cavallone macht dort weiter, wo Giulio Questi aufgehört hat! Wie ARCANA beim Terza 2017 war SPELL (DOLCE MATTATOIO) beim Terza 2019 der außergewöhnlichste, bizarrste, halluzinatorischste Film des Programms, der Film, der die thematische Rahmung des Festival – italienisches Genrekino – am meisten herausforderte.

Der Prolog setzt den Ton des Films, man könnte sagen, die beiden Pole, zwischen denen er immer wieder schwanken wird. Wir befinden uns auf einem Friedhof, ein Besucher steht vor einem Grab, ein Stückchen betten zwei Arbeiter Gebeine eines geöffneten Grabs um. Dann machen die beiden Arbeiter Mittagspause, pellen sich jeweils ein gekochtes Ei und essen es – das eher weiche Gesicht des jungen und das kantige Gesicht des älteren Arbeiters in einer quasidokumentarischen Nahaufnahme. Dann geht es wieder zum Besucher zurück, der ein Grab betrachtet – sein eigenes Grab, mit einem Medaillon-Portrait seines Gesichts, wie wir nach einem Schnitt sehen. Eine "triviale" Alltagsszene mit einem alptraumartigen Einschub versehen. Neorealismus meets Surrealismus. SPELL (DOLCE MATTATOIO) ist für seine sexuellen, antiklerikalen, skatologischen und antibürgerlichen Provokationen berüchtigt, aber er bettet diese in eine Art semidokumentarisches, quasi-anthropologisches Dorfleben-Portrait mit (neo-)neorealistischen Zügen ein. Neorealismus durch einen surrealen, grotesken, derb-erotischen Fleischwolf gedreht. Christoph, einer der beiden Festivalleiter, schlug in seiner Einführung den Begriff "Anti-Heimatfilm" vor. Neben einer Kalbsgeburt auf einem Bauernhof gibt es auch immer wieder längere Impressionen von Straßenumzügen, Open-Air-Konzerten, Tänzen auf dem Marktplatz, Rummelvergnügungen wie das Klettern an einem eingeseiften Baumstamm und Menschenversammlungen, die erfreut Feuerwerke beobachten. Am Rande dieser Bilder entfesselt Cavallone dann den Wahnsinn, die Exzesse, die Provokationen.

Bei der ersten Sichtung, zumal im Kino, auf einer großen Leinwand, sind es letztere, die vor allem hervorstechen: der sexuell frustrierte Metzgermeister, der mit seiner eigenen Ware Sex hat (und später wurminfizierte Schnitzel zurechtschneidet); die frustrierte Bäuerin, die davon träumt, unter der erhängten Leiche ihres Ehemanns mit dem Dorfpriester Sex zu haben; die nahtlose Montage einer weiblichen Masturbation mit dem Erwürgen eines Hahns; das große Finale mit Exkrementen und Kastration. Machistische Männlichkeitsvorstellungen, die an der Oberfläche anständige Familie, die  heilige katholische Kirche und ihre Vertreter, bürgerliche Moralvorstellungen und nicht zuletzt auch die kommunistische Partei: in SPELL (DOLCE MATTATOIO) jagt Cavallone sie allesamt zum Teufel und haut dabei richtig ordentlich auf die Kacke (das sogar wortwörtlich!). 

Doch gerade bei der zweiten Sichtung (bei mir über ein Jahr nach der Sichtung im Frankfurter Filmmuseum zuhause auf DVD) wirkt sein Film auch gerade in seinen leiseren Tönen noch beeindruckender. Die Erdung in ein semidokumentarisches, quasi-neorealistisches Setting macht die Exzesse an sich noch wilder, aber verhindert eben auch, dass der Film zur maßlosem Freakshow wird. Das kommt auch davon, dass seine Figuren stets Menschen bleiben: der sexuell frustrierte Metzger genauso wie der mürrische, abends stets besoffene Bauer (um jetzt zwei Figuren zu nennen, die oberflächlich alles andere als gut wegkommen). Vielleicht wirkte nur der Priester durchgehend shady, der die Kinder des Dorfes Lotterielose verkaufen lässt und die Topverkäufer mit Heiligenbildchen belohnt (das Bild eines Priesters, der ständig um Kinder herumhängt, war 1977 vielleicht "unschuldiger" als heute?).

Impressionen von den Dorffestlichkeiten

Neorealismus und Surrealismus sind in SPELL (DOLCE MATTATOIO) keine klar getrennten Sphären, und auch Zeit und Raum lässt der Film unterschwellig verwischen: nachdem ich den Film bei der Erstsichtung im Kino als chronologisch erzählt wahrgenommen hatte, schien mir das bei der Zweitsichtung viel ungewisser. Ist das alles ein einziger Tag, der achronologisch in kleinen Impressionen erzählt wird? Oder spielt der Film gar über mehrere Tage, gar Wochen? Wo hört die Realität auf und beginnt die Fantasie?

Die auffälligste Schnittstelle zwischen beiden dürfte der namenlose, fremde junge Mann sein (die Figur erinnert entfernt an den Fremden in Pasolinis TEOREMA), der eines Tages wie aus dem Nichts im Dorf erscheint bzw. konkreter auf dem Friedhof zum ersten Mal zu sehen ist und dann ins Dorfzentrum geht. Während draußen ein Feuerwerk zu sehen ist und ihr Ehemann gerade an einer Collage arbeitet, spielt Rosanna, die verrückte Frau (die auf der Toilette Mittag isst – Buñuel lässt grüßen –, aus der Kloschüssel trinkt, die Haushälterin auch mal K.O. schlägt in der Absicht, deren Brustwarzen mit einer Küchenschere abzuschneiden, sich selbst blutende Stichwunden am Vorderarm zufügt) mit einem kleinen Puppentheater: sie lüftet den Vorhang (rot, mit Hammer und Sichel bedruckt! offenbar ein Fabrikat ihres Ehemanns) und hebt eine kleine Plastikfigur von der Bühne. In diesem Moment werden Bilder des jungen Mannes gezeigt, der durch den Dorfrummel läuft, vor Schießbuden mit ausgehängten Gewinnerpreis-Puppen – so wirkt es, als habe er seinen Auftritt in Rosannas Puppentheater, als hätte sie ihm durch das Lüften des Vorhangs Leben eingehaucht (am Ende nimmt sie es ihm auf besonders drastische Weise wieder weg). Vielleicht einer der großartigsten Momente im Film, geradezu frenetisch montiert mit crashzoom-pulsierenden Bildern, unterlegt von Claudio Tallinos spannungsaufbauendem (und nicht auflösendem) Jazz-Rock-Score.

Die Musik von Claudio Tallino (ein mir bis dahin unbekannter Name, Stammkomponist des mir bislang ebenfalls unbekannten Regisseurs Piero Livi) ist toll und lässt sich mit Jazz-Rock vielleicht notdürftig beschreiben (ein Synthesizer und ein E-Piano, begleitet von Bass und Schlagzeug, wechseln sich als Melodieiinstrument ab). Nachdem Griegs "In der Halle des Bergkönigs" zwei mal in einer originalen Orchesterfassung zum Einsatz kommt, wird der "Showdown" des Films von einer hart schlagzeuglastigen Jazz-Rock-Improvisation des Klassikers unterlegt.

Ein Film voller grotesker, surrealer und derb-erotischer Bilder
Unten: Rosanna öffnet den Vorhang für den geheimnisvollen Fremden

SPELL (DOLCE MATTATOIO) war neben L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH der kontroverseste Film des Festivals, der die Zuschauerschaft am meisten spaltete. Viele "der schlechteste Film dieses Jahr" standen einigen "der beste Film des Festivals" (zu letzteren ich auch gehörte) gegenüber. Letztere schienen eine große Schnittmenge mit den Anhängern von Questis ARCANA vom Terza 2017 zu haben. Es gibt atmosphärische Schnittmengen zwischen beiden Filmen, auch bei vielen Unterschieden, wobei SPELL (DOLCE MATTATOIO) deutlich grotesker und provokanter angelegt ist und zugleich auch (durch die semidokumentarischen Dorfimpressionen) geerdeter wirkt.

Wie Giulio Questi war auch Cavallone eine Art cinéaste maudit des italienischen Kinos, ein Grenzgänger, der vielleicht sogar noch weiter außerhalb des Mainstreams arbeitete. Cavallone begann als Dokumentarfilmer mit dem heute verschollenen Film LA SPORCA GUERRA ("Der dreckige Krieg") über den algerischen Unabhängigkeitskrieg, gedreht vor Ort. LE SALAMANDRE, ein Erotikfilm über eine Dreierbeziehung zwischen einer schwedischen Fotografin, einem schwarzen Model und einem Psychologen, blieb 1969 Cavallones größter kommerzieller Erfolg, trotzdem er hier bereits sein Publikum mit extremen Bildern konfrontierte (u. a. einmontierte Aufnahmen realer Erschießungen)  und einen stark politisierten, antikolonialistischen Subtext hatte. DAL NOSTRO INVIATO A COPENHAGEN handelte 1970 von zwei Vietnamkriegveteranen, von denen einer in das Porno-Business, der andere in die Fänge eines skrupellosen Arztes gelangt. In AFRIKA erzählte Cavallone 1973 von einer schwierigen homosexuellen Liebesgeschichte zweier exilierter Europäer in Äthiopien. MALDOROR, eine Adaption von Lautréamonts Prosadichtung "Les Chants de Maldoror" (ein maßgeblicher Einfluss auf die Surrealisten), stellte Cavallone 1975 fertig: für die wenigen, die ihn sahen, war dies Cavallones großes Meisterwerk. Der fertige Film fand allerdings keinen Verleih (die heftige Gewalt und die extrem antiklerikale Stoßrichtung des Films werden als Hauptgründe dafür genannt – in einer Szene soll wohl ein Priester bei einer Kommunion kleinen Jungen die Zunge herausgeschnitten und ihnen Coca-Cola statt Wein gegeben haben) und und gilt heute als verschollen (abgesehen von Standbildern und Drehbuchauszügen). Nach SPELL (DOLCE MATTATOIO) drehte Cavallone noch BLUE MOVIE um einen sadistischen Fotografen, der Fotomodels kidnappt, foltert und erniedrigt: Roberto Curti nannte diesen Film Cavallones kommerziellen Selbstmord, der Film, der ihn definitiv vom Außenseiter zum Paria machte. Danach inszenierte Cavallone noch einige Hardcore-Filme, deren groteske Elemente sie außerhalb des Porno-Mainstreams stellten, drehte Werbefilme und arbeitete als Assistent für Drehbuch-Revisionen. Kurz vor seinem frühen Tod 1997 wurde er von der italienischen Filmzeitschrift Nocturno, die sich die Erforschung des italienische Genrekinos auf die Fahne geschrieben hat, wieder entdeckt.

Zu den Autoren von Nocturno gehörte auch der Filmhistoriker Roberto Curti, der beim Terza 2018 Riccardo Fredas eigensinnigen ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA und Domenico Modugnos noch eigensinnigeren TUTTO È MUSICA einführte. Curti hat auch viel über Cavallone geschrieben, unter anderem in einem Buch über acht Einzelgänger des italienischen Kinos (zu denen er auch die Terza-Bekannten Giulio Questi und Brunello Rondi rechnete) und in einem Buch über extremes Kino. Hier ist einmal ein etwas längerer und hier ein etwas kürzerer Text Curtis über Cavallone.

Kamil Moll hat im Weird-Magazin über seine Eindrücke von SPELL (DOLCE MATTATOIO) beim Terza geschrieben, bei Frank Castenholz' Text in der gleichen Reihe gibt es auch eine kurze Einschätzung.




QUELLA VILLA ACCANTO AL CIMITERO, gewiss nicht Fulcis ruppigster Film, aber keineswegs ein besonders "weicher" Film, wirkte nach SPELL (DOLCE MATTATOIO) wie ein fast "sanfter" Ausklang des Festivals.


22.30 Uhr


QUELLA VILLA ACCANTO AL CIMITERO ("Das Haus an der Friedhofsmauer")

Regie: Lucio Fulci

Italien 1981

86 Minuten

Norman und Lucy Boyle (Paolo Malco & Catriona MacColl) ziehen mit ihrem Sohn Bob (Giovanni Frezza) in eine neuenglische Villa. Deren Vormieter beging Selbstmord, nachdem er über den ursprünglichen Besitzer der Villa, Dr. Freudstein, geforscht hatte. Mysteriöse Ereignisse und beunruhigende Geräusche aus dem Keller bringen die Familie Boyle zunehmend in Bedrängnis.


Eingesperrt mit dem Monster im Spukkeller – während sein Vater versucht, die Tür mit der Axt aufzubrechen, drückt das Monster Bobs Gesicht gegen ebenjene Tür (THE SHINING grüßt böse): einer der beeindruckenden "Mini-Crashzooms"

Der "konventionellste" Film in Lucio Fulcis sogenannter Höllenpforten-Trilogie hatte mich bei der ersten Sichtung Ende 2017 ganz gut gefallen, wenngleich nicht wirklich überschwänglich begeistert. Jetzt bildete er allerdings einen mehr als würdigen Abschluss des Terza 2019. Auf einer viele Meter breiten Leinwand entfesselte QUELLA VILLA ACCANTO AL CIMITERO auf 35mm und in seiner vollen Cinemascope-Pracht seine ganze Wucht und Kraft. Gleichwohl er in seinen letzten Jahren teilweise für das Fernsehen drehte: Fulci ist voll ein ganz ein Kino-Regisseur, seine Filme wurden für das Kino gemacht. Man siehe nur die kleinen "Mini-Crashzooms", die er in Terror-Momenten einsetzt, dieses ruckartige, knappe Einzoomen. Auf dem heimischen Bildschirm wirkt das etwas merkwürdig (für manche vielleicht sogar wie ein Patzer). Auf der großen Leinwand hat das die Wucht eines Schlags ins Gesicht.

Die gezeigte Kopie war leider leicht gekürzt (Dagmar Lassanders Todesqualen etwas reduzierend) und hatte einen leichten Farbstich. Statt eines unangenehmen Magentastichs tendierten die Farben eher in Richtung Rostbraun bzw. Sepia, was der Wucht und der herbstlich-kühl-nebeligen Atmosphäre des Films dann doch nicht im Weg stand (ebenso wenig wie der doch mechanische Verschleiß).