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Montag, 17. Dezember 2012

BOUDU: Flaches Wasser und deep focus

BOUDU - AUS DEN WASSERN GERETTET (BOUDU SAUVÉ DES EAUX)
Frankreich 1932
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Michel Simon (Boudu), Charles Granval (Édouard Lestingois), Marcelle Hainia (Emma Lestingois), Séverine Lerczinska (Anne Marie), Jean Gehret (Vigour), Max Dalban (Godin), Jean Dasté (Student), Jacques Becker (Dichter)


Renoirs vierter Tonfilm beginnt mit einem kurzen Prolog, in dem - sichtlich in Theaterkulissen - ein Pan oder Priapos einer Nymphe nachstellt. Damit wird ein Rahmen gesetzt, eine Meta-Ebene, die den gesamten Film "theatralisiert" - ein Motiv, das Renoir in den 30er Jahren gern verwandte (so beginnt auch schon LA CHIENNE (1931) mit einer Grand-Guignol-Vorstellung), und auf das er etwa in DIE GOLDENE KAROSSE (1952) mit seinem "Theater im Theater" zurückkam. Zugleich verweist der Prolog auf den Charakter des Films: Es ist ein Satyrspiel, ein erotisch aufgeladenes Bäumchen-wechle-dich, dessen Wendungen man nicht wirklich ernst nehmen sollte. Eine Satire auf bürgerliche Wert- und Moralvorstellungen ist BOUDU - AUS DEN WASSERN GERETTET auch, aber eine sehr milde, die ihre Protagonisten nicht denunziert, sondern liebevoll karikiert.

Monsieur Lestingois und Anne Marie
Nach dem Prolog folgt der direkte Umschnitt zum gutsituierten Pariser Buchhändler Édouard Lestingois, wie er mit seinem Hausmädchen Anne Marie, die zugleich seine Geliebte ist, herumschäkert und sich selbst dabei als "Priapos" und sie als seine "Chloé" bezeichnet, womit die Verbindung vom Rahmen zur Haupthandlung unmissverständlich etabliert ist. Lestingois, dessen Buchhandlung mit darüberliegender Wohnung direkt am Ufer der Seine liegt, ist verheiratet, aber seine Frau Emma ist am Eheleben nicht mehr interessiert, dafür achtet sie umso mehr aufs Geld. Lestingois dagegen ist im Grunde noch Idealist, der auch schon mal Bücher an einen armen Studenten verschenkt, der sie sich nicht leisten kann (gespielt von Jean Dasté, der seinen größten Auftritt 1934 in Jean Vigos L'ATALANTE hatte, hier in seinem ersten Film). Es ist auch von Anfang an klar, dass das Verhältnis von Lestingois und Anne Marie nicht nur sexueller Natur ist, sondern dass sie sich einfach mögen.

Jacques Becker mit einem Kurzauftritt
Szenenwechsel in einen großen Pariser Park, wohl der Bois de Boulogne. Einer seiner Bewohner ist der zottelige Clochard Boudu mit seinem ebenso zotteligen schwarzen Hund "Black". Als ihm dieser davonläuft und er ihn trotz Suche nicht wiederfindet, will er sich in der Seine ertränken. Doch just in dem Moment, als er von einer Brücke springt, erspäht ihn Lestingois von seiner Wohnung aus, und nun ist es an ihm, den Lebensmüden zu retten. Beherzt springt er ins Wasser, und unter den Blicken von dutzenden, wenn nicht hunderten Zuschauern zieht er den halbtoten Boudu aus dem Wasser. Mit Hilfe seines Nachbarn Vigour (der gerne am offenen Fenster Flöte spielt und damit für einige musikalische Überleitungen im Film sorgt) bringt ihn Lestingois in seine Buchhandlung, um die Schaulustigen abzuschütteln und die Wiederbelebung zu vollenden. Vigour ist Mitglied in einem "Lebensrettungsclub", obschon er noch nie an einer Lebensrettung teilgenommen hat, und geht nun mit entsprechender Begeisterung zu Werk, so dass Boudu gar nichts anderes übrigbleibt, als wieder zu sich zu kommen.

Spektakuläre Rettung vor großem Publikum
Jetzt wird beschlossen, dass Boudu erst mal als Gast im Hause Lestingois bleiben soll, auch wenn Madame Lestingois und Anne Marie den neuen Hausgenossen sehr skeptisch beäugen. Und ihre Vorbehalte sind nicht ohne Grund, wie sich bald erweist. Denn Boudu ist ein respektloser, um nicht zu sagen anarchischer Zeitgenosse, der sich als undankbar erweist und von vielen Segnungen der Zivilisation nichts hält. Insbesondere beginnt er schnell, Anne Marie zu begrapschen, er setzt die Küche unter Wasser und richtet Verwüstungen an, die ein Loriot nicht besser hingekriegt hätte, er wischt sich seine mit Schuhcreme beschmierten Hände an Madames Nachtwäsche ab, er spuckt in der Wohnung auf den Boden und so weiter. Lestingois' nächtliche Schäferstündchen mit Anne Marie müssen vorerst ausfallen, weil der zwischen den jeweiligen Schlafzimmern einquartierte (und auf dem Boden schlafende) Boudu den Weg blockiert. Als Lestingois entdeckt, dass Boudu sogar in ein Buch gespuckt hat (Balzacs leicht zynisches Ehehandbuch Physiologie du mariage - ein trockener Seitenhieb Renoirs auf die Ehe der Lestingois), ist auch bei ihm das Fass übergelaufen: Boudus sofortige Ausweisung ist beschlossen.

Madame Lestongois streckt die Zunge raus, und Monsieur Vigour
geht mit Einsatz an Boudus Wiederbelebung
Doch es kommt anders. Um seine Chancen bei Anne Marie zu erhöhen, vollzieht Boudu eine partielle Annäherung an die Zivilisation: Er geht zum Friseur. Und als ihm Madame seinen Rauswurf in ihrem Schlafzimmer mitteilen will, verführt er sie in Windeseile mit sanfter Gewalt. Während auf der Straße Marschmusik gespielt wird, bläst Boudu Madame den Marsch - und danach ist sie wie verwandelt. Wie ihr Gesichtsausdruck und ihre Körpersprache deutlich machen, hat die eben noch ziemlich frigide Madame ihre Lebenslust und den Spaß am Sex wiedergefunden. Gleichzeitig trifft die Nachricht ein, dass Lestingois für seine Rettungstat eine Medaille erhält, wodurch auch er milde gestimmt ist. So darf Boudu also vorerst bleiben. Während nun Madame kaum noch von Boudu lassen kann, hat nun auch Lestingois wieder Gelegenheit, sich mit Anne Marie zu beschäftigen. So geht das einige Tage dahin, doch dann treffen die beiden Paare unverhofft im selben Zimmer in eindeutiger Lage aufeinander, so dass der doppelte Ehebruch offenbar wird. Doch der (nach bürgerlichen Maßstäben) doppelte Skandal wird erstaunlich souverän gehandhabt: In einer geradezu rasanten Umgruppierung finden die wiedererblühte Madame und ihr Gatte wieder zusammen, während Boudu und Anne Marie nicht nur ein Paar werden, sondern - ermöglicht durch einen Lotteriegewinn Boudus über 100.000 Francs - sogar heiraten. So ist denn auch die nächste Szene nach dem Rearrangement der Paare gleich der Hochzeitsausflug: Eine sonntägliche Kahnfahrt von Boudu und Anne Marie, dem Ehepaar Lestingois und Monsieur Vigour auf der Marne.

Boudu richtet Verwüstungen an
Doch das allzu platte Happy End wird von Renoir abgesagt. Boudu schafft es, sich selbst und die anderen Insassen des Ruderboots ins Wasser der äußerst gemächlich dahinfließenden Marne zu befördern, indem er sich nach einer Seerose ausstreckt. Ob nun geplant oder einem spontanen Impuls folgend: Boudu nutzt das Durcheinander, um sich schwimmend von der Gruppe abzusetzen, zu den hier ziemlich ironisch anmutenden Klängen des Walzers "An der schönen blauen Donau". An einer unbeobachteten Stelle des Ufers geht er an Land und vollzieht seine Rückverwandlung in einen Clochard - er tauscht seine feinen Hochzeitskleider gegen das zerschlissene Gewand einer Vogelscheuche und lässt als krönenden Abschluss seine Melone in die Marne segeln. Nun ist er wieder ganz der Alte und hat seine Freiheit wiedergewonnen. Zwar fehlt ihm noch sein Hund, dafür schließt er jetzt Freundschaft mit einer Ziege. Unterdessen sitzt Lestingois auch wieder an Land, flankiert von seiner Frau und Anne Marie, und sie fragen sich, was wohl aus Boudu geworden ist. Beide Frauen sind eng an ihn gekauert. Der Beginn einer Ménage-à-trois? Wer weiß ...

Vor und nach dem Friseur
Man hat Boudus Rolle zu Recht mit einem Katalysator verglichen: Er geht am Ende unverändert aus der Reaktion hervor, aber er hat in seinem Substrat, dem Haushalt Lestingois, erhebliche Veränderungen bewirkt: Etliche Verklemmungen und Scheinheiligkeiten wurden beseitigt. Dass Boudu am Ende wieder auf der Straße landet, ist im französischen Film der 30er Jahre nichts Ungewöhnliches. Schon in LA CHIENNE endete Michel Simon als Landstreicher, dort allerdings ins Tragische gewendet. Auch in René Clairs Film mit dem programmatischen Titel À NOUS LA LIBERTÉ (ES LEBE DIE FREIHEIT) von 1931 suchen die beiden Helden am Schluss ihr Heil auf der Straße, und in Renoirs LES BAS-FONDS (NACHTASYL) von 1936 wird der Held (Jean Gabin) am Ende zwar kein Landstreicher im eigentlichen Sinn, aber er wandert mit seiner Geliebten auf Schusters Rappen in eine ungewisse, aber wahrscheinlich bessere Zukunft.

Voller Körpereinsatz bei Michel Simon
Als Komödie ist BOUDU kein Schenkelklopfer, aber es gibt doch einige komische Szenen, vom visuellen Kalauer (Lestingois sagt bei Boudus Wiederbelebung zu seiner Frau, dass die Zunge raus müsse, und sie streckt daraufhin ihre eigene Zunge raus) bis zu einigen absurden Umkehrungen. So gibt am Anfang im Park eine Frau Boudu 5 Francs, "damit er sich Brot kaufen kann", wie sie ihrer kleinen Tochter erklärt. Als kurz darauf ein feiner Pinkel in einem protzigen offenen Wagen im Park hält, öffnet ihm Boudu wie ein Chauffeur die Tür. Der Schnösel sucht in seinen Taschen nach Trinkgeld, aber als er nicht schnell genug etwas findet, gibt Boudu ihm die 5 Francs - damit er sich Brot kaufen kann, wie jetzt Boudu zur Verblüffung des Mannes und des Publikums erklärt. Als Boudu am Essenstisch Wein verschüttet, streut Madame Lestingois Salz darüber, um den Wein aus dem Tischtuch zu ziehen, wie sie zu Boudu sagt, der sich das nicht erklären konnte. Als dann Lestingois versehentlich den Salzstreuer umkippt, gießt Boudu einen Schwall Wein darüber - "um das Salz herauszuziehen", wie nun er erläutert. Renoirs Regieassistent Jacques Becker hat einen sehr schrägen ungenannten Kurzauftritt als ein Dichter im Park, der wild gestikulierend theatralischen Unsinn verzapft, als ihn Boudu nach dem Hund fragt. Als Satire ist BOUDU, wie schon erwähnt, recht mild. Der einzige negativ besetzte Charakter ist zunächst Madame Lestingois, aber nach ihrer Läuterung durch Boudu ist auch das Geschichte. Gesellschaftskritik ist nicht das vordringliche Anliegen des Films, aber den einen oder anderen sozialen Kommentar platziert Renoir doch. So fragt etwa Boudu im Park einen Polizisten, ob er seinen Hund gesehen hat, doch der bedeutet ihm nur, er solle sich verziehen, damit er ihn nicht einbuchtet. Als unmittelbar darauf auch einer feinen Dame ihr Hündchen abhanden kommt, holt derselbe Polizist seine Kollegen herbei, damit sie bei der Suche behilflich sein können.

Boudu gibt ein Trinkgeld; Madame und ein armer Student;
Madame nach ihrer Verwandlung durch Boudu
Deep focus cinematography heißt auf Englisch das Drehen mit großer Tiefenschärfe (oder Schärfentiefe, wie Puristen sagen), das es ermöglicht, die handelnden Personen sich in der "Tiefe des Raumes" bewegen zu lassen, und in Bildvorder- und -hintergrund sogar voneinander unabhängige Teile der Handlung stattfinden zu lassen. Als Paradebeispiel für diesen Stil wird oft, und nicht zu Unrecht, CITIZEN KANE genannt, aber Orson Welles und sein Kameramann Gregg Toland waren keineswegs die ersten, die das virtuos beherrschten. Auch Renoirs LA RÈGLE DU JEU (DIE SPIELREGEL) von 1939 ist ein perfektes Beispiel. Und natürlich ist Renoir die Technik nicht 1939 in den Schoß gefallen, sondern er hat schon vorher damit experimentiert, z.B. in LA CHIENNE und auch in BOUDU. Zwar nicht durchgehend, aber immer wieder mal setzt Renoir Tiefenschärfe ein, um beispielsweise in der Wohnung von Lestingois Räume im Vorder- wie im Hintergrund ebenso wie den verbindenden Flur scharf abzubilden und auch überall Handlung zu zeigen. Und in der Szene, als Lestingois aus seinem Arbeitszimmer heraus Boudu mit einem Fernrohr beobachtet, bevor dieser in die Seine springt, sind Lestingois und die Einrichtung des Zimmers im Vordergrund, der Quai im Mittelgrund und fahrende Autos und wuselnde Fußgänger im Hintergrund jenseits der Seine scharf zu sehen.

Ein Hochzeitsausflug und sein Ende
Aber die große Attraktion von BOUDU ist weder die Handlung noch die Kameraarbeit, sondern das ist Michel Simon. Mit Renoir und Simon hatte sich ein Traumpaar gefunden, und BOUDU ist ihr vierter und letzter gemeinsamer Film, nach TIRE AU FLANC (1928), ON PURGE BÉBÉ (Renoirs erster Tonfilm, 1931) und LA CHIENNE. (1940 arbeitete Renoir in Italien an TOSCA, in dem Simon ebenfalls mitspielt, aber Renoir brach die Arbeit daran ab und emigrierte in die USA. Den Film drehte dann Renoirs Freund Carl Koch, der Ehemann von Lotte Reiniger.) 1966 drehte Jacques Rivette für die Fernsehserie CINÉASTES DE NOTRE TEMPS ein dreiteiliges Portrait von Renoir, und der 90-minütige mittlere Teil widmete sich nur der Zusammenarbeit von Renoir und Michel, die auch beide darin auftraten. Michel Simon schätzte Renoir sehr dafür, dass er einer der wenigen Regisseure war, die ihn bei seinem Drang zum Improvisieren nicht bremsten, sondern bestärkten. Renoir wiederum schrieb einmal: "BOUDU, das ist Michel Simon. Das heißt, einer der größten lebenden Schauspieler und einer der größten Schauspieler der Geschichte des Theaters und des Kinos. BOUDU ist eine Hommage an Michel Simon." Die Rolle des Boudu ist ihm tatsächlich wie auf den Leib geschrieben. Das Drehbuch entstand nach einem 1925 erschienenen Theaterstück, und schon damals spielte Simon die Rolle auf der Bühne und erhielt dafür Lobeshymnen. Er war es auch, der Renoir die Verfilmung des Stoffes vorschlug, und er war dann der Hauptproduzent des Films (Jean Gehret, der Darsteller von Vigour, war ebenfalls an der Finanzierung beteiligt). Den Boudu spielt er mit entfesselter, anarchischer Freude und mit vollem Körpereinsatz. Er fläzt sich am Boden und auf dem Mittagstisch, er turnt und kaspert herum, er krächzt und grölt und grinst. Von seinen Rollen, die ich sonst noch kenne, ist nur sein Père Jules in L'ATALANTE damit vergleichbar. Wenn man nur diese beiden Filme von ihm kennen würde, könnte man wohl glauben, dass er tatsächlich so ist, aber wenn man zum Vergleich andere Rollen heranzieht, etwa den skurrilen, aber gesitteten Molyneux in DRÔLE DE DRAME oder den sinistren Zabel in Carnés LE QUAI DES BRUMES, dann erkennt man seine Bandbreite.

Rückverwandlung mit Vogelscheuche und Ziege
BOUDU SAUVÉ DES EAUX ist in den USA und in England (als BOUDU SAVED FROM DROWNING) sowie in Frankreich auf DVD erschienen. - 1986 drehte Paul Mazursky mit DOWN AND OUT IN BEVERLY HILLS (ZOFF IN BEVERLY HILLS) ein ganz brauchbares Hollywood-Remake, mit Nick Nolte als kalifornischem Boudu und Richard Dreyfuss und Bette Midler als seinen Gastgebern. Daraus entstand 1987 eine erfolglose 13-teilige Fernsehserie (mit anderen Hauptdarstellern). 2005 schließlich inszenierte Gérard Jugnot ein weiteres Remake, mit Gérard Depardieu in der Titelrolle und mit sich selbst als Lestingois (der hier Lespinglet heißt).

Wie wird es weitergehen?

Mittwoch, 28. November 2012

Kommissar Maigret gibt seinen Einstand

Jean Renoir, einer meiner Lieblingsregisseure, drehte seine ersten Filme Mitte der 20er Jahre, er war also noch ein Kind der Stummfilmzeit. Doch zu richtig großer Form lief er erst mit seinen Tonfilmen der 30er Jahre auf. Durch Renoirs Emigration nach der deutschen Besetzung Frankreichs 1940 und die völlig anderen Produktionsbedingungen, die er in Hollywood vorfand, bilden die 15 Filme von 1931 bis 1939 einen in sich geschlossenen Teil von Renoirs Werk. Von diesen 15 Filmen kenne ich bislang neun, und einen Teil davon werde ich in einer losen Reihe chronologisch vorstellen. Dabei konzentriere ich mich auf Filme, die hier zu Lande etwas weniger bekannt sind als die Großtaten DIE GROSSE ILLUSION, BESTIE MENSCH und DIE SPIELREGEL. Vielleicht bespreche ich danach noch zwei oder drei von Renoirs späteren Filmen, aber das überlege ich mir noch. Es beginnt mit einem für Renoir ungewöhnlichen Stoff, nämlich einem Krimi.



LA NUIT DU CARREFOUR
Frankreich 1932
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Pierre Renoir (Kommissar Maigret), Winna Winifried (als Winna Winfried, Else Andersen), Georges Koudria (Carl Andersen), Dignimont (Oscar), Jean Gehret (Michonnet), Georges Térof (Inspektor Lucas), G.A. Martin (Inspektor Grandjean)

"... der Geruch des Regens und der in Nebel gehüllten Felder, jedes Detail, in jedem Augenblick jeder Einstellung macht aus LA NUIT DU CARREFOUR den einzigen großen französischen Kriminalfilm, was sage ich, den einzigen großen französischen Abenteuerfilm." (Jean-Luc Godard, zitiert nach Meinolf Zurhorst: Lexikon des Kriminalfilms)

Kommissar Maigret
Von allen Roman- und Filmkommissaren ist Jules Maigret nicht nur einer der bekanntesten, sondern auch einer derjenigen, die von den meisten verschiedenen Schauspielern dargestellt wurden. Wer bei der Frage nach dem ersten Film-Maigret etwa an Jean Gabin denkt, liegt weit daneben, denn schon rund 26 Jahre vor Gabin blickte ein Maigret von der Leinwand, und es war Pierre Renoir, der ältere Bruder des Regisseurs. Georges Simenon, ein bereits durch Groschenromane einigermaßen bekannter Schriftsteller, begann 1931, die ersten Maigret-Romane in Buchform zu publizieren, und wurde damit zum Shootingstar der französischsprachigen Literaturszene. "La Nuit du carrefour", im April 1931 verfasst, war bereits der sechste Maigret-Roman des Schnellschreibers Simenon. Renoir verfolgte Simenon, der sich damals häufig auf Reisen befand, im Herbst 1931 regelrecht, um an die Filmrechte zu kommen. Die Mühe hat sich gelohnt - er bekam nicht nur die Rechte, und Simenon schrieb gemeinsam mit Renoir das Drehbuch, das Zusammentreffen wurde auch zum Beginn einer langjährigen Freundschaft. Aber Renoir gewann das Rennen um den ersten Maigret-Film nur knapp: Rund zehn Wochen nach LA NUIT DU CARREFOUR erschien mit LE CHIEN JAUNE bereits der nächste, Anfang 1933 der dritte. Dann dauerte es aber bis 1943 bis zum vierten (mit dem vierten verschiedenen Maigret-Darsteller). Danach, aber noch vor Jean Gabin, spielten beispielsweise auch noch Charles Laughton und Michel Simon den bedächtigen Kommissar mit der Pfeife.

Carl und Else Andersen
Stilistisch ist LA NUIT DU CARREFOUR ein Vorläufer des Film noir, gelegentlich wurde er sogar als der erste Film noir überhaupt bezeichnet. Der Titel, der übersetzt "Die Nacht an der Kreuzung" bedeutet, beschreibt den Schauplatz treffend. An einer Straßenkreuzung in einer ziemlich einsamen und trostlosen Gegend, ungefähr 30 Kilometer südlich von Paris, stehen drei Anwesen: Eine Autowerkstatt und Tankstelle mit der Wohnung des Besitzers Monsieur Oscar samt Gattin, flankiert von zwei großbürgerlichen Wohnhäusern. In dem einen wohnt der dickliche Versicherungsagent Michonnet mit seiner ebenso dicklichen Frau, im anderen der verschlossene Däne Carl Andersen mit seiner wesentlich jüngeren Schwester Else. Andersen, früher ein Offizier und Flieger aus nobler Familie, lebt jetzt davon, dass er einmal im Monat Stoffmuster an eine Firma in Paris verkauft. Else, die Carl gegenüber einen ziemlich dominierenden Ton an den Tag legt, zeigt eine Mischung aus (gespielter?) Naivität und Laszivität (Godard schreibt in dem Text, aus dem das obige Zitat stammt, von ihrem "altmodischen Sex wie bei einer rauschgift- oder philosophiesüchtigen Russin"). Eines Tages ist in Michonnets Garage sein Wagen verschwunden, dafür steht überraschenderweise der von Andersen darin. Als man daraufhin gemeinsam in Andersens Garage nachsieht, findet man tatsächlich Michonnets Wagen - mit einer Leiche darin.

Verqualmtes Büro
Der Tote mit Kopfschuss ist, wie sich erweist, ein holländischer Diamantenhändler namens Goldberg. Der einzige Verdächtige ist zunächst Andersen, und Maigret, der die Ermittlungen übernimmt, lässt ihn ins Hauptquartier der Pariser Kriminalpolizei am Quai des Orfèvres bringen. Doch bei einem stundenlangen zermürbenden Verhör beteuert er nur seine Unschuld und sagt sonst wenig. So lässt ihn Maigret wieder laufen und begibt sich an den Tatort, um sich dort ein Bild zu machen und alle Beteiligten nochmals zu verhören. Als der Abend hereinbricht, beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen. Goldbergs Witwe, die zur Identifizierung ihres Gatten anreist, wird vor Maigrets Augen mit einem Gewehr aus dem Hinterhalt erschossen. Andersen, der seine monatliche Fahrt nach Paris unternimmt, kehrt nicht zurück - hat er sich abgesetzt, oder ist ihm etwas zugestoßen? Else, die allein im großen Haus zurückgeblieben ist, wirft sich jetzt Maigret an den Hals, doch der alte Fuchs hält sie auf Distanz. Mitten in der Nacht - alle Beteiligten sind aber noch wach und beschäftigt - fährt eine offene Limousine vor, und die Insassen beginnen, im Stil von Chicago-Gangstern wild in die Werkstatt hineinzuballern (wie gut, dass Maigret 30 Mann Verstärkung aus Paris kommen ließ). Und das ist noch lange nicht alles. Irgendjemand versucht anscheinend, Else mit Veronal in einer Bierflasche zu vergiften - oder galt der Anschlag etwa Maigret? Carl Andersen wird in der Nähe seines Hauses angeschossen aufgefunden, womit die Frage nach seinem Verbleib geklärt wäre; Michonnet wird beim Versuch, in Andersens Haus einzudringen, festgenommen; Maigret findet heraus, dass Else gar nicht Carls Schwester ist, und mit ihrer noblen Herkunft ist es auch nicht weit her; und als Maigrets Leute die Autowerkstatt auseinandernehmen, finden sie nicht nur Juwelen, die Goldberg anderswo gestohlen und mit sich geführt hat, sondern auch jede Menge Kokain. Am Ende wird eine ziemlich umfangreiche Bande verhaftet, der Mörder Goldbergs überführt, und der Fall ist gelöst - so halbwegs jedenfalls.

Trostlose Gegend bei Regen und Nebel
Denn die Handlung des Film glänzt nicht gerade durch Klarheit, und am Ende bleiben viele Fragen offen. Man könnte sich ja auf den Standpunkt stellen, dass ein verwirrender Plot zum Konzept eines Film noir gehört (man denke etwa an Howard Hawks' THE BIG SLEEP), aber natürlich macht man es sich damit etwas zu einfach. Jean Mitry hat eine Erklärung für die Konfusion vorgebracht (der spätere Filmtheoretiker und Regisseur von PACIFIC 231 war als Schnittassistent und Nebendarsteller am Film beteiligt): Er habe während oder kurz nach dem Dreh versehentlich zwei bereits belichtete Filmrollen von LA NUIT DU CARREFOUR für einen eigenen Kurzfilm verwendet, den er gerade drehte, so dass sie durch Doppelbelichtung unbrauchbar wurden und für den Schnitt nicht mehr zur Verfügung standen. Diese Geschichte ist aber angezweifelt worden. Der Produzent Pierre Braunberger, der in den 20er und 30er Jahren etliche Filme Renoirs produzierte (nicht jedoch LA NUIT DU CARREFOUR), soll bei einer Probevorführung gegenüber Renoir geäußert haben, dass bei der Verfilmung ungefähr zwölf Seiten des Scripts (das Braunberger kannte) schlicht vergessen worden seien. Pascal Mérigeau, der gerade eine nagelneue Renoir-Biographie von 1100 Seiten vorgelegt hat, hält Mitrys Version für falsch, ist aber auch nicht sicher, ob die Braunberger-Version stimmt - so bleibt die Frage vorerst (und vielleicht für immer) offen. (Für hilfreiche Informationen zu diesem Punkt danke ich Prof. Chris Faulkner von der Carleton University, Ottawa.)

Else umgarnt Maigret
Wie dem auch sein mag - Logik und eine stringente Handlungsführung gehören nicht zu den Stärken von LA NUIT DU CARREFOUR. Dafür punktet der Film im Atmosphärischen. Wie schon geschrieben, besitzt er Ingredienzien eines Film noir. Starke Schwarzweißkontraste; verqualmte Polizeibüros im Halbdunkel am Quai des Orfèvres; der ebenso verqualmte Salon im Haus der Andersens; die meisten Szenen im Freien bieten Regen, Nebel, Dämmerung oder eine Kombination daraus, und ein beträchtlicher Teil des Films spielt sowieso in der Nacht. Und es gibt eine echte femme fatale. Die Dänin Winna Winifried ist fast so mysteriös wie die von ihr gespielte Else Andersen. Das beginnt schon mit ihrem Geburtsdatum - in der IMDb findet man nur "ca. 1914". Ich nehme an, dass Renoir selbst die Quelle dafür ist, denn er hat irgendwann mal geäußert, dass sie beim Dreh erst 17 war. Die Unsicherheit setzt sich bei ihrem Künstlernamen fort. In den Credits erscheint sie als "Winna Winfried", in den meisten Quellen jedoch als "Winna Winifried", in manchen aber auch als "Winna Winifred". Immerhin scheint festzustehen, dass sie als Amalie Nielsen in Kopenhagen geboren wurde. (Godard hielt übrigens ihren dänischen für einen englischen Akzent - da kannte er wohl Anna Karina noch nicht.) LA NUIT DU CARREFOUR war ihr erster Film, dem laut IMDb sechs weitere folgten - zuerst drei in England, dann wieder drei in Frankreich. Sie scheinen allesamt ziemlich obskur und vergessen zu sein. Nach 1940 verliert sich dann offenbar Winifrieds Spur.

Ein Zeitungsstand als "Uhr"
Ich bin zwar nicht so enthusiastisch wie Godard, aber sehenswert ist LA NUIT DU CARREFOUR allemal. Renoir zeigt sein Gespür für Stimmungen und glänzt mit kleinen Details. Beispielsweise verdeutlicht er die stundenlange Dauer von Andersens Verhör durch mehrmalige Zwischenschnitte zum unteren Teil eines Zeitungsstands. Man sieht nur die Beine der Kunden, aber man hört ihre Bestellungen: Beim ersten Mal "Le Matin" (eine Morgenzeitung), beim nächsten Mal "Paris-Midi" (ein Mittagsblatt), schließlich - man ahnt es schon - mit "Paris-Soir" eine Abendzeitung. Am Schluss liegen die Zeitungen gelesen und weggeworfen im Rinnstein. Gekonnt ist auch Renoirs Umgang mit Direktton (in der Frühzeit des Tonfilms keine Selbstverständlichkeit) in der Autowerkstatt und auf der Straße. Gelegentlich gewinnt die Geräuschkulisse die Dichte von Musique concrète. Und nicht zuletzt ist Pierre Renoir mit seinem "faulen Falkenauge" (Godard schon wieder) ein ganz ausgezeichneter Maigret. Simenon soll ihn sogar mal als den überzeugendsten Maigret bezeichnet haben, allerdings ist andernorts auch zu lesen, dass er diese Ehre Gabin und Rupert Davies zuerkannte. - LA NUIT DU CARREFOUR ist unter seinem Originaltitel in den USA auf DVD erschienen.