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Freitag, 22. November 2019

Volljährig, schlaflos & lustvoll in Nürnberg (Teil 1)

Euphorien vom 18. außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos


Anfang des Jahres, vom 2. bis 6. Januar 2019, fand in Nürnberg wieder der Hofbauer-Kongress statt: ein fünftägiger Filmrausch, bei dem die Zuschauer das verfemte, verfluchte, verschüttete Kino der Lust wiederentdecken und zelebrieren konnten und das größtenteils präsentiert im originalen analogen 35mm-Format (manchmal auch 16mm oder 8mm).
Diese 18. Ausgabe – unter dem Motto "Endlich 18!" – war meine zweite Ausgabe (zum 17. Hofbauer-Kongress schrieb ich hier und hier). Leider erst meine zweite: vorherige Hofbauer-Kongresse verpasst zu haben, dürfte zu den Dingen gehören, die ich am meisten im Leben bereue. Aber umso größer die Freude, beim "Volljährigkeits-Kongress" mit dabei gewesen zu sein.





Mittwoch, 2. Januar

17.00 Uhr

THERESE AND ISABELLE ("Therese und Isabell")
Regie: Radley Metzger
Frankreich/USA/Niederlande/BRD 1968
35mm, DF
Therese (Essy Persson) besucht als erwachsene Frau das Internat, auf das sie einst als Teenagerin ging – und wo sie eine leidenschaftliche, aber heimliche Liebe mit ihrer Mitschülerin Isabelle (Anna Gaël) erlebte.
Isabelle und Therese
THERESE AND ISABELLE beginnt wie ein Puzzlespiel à la Resnais, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit, Wahrnehmung und Erinnerung einander die Klinke in die Hand geben. Therese, gespielt von der wunderbaren Essy Persson (die grausamste aller Puppen in Rolf Olsens DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN, der beim Kongress 2018 lief), läuft durch das wahrscheinlich aufgrund der Schulferien praktisch leere Internat, hört die Stimmen der Vergangenheit, durchschreitet den Park, die Hallen, die Räume, die Toiletten, in denen sich ihre Erinnerungen vor ihrem Auge manifestieren. "Isabelle, mon amour" – ohne Atombombe und deutsche Besatzung, dafür aber mit einer umso tabuisierteren Teenagerliebschaft und Bildern in atemberaubenden Scope. Dieses Scope, das oft kleine "Gesichter-Duells" aufbaut: ein Gesicht in einem Bilddrittel, die restlichen zwei Drittel von Hinterkopf und Rücken der anderen Person ausgefüllt.
Der Film handelt von lesbischer Liebe und tut das auf eine angenehm nüchterne Weise: in den Annäherungen und Intimitäten zwischen den beiden Protagonistinnen gibt es keinerlei Kinkiness. Die Sexszenen zwischen Therese und Isabelle sind stets respektvoll distanziert, man könnte auch sagen unterkühlt gefilmt (einmal in Isabelles Zimmer – größtenteils als Spiegelung in einer Zinnvase gefilmt; einmal in einer Kapelle hinter einer Sitzreihe – in einer sehr langen, elegischen, sich entfernenden Kamerafahrt gefilmt; einmal im Internatpark – hier soweit ich mich erinnere relativ statisch). Sie werden immer von einem ausführlichen Offkommentar Thereses begleitet, meistens Gedichterezitationen – das war nach meinem Geschmack manchmal zu viel des verbalen Guten.
(Der Sex zwischen Therese und einem jungen Mann, der sie vorher praktisch gestalkt hat, ist hingegen extrem unangenehm, zieht sich äußerst unschön in die Länge, wirkt nicht direkt wie eine offene Vergewaltigung, ist aber so die letzte oder vorletzte Stufe davor. Therese lässt es über sich ergehen, aber es ist sichtlich unangenehm für sie. Er verschwindet hingegen nach der Triebabfuhr für immer aus dem Film.)
Der erotisch-sinnliche Höhepunkt des Films war aber die Aufnahme eines Fingers, der sanft über einen Arm streichelt – ein Moment, wo die Zeit und das Leben kurz stehen blieben. Dabei ist THERESE AND ISABELLE gewissermaßen ein Film über die Unaufhaltbarkeit der Zeit und des Lebens: die Liebe der beiden Titelfiguren steht immer unter dem Damoklesschwert des voranschreitenden Semesters (dessen Ende die beiden für immer trennen wird) und von dem Druck, den das "Leben" auf die beiden stetig ausübt: Thereses Mutter und Stiefvater (ein unangenehmer Typ, der heuchlerische Respektabilität ausstrahlt und dem man ohne weiteres Übergriffigkeiten gegenüber seiner Stieftochter zutrauen würde), die sie aus Konvention heraus nach ihren (männlichen) Verehrern ausfragen; reale männliche Verehrer, die sich – wie oben erwähnt – als äußerst hartnäckig herausstellen; das drakonische Regiment des Internats, das sinnliche Annäherungen unterbinden möchte (und von homosexuellen Begierden wohl nicht mal zu träumen wagt). Unter diesem Druck wird die Liebe immer mehr zermürbt. Ein Tagesausflug der beiden nach Paris endet in totaler Trostlosigkeit: sie gehen in ein Stundenhotel, doch das schmierige Ambiente erstickt die Lust. Ab diesem Moment geht irgendetwas für immer kaputt, leise, latent, ohne großen Knall. Es ist auch nur konsequent, dass THERESE AND ISABELLE nicht so sehr "endet" als vielmehr relativ abrupt "abbricht", als das Semester endet und die Sommerferien beginnen. Einfach aus...

Ein schöner, bittersüßer, melancholischer Einstieg in den Kongress. Vor dem unerbittlich harten nächsten Film war das Abendessen programmatisch gut gesetzt, denn eine Stärkung war vonnöten vor...


21:15 Uhr

DIE TOTENSCHMECKER aka DER IRRE VOM ZOMBIEHOF aka DAS MÄDCHEN VOM HOF ("Der Irre vom Zombiehof")
Regie: Ernst Ritter von Theumer
BRD 1979
35mm, OV
Klassische Heimatfilmidylle in den Alpen – oder fast. Ein Patriarch alter Schule betreibt einen Bauernhof. Zwei seiner Söhne, Felix (William Berger) und Kurt, kümmern sich um die harte Arbeit, der dritte, Franz, ist geistig behindert. Es rumort schon zwischen den beiden Erstgeborenen, die um das künftige Erbe streiten. In dieser Situation siedelt sich eine Romafamilie auf einem peripheren Stück Land der Großbauern an. Anna, die Enkelin, Tochter von Felix, verliebt sich in Joschi, dem jüngsten Mitglied der Familie. Doch währenddessen tötet der geistig zurückgebliebene Franz aus Versehen eine Romnja, die beim Hof um Lebensmittel gebeten hat. Ihre Begleiterin wird als Zeugin sogleich von Felix ermordet. Nach diesen Affekthandlungen beginnen Felix und Kurt, systematisch sämtliche Angehörige der Romafamilie zu massakrieren...
DIE TOTENSCHMECKER hat dem deutschen Kinopublikum anno 1979 wenig gemundet. Da gerade George Romeros DAWN OF THE DEAD gut lief, wurde er dann unter dem neuen Verleihtitel DER IRRE VOM ZOMBIEHOF noch mal in die Kinos gebracht, um die Zuschauer mit dem Reizwort "Zombie" zu ködern (die gesichtete, übrigens wunderschöne, fast ungespielte Kopie trug auch diesen Titel). Lief auch nicht so gut. Der dritte Versuch, das als Neo-Heimatfilm mit dem Titel DAS MÄDCHEN VOM HOF zu verkaufen, war wohl auch nicht von Erfolg gekrönt. Irgendwann lief der Film (unter welchem Titel auch immer) im Fernsehen. Vierzig Jahre nach seinem Kinostart begeisterte und verstörte der Film die im KommKino versammelten Kongressbesucher. Ich denke, dass nicht nur mir immer wieder eiskalte Schauer des Grauens und des Schreckens über den Rücken liefen.
Der Patriarch und die zwei Söhne vereinigt beim Morden
In der Hülle eines Heimatfilms entpuppt sich DIE TOTENSCHMECKER als abgründiger Quasi-Backwood-Horrorfilm und als unverstellter, chirurgisch scharfer Blick in das kackbraune Herz des deutschen (Alltags)faschismus. Zur Entstehungszeit des Films lagen der Zweite Weltkrieg und der Holocaust über 30 Jahre in der Vergangenheit – oder besser geschrieben: in der "Vergangenheit". Wir sehen Protagonisten, deren Hass in kurzer Zeit von verbalen Entgleisungen über eliminatorische Phantasien in den Massenmord führt. Der Blick in die "Vergangenheit" ist auch ein eher pessimistischer Blick in die Gegenwart und Zukunft. Man sieht Deutsche, die ethnische "Andere" systematisch ermorden, anschließend deren Leichen beseitigen – und am Ende sieht das alles so aus, "als wären sie nie hier gewesen", wie es ein Polizeibeamter dann auch im Film tatsächlich ausspricht. Es gibt kein Happy-End: am Ende werden die schrecklichen Morde unentdeckt (und damit auch ungesühnt) bleiben. Felix und Kurt richten sich selbst gegenseitig in einem Streit über das Erbe.
DIE TOTENSCHMECKER als "historisches Dokument" zu bezeichnen, wäre zu schön, ist aber leider unmöglich. Das kommt nicht davon, dass die gezeigte Kopie fast ungespielt war und geradezu kristallin wirkte, sondern weil das Stammtischgerede, das hier die Figuren vom Stapel lassen, heutzutage genauso zu hören ist (und leider immer geläufiger und alltäglicher wird). Wer "Zigeuner" durch "Flüchtlinge" ersetzt, dem werden die Parolen, mit denen Felix und Kurt ihre Verbrechen rechtfertigen, gar nicht mehr so fremd erscheinen. Rassismus ist oft auch eine Projektion der eigenen Mängel auf das "Andere": gewalttätig, anarchisch, durstig nach Blutrache – so bezeichnen die Brüder Felix und Kurt die "Zigeuner" (nachdem Felix bereits einen Menschen ermordet hat). Felix und Kurt vollziehen den Schritt von der Stammtischparole zur Gewalttat und auch, wenn sie im weiteren Verlauf des Films manchmal in ihrer schieren Brutalität einem Slasherkiller à la Jason in nichts nachstehen: sie sind und bleiben doch "ganz normale Männer" in einem völlig alltäglichen Setting, das in anderen Filmen als Kulisse für entspannte Familienkomödien dient.
À propos Alltag: als Anna den Joschi auf der Straße begegnet, beginnt sie aus heiterem Himmel ein antiziganistisches Spottlied zu singen. Die absolute Natürlichkeit, mit der sie das tut, ist niederschmetternd (ja, fast noch schlimmer als der Inhalt selbst) und ist wohl der erste große Schockmoment des Films. Hat sie es zuhause gelernt? In der Schule? Die von Verachtung und Hass erfüllten Worte sprudeln einfach so aus dem jungen Mädchen heraus – wie in einem "normalen" Heimatfilm vielleicht ein junges Mädchen irgendein Lied über die Schönheit der Berge singen würde? Dieser Moment ließe einen völlig zerstört zurück – wird aber von dem vielleicht einzigen Funken Hoffnung des ganzen Films "gesühnt": Joschi spielt ihr etwas auf der Geige vor und die Schönheit der Melodie bringt sie dazu, ein normales Gespräch mit ihm anzufangen. Und sich später mit ihm auch anzufreunden. Es gibt also noch Hoffnung bei den Kindern. Später wird sie ihre eigene Familie in der Öffentlichkeit als Mörder bezeichnen – nur, um anschließend von ihren eigenen Eltern im Dorf als geistig labiles Gör diffamiert zu werden.
Joschi und Anna, die "Dissidentin" der Familie
Es ist auch faszinierend, wie DIE TOTENSCHMECKER ganz nebenbei eine Art Gewaltsoziologie der "deutschen Familie" entwickelt. Besonders interessant und erhellend ist da die Figur des geistig behinderten Bruders Franz, der regelmäßig von seinen Familienangehörigen verprügelt, eingesperrt und wie ein Tier behandelt wird. Wahrscheinlich schützt ihn nur die Blutsverwandtschaft letztendlich davor, einfach ermordet zu werden und in den nahegelegenen See geworfen zu werden (wir wissen, dass Felix und Kurt zu solchen Taten bereit sind). In ihm äußert sich dann auch das latent Inzestuöse, das hermetisch geschlossenen Familienverbänden (und -institutionen) inne wohnt: so versucht er mehrmals, seine eigene Nichte Anna zu vergewaltigen. Am Ende vergewaltigt und erschlägt er im Affekt seine Schwägerin (unbeachtet von seinen Brüdern, die zu sehr damit beschäftigt sind, andere Leute kaltblütig zu morden). Franz ist das erste Opfer der mörderischen Familie und zugleich auch der erste Mörder. Und wahrscheinlich ist er zumindest das "ehrlichste", integerste Familienmitglied. Er vergewaltigt und tötet wie ein wildes Tier, sozusagen aus "unzivilisiertem" Instinkt – nicht planmäßig und mit aufwendigen Rechtfertigungen wie ein "zivilisierter" Mensch.
Sehr passend zu seinem Inhalt wirkte DIE TOTENSCHMECKER extrem karg und roh. Die geringe Budgetierung scheint an allen Ecken auffällig zu sein, doch mit zunehmender Laufzeit entpuppt er sich als extrem minutiös inszeniert (ein Co-Zuschauer meinte danach – halb im Spaß, halb im Ernst – dass da Hawks'ianische Formalökonomie im Spiel gewesen sei). Der Film hat auch Elemente eines Alpenwesterns. Die idyllische, in teils wunderschönen Bildern am Rande des Kitsch festgehaltene Berglandschaft ist wie ein eigener Protagonist, ein stiller, ruhiger Beobachter der schauererregenden Verbrechen, die sich abspielen. An einer Stelle zieht ein kleiner Sturm auf, und ein Paar Fensterläden klappt im stürmischen Wind auf und zu, gibt beim Aufklappen einen Blick auf wunderschöne Berggipfel frei, während sich der Sturm (meteorologisch und metaphorisch) zusammenbraut.
Einige Kongressniki erinnerte die Musik an den Harmonika-Score von C'ERA UNA VOLTA IL WEST: eine manchmal stark elektronisch verfremdete Geigenmelodie, oft aus der Ferne vom flüchtenden Joschi gespielt – für die Mörder immer wieder eine Quelle von Irritation. Ein Signal, dass eines ihrer Opfer noch nicht tot ist. Nach ihrem Ermessen eine Verfluchung: beim Versuch, die Leichen der Mordopfer zu verbrennen, verbrennt sich der alte Patriarch das Gesicht und erblindet dabei, und als Schuldiger dafür wird sofort Joschi und seine Melodie ausgemacht. Es ist natürlich auch ein Anklagelied, das den Mördern immer wieder ihre niederträchtigen Verbrechen in Erinnerung ruft... bis sie schließlich auch Joschi für immer zum Schweigen bringen.

DIE TOTENSCHMECKER war ohne Zweifel einer der großen Höhepunkte des Kongresses, ein Meisterwerk, aber natürlich auch ein brutaler, fieser Faustschlag von einem Film. Eine Swinging-London-Komödie im Anschluss zur Lockerung war also durchaus angebracht... Nun ja... das Lachen kam etwa bis zur Mitte des Halses, bevor es dort abrupt stecken blieb...


23:15 Uhr

COOL IT, CAROL! ("Die Liebesmuschel")
Regie: Pete Walker
UK 1970
35mm, DF
Carol (Janet Lynn) und Joe (der ein bisschen wie der vergessene gemeinsame Cousin von Mick Jagger und Brian Jones aussieht, gespielt von Robin Askwith) brechen aus der tristen englischen Provinz nach "Swinging London" auf, um dort ihr Glück zu versuchen. Die Hoffnungen auf eine glamouröse Model- und Popstar-Karriere zerschlagen sich nach und nach. Auf Joes Betreiben prostituiert sich Carol immer öfter an ältere, zahlungswillige Herrschaften.
Carol und Joe erkunden Sleazing London
DIE TOTENSCHMECKER war ein Film über die Banalität des Bösen. Ist COOL IT, CAROL! ein Film über die Naivität des Bösen? Oder die Bosheit des Naiven?
COOL IT, CAROL! ist eine locker-fluffige Swinging-London-Komödie, die sich nach und nach in einen zappendusteren und fiesen Prostitutions-Sleaze-Hobel verwandelt. Besonders verwirrend ist allerdings, dass das Komödiantische der ersten Hälfte immer wieder Einzug hält in die zunehmend unangenehme Geschichte von Carols und auch Joes Hineinstrudeln in die Welt der Prostitution. Lebensweltlich ergibt das durchaus Sinn: dass im Swinging London eine Tür neben dem fetzigen Popclub ein Herrenclub angesiedelt ist, der sich als Bordell entpuppt, dürfte kaum verwunderlich sein. Doch dass das Glamouröse und Witzige immer wieder eruptiv in den Schmutz und die Niedertracht einbricht, gibt dem Film eine sehr eigenartige Atmosphäre: eine Komödie, bei der einem das Lachen regelmäßig im Hals stecken bleibt – ein Milieu-Schocker, der immer wieder unterbrochen wird von merkwürdig unpassenden Humoreinschüben.
Gesehen haben wir nicht COOL IT, CAROL!, sondern die deutsche Synchronfassung "Die Liebesmuschel", die den ohnehin starken Eindruck von Gegensätzlichkeiten noch verstärkte. Findige deutsche Verleihe haben internationale Filme nicht nur geschnitten, um wahlweise der Zensur oder Gewinnmarge zugute zu kommen – sondern manchmal im Gegenteil mit eigenen Inserts verlängert. "Die Liebesmuschel" beginnt mit einer recht uninspiriert gefilmten Orgie, die mit dem restlichen Film nichts zu tun hat. Während COOL IT, CAROL! den Sex recht dezent darstellt (am explizitesten bei der Bahnfahrt gen London, als Carol Joe verführt), blendet "Die Liebesmuschel" bei jeder Andeutung sogleich die gefühlt immer gleichen Nachdreh-Szenen ein: ein Mann und eine Frau in einem weißen Bett, die jeweils mit keinem der sonstigen Darsteller von COOL IT, CAROL! die entfernteste Ähnlichkeit haben, beleuchtet mit dem ekelhaftesten weißen Neonlicht, das man sich vorstellen kann, die eher unmotivierte Akrobatik besonders uninspiriert und statisch gefilmt. Letzteres fällt besonders auf, da COOL IT, CAROL! ansonsten recht dynamisch und elegant inszeniert ist. Und so beginnen sich Carol und Joe im Hotelzimmer bei ihrer ersten Nacht in London zu küssen – harter Schnitt zum Insert. Carol knutscht mit einem (später zwei Herren) in einem schummerigen Nachtclub – harter Schnitt zum Insert. Carol geht mit ihrem ersten Kunden auf's Zimmer – harter Schnitt zum Insert. Beim nächsten Date wartet eine ganze Schlange an Männern darauf, zu ihr ins Zimmer gehen zu dürfen – und schon wieder kommt der unsägliche Insert.
Letzteres ist ein besonders geschädigter Moment. Carol und Joe haben nach einigen ungeschickten Bemühungen einen Kunden auf der Straße gefunden. Dieser wiederum "vermittelt" Carol bei einem nächsten Date an einen anderen Mann (und kassiert eine Provision). Beim nächsten Date sind es schon ein halbes Dutzend Männer. Die sammeln sich im Wohnzimmer von Carols erstem, äußerst geschäftstüchtigen Kunden. Nachdem die junge Frau mit dem ersten Gast ins Schlafzimmer verschwindet, verweilt die Kamera im Wohnzimmer, wo die Kunden und Joe versammelt sind – letzterer sehr unangenehm berührt, besorgt, sich sehr bewusst, was gerade passiert, während andere Gäste sich in Smalltalk versuchen. Im Originalfilm dürfte das eine sehr, sehr, sehr lange, sehr intensive einzelne Einstellung sein, doch in der deutschen Fassung wird sie durch Inserts mehrfach unterbrochen.
Der Pornoregisseur? Oder die unbeabsichtigte Darstellung
der Nachdrehs von "Die Liebesmuschel"?
COOL IT, CAROL! wusste sich gegen "Die Liebesmuschel" ironischerweise zu wehren. Carol und Joe haben völlig naiv ihre Abwärtsspirale in die Welt der Prostitution für Altherren vorangetrieben: sie versichern sich jedes Mal, dass der nächste Termin nun der letzte sein würde (und dann der wirklich letzte, und dann der wirklich aller-allerletzte). So landen sie dann auch bei einem Termin, wo sie, kaum eingetreten, aufgefordert werden, sich auszuziehen und Sex zu haben: sie sind bei einem Pornodreh gelandet. Das Bett ist steril weiß, die Beleuchtung unangenehm blendend – während der Kameramann recht professionell aussieht, sitzt etwa 30 cm vom Bett ein alter Mann mit schweissiger (oder angeleckter?) Oberlippe auf einem Sessel, der das ganze still, aber offenbar stark aufgegeilt anschaut. Der Regisseur? Der Produzent? Der Verleiher? In "Die Liebesmuschel" entwickelte diese Szene einen ganz eigenen Drive: sollte man sich ungefähr so die Nachdrehs des deutschen Verleihs vorstellen? Dieser Moment wirkte so, als würde COOL IT, CAROL! sich über "Die Liebesmuschel" lustig machen.


Donnerstag, 3. Januar

13.30 Uhr
TrÜF – Der triste Überraschungsfilm

L'OSCENO DESIDERIO
Regie: Giulio Petroni
Italien/Spanien 1978
35mm, OV mit live eingespielten Untertiteln
Die Amerikanerin Amanda (Marisa Mell) und der Italiener Andrea (Chris Avram) ziehen in eine gotisch anmutende Villa irgendwo in der italienischen Provinz. Die Ehe der beiden wurde zwar kürzlich geschlossen, ist aber eher kalt. Die Belegschaft benimmt sich gegenüber Amanda eher merkwürdig. In den Gesprächen mit ihrem Landsmann, dem Archäologen Clark (Lou Castel) findet Amanda etwas Abwechslung. Als sie (nach einer nun doch vollzogenen Ehenacht) schwanger wird, mehren sich die mysteriösen Ereignisse in der Villa: ist Amanda in einen Kreis von Teufelsanbetern geraten?
L'OSCENO DESIDERIO gilt ein später Vertreter jener italienischen Filme, die auf der Erfolgswelle von THE EXORCIST reiten wollten, doch in den ersten zwei Dritteln erscheint mehr ROSEMARY'S BABY der Impuls gewesen zu sein. Regisseur Giulio Petroni, der einige wunderbare Westerns in seiner Filmografie zählt (darunter den grimmigen Rachefilm TEPEPA im Umfeld der mexikanischen Revolution und das großartige Trinker-Melodrama LA NOTTE DEI SERPENTI, der beim vierten Terza Visione lief), war offenbar alles andere als begeistert von dem Film, ließ seinen Namen in den Credits durch ein Pseudonym ersetzen. Die Produzenten, die das fertige Produkt ursprünglich als Exorzisten-Film vermarkten wollten, entschieden sich anders, versuchten, ihn zu einem Sexfilm umdrehen zu lassen, ließen den spanischen Kameramann Leopoldo Villaseñor noch passende Sexszenen mit den beiden Hauptdarstellern nachdrehen und gaben ihm einen ausdrucksvollen neuen Titel ("Obszöne Begierde"). Das Resultat war weder Fisch noch Fleisch: als Sexfilm ist er zu unsexy, als Horrorfilm trübt er etwas unspannend vor sich hin, als reiner Atmosphärenfilm wird er immer wieder von unspannender Füllhandlung unterbrochen. Da gibt es nichts Obszönes. Und Begierde gibt es nur in Spuren zu finden.
Geweihtes Gebäck gegen teuflische Besessenheit
Ganz entfernt hat mich das ganze an Riccardo Fredas ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA erinnert, der 2018 beim Terza Visione lief: ein merkwürdiger Film, den niemand mögen wollte, den sein Regisseur verstoßen hatte, mit schwierigen Produktionsbedingungen und Nachdrehs. Wo Fredas faszinierender Film einen wahrhaft dekonstruktiven Wahn und eine ganz eigene Poesie entwickelt, ließ mich der insgesamt doch allzu gemächliche L'OSCENO DESIDERIO leider ziemlich kalt. Mehr denn als Sexfilm (dazu hat er eigentlich zu wenig Sex) oder als Horror-Thriller hat er für mich am ehesten als Atmosphärenfilm funktioniert. Die Gothic-Villa, die den Hauptschauplatz des Films bildet, ist zwar groß, aber auch leicht verfallen, der umliegende Park ist irgendwie ungepflegt – das sieht alles so aus wie das Set eines Mario-Bava-Films, das man zehn Jahre den Naturkräften überlassen hat. Und genau dieser latente Verfall verlieh L'OSCENO DESIDERIO in seinen besten Momenten eine ganz eigensinnige, manchmal jenseitige Atmosphäre.
Der Exorzisten-Moment ist relativ kurz gehalten. Clark alias Lou Castel, der während fast des ganzen Films wie bestellt aber nicht abgeholt aussieht, entpuppt sich als Priester, versucht Amanda zu exorzieren, aber als sie ihm eine Hostie ins Gesicht spuckt, rennt er völlig hysterisch weg, raus auf die Straße und lässt sich dort von einem LKW überfahren. Sollte mit dieser einfachen "Lösung" Spezialeffekte für etwas gruseligere Vorkommnisse als nur Spucke im Gesicht eingespart werden? Wer jedenfalls einen wirklich gruseligen Exorzisten-Wiedergänger sehen möchte, sollte sich eher an Alberto De Martinos großartigen L'ANTICRISTO halten (ein Film übrigens, dem der Titel "Obszöne Begierde" auch inhaltlich wesentlich besser stehen würde; den ich persönlich, auch als großer Friedkin-Fan, besser als das "Original" finde und hiermit jedem mit missionarischem Eifer ans Herz lege!).
L'OSCENO DESIDERIO ist ein "geschädigter" und dadurch irgendwie auch sehr zärtlichkeitsbedürftiger Film, aber so richtig warm bin ich damit nicht geworden. Ich wäre es gerne... Vielleicht bei einer neuen Sichtung irgendwann?

Lukas Foerster hat einen wunderschönen Text über einen Artefakt in der vorgeführten, leider schon ziemlich rotstichigen Kopie geschrieben (und bezeichnet den Film ziemlich treffend als "schläfrig").


15:30 Uhr

DER PORNOJÄGER: EINE HATZ ZWISCHEN LUST UND POLITIK
Regie: Peter Heller
BRD 1989
16mm, OV
Martin Humers Lebensinhalt dreht sich um Pornografie: mit großer Leidenschaft arbeitet dieser Mann daran, diese mit allen Mitteln aus Österreich zu verbannen – mit der Beantragung von Strafanzeigen, spektakulären Aktionen, Amtsanmassung und teils auch Erpressung.
Mit Rechtsradikalen zu reden ist nicht nur heutzutage dämlich. Es war schon 2014 dämlich. Und 1932. Und selbstverständlich war es das auch 1989. Das sieht man sehr schön im Gespräch zwischen Martin Humer und seinem Erzfeind, einem großen Wiener Verleger von Pornozeitschriften: beide kommen im Wartesaal eines Wiener Gerichts ins Gespräch, der Verleger gibt sich sichtlich Mühe, mit Humer zu reden, doch dieser brüllt ihn immer wieder mit weiteren Beleidigungen, Obszönitäten, Unterstellungen und Schimpftiraden nieder...
Der TV-Dokumentarfilm DER PORNOJÄGER gehörte für mich zu den großen Highlights des Hofbauer-Kongresses. Wie DIE TOTENSCHMECKER ein Blick in das kackbraune Herz des teutonischen Alltagsfaschismus. Humer, der selbsternannte Kämpfer für Anstand, scheut sich nicht davor, Gegner systematisch zu dehumanisieren: immer wieder bezeichnet er sie als "Schweine". Die "Massenpornografie" ist für ihn ein Mittel des Weltkommunismus, der Marxisten und der Ausländer, um das deutsche Volk zu destabilisieren. Humer spricht meist von "deutsch" und "Deutschland" und entpuppt sich damit als echter "Großdeutscher". Den aktuellen österreichischen Staat bezeichnet er als Diktatur, die wesentlich schlimmer sei als das Dritte Reich und scheut sich nicht, seine Gegner als Nazis zu beschimpfen. Er beteuert immer wieder, dass er natürlich den Frauen im Pornomilieu helfen wolle, nur um sie wenig später außer sich vor Zorn als "Huren" und "Schlampen" zu bezeichnen, denen alles "Mütterliche" fehle – als liege der einzige Existenzgrund von Frauen, (sexlose) Mutter zu sein. Wilde Verschwörungstheorien mit Linken und Ausländern als Sündenböcke, vulgärer Sexismus, Verharmlosung des Nationalsozialismus bei gleichzeitiger Beschimpfung der Gegner als Nazis... Wer bei der Sichtung des Films das höchst unangenehme Gefühl bekommt, das alles kürzlich schon ähnlich gehört zu haben – tja, so "neuartig" ist die sogenannte "Neue Rechte" halt auch wieder nicht...
Martin Humer erklärt seiner Tochter schematisch die
Beziehung zwischen Weltkommunismus, Immigration
und Pornografie
DER PORNOJÄGER "redet" nicht mit Humer, aber er beobachtet ihn beim Reden. Ohne jeglichen Off-Kommentar lässt er den selbsternannten Tugendwächter seine Tiraden ausspucken und voller Stolz die vielen angesammelten Regalmeter an Pornozeitschriften (Beweismittel) in seinem Büro zeigen. Zwischendurch kommen natürlich auch weitere Personen zu Wort: am häufigsten der Geschäftsführer eines Pornomagazins, aber auch Staatsanwälte und Richter (von denen einige tatsächlich fast ihre komplette Arbeitszeit den Strafanzeigen Humers widmen müssen) sowie Humers erste Ehefrau. Der Film lässt sämtliche gezeigte Personen für sich sprechen, nutzt keinerlei Off-Kommentar und greift auch so gut wie nicht ein. Das ist natürlich weder "neutral", noch heißt es, dass Regisseur und Autor Peter Heller zu dem Gezeigten keine Position beziehen würde, denn die Kadrage und die Montage werden doch immer wieder als ironisierende Mittel eingesetzt (für Zuschauer natürlich, die das so sehen wollen). So stellt sich Humer einmal in seiner Arbeitszentrale ganz stolz vor eine grotesk überdimensionierte, gefühlt fünf Meter hohe Regalwand, in der sorgfältig Pornozeitschriften sowie Aktenordner mit Beweismitteln verstaut sind. Die Kamera schwenkt auch mal genüsslich über die Ordnerrücken (ein ziemlich dicker Ordner ist mit "Pasolini" beschriftet). Putin hat einmal gesagt, dass er Terroristen bis aufs Klo verfolgen würde, aber das hat der Pornojäger Humer schon Jahrzehnte vor dem russischen Präsidenten gemacht: die Kamera folgt Humer und seiner ihn assistierenden Tochter durch mehrere Räume voller Regale, und eines dieser Räume ist dann auch das stille Örtchen, vollgestellt mit Ordnern voller Beweismittel (also Pornozeitschriften). Hier ging wahrscheinlich das lauteste Lachen durch den ganzen Saal.
Natürlich ist Humer irgendwo auch eine "komische" Figur. Ohne mit der Wimper zu zucken und mit großem Ernst nennt er auch mal einige Dutzend völlig bestialische und absurde Titel von Pornofilmen, die er gerade rechtlich verfolgen will (was auch für große Erheiterung im Saal sorgte). Das Lachen bleibt einem aber auch regelmäßig im Hals stecken, denn Humer und seine Leute schrecken auch vor Amtsanmaßung, latenter Bedrohung und schließlich auch Erpressung nicht zurück. Ein unkenntlich gemachter Interviewpartner entpuppt sich als Besitzer eines Pornoladens, den Humer erfolgreich zur "Kollaboration" erpresst hat: Insider-Hinweise werden getauscht gegen den Verzicht auf eine Strafanzeige (die in Fällen kleiner Betriebe durch die potentielle, juristisch angeordnete Unterbrechung der Geschäftstätigkeit während der Untersuchung tatsächlich zum Konkurs führen kann – Humers Tätigkeiten haben also in seinem Sinne manchmal durchaus Erfolg). Auch wenn DER PORNOJÄGER: EINE HATZ ZWISCHEN LUST UND POLITIK durchaus in einigen ironischen Momenten ein lustiger Film war (und der Saal hat an einigen Stellen sehr herzlich gelacht), ist er doch auch beklemmend.

DER PORNOJÄGER hätte wahrscheinlich ein sehr schönes Double-Feature mit Lucio Fulcis LA PRETORA ergeben, in dem Edwige Fenech eine Richterin spielt, die gnadenlos Pornografie verfolgt, und zugleich deren naiv-freizügige Zwillingsschwester verkörpert, die schließlich als Mittel ausgenutzt wird, um die Richterin zu diffamieren, als sie sich in anderen Belangen als zu störend, weil nicht-korrupt erweist...
Das vom Hofbauer-Kommando kuratierte Folgeprogramm war aber auch sehr passend... Nach DER PORNOJÄGER gab es nämlich erst einmal einen Porno.


17:30 Uhr

CITY OF SIN ("Ashley – Sattelfest in allen Betten")
Regie: Henri Pachard
USA 1991
35mm, DF
Intrigen in der Stadt der Sünde! Die Dokumentenmappe eines korrupten Kandidaten zum Posten des Bürgermeisters von L.A. geht in einem Bordell verloren. Die Geschäftsführerin Ashley nimmt die brisanten Dokumente an sich und taucht damit – von den Häschern des Fieslings und besonders ihrem Ex-Geliebten Mosie verfolgt – unter. Eine Hatz zwischen Betten und Sofas beginnt...
Oder so ungefähr. Durch diverse Verzögerungen im Vorprogramm folgte CITY OF SIN fast nahtlos an DER PORNOJÄGER – während ich mit Pinkelpause und einer Auffrischung meines Getränks beschäftigt war. So verpasste ich die ersten fünf bis vielleicht zehn Minuten: die oben aufgeschriebene Synopsis ist – bis auf den letzten Satz und den vorletzten Halbsatz – eher eine Vermutung darüber, was da so passiert. Natürlich dient das alles in erster Linie dazu, Männlein und Weiblein zu ertüchtigender Gymnastik in diversen Betten und Sofas zusammen zu bringen. Wirklich atemberaubend war der Film für mich nicht – aber wirklich schlecht war das auch nicht, zumal CITY OF SIN mit vielen kleinen, liebevollen Details und einigen sehr netten Figuren zu unterhalten weiß.
Kurz zu den Figuren: es gibt also Ashley, die Geschäftsführerin eines mehr oder minder mondänen Bordells, die mit brisanten Dokumenten flieht. Eine toughe Frau, die Männer und Frauen gleichermaßen vernascht. Ihr einziger wunder Punkt: ihre emotionale Last von ihrer vergangenen Beziehung mit Mosie – der jetzt für den korrupten Politiker arbeitet und ihr die Dokumente abluchsen will, aber selbst doch eigentlich ein ganz lieber Typ ist, der ebenfalls noch nicht emotional über Ashley hinweg ist. In einer ausgedehnten Sexszene zwischen den beiden wußte besonders ein riesiger Wandteppich mit Katzenmotiv im Hintergrund die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Besonders schön: Ashley (bzw. Hauptdarstellerin) hatte ein Zierfisch-Tattoo auf einer Pobacke – so dass unterschwellig auch die Jagd einer Katze nach einem Goldfisch zu sehen war. Wie passend, da sie gerade die Verfolgte ist, die mit ihrem Verfolger auf dem Sofa liegt.
Bei den Antagonisten gibt es den ultraschmierigen Bürgermeisterkandidaten (oder ist er schon Bürgermeister?). Seine Sonnenbrille ist ihm möglicherweise fest im Gesicht angetackert, zumindest setzt er sie auch beim Sex nicht ab. Dass er irgendwelche verfänglichen Dokumente hat und korrupt ist, dürfte nicht das Schlimmste sein: wirklich widerwärtig ist, wie er seine Frau behandelt. Vor lauter Verzweiflung, mit so einem Fiesling verheiratet zu sein, trinkt sie. Zumindest versucht sie es verzweifelt: in einer sehr ausgedehnten und rein inhaltlich wahrscheinlich etwas langweiligen Dialogszene unterhält sich der Politiker mit seinen Schergen über die verschwundenen Dokumente, seine Frau serviert sich in der Zwischenzeit einen Drink – und er nimmt ihn ihr weg. Immer wieder versucht sie in dieser langen Szene das Glas zu ergreifen, aber ihr Ehemann nimmt es ihr immer wieder weg. Eine tragikomische Szene für eine wahrhaftig tragische Figur, denn es ist ganz eindeutig, dass ihr Mann sie nicht nur lebensweltlich, sondern auch sexuell nicht befriedigen kann. In der gemeinsamen Sexszene nimmt er sich, was er will, und lässt sie, die Durstige, auch hungrig zurück. Ich hoffte bis zum Schluss des Films, dass sie noch mit Mosie ins Bett landet: Mosie, der im Laufe des Films mit gefühlt fast jeder weiblichen Figur Sex hat, nur eben nicht mit der Frau des Politikers. Ihr einziger Trost ist, dass in ihren Szenen immer ein stilvoller Jazz-Score zu hören ist, während die anderen mit einem auf die Dauer etwas langweiligen Spätachtziger-Fahrstuhl-Muzak beschallt werden.
Für mich war aber Johnny "Tatta" die absolute Lieblingsfigur. Der loyale rechte Arm Ashleys ist immer im Dienst: mögen alle anderen um ihn herum ihrer Libido hemmungslos nachgeben, und möge ihn die deutsche Synchro als "Tschonni Tatter" bezeichnen (wie in: Tattergreis) – Johnny bewahrt immer seinen kühlen Kopf und sein völlig von Schweiß getränktes Hemd unter seinem schwarzen Anzug. Für seine Chefin würde er sich zweifelsohne um Kopf und Kragen schwitzen. Nur zweimal darf er sich mal erfrischen: einmal mit einer rothaarigen Schergin des korrupten Politikers (eine ganz fiese Falle, die ihm gestellt wird, um ihm die Dokumente abzunehmen) und einmal mit einer schnellen Dusche...
Mosie, Johnny Tatta und Katzen-Teppichkunst
CITY OF SIN spielt in L.A., an einem helllichten Sommertag (gleichwohl der Titel einen noir'ischen Nachtfilm suggeriert – diese Version von CITY OF SIN würde ich natürlich auch gerne sehen) und die Kamera fängt diese kalifornische Sonne in manchen Momenten geradezu magisch auf – die wunderschöne 35mm-Projektion dürfte vielleicht nicht ganz unschuldig daran sein. Es ist eine sehr warme Sonne, die es Ashley ermöglicht, sich meist sehr knapp bekleidet von A nach B zu bewegen und die Johnny ausgiebig zum Schwitzen bringt. Auch Mosie, nachdem er ein lose verschlossenes Einfahrtstor übermäßig umständlich passiert hat (was für große Erheiterung sorgte – manchmal ist es eben doch besser, den ersten, "verpatzten" Take zu nutzen), wird ganz warm, und er zieht sein T-Shirt aus, während er zu Ashleys Versteck läuft, einer ziemlich hübschen Gartenlaube auf einem Hügel in Sichtweite der Engelsstadt. So passiert das eben: die Figuren lockern ihre Kleidung, und schon kommt es zur Sache. Angekommen in Ashleys Versteck wartet allerdings nicht Ashley auf ihn, sondern Johnny "Tatta", frisch geduscht, mit einem Badetuch um die Hüften (und einem frischen, also noch nicht vollgeschwitzten Hemd). Es hätte zum natürlichen Fluss der Szene gepasst, wenn die beiden nun Sex gehabt hätten, aber dann gab es doch nur einen Expositionsdialog, um die sexuelle Spannung zwischen Mosie und Johnny aufzulösen. Schade... natürlich bleibt CITY OF SIN den Regeln eines heterosexuellen Mainstream-Pornofilms verpflichtet (zur größeren sexuellen Offenheit des schwulen Pornofilms folgt später noch mehr).
Seinen ganzen Charme hätte CITY OF SIN vielleicht besser in einer Late-Night-Vorstellung entwickeln können. Ein bisschen langweilig fand ich den Film bei der Sichtung schon, aber es war wohl doch dieses "geil-langwelig" – rückblickend mag ich ihn irgendwie ganz gerne!

Abendessen in der Gruppe!


21:15 Uhr

LE DICIOTTENNI ("Mädchen von 18 Jahren")
Regie: Mario Mattòli
Italien 1955
35mm, DF
Auf einem Mädcheninternat: die Gefühle der Schülerinnen fahren gerade Achterbahn, denn der neue Physiklehrer (Anthony Steffen) ist ein absolut unwiderstehlicher junger Mann. Er selbst, der noch bei seiner Mutter (einer verarmten und trotz ihres vordergründigen Humors leicht verbitterten Adeligen) wohnt, kriegt davon nichts mit. Die Schuldirektorin, die sämtliche Tagebücher ihrer Schutzbefohlenen zu eben ihrem Schutz konfisziert hat, liest hingegen von der allgemeinen Verliebtheit. Eskalationen folgen...
Klavierlektion mit Komplikationen
Ich muss zugeben, dass mir von LE DICIOTTENNI nicht viel mehr hängen geblieben ist als ein wunderschönes, angenehmes Gefühl von Glück, Fröhlichkeit und Leichtigkeit. Ein toll gemachter Film, mit tollen Figuren, die von mir größtenteils unbekannten Schauspielern dargestellt wurden, mit einem flotten Timing, mit einem schönen Gefühl für einzelne Szenen und für den großen Bogen, mit einer guten Balance zwischen Komik und Melodramatik.
In meinem Notizbuch, in das ich mir im Hotel nach dem Aufwachen jeweils Notizen zu den Filmen des Vortags machte, stand zu LE DICIOTTENNI nur "Scope! Tiefenschärfe!". Der Film unterhielt nicht nur wunderbar, sondern war auch visuell ziemlich großartig. Wie diese "kleine" italienische Komödie mit dem gerade mal zwei Jahre alten Cinemascope umgeht, hat mich immer wieder erstaunt und beglückt: die Kamera fängt das Setting, die Figuren und die Räume zwischen den Figuren geradezu brillant ein – als wäre Scope das natürlichste Filmformat auf der Welt (und nicht eine gerade mal zwei Jahre alte Innovation, über die sich viele noch lustig machten).
LE DICIOTTENNI wäre auch ein sehr schöner Film für's Terza. Die Kopie war noch knackig scharf und ohne große Gebrauchsspuren, an einigen Stellen aber leider schon leicht angerötet.

Nicht weniger unterhaltsam, aber doch in einer sehr viel härteren Gangart:


23:30 Uhr

WU FA WU TIAN FEI CHE DANG ("Die wilden Engel von Hong Kong")
Regie: Kuei Chih-Hung
Hong Kong 1976
35mm, DF
Zwei gutbürgerliche Pärchen aus Hongkong werden auf dem Weg zu ihrem Wochenendhäuschen auf einer kleinen Insel von einer Motorradgang belästigt. Die kultivierten Städter wissen den zunehmend bedrohlicheren Rowdies (zunächst) wenig entgegen zu setzen. Die Situation eskaliert...
Tschechows sprichwörtliches Gewehr muss nicht immer ein Gewehr sein. Manchmal ist es auch der Propeller eines Motorboots!
Auch wenn "Die wilden Engel von Hong Kong" für mich nicht so eine Kino-Epiphanie war, wie für das Hofbauer-Kommando, so hat er mich doch mit seiner unaufhörlichen Eskalationsspirale von bestialischen Gewalttaten wie wahrscheinlich die meisten im Kinosaal gut weggefegt. Dabei ist der Film so minimalistisch in seiner Dramaturgie, dass er umso mehr Platz hat, um unglaublich viele kleine oder größere Ideen umzusetzen.
Die wilden Engel von Hong Kong – bereit zum Angriff
Es gibt eine sehr ausgedehnte Sequenz, in der die Motorradgang einen Fahrwettbewerb am Strand organisiert. Einige der Frauen bieten sich dem Gewinner als Hauptgewinn an. Das ganze beginnt als völlig halsbrecherisches Rennen durch die Dünen der Insel, gefolgt von einem wilden Zweierkampf am Rand des Wassers, bei dem die Kontrahenten auf den Motorrädern aufeinander zufahren und sich mit Ketten (oder Stöcken?) prügeln und endet schließlich mehr oder weniger in einer großen Orgie. Diese Szene könnte man "Selbstzweckhaftigkeit" vorwerfen – doch ich würde eher sagen, dass dies der Moment ist, in dem der Film sich selbst Zeit zum Atmen gibt und ganz und gar in sich aufgeht. Seine rohe Kraft entwickelt der Film nicht zuletzt durch die spektakulären Motorrad-Rennen und die entsprechenden Stunts, von denen viele höllisch gefährlich aussehen (und es wahrscheinlich auch waren).
Am Ende entpuppen sich die männlichen Städter als doch ziemlich wehrhaft und als nicht minder bestialisch als die "unkultivierten" Rowdies. Da kommt, wie bereits angedeutet, der Propeller eines Motorboots ebenso zum Einsatz wie ein großer, mit siedendem Öl gefüllter Kochtopf. Die schwer traumatisierte junge Städterin, die nur "Ich will zurück nach Hong Kong!" vor sich hin jammern kann, wird dann sogar als "Köder" für die Biker ausgesetzt. Am Ende gibt es ein "apokalyptisches" Tableau der massakrierten Biker, mit einem elegischen Kameraschwenk über ihre Leichen, unterlegt von Bachs "Toccata und Fuge".

Der angekündigte VELLUTO NERO des italienischen Regie-Außenseiters Brunello Rondi (dessen INGRID SULLA STRADA beim Terza Visione 2017 lief) konnte aufgrund des letztlich zu kritischen Zustands der Kopie leider nicht gezeigt werden. Als Ersatz wurde ein "Videoknüppel" kredenzt.


01:45 Uhr

HOT STEPS ("More Than Feelings")
Regie: Gerry Lively
Italien/USA 1990
2K-Abtastung einer VHS, DF
Zwei Gruppen von Jugendlichen bereiten sich auf einen Tanzwettbewerb vor. Eifersüchteleien, Intrigen, Seitenwechsel, Liebe und vieles mehr folgen...
Ich muss gestehen, dass mir von diesem Film nicht so vieles im Gedächtnis geblieben ist und meine Notizen nicht gerade besonders reichhaltig ausfielen. Das hatte nicht zuletzt auch mit der fortgeschrittenen Zeit zu tun.
Nur ein paar Bruchstücke... Einer der reichen Schnösel-Kids mit Namen Kevin fährt einen teuren Sportwagen mit dem Nummernschild "KEV-IN". Ein nächtliches Tanztraining im Autogeschäft. Die Rivalen werden mit dem Feuerwehrschlauch nassgespritzt. Der eine Junge möchte bei einem Radio-Gewinnspiel unbedingt gewinnen (es geht darum, ein nur wenige Sekunden lang eingespieltes Lied zu erkennen), doch leider ruft er immer einen Tick zu spät an. Biertrinken und Abhängen am Strand. Beim finalen Tanzwettbewerb meint einer der geladenen Väter, unter den Tänzerinnen eine junge Version seiner Ehefrau zu erkennen, ist von diesem Anblick sichtlich angegeilt – bis er merkt, dass das seine eigene Tochter ist. Ich selbst wiederum habe mich etwas in die schwarzhaarige Tanzlehrerin verliebt, die die finanziell nicht ganz so gut situierte Tanzgruppe (mit hohem Anteil an Latinos – die besser situierten sind fast alle weiß und angelsächsisch) trainiert...



Warum Kakao zum Kultgetränk des Volljährigkeitskongresses avancierte, wie nahe Ozu und Pinku eigentlich sind, was gastronomische Verkostungen mit Sexstellungen zu tun haben und wie man die Sau richtig (oder eben doch falsch) rauslässt – dazu gibt es demnächst hier Antworten.

Fortsetzung folgt... (hier zum zweiten Teil)


Wer noch ein bisschen mehr zu den eben besprochenen Filmen bzw. auch zu anderen, später gezeigten Kongressfilmen etwas lesen möchte, dem sei die wunderschöne "XXL-Collage an Festivaleindrücken" vieler anderer Kongressniki auf critic.de empfohlen. Auch sehr empfehlenswert: Roberts Einträge zum Kongress in seinem Filmtagebuch auf Eskalierende Träume.

Montag, 21. Januar 2019

Dampfende Saunen, Jenaer Paradiese und Nürnberger Sehnsüchte – 2018 im persönlichen Rückblick


2018 war für mich ein fürchterliches Jahr: als Arbeitnehmer, Patient, Linker, Freund, Sohn. Vieles war sehr zeit-, energie- und nervenraubend: deshalb habe ich dieses Jahr auf "Whoknows Presents" auch nur einige Festivalberichte und gerade mal zwei Einzelfilmbesprechungen zuwege gebracht. Ich hätte gerne mehr gewollt. 2019 wird es vielleicht besser.

Für mich als Cinephiler war 2018 hingegen zum Niederknien schön... 2018 war ein persönliches Rekordjahr der Filmfestivals, nicht nur quantitativ, sondern vor allem auch qualitativ. Einen augenöffnenden Offenbarungscharakter hatte in gleich den ersten Tagen des Jahres der unvergessliche und großartige 17. Hofbauer-Kongress in Nürnberg, bei dem ich mich ernsthaft frage, ob ich da nicht eine Art cinephile Wiedergeburt erlebt habe – und gelernt habe, Filme besser, lustvoller und ekstatischer zu schauen... Vielleicht hat auch Ulli Lommels DER ZWEITE FRÜHLING, eine der unglaublichsten filmischen Erfahrungen seit vielen Jahren, mir irgendeinen Schaden im Kopf zugefügt – ein Schaden, der hoffentlich nie wieder repariert wird, denn an diese schönen Wintertage in Nürnberg werde ich noch sehr lange mit großer Freude zurückdenken. Nicht nur an den saunierenden und sich an Gemächt und Gesäß nonchalant kratzenden Curd Jürgens, sondern auch an verzweifelte Liebende am Rande des Wahnsinns in Tokio und Neu-England, an entfesselte grausame Puppen, amoklaufende Bodybuilder und putzige Entenfamilien am Rande eines Nudistenbadeteichs. Natürlich auch an die audiovisuelle Reinigungskur, mehrere Tage lang fast ausschließlich echtem 35mm-Film ausgesetzt zu sein. Last but not least: die Bekanntschaft mit zahllosen tollen und filmbegeisterten Menschen: wie ich oft aus der Ferne angereist, um diese "merkwürdige" Veranstaltung zu besuchen, über die Ottonormalverbraucher nur den Kopf schütteln würden.
Ganz anders und doch ähnlich euphorisierend war das 5. Terza Visione in Frankfurt. Kein vollkommenes Offenbarungserlebnis wie der Hofbauer-Kongress, weil ich bereits 2017 am eigenen Leibe erfahren hatte, dass hier Wunderbares und Unerhörtes passiert. Aber doch auch eine Überraschung im Angesicht des Programms, in dem wie beim Hofbauer-Kongress die Liebe wieder so eine große Rolle spielte (feine Tischmanieren hingegen auch mal links liegen gelassen wurden). Wie beim Hofbauer-Kongress eine völlig überwältigende Vielfalt an unglaublichen Filmen, trotz des nur scheinbar begrenzteren, weil auf ein Land beschränkten Programms: von der frühen Sexkomödie einer fast vollkommen vergessenen Schaffensperiode Lucio Fulcis zum dekonstruktivistischen späten (Anti-?)Horrorfilm Riccardo Fredas, vom bitteren Kindertod-Melodrama zur fetzigen Tanzkomödie, vom kanonischen, aber in dieser 35mm-Pracht doch nicht alltäglichen Giallo-Klassiker zum obskuren, die Grenzen des klassischen narrativen Kinos fast sprengenden Musicals... Das Terza war dieses Jahr trotz der völlig inhumanen Juli-Temperaturen für mich vielleicht noch schöner, weil das Gemeinschaftsgefühl, unter ähnlich gesinnten cinephilen Menschen zu sein, hier für mich noch mal eine neue Qualität gewann: Menschen, die anreisen zu einer Veranstaltung, die (da ist er schon wieder) Ottonormalverbraucher irgendwo zwischen "Schund" und "was für Spinner" einordnen würde... Zwischendurch zusammen ein Eis essen, am Main gemeinsam auf der Wiese sitzen, eine Zigarette vor dem Filmmuseum, gemeinsam Abend essen – dabei über die gesehenen Filme, über noch mehr Filme, und noch mehr Filme und manchmal auch ein klein wenig über die Welt plaudern – dann wieder ins Kino, um weitere Filme zu sehen. Ja... Hier bin ich Cinephiler, hier darf ich's sein.
Bislang völlig unbekannt war das Paradies-Filmfestival in Jena, was vor allem daran liegt, dass dieses Jahr die allererste Ausgabe stattgefunden hat. Titelgebend ist auf den ersten Blick der Jenaer Paradies-Park hinter dem äußerst hässlichen und architektonisch irgendwie dämlichen Paradies-Bahnhof (und die Tatsache, dass in Jena alles mögliche den Zusatz "Paradies" bekommt, so wie im nahe gelegenen Weimar alles irgendwie mit Goethe zusammenhängt), aber nach meinem ersten Besuch kann ich nun mit großer Sicherheit sagen: dem ist nicht so! Das Paradies-Filmfestival heißt ganz offensichtlich so, weil die beiden Organisatoren für vier Filmtage mit ihren eigenen, bloßen Händen ein kleines Kinoparadies gebaut haben. Wortwörtlich gebaut: in einer Veranstaltungshalle für Konzerte haben sie eigenhändig eine Kinoleinwand, eine kleine Untertitelleinwand und einen Vorführraum mit zwei 35mm-Projektoren aus ihrem Privatbesitz gebaut – ja, wirklich gebaut! Hier, im sogenannten Damenviertel am Rand der Innenstadt, relativ fern der etablieren Kinos, wurde eine viertägige filmische Bacchanale gefeiert mit einem wunderbar kuratierten Programm aus italienischem Genrekino und weitestgehend unbekannten Perlen der DEFA. Einen teuflisch grinsenden Gian Maria Volonté als eiskalten Mörder und Polizeichef in INDAGINE SU UN CITTADINO AL DI SOPRA DI OGNI SOSPETTO. Einen schelmischen Manfred Krug, der wahnwitzige Musicalnummern in REVUE UM MITTERNACHT choreografiert. Angsteinflößende ostdeutsche Provinzspießer, die sich das kommunistische Paradies ernsthaft als graue Betonwüste sehnsüchtig herbei wünschen – im Kontrast dazu lustvoll lebende Berliner Bohemiens, die von der Liebe und der Musik träumen. Psychedelisch leuchtendes Rot in DU UND ICH UND KLEIN-PARIS, brutales Schwarzweiß in ERSTER VERLUST, "radioaktiv" leuchtendes Schwarz in DIE SCHÖNSTE, die pastellig-nebelige Farbe eines abendfüllenden Technicolor-Wachalptraums in LA CORTE NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO: das Paradies war ein Wunder der analogen 35mm-Projektion. Im Paradies konnten die kleinen cinephilen Engelchen (von denen ein nicht unbedeutender Teil sich aus Organisationsteam und Publikum des Hofbauer-Kongresses und des Terza Visione bildete) zwischendurch auch mal von der Raucherbereich-Bar-Empore im ersten Stock mit Blick auf die Leinwand aus Filme schauen. Das Paradies braucht natürlich auch einen Gott: deshalb haben ihn die Organisatoren des Festivals gleich eingeladen, ihm eine kleine Retrospektive gewidmet und ihm einen Preis für sein Lebenswerk verliehen. Gleichwohl er seine eigenen Filme vermied, begleitete Aldo Lado vier Tage lang das Festival, und verfolgte trotz mangelnder Deutschkenntnisse mit großem Interesse das DEFA-Programm. 2019 wird das Festival Mitte Juni stattfinden, hoffentlich wieder mit diesem faszinierenden zweigleisigen Kontrastprogramm – und mit hoffentlich mehr begeisterten Paradiesengeln. (Eine kleine Anekdote am Rand: am Morgen des Festival-Freitags, auf dem Weg zum "Paradies", fragte mich auf der Straße ein junger Mann, offenbar ein gerade frisch angekommener Erstsemester-Student, ob ich zufällig auch auf dem Weg zum nahe gelegenen Institut für Ernährungswissenschaft sei. Voller Freude, einen potentiellen weiteren Zuschauer zu "rekrutieren", teilte ich ihm mit, dass ich zu einem Filmfestival gehe. "Filmfestival?" – was das denn sei? Ich erklärte ihm das in einigen kurzen Worten, aber dieses Konzept einer Veranstaltung, bei der in einem Kino oder in einer kinoähnlichen Location Filme gezeigt werden, das schien diesem jungen Mann sehr, sehr merkwürdig. Ich hoffe, ich habe ihn nicht für den Rest des Tages oder gar des Jahres verstört. Dabei hatte ich noch nicht mal irgendetwas von 35mm gesagt...)
Ich präsentiere Mittelthüringen ja immer wieder mal als cinephile Wüste dar, als Ort, in dem der geneigte Cinephile, müsste er nur außerhalb seiner vier Wände seinen bizarren Neigungen frönen, erbarmungslos verdursten würde. Nun, das Paradies-Filmfestival hat eine wunderbare, erfrischende und saftige Oase geschaffen. Einer der beiden Festival-Organisatoren veranstaltet allerdings seit bereits geraumer Zeit einmal im Monat das 35mm-Kino im Jenaer Schillerhof-Kino, 2018 ist es ganz besonders spannend ausgefallen. Im ersten Halbjahr bot das Programm kleine "Appetizer" für das Paradies-Filmfestival, etwa Egon Günthers LOTS WEIB oder Dario Argentos 4 MOSCHE DI VELLUTO GRIGIO. Meine persönlichen Höhepunkte waren allerdings Anna Billers THE LOVE WITCH und Alex Proyas DARK CITY. Als "Events" besonders gelungen (glücklicherweise ohne den schalen Beigeschmack neumodischer Publikumsanbiederungs-Kinoevents) waren die drei "öffentlichen Testsichtungen" im Sommer und in der Adventszeit, also 35mm-Sneaks, wenn man so will. Zu sehen gab es bei der Premiere SQUIRM, ein schwitzig-schwüles Südstaatenmelodrama über die unendliche Absurdität des Lebens – mit Killerwürmern; der nicht unbedingt begeisternde, aber doch irgendwie faszinierende THE BLUE LAGOON folgte in der zweiten Folge der Testsichtung; und Tony Scotts rauchig-impressionistischer Love-On-The-Run-Klassiker TRUE ROMANCE beglückte die Zuschauer in der Adventszeit. Alle Vorführungen wurden stilecht mit einem 35mm-Trailer- und Werbeprogramm eingeführt, das ganz eigene Schätze zu bieten hatte: nicht nur analoge Sparkassenwerbung der mittleren 2000er Jahre, Teaser zu EDEN oder HIGH FIDELITY, sondern auch Trailer, die wie die beworbenen Filme (L'INFERMIERA DI NOTTE aka "Nachtschwester müsste man sein" oder DIAMOND BABY) beim Hofbauer-Kongress wahrscheinlich nicht nur mehr Verständnis, sondern vor allem mehr allgemeine Begeisterung geerntet hätten als sie es leider in Jena taten.
Mehr ein geliebtes Ritual als das große Unbekannte ist mittlerweile das 18. goEast-Festival in Wiesbaden. Dessen 18. Ausgabe führte mich im April dennoch an eine für mich bislang größtenteils mysteriöse Peripherie des sowjetischen Kinos: ins Baltikum. Aus drei kleinen, "unscheinbaren" Sowjetrepubliken kamen unwahrscheinliche, wahnwitzige, wahnsinnig poetische, schockierende Filme: investigative Dokumentarfilme als brutaler Faustschlag in die Magengrube, poetische Filmessays als Ode an die Menschheit, frisch-freche Animationsfilme, dazu noch rasender Wahnsinn aus der Irrenanstalt sowie lüsternes Hammelkeulen-Geknabber mit Mantel und Degen. Der Sommer, der da urplötzlich Mitte April einbrach mit Temperaturen bis 28°C, war schon ein kleiner Vorbote der höllischen Wochen im Juli und August.
Bereits bei der Ausgabe 2017 wäre ich gerne dabei gewesen, aber eine längere Krankheit machte mir einen Strich durch die Rechnung: das 4. Karacho-Festival des Actionfilms in Nürnberg entfaltete in vier Oktobertagen ein kompaktes Panorama von "Action", durchgehend auf 35mm (teils auf 16mm). Vom comichaften James-Bond-Eastern-Ozploitation-Kintopp eines THE MAN FROM HONG KONG bis zur Reise ohne Wiederkehr in die Abgründe der Bestie Mensch in STORTICATELI VIVI; vom melancholischen Roadmovie THE SUGARLAND EXPRESS bis zur eskalierenden Kapitalismus-Satire und Auferstehungs-Gewaltoper ROBOCOP. Die Gemeinschaft der Cinephilie spann für mich ihre Netze noch etwas weiter und zugleich engmaschiger: entfernt bekannte Gesichter von Kongress, Terza und dem Paradies wurden nun zu Bekannten. Nürnberg und speziell das KommKino begannen langsam, zum persönlichen Sehnsuchtsort heranzuwachsen.
Von allen 35mm-Festivals das "unspektakulärste" war wahrscheinlich das Festival des italienischen Giallo-Films "Il mostro di Norimberga" in Nürnberg, in dem Sinne, dass ich hier von zehn gezeigten Filmen sechs bereits kannte. Aber es muss ja auch nicht immer alles "spektakulär" sein – lauschig, flauschig, plauschig und gemütlich war es, nicht wieder zuletzt dank der familiären Atmosphäre, voller interessanter Gespräche mit netten cinephilen Menschen zwischen den Filmen und bei den gemeinsamen Abendessen. Für eine kleine filmische Kontroverse sorgte lediglich der neue SUSPIRIA, der relativ spät als "Bonus" am Sonntag früh (10 Uhr) ins Programm aufgenommen wurde. Von "ultra" und "der Film des Jahres" bis zu "stinklangweilig" und "extrem stählern" reichten die Stimmen. Andere Festivalbesucher haben sich lieber für zwei Stunden Schlaf mehr entschieden (so auch ich). Spätestens nach "Il mostro di Norimberga" habe ich wohl begonnen, Nürnberg und das KommKino als "Nebenwohnsitz" meiner Träume und Sehnsüchte zu sehen. Ich trage seither fast dauerhaft ein bisschen Nürnberg-Heimweh in mir.
Das 19. cellu l'art Kurzfilmfestival in Jena im April war filmisch vielleicht das "uninteressanteste" Filmfestival dieses Jahr. Alle Projektionen waren erwartungsgemäß digital und viele Programmblöcke waren qualitativ ungleichmäßig, mit kleinen funkelnden Kurzfilmperlen neben einigem Ernüchterndem und ab und zu auch knüppelhartem Stahl. Die cellu-l'art-Abende, die außerhalb des Festivals regelmäßig stattfinden, scheinen mir oft viel konziser und besser kuratiert zu sein als die Wettbewerbsblöcke beim Festival selbst. Die Specials waren dann auch die großen Höhepunkte: der Stop-Motion-Animationsblock (unter anderem mit dem actionreichen, dystopischen Sci-Fi-Paranoia-Survival-Politthriller SQUIRREL ISLAND von Astrid Goldsmith – in dem tatsächlich Eichhörnchen die Protagonisten sind) und der Block "Ab durch die Mittel" für Beiträge aus Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen (mit dem grandiosen halbstündigen Polizeifilm AM ENDE DER WALD von Felix Ahrens). Gastland beim diesjährigen Länderschwerpunkt war Schottland, und die Eröffnung des ersten Festivaltags wurde dann auch sehr gelungen bei einem Empfang mit Haggis, Whisky, Irn-Bru und Dudelsackmusik gefeiert. Doch mein persönliches Gewinnerland war Österreich. Unvergesslich die skurrilen Geschichten um den eigensinnigen Wiener Musikwissenschaftler Szabo und seinem etwas spießigen Nachfolger am Institut, Fitzthum und ihrem Kampf mit Kaffeemangel, kaputten Abflüssen und verschwundenen Anzügen – zu sehen in Albert Meisls DIE LAST DER ERINNERUNG (2016) und in DER SIEG DER BARMHERZIGKEIT (2017). Das soll eine Trilogie werden, und der dritte Teil wird hoffentlich spätestens 2020 in Jena zu sehen sein. Wie eine persönliche Beziehungskrise in einem Kurhotel faszinierende Möglichkeiten eröffnet, mit seinen Mitmenschen und der sterilen Luxusumgebung in neue Beziehungen zu treten, demonstrierte der wunderbare ENTSCHULDIGUNG, ICH SUCHE DEN TISCHTENNISRAUM UND MEINE FREUNDIN von Bernard Wenger (2018).
Eher trist in Sachen Projektion und Organisation war Anfang September das Ruggero-Deodato-Midnight-Double-Feature in Wolfsburg im Rahmen des CineWays-Festivals: ULTIMO MONDO CANNIBALE und LA CASA SPERDUTA NEL PARCO wurden von einer DVD respektive einer Blu-ray jeweils auf Deutsch vorgeführt und das, obwohl Regisseur Ruggero Deodato höchstpersönlich anwesend war. Bei einem einführenden Q & A sprach er frei von der Leber über die Dreharbeiten zu ULTIMO MONDO CANNIBALE, wurde dann leider aufgrund der starken Verspätung und der sehr späten Stunde etwas unsanft unterbrochen. Viereinhalb Stunden durch halb Deutschland zu gondeln, um in einer Stadt wie Wolfsburg einer Video-Projektion beizuwohnen, das werde ich in Zukunft eher sein lassen – auch wenn die Filme sich als großartig erwiesen und Ruggero Deodato mal live zu sehen ein Erlebnis war. Vor allem war es auch schön, diesen Abend gemeinsam mit zwei guten Terza-Bekannten zu erleben.
Und das "laufende", aktuelle Kinoprogramm? Da sind bestimmt auch Filme gelaufen. Gesehen habe ich davon aber nur vier Stück im Kino, von denen mir JUMANJI und JURASSIC WORLD: FALLEN KINGDOM mehr durch ihre Einbettung in einen schönen Abend mit Freunden bei Kinobesuch, Burger-Essen und Kneipe als durch ihre filmische Qualitäten in Erinnerung bleiben (gleichwohl sie nicht schlecht waren). Sehr gerne hätte ich den Liam-Neeson-Actioner THE COMMUTER gesehen, doch die Ankündigung der Ticketverkäuferin, dass sich Sauce auf der Leinwand von Saal 2 befände, führte letztlich zu einem nichtfilmischen Alternativprogramm in einer nahegelegenen Kneipe. Die "damönische Leinwand" (Lotte Eisner) sagte mir was, die "läufige Leinwand" (Christian Keßler) ebenso – aber die "würzige Leinwand" (Cinestar Jena) kannte ich noch nicht und wollte sie, ebenso wie meine Begleiter, nicht kennenlernen. Mein liebster aktueller Film des Jahres (von den wenigen gesehenen) lief nicht im Kino, sondern im Fernsehen. Mit POLIZEIRUF 110: TATORTE drehte Christian Petzold nicht nur seinen dritten POLIZEIRUF 110, sondern auch die voraussichtlich letzte Folge mit dem Ermittler Hanns von Meuffels (dem Dominik Graf mit CASSANDRAS WARNUNG einen fulminanten Start verschaffte). Meuffels... der etwas spröde nordische Intellektuelle mit dem ausgesprochenen Hang zur Melancholie. TATORTE könnte auch "Chronik eines angekündigten Nervenzusammenbruchs" heißen, denn wir sehen einen Charakter, der 80 Minuten lang mühselig seinen Nervenzusammenbruch aufschieben muss, weil zwar sein Privatleben gerade zusammenbricht, aber trotzdem diese ganze Polizeiarbeit erledigt werden muss. Petzold erzählt fast den ganzen Film mit Matthias Brandts mürrisch-depressivem Schweigen und seinen kleinen wie großen Gesten. Ein kleines Mädchen, das psychisch zusammenklappt (sie war Zeuge, wie ihr Vater offenbar ihre Mutter ermordet hat), wird von einer Kindertherapeutin zwischendurch mit beruhigenden Worten und einer warmen Umarmung beruhigt. An Meuffels' sehnsüchtigem Blick erkennt man, dass er das kleine Mädchen um diese sanfte Behandlung fast beneidet...

Aber andere Jahre als 2018 haben auch schöne Filme. Hier nun meine besten Erstsichtungen des Jahres 2018, mehr oder minder in Reihenfolge der Bevorzugung. Die ersten vier jedenfalls sind ganz unumstrittene Spitzenreiter. Auf Platz 1, unbestritten...

DER ZWEITE FRÜHLING (Ulli Lommel: BRD / Italien 1975)
Curd Jürgens in der Sauna, vor dem Wandteppich mit den großen Männern, auf dem Swinger-Boot, mit Riesenkreuz, im Aquarium, im winddurchfluteten Herbergszimmer, vor dem atemberaubenden Panorama Roms... und noch der ganze Rest! Gesehen beim Hofbauer-Kongress – mehr zum Film hier.


TUTTO È MUSICA (Domenico Modugno, Tonino Valerii: Italien 1963)
Ein Best-Of von Domenico Modugnos Schlagern, dargereicht in Form eines avantgardistisch-absurd-poetischen Melodrama-Tierfilm-Mondo-Neorealismus-Knastfilm-Coming-of-Age-Musicals. Gesehen beim Terza Visione – mehr zum Film hier.

THE LOVE WITCH (Anna Biller: USA 2016)
Regisseurin-Autorin-Produzentin (und Cutterin, Komponistin, Set-, Requisiten- und Kostüm-Designerin sowie 35mm-Fetischistin) Anna Biller schickt die moderne Liebeshexe Elaine auf eine so witzige, erotische wie triefend blutige Männerjagd. Heraus kommt ein Film, der ein wenig aussieht, als hätte Jacques Demy einen italienischen Giallo gedreht, der aber dennoch keine reine Hommage ist, sondern voll und ganz für sich alleine stehen kann. Gesehen beim 35mm-Kino in Jena.

HULLUMEELSUS (Kaljo Kiisk: Sowjetunion 1968)
Der nackte Wahnsinn in einem estnischen Sanatorium anno 1943. Sozusagen der sowjetisch-estnische SHOCK CORRIDOR. Gesehen beim goEast-Festival – mehr zum Film hier.

235 000 000 (Uldis Brauns: Sowjetunion 1967)
Der Revolutionspropaganda-Schinken als poetische audiovisuelle Ode an alle Menschen. Gesehen beim goEast-Festival – mehr zum Film hier.

IL SOLE NELLA PELLE (Giorgio Stegani: Italien 1971)
Der französische Hippie, die junge italienische Industriellentochter und die ultimative Liebe – auf der Flucht vor Engstirnigkeit, Doppelmoral und sexistisch-paternalistischer Überheblichkeit. Gesehen beim Terza Visione – mehr zum Film hier.

TENSHI NO HARAWATA: AKAI MEMAI (Ishii Takashi: Japan 1988)
Wahnsinnige Liebe in der Großstadt I: wenn Urinrinnsale zum Symbol der Liebe zusammenfließen. Gesehen beim Hofbauer-Kongress – mehr zum Film hier.

TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU (Sone Chusei: Japan 1979)
Wahnsinnige Liebe in der Großstadt II: wenn die Sinne sich verzerren und der Verstand zusammenbricht. Gesehen beim Hofbauer-Kongress – mehr zum Film hier.


LE MASSAGGIATRICI (Lucio Fulci: Italien / Frankreich 1963)
Der spätere sogenannte "Godfather of Gore" dreht eine flotte, spritzige Erotikkomödie über "Masseusen", Doppelmoral, Baukorruption und unstillbaren Hunger auf Mayonnaise. Gesehen beim Terza Visione – mehr zum Film hier.


THE NEST OF THE CUCKCOO BIRDS (Bert Williams: USA 1965)
Charles Laughton, Dalton Trumbo, Saul Bass, Aleksandr Askol'dov, Akramzadeh... jetzt müsste nun also nach der kürzlichen Wiederentdeckung dieses Films auch Bert Williams in diese Liste einmaliger Regisseure eingefügt werden. Vom angerissenen police-procedural entwickelt sich THE NEST OF THE CUCKCOO BIRDS zu einem verschwitzten, Tennessee-Williams-artigen, inzestuösen Kammerspiel-Melodrama, um dann als verhinderter Slasherfilm mit einer nackten Mörderin im Mondschein den Missing-Link zwischen Franjus LES YEUX SANS VISAGE, Hitchcocks PSYCHO und Hoopers THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE zu bilden. Ein derangierter Film voller bizarrer Poesie und Schönheit.


THE RING (Alfred Hitchcock: UK 1927)
Mehr ein Melodrama à la G. W. Pabst als ein Thriller und doch durch und durch Hitchcock'isch. Der titelgebende "Ring" zieht sich in gleich drei Varianten durch den Film. Als Boxring, auf dem Jack "One Round" Sander um die Liebe seiner Verlobten, dann Ehefrau Mabel kämpft (statt sich tatsächlich im Privaten mit ihr auseinanderzusetzen); als Ehering, der formal den Bund Jacks und Mabels symbolisiert und doch schwächer ist als Mabels Anziehung zum Boxmeister Corby; als Armreif, ein Geschenk des Nebenbuhlers Corby an Mabel, das ihr immer wieder in den unmöglichsten Momenten den Arm runterrutscht, um sich provozierend und aufreizend in Nähe des Eherings zu platzieren: unter anderem gleich bei der Hochzeit, in dem Moment, in dem sie den Ehering übergestreift bekommt – für mich jetzt einer der ganz großen, unglaublichen Hitchcock-Momente.

THE MANXMAN (Alfred Hitchcock: UK 1929)
Melodrama à la G. W. Pabst, zum zweiten. Auch hier wieder unglaublich, wie Hitchcock eine versteckte Dreierbeziehung visuell erzählt: der betrogene Ehemann, der sich unwissend hinter den Gesichtern der beiden Liebenden über sein uneheliches Kind freut; die Hand, die die Haustür mit Wucht zuknallt und so der Frau den Freiraum wegnimmt; die Hochzeit in der Mühle, mit dem sündigen Mahlstein des Betrugs im Hintergrund.

SCORTICATELI VIVI (Mario Siciliano: Italien 1978)
Dies ist zweifelsohne der Vorläufer von Sicilianos letztem Film ROLF (von mir hier besprochen). Statt des mit christlicher Symbolik dargestellten Märtyriums eines Ex-Söldners steht hier ein Söldnerkollektiv im Vordergrund, dessen Alltag aus Vergewaltigungen, Folterungen und Ermordungen besteht. Gesehen habe ich SCORTICATELI VIVI beim Karacho-Festival des Actionfilms, als Spätvorstellung nach einer Prime-Time-Projektion von ROBOCOP. Sehr passend, weil Siciliano mit seinem Material ein bisschen wie Verhoeven arbeitet, bloß mit kleinerem Budget, ohne Humor und ohne jegliches Interesse an klassischer Narration und Dramaturgie (man könnte sagen: Unterhaltungswert). Die scheinbar völlig erratische Aneinanderreihung von Grausamkeiten, einige davon aus einem früheren Siciliano-Film hineingeschnitten, absolut infernalisch unterlegt von Stelvio Ciprianis swingendem Lounge-Score, schafft eine dystopische Atmsophäre: stell dir vor, die Welt besteht nur aus Menschen, die andere Menschen quälen und töten. SCORTICATELI VIVI ist eine Reise ohne Rückkehr in dunkle menschliche Abgründe aus übersteigerter Männlichkeit, kolonialen Sexfantasien, verblendeter Geldgier und rasender Mordlust. Am Ende schenkt ein Mann seiner Geliebten einen schönen Pelzmantel – wir wissen aber, mit welchen furchtbaren Verbrechen er das Geld dafür verdient hat, und so wird der Zuschauer mit einem der grausamsten "Happy Ends" aller Zeiten völlig am Boden zerstört zurück gelassen.


THERE'S ALWAYS TOMORROW (Douglas Sirk: USA 1955)
Zwischendurch wirkt Sirks Film fast wie eine Allegorie auf die Kommunistenjagd: mit einem Sohn, der fanatisch seinen eigenen Vater verfolgt und am liebsten zum moralischen Scheiterhaufen verurteilen möchte. Am Ende ist Clifford besiegt: während sich die Liebe seines Lebens in einem Flugzeug von ihm entfernt, geht er (quasi im Rhythmus des von ihm erschaffenen Walkie-Talkie-Robot-Man "Rex") zurück zu seiner Familie und lächelt. Er wird sein Lebensglück in seiner Rolle als musterhafter Ehemann und Vater finden – egal, ob er es möchte oder nicht. Weitere Sichtungen werden zeigen, ob sich mit diesem Film meine persönlichen "Großen vier Sirks" (MAGNIFICENT OBSESSION, ALL THAT HEAVEN ALLOWS, WRITTEN ON THE WIND, IMITATION OF LIFE) zu den "Großen Fünf" erweitern werden.


VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? (Juris Podnieks: Sowjetunion 1986)
Einfühlsames Portrait der Rigaer Jugend zwischen Tschernobyl, Punk, Afghanistankrieg und Underground-Kino. Gesehen beim goEast-Festival – mehr zum Film hier.


DIE ZWEITE HEIMAT – CHRONIK EINER JUGEND (Edgar Reitz: Deutschland 1992)
Reitz' monumentaler Filmzyklus ist schon in seiner Ambition bewundernswert, gleichwohl die letzten beiden Filme einen etwas trüben Eindruck hinterlassen haben. In seinen besten Momenten vibriert DIE ZWEITE HEIMAT vor Leidenschaft, Erotik, Freude, Melancholie. "Das Spiel mit der Freiheit. Helga 1962" ist sicherlich das große Meisterwerk des Zyklus: ein unfassbar erotischer Film, in dem unser Protagonist Hermann, der eingangs doch ein Gelübde zum ewigen Verzicht abgelegt hatte, gleich von drei Frauen gleichzeitig umschwärmt wird und sich in einer dunklen, regenreichen Nacht fatalerweise für die falsche entscheidet. "Eifersucht und Stolz. Evelyne 1961" demonstriert wunderbar Reitz' Fähigkeit, über weite Strecken ausschließlich über Blicke und kleine Gesten zu erzählen – im Laufe einer langen, dramatischen Partynacht. Nicht zu vergessen ist schließlich der dunkel-romantische, tieftraurige und todessehnsüchtige Venedig-Film "Das Ende der Zukunft. Reinhard 1966".

LE DERNIER DES INJUSTES (Claude Lanzmann: Frankreich / Österreich 2013)
Mein erster Lanzmann-Film: ich bin fast vom Stuhl heruntergefallen, als noch in der ersten halben Stunde ein zeitgenössisches Archivfoto zu sehen war – etwas, was Lanzmann bekanntermaßen jahrzehntelang verschmäht hatte. Der Rest des Films ließ mich allerdings wieder auf meinem Stuhl festkleben. Besonders faszinierend ist, wie Lanzmann mit Länge umgeht, wie gnadenlos viel Zeit er sich nimmt. Leider ist Lanzmann im Sommer 2018, wenige Monate nach meiner Sichtung, verstorben.


KILLER CONTRO KILLERS (Fernando Di Leo: Italien 1985)
Di Leo, der in den 1970er Jahren "linke" Polizieschi drehte (die implizit männliche Gewaltphantasien sowie die Vermengung von kapitalistischer Ausbeutung, organisiertem Verbrechen und kirchlichen Machtstrukturen kritisierten), lässt in seinem allerletzten Film die Sau (bzw. eigentlich den Gepard) raus und Henry Silva von der Kette: Eine stellenweise vollkommen unfassbare, comichaft überzeichnete, reine Pulp-Fantasie, in der Silva seine Gegner am Ende gleich einzeln mit der Bazooka wegfetzt, wenn er die Drecksarbeit nicht seinen Haustieren delegiert.


NAPOLÉON ["Kevin-Brownlow-Cut"] (Abel Gance: Frankreich 1927)
Der "Coppola-Cut" von NAPOLÉON hat mich vor einigen Jahren stark unterwältigt: sollte das, was ich da sah, wirklich das so oft gelobte visionäre, revolutionäre Filmmonument sein? Der fünfeinhalbstündige und damit knapp zwei Stunden längere "Brownlow-Cut" zeigte nun tatsächlich einen ganz anderen Film: überbordend und wahnwitzig in seinen visuellen Einfällen, rührend (der kleine Beamte, der die Polizeiakten aufisst) und komisch (die ungelenke Annäherung der Titelfigur und Joséphines) in den kleinen Gesten, grell, orgiastisch und geil in dem vorher völlig unterschlagenen "bal des victimes" und seiner Zeit erstaunlich voraus in seiner Darstellung erotisch-fetischisierter Anbetung. Ein Wahnsinnsfilm in der Tat!

DU UND ICH UND KLEIN-PARIS (Werner W. Wallroth: DDR 1971)
oder: die wahrscheinlich ultimative Leipziger Rom-Com. Und sicherlich (im wörtlichen Sinn) die röteste. Gesehen beim Paradies-Filmfestival.

LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO (Aldo Lado: Italien / BRD / Jugoslawien 1971)
oder: ein toter Mann erinnert sich an seine letzten Stunden in einem zombifizierten, verfallenen, kafkaesken Prag. Gesehen beim Paradies-Filmfestival.

PENSIONE PAURA (Francesco Barilli: Italien / Spanien 1977)
Barillis zweiter und vorerst letzter abendfüllender Kinofilm ist genauso wenig ein handelsüblicher Giallo wie sein IL PROFUMO DELLA SIGNORA IN NERO und sogar noch singulärer und unklassifizierbarer: ein außergewöhnlicher Hotel-Film, angesiedelt in der späten faschistischen Ära; ein zärtliches Coming-of-Age-Drama mit verliebten Teenagern; ein ruppiger Sleaze-Hobel mit einem herrlich widerwärtigen Luc Merenda; ein Slasher-Film, der im Schlamm und im Unterbewusstsein seiner Protagonistin watet; eine impressionistisch Meditation über Verlust und Trauer; ein grotesk-surrealer Fieberalptraum; ein Film über nackten Wahnsinn, mit der absolut faszinierenden Leonora Fani als liebende, verängstigte und wahnsinnige Protagonistin.


LA MORTE HA SORRISO ALL'ASSASSINO (Aristide Massaccesi: Italien 1973)
Schon in den ersten Minuten wird klar, dass Massaccesi (später allgemein bekannter als Joe D'Amato) seine Geister- und Wiederkehrergeschichte fast ausschließlich über sehnsüchtige, lustvolle Blicke erzählt – oder besser gesagt: vor sich hinfliessen lässt. Ob Kubrick ihn gesehen hat? Den Kuss mit der wunderschönen, lasziven Frau, die sich als doch nicht ganz so in Ordnung entpuppt, gab es jedenfalls schon vor THE SHINING.

ZARDOZ (John Boorman: Irland / USA 1974)
Wenige Jahre zuvor hatte Boorman in POINT BLANK den film noir zerschlagen, nun dekonstruierte er auch bilderstürmerisch den Science-Fiction-Film. Sean Connery sah als Bond niemals so bestialisch sexy aus wie hier in seinem roten, windelartigen Schlüpfer, mit Pferdeschwanz und Pornoschnurrbart, aber daneben gibt es auch viele weitere unglaubliche Bilder: der Totemkopf, der Gewehre ausspuckt; der Gerümpelkeller voller antiker Statuen; die erregt-orgiastische Kollektivsichtung von Zeds Vergewaltigungs- und Morderinnerungen. Ein unglaublich energischer Film über den dünnen Firnis der Zivilisation, über ausgelagerte kapitalistische Ausbeutung und über das unergründliche Wesen der Zeit, der Erinnerung und der Erektion.

SPIDER BABY (Jack Hill: USA 1967)
Ein Aufstand der verspielten "Irren" und "Kindsköpfe" gegen die gutbürgerlichen "Anständigen", die unter dem Deckmantel des "Wohlmeinenden" nur an Profit denken. Am Ende gewinnen zwar die "Anständigen", aber die "Krankheit" ist "vererbt" worden. Die Kinder werden zuerst mit Spinnen spielen und sich dann (hoffentlich) gegen die Eltern wenden...


AVANTI! (Billy Wilder: USA / Italien 1972)
Ein utopischer Film, in dem die Liebe, ja, nicht Hass, Traditionen, Geld, Krankheiten, Immobilien, sondern die Liebe vererbt wird.

L'AMI FRITZ (Jacques de Baroncelli: Frankreich 1933)
Auch dieser Film wirkt utopisch: nicht nur, weil hier ein Rabbiner als selbstverständlicher Teil der Dorfgemeinde akzeptiert wird (das wird sogar überhaupt nicht "thematisiert"), sondern weil das Genießen üppiger Banketts als pure Lebensfreude und nicht als Sünde verstanden wird (auch wenn die Titelfigur am Ende dann doch unter die Haube kommt). Großen Dank an Manfred für den Hinweis auf den Film!

DAS ALTE GESETZ (Ewald André Dupont: Deutschland 1923)
oder: THE JAZZ SINGER vier Jahre vorher, ohne Jazz, dafür mit Shakespeare und einem ungeahnten Gespür für unterschwellige Erotik.

AU BONHEUR DES DAMES (Julien Duvivier: Frankreich 1930)
Vor fünf Jahren hatte ich den Film angefangen, war aber wohl nach einer halben Stunde eingeschlafen. Was ich im Halbschlaf gesehen hatte, begeisterte mich: eine wilde, völlig entfesselte Kamera wütete sich durch die psychosoziale Geografie eines Kaufhauses. Im wachen Zustand bestätigte sich, was für ungeahnte Gipfel der Stummfilm 1930 erreicht hatte.

THE IPCRESS FILE (Sidney J. Furie: UK 1965)
Größtenteils das gleiche Personal wie in der zeitgenössischen 007-Reihe, doch mit einem Regisseur unter anderem aus dem Bereich der Neuen Britischen Welle und dem Kameramann von PEEPING TOM entsteht hier so etwas wie ein Avantgarde-James-Bond-Film, dessen Figuren an den Rand der Paranoia gedrängt werden, weil ständig ein Gegenstand im Bildvordergrund sie zur Seite drängt.

KOZURE ÔKAMI: SANZU NO KAWA NO UBAGURUMA (Misumi Kenji: Japan 1972)
À propos meisterhafte Avantgarde-Actionfilme: der zweite Film der "Lone Wolf & Cub"-Reihe reduziert alles auf pure Aktion, und destilliert diese dann noch zu fast abstrakten Montagen. Das ging die erste halbe Stunde so und der Film machte mir die Freude, das wirklich bis zum Schluss konsequent durchzuziehen. Eine Augenweide!


BLOODSPORT (Newt Arnold: USA 1988)
Ganz und gar nicht avantgardistisch, aber trotzdem sehr beglückend. Alleine der Moment, in dem die zwei Polizisten in einem Imbiss erfolglos versuchen, mit Stäbchen zu essen (ich fühle mit ihnen – ich bin diesbezüglich nämlich auch völlig unfähig). Das macht die mäßig gefilmten Actionszenen wieder wett.

DANCE MUSIC (Vittorio De Sisti: Italien 1984)
Über ein Dutzend 35mm-Kopien dieses Films lagern im Archiv des Frankfurter Filmmuseums. Die sollten unbedingt eine Deutschland- bzw. noch besser eine Europa-Tour machen: der Weltfrieden wäre dann wahrscheinlich ein Stückchen näher. Gesehen beim Terza Visione – mehr zu diesem wunderbaren, im herrlichsten Sinne des Wortes "naiven" Film hier.

REVUE UM MITTERNACHT (Gottfried Kolditz: DDR 1962)
Ein Feigenblättchen von einer Rahmenhandlung sperrt einige Künstler in ein Haus ein, damit sie dort eine Revue erschaffen können. Ganz ohne Hemmungen können sie hier ihren farbenfrohen Fantasien frönen und erschaffen so ein Musical, dessen "Selbstzweckhaftigkeit" möglicherweise mehr als viele Hollywood-Filme zur Essenz des Genres vordringen: Tanz, Farben, Bewegung. Gesehen beim Paradies-Filmfestival.

KRAKATIT (Otakar Vávra: ČSSR 1948)
Ein film-noir-Fieberalptraum, so psychedelisch, dass einem die Kinnlade herunterklappt, so konsequent, wie es nur wenige US-amerikanische noirs gewagt haben – und das alles entstanden in einem stalinistischen Land. Mehr zu dem Film gibt es hier von Manfred zu lesen.

DARK CITY [Kino-Fassung] (Alex Proyas: Australien/USA 1998)
Noch ein Jahr vor EXISTENZ und THE MATRIX erforscht DARK CITY eine parallele Realität, die in einer verführerisch dunklen und ewig nächtlichen film-noir-Stadt angesiedelt ist. Am Ende weiß der Film zwar nicht unbedingt, wie die Welt entstanden ist, aber doch, wie Gott "entstanden" ist: er hat sich an die Macht geputscht! Gesehen beim 35mm-Kino in Jena.

THE MAN FROM HONG KONG (Brian Trenchard-Smith: Australien / Hong Kong 1975)
Gesehen beim Karacho-Festival des Actionfilms und es war definitiv der Film, der dem Titel des Festivals am meisten gerecht wurde: ein Hong-Konger James Bond namens Fang jagt in Australien den Bösewicht Jack Wilton (genüsslich von Ex-Bond George Lazenby gespielt) zu Fuß, mit Fäusten, mit schnellen Autos und mit einem Deltasegler. Die Erotik ist schmieriger, die Liebe melodramatischer, die Action dreckiger und die Schläge wesentlich härter als beim britischen Vorbild. Die Erbarmungslosigkeit, mit der eine wüste Prügelei in einem Restaurant so lange und mit zunehmender Intensität in die Länge gezogen wird, bis die komplette Einrichtung gefühlt durch ein Tennisschläger passen könnte, ist beeindruckend und eine lange, extrem rasante Autoverfolgungsjagd gibt einen Vorgeschmack auf MAD MAX (Hugh Keays-Byrne ist schon mal mit von der Partie).

WHITE OF THE EYE (Donald Cammell: UK / USA 1987)
Ein Giallo in der amerikanischen Provinz, der eine fast schon gemächliche Erzählweise zwischendurch mit flimmernd-assoziativen Montagen aufbricht. Hier kommt Dominik Graf also unter anderem her...


DRESSED TO KILL (Brian De Palma: USA 1980)
Ein Giallo in der amerikanischen Großstadt. Die Steadicam-Scope-Bilder sind ein Traum, die "Verführungsjagd" im Museum (VERTIGO lässt grüßen) ist fantastisch. Besonders schön: die Nachbildung von Marnies Samstagsschicht in Marks Firma, mit dem gleichen Gewitter (in Blau statt Rot), aber mit sozusagen umgekehrten Rollen. Dass De Palma nicht nur PSYCHO, sondern auch den größtenteils (aber nicht allseits!) ungeliebten MARNIE verehrt, ließ mein Herz aufgehen. Mein Unbehagen gegenüber dem, was ich als De Palmas Misogynie bezeichnen würde (vor allem bei den mir unerträglichen CARRIE und PASSION), wurde in DRESSED TO KILL besänftigt: sein analytischer Blick für männliche physische, psychische und strukturelle Gewalt gegen Frauen ist in diesem Film rasiermesserscharf. Ist er doch ein verkappter Feminist?

LES DEMOISELLES DE ROCHEFORT (Jacques Demy: Frankreich 1967)
Ich hätte zwar gedacht, dass der etwas zwielichtige Kunsthändler, der gerne Farbbeutel zerschießt, der Mörder ist, aber das wäre wohl zu naheliegend gewesen...

THE TALL T (Budd Boetticher: USA 1957)
Randolph Scott, der die Süßigkeitenstangen völlig umständlich immer in der Hand halten muss und mit sich rumträgt (einen Beutel hat er offensichtlich nicht): was für ein tolles Bild, das man von einem Western mitnehmen kann. Und in wie vielen Westerns schämt sich der Bösewicht so derart offensichtlich, ein Bösewicht zu sein (aber es ist halt so geworden)? Ansonsten inszeniert Boetticher seinen Film derart minimalistisch, dass noch nicht mal wie sonst bei ihm durch die Landschaft geritten wird.


HOW TO STEAL A MILLION (William Wyler: USA 1966)
Abgesehen von BEN-HUR, der nicht gerade als sein typischster und persönlichster Film gelten kann: mein erster Wyler. Viel gibt es nicht zu sagen: klassisch inszeniert, witzig, unterhaltsam, perfektes Timing, spannend, mit schauspielerischen Bestleistungen, herzerwärmend. Kann nicht jeder Film.

DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN (Rolf Olsen: BRD / Italien 1967)
Eine Exploitation-Achterbahnfahrt vom Frauenknastschmier zum Flucht-Actioner, vom Home-Invasion-Thriller zum grotesk-schwarzen Slapstick. Gesehen beim Hofbauer-Kongress – mehr zum Film hier.

VIIMNE RELIIKVIA (Grigori Kromanov: Sowjetunion 1969)
Wackere Ritter und scharfe Degen, krosse Hammelkeulen und lüsterne Blicke... Gesehen beim goEast-Festival – mehr zum Film hier.

WUNDER DER SCHÖPFUNG (Hanns Walter Kornblum: Deutschland 1925)
"Galileo" anno 1925: ein Dokumentarfilm über das Universum, das Sonnensystem, die Planeten, die Sterne, erklärt in zahlreichen Animationen. Am Ende gibt es auch ein wenig Weltuntergang als Bonus.

THE FIREWORKS WOMAN (Wes Craven: USA 1975)
Ein großer "kleiner" Film über eine große, tragische Geschwisterliebe. Gesehen beim Hofbauer-Kongress – mehr zum Film hier.


LE FRISSON DES VAMPIRES (Jean Rollin: Frankreich 1971)
Ich zitiere aus einer von mir anderswo publizierten Kurzbesprechung: "Aus [einer] scheinbar klassischen Vampirgeschichte zaubert Rollin Wahn und Poesie: lesbische Vampire entsteigen nicht Särgen, sondern einer großen, antiken Standuhr; die beiden Cousins entpuppen sich als ironisch philosophierende Exzentriker in Klamotten, die man wohl als Hippie-Barock bezeichnen könnte; die Braut traumwandelt nächtens nackt und saugt tagsüber weiße Tauben aus; dem Bräutigam juckt es zunehmend im Schritt, weil seine Braut die erste Ehenacht immer wieder aufschiebt. Gerade in letzterem mag man erkennen, dass Rollin nicht nur ein reiner Ästhet ist, sondern dass sein Herz für alternative Auffassungen von Beziehung und Sex, für Träumer, Verstoßene und Unterdrückte schlägt. [LE FRISSON DES VAMPIRES] ist auch die Geschichte einer jungen Frau, die sich von den engen Fesseln der bürgerlichen Ehe mit einem kalten Rationalisten löst – und lieber freie Liebe mit Außenseitern und Exzentrikern macht."

ULTIMO MONDO CANNIBALE (Ruggero Deodato: Italien 1977)
So nackt wie sein von einem Kannibalenstamm gefangener Protagonist präsentiert sich auch der Film selbst: es ist beeindruckend, wie radikal ULTIMO MONDO CANNIBALE über bestimmt gut ein Drittel seiner Laufzeit nicht nur jegliches gesprochene Wort, sondern auch jede Spur von "entspannender" Rahmenhandlung (etwa ein potentieller Suchtrupp) verweigert und sich komplett dem Märtyrium, dann der Verrohung seines Protagonisten hingibt. Der Ur-Film, der "Quellentext", zu dem CANNIBAL HOLOCAUST später den "kritischen Anmerkungs- und Interpretationsband" liefern sollte.


L'ULTIMO TRENO DELLA NOTTE (Aldo Lado: Italien 1975)
Lado verwischt die Fronten zwischen den "Asozialen" und den "Anständigen", den gutbürgerlichen Familienvätern, den respektablen Damen. Wie in LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO verliert am Ende die Jugend. Abgesehen davon ein fast unerträglich intensiver Film und nicht zuletzt Ennio Morricones Score und sein schauerregendes Harmonika-Thema trägt dazu bei.

L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA (Raimondo Del Balzo: Italien 1973)
Eine dysfunktionale Familie macht einen kleinen Jungen nicht nur unglücklich, sondern schließlich sogar krank... todkrank. Gesehen beim Terza Visione – mehr zu diesem wunderschönen und tieftraurigen Melodrama hier.


Hach... es war so ein schönes Filmjahr. Hier noch ein kleiner Bonus ohne Kommentare, alphabetisch gelistet.

AMNESIA (Barbet Schroeder: Frankreich / Schweiz 2015)
BOXER A SMRT (Peter Solan: ČSSR 1963)
CHI L'HA VISTA MORIRE (Aldo Lado: Italien / BRD 1972) [gesehen beim Paradies-Filmfestival]
THE COMMITMENTS (Alan Parker: Irland / UK / USA 1991)
ENTERTAINMENT (Rick Alverson: USA 2015)
DIE ENTFERNUNG ZWISCHEN DIR UND MIR UND IHR (Michael Kann: DDR 1988) [gesehen beim Paradies-Filmfestival]
FASTER, PUSSYCAT! KILL! KILL! (Russ Meyer: USA 1965)
GANJA & HESS (Bill Gunn: USA 1973)
ICH WAR NEUNZEHN (Konrad Wolf: DDR 1968)
KILLING AMERICAN STYLE (Amir Shervan: USA / Kanada 1988) [gesehen beim Hofbauer-Kongress – hier mehr zum Film]
LIEBE, SO SCHÖN WIE DIE LIEBE (Klaus Lemke: BRD 1972)
MURDER! (Alfred Hitchcock: UK 1930)
RIDE IN THE WHIRLWIND (Monte Hellman: USA 1966)
SALINUI CHUEOK (Bong Joon-ho: Korea 2003)
TOY STORY (John Lasseter: USA 1995)
TOY STORY 3 (Lee Unkrich: USA 2010)
TRUE ROMANCE (Tony Scott: USA / Frankreich 1993)


Wiedersehen macht Freude
In dieser letzten Rubrik geht es um Überraschungen und Offenbarungen bei Zweitsichtungen. 


RISKY BUSINESS (Paul Brickman: USA 1983)
Bei der ersten Sichtung (ich glaube 2011) erwartete ich eine Komödie, die um den in weißen Socken tanzenden Tom Cruise herum aufgebaut wird. Nun habe ich diesen Film endlich als das tolle, subversive, bitterböse und verstörende Schmierfest gesehen, das er ist.


WHERE THE BUFFALO ROAM (Art Linson: USA 1980)
Bei der Erstsichtung hatte ich zu stark Terry Gilliams FEAR AND LOATHING IN LAS VEGAS im Kopf, der sich Hunter S. Thompsons Irrsinn nicht nur erzählerisch, sondern vor allem auch formell zu eigen machte, während WHERE THE BUFFALO ROAM im direkten Vergleich geradezu statisch und leblos wirkte. Die Zweitsichtung hat mir den besonderen Reiz dieser leicht fernsehmäßigen, ja fast Sitcom-artigen Inszenierung offenbart. Gilliam überwältigt – Linson schaut mit der kühlen Distanziertheit eines unerschütterlichen britischen Gentleman zu. Und Johnny Depps Interpretation von Thompson wäre ohne Billy Murrays Vorbild natürlich nicht möglich gewesen.


LA POLIZIA CHIEDE AIUTO (Massimo Dallamano: Italien 1974)
Dieser Film hat mich 2017 bei der ersten Begegnung größtenteils kalt gelassen, sowohl als Giallo-Poliziesco-Hybrid-Thriller, wie auch als filmischer Blick in menschliche Abgründe, wie auch als politischer Film. Beim Nürnberger Giallo-Festival, in einem Kinosaal auf großer Leinwand von einer wunderbaren 35mm-Kopie präsentiert, hat mich der Film hart erwischt, wie eine Abfolge von zunehmend härteren Schlägen. Ja, die Mordzüge des Motorradfahrers mit dem Fleischerbeil und die resultierenden Verfolgungsjagden sind zum Nägelkauen. Ja, das statische Tableau mit den beiden Protagonisten, die den Tonbandaufzeichnungen von den "Treffen" zwischen den jungen Mädchen und den zahlenden Herrschaften zuhören, ist geradezu unerträglich. Ja, der Schluss, als die drei Staatsbediensteten wissende Blicke austauschen und Adorf sein Kündigungsgesuch zerreisst: ein Moment der Hoffnung, weil sie aus dem Inneren des Apparats weiterkämpfen werden – und doch des Unbehagens, weil der resignierte, frustrierte Schritt hin zum totalen Kampf, zum Terrorismus, fast schon naheliegend erscheint.


SECRET BEYOND THE DOOR (Fritz Lang: USA 1947)
2012 sah ich den kommerziell schwer gefloppten SECRET BEYOND THE DOOR als Film, der seine Potentiale nicht "einlöste", als eine Art schwacher Hitchcock-Ripoff des Hitch-Mentors Lang. Statt als schwachen Nachgänger Hitchcocks beschrieb Robert Zion den Film in diesem sehr lesenswerten Text als starken Vorgänger von Dario Argentos SUSPIRIA und INFERNO und regte mich zu einer überfälligen Neusichtung an. Die Argumentation "wie ein Stück aus dem Unbewussten herausgeschnittenes Kino" sowie dass Lang im Gegensatz zu Hitchcock mehr an einer Verdichtung des Traumhaften denn an spannungsvollem Erzählen interessiert war, trifft es perfekt. SECRET BEYOND THE DOOR ist ohne jeden Zweifel merkwürdig, bizarr, off, leicht derangiert und störrisch. Er scheint manchmal regelrecht zu zerfallen in seinen kleinen Episoden: Worte und Taten scheinen ohne Konsequenz in dieser Welt zu verhallen, wie in einem Alptraum. Ein schwieriges Meisterwerk.

Der erste Monat des Jahres 2019 ist nun fast vorbei, da ist es vielleicht etwas zu spät, um ein gesundes, neues Jahr zu wünschen. Aber zumindest ein gutes Jahr 2019 voller toller Filmerlebnisse wünsche ich herzlich allen Lesern.