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Sonntag, 31. März 2013

Verbotene Visionen des Holocaust

KOMISSAR (DIE KOMMISSARIN)
UdSSR 1967 (Premiere: 1988)
Regie: Aleksandr Askol‘dov
Darsteller: Nonna Mordjukova (Klavdija Vavilova), Rolan Bykov (Efim Magazanik), Raisa Nedaškovskaja (Marija Magazanik)



Im „russischen Krisen-Kontinuum“ aus Weltkrieg, Revolutionen und Bürgerkriegen wurden zwischen 1914 und 1922 schätzungsweise 100.000 bis 150.000 Juden ermordet. Antisemitische Pogrome im Russischen Reich waren wiederkehrende Ereignisse in Krisenzeiten, so etwa nach der Ermordung von Zar Alexander II. 1881 und während der Russischen Revolution von 1905. Die Gewalt im Zuge des Ersten Weltkrieges nahm jedoch andere Dimensionen an, als die Russische Armee begann, systematisch Juden unter dem Generalverdacht der Spionage aus frontnahen Gebieten zu vertreiben oder zu deportieren. 1917 brach das Russische Reich unter dem Druck des Kriegs und der revolutionären Bewegungen zusammen. Nirgendwo war dieser vollkommene Zusammenbruch, das Versinken in gewalttätigen Chaos größer als in der Ukraine, wo Dutzende von Armeen sich gegenseitig bekämpften und wo es keine Seltenheit war, wenn eine Ortschaft innerhalb von drei Jahren mehrere Dutzend Machtwechsel erlebte. Hier lebte auch der größte Teil der russländischen Juden. Mit jedem Machtwechsel erlebte die jüdische Bevölkerung eine Welle antisemitischer Gewalt: durch Weißgardisten, Soldaten der Ukrainischen Volksrepublik, aufständische Bauern, polnische Soldaten, marodierende Rotarmisten. Die Pogrome reichten in ihrem Ausmaß von Plünderungen mit vereinzelten Morden bis zu hin zu Massakern mit eindeutig genozidalen Zügen.

Die Kommissarin und die Familie Magazanik
In dieser chaotischen Umgebung spielt Aleksandr Askol‘dovs erster und einziger Spielfilm KOMISSAR. Die Haupt- und titelgebende Figur ist Klavdija Vavilova, eine Kommissarin der Roten Armee, die mit ihrer Einheit im Jahr 1919 oder 1920 in eine nicht namentlich näher gekennzeichnete Stadt in der Ukraine einrückt (wahrscheinlich das westukrainische Berdičev). Die resolute Frau in martialischer Armee-Uniform ist für ihre Härte gefürchtet, und lässt gleich am Anfang einen Deserteur hinrichten. Sie ist aber auch schwanger, und steht kurz vor der Entbindung. Dafür lässt sie sich beurlauben und taucht als Zivilistin in einer zwangsrequirierten Privatwohnung unter. Die Auswahl fällt auf das überaus bescheidene Haus (um nicht zu sagen die Bretterbude) des jüdischen Schmieds Efim Magazanik, der nun für sich, seine Ehefrau, seine sechs Kinder und seine Mutter noch ein Zimmer weniger hat. Als armer Handwerker fühlt sich Efim düpiert und ist zunächst auch in einer entsprechenden Laune. Während er zur Arbeit geht, kümmert sich seine Frau Marija um den personenreichen Haushalt – und sehr schnell auch um „Madam Vavilova“. Die unerbittliche Kämpferin um die Sache der Arbeiter und Bauern versteckt anfänglich kaum ihren Abscheu vor den Magazaniks und ihrer Armut (inwiefern sie antisemitische Ressentiments hegt, bleibt ambivalent). Doch Marija überfällt „Madam Vavilova“ regelrecht mit ihrer Fürsorge: bereitet ihr Tee zu, leiht ihr Hausschuhe aus, gibt ihr Tipps bezüglich der Schwangerschaft, klagt ihr Leid als schwer arbeitende Hausfrau, und näht der Kriegerin, die keine Zivilkleidung (mehr) hat, schließlich ein schönes Sommerkleid.

Die Kommissarin als Mutter
Ihrer Uniform beraubt verliert Klavdija auch ihr martialisches Auftreten, und muss sich langsam damit abfinden, nicht nur weiblicher, sondern vor allen Dingen auch ziviler und menschlicher aufzutreten. Diese allmähliche Verwandlung wird schließlich nach der Geburt des Kindes – für eine relativ reibungslose Entbindung hat Marija gesorgt – beschleunigt. Als ihre Rotarmisten-Kollegen erscheinen und die Nachricht überbringen, dass der Einbruch der Weißen Armee bevorsteht, wird sie vor ein schweres Dilemma gestellt. Soll sie bei den Magazaniks bleiben? Zur Armee zurückkehren? Was wird mit ihrem Kind passieren? Während sie mit der jüdischen Familie in einem Keller das Bombardement der Stadt übersteht, ereilt sie eine schreckliche Vision über die Zukunft der Magazaniks und aller Juden der Stadt. Voller Schrecken hinterlässt sie ihr Kind in Obhut der Magazaniks und kehrt resolut zu ihrer Armee-Einheit zurück, um für den internationalen Sozialismus weiter zu kämpfen.
Was sich wie eine eigentlich relativ harmlose humanistisch-realistische Erzählung anhört, brach in der Sowjetunion der 1960er gleich mehrere Tabus. Zwar sind es eher die inhaltlichen Gesichtspunkte, die zum Verbot des Films und zur Beendigung von Askol‘dovs Karriere führten. Doch es ist zunächst einmal die visuelle Kraft von KOMISSAR, seine schiere Bildgewalt, die den meisten Zuschauer als erstes auffallen dürfte: Bilder, die einen unwiderstehlichen Sog bilden und sich ins Gedächtnis einbrennen. Wie etwa bei mir selbst, der den Film noch in der Schulzeit im Fernsehen gesehen hatte: so etwa die Soldaten, die im Bach liegen und Wasser trinken – freilich aus der Perspektive einer um etwa 140 Grad gekippten Kamera.

KOMISSAR ist, besonders in der ersten Hälfte, über weite Strecken „realistisch“ fotografiert. Die neue Umgebung der Klavdija Vavilova wird in langen Plansequenzen festgehalten, wenn die Kamera durch die enge, überfüllte, gedrängte Wohnung der Magazaniks fährt, und deren Gesichter im Schlaf festhält. Oder wenn sie durch den Hof der Wohnung kreist, Efim dabei beobachtend, wie er sich auf die Arbeit vorbereitet, seinen Werkzeugkoffer packt, seine Frau verabschiedet, langsam weg schreitet. Oder wenn eine nunmehr adrette (Ex-)Kommissarin im Hof sitzt und dem fröhlichen Treiben der Familie mit einem Lächeln im Gesicht beobachtet.

Umso hervorstechender erscheinen daher im Kontrast dazu die Szenen, die das Geschehen stilisieren, verzerren, verfremden, in besonderer Weise hervorheben oder gar in Halluzinationen, Visionen und Träume verfallen. Dieser Gegensatz zwischen realistischer Milieuschilderung und traumartiger Atmosphäre löst sich in der zweiten Hälfte des Films (also nach der Geburt des Kindes) allmählich auf: ab hier beginnen Realismus und Traum manchmal fließend, manchmal abrupt ineinander überzugehen. Diese Störungen des „realistischen“ Filmflusses sind fast ausnahmslos in irgendeiner Weise mit Gewalt und Tod verbunden. Besonders hervorstechend sind drei sehr zentrale Szenen, die am Anfang, in der Mitte und am Ende des Films stehen.

Hinrichtung: statt Blut fließt verschüttete Milch
Die titelgebende Kommissarin wird, wie bereits erwähnt, als autoritäre und durchaus gewaltbereite Person eingeführt. Sie lässt bei Ankunft in die Stadt den Deserteur Emelin verhaften: ein junger Mann, der die Rote Armee verlassen hat, um zu seiner Familie zurückzukehren. Er wird in einem Schuppen eingesperrt und dann der Kommissarin vorgeführt. Sie teilt sie ihm mit, dass sie ihn dem revolutionären Tribunal übergeben wird, sprich: zum Tode verurteilen lässt. Hier folgt eine Montage der anderen Soldaten, die ihn vorwurfsvoll anblicken. Plötzlich entsteht vor Emelins geistigen Auge ein Hinrichtungskommando. Er sieht (hört aber nicht) Vavilova ein einzelnes Wort schreien, es krachen Schüsse. In extremer Zeitlupe bricht er zusammen, und verschüttet dabei den Milchkrug, den er in der Hand vorher hielt: Die Kommissarin hat den Tod gegeben. Diese Szene führt sie als gnadenlose Person ein – ihr revolutionärer Eifer ist dabei bar jeglichen Guten, Edlen und Schönen.

Visionen bei der Geburt
Die Szene der Entbindung, die den Film in zwei Hälften teilt, ist noch weiter stilisiert. Klavdija liegt bei den Magazaniks auf einem Tisch und schreit sich ob der Geburtsschmerzen die Lungen aus dem Hals. Halb verrückt vor Schmerz verfällt sie in Halluzinationen: mit ihrer Armee-Einheit steht sie in einer Wüstenlandschaft und versucht mit anderen Soldaten, einen Kanonenwagen aus dem Sand zu ziehen. Mit dabei ist ein Rotarmist mit einem Augenverband, der kurz danach alleine in der Wüste blind und verzweifelt um Hilfe schreit. Begleitet wird die Szenerie von Klavdijas Stoßatmung und einer elektronisch verfremdeten Musik. Die Kamera bewegt sich in gekippten Winkeln, schließlich auch auf dem Kopf durch die Vision. Plötzlich lassen die Soldaten die Kanone stehen und rennen wie von sinnen davon. Sie kommen an einen Bach, stürzen sich hinein und trinken. Klavdija kommt kurz wieder zu sich, als Marija ihr ein Glas Wasser zu trinken gibt. Die Symbolik dieser surrealen Szene ist an sich sehr eindeutig, doch dass das ungeborene Kind in diesem Fiebertraum von einer Kanone dargestellt wird, scheint verstörend.

Schnell verfällt Klavdija wieder in Halluzinationen. Diesmal läuft sie mit einem Mann um den Kanonenwagen herum, bevor dieser anfängt, sie leidenschaftlich zu küssen. Bedrohliche Sensenmänner in Armee-Uniform tauchen plötzlich auf und mähen imaginäres Gras in der Wüste. Für kurze Zeit wird Klavdija von Marija wieder ins Bewusstsein geohrfeigt (eine Point-Of-View-Aufnahme, in der quasi die Kamera geohrfeigt wird!), um wieder in Schmerz und Visionen zu tauchen. Eine Kavallerie reitet durch die Wüstenlandschaft, an der Spitze der Mann, der sie vorher innig geküsst hat und der wohl ihr Liebhaber und der Vater ihres Kindes ist. In vollem Galopp wird er von einer MG-Salve erfasst und bricht vom Pferd zusammen – in extremer Zeitlupe, und damit in eindeutiger Remineszenz an den hingerichteten Emelin. Nach seinem Tod reitet die Kavallerie weiter, aber nun komplett ohne Reiter, die wohl wie der Liebhaber alle getötet worden sind, bis nur noch die Pferde übrig blieben. Alle menschlichen Protagonisten der Vision sind tot. Das Kind ist nun aber geboren, aus vielen Bürgerkriegs-Toden, die alles andere als heldenhaft, sondern beängstigend sinnlos erscheinen.

Die letzte traumartige Sequenz ist ohne Zweifel die beeindruckendste Szene des ganzen Films und hat auch den längsten Vorlauf: Die Nachricht vom Anrücken der Weißen Armee hat sich bei den Juden in der Stadt ausgebreitet. Sie verbarrikadieren ihre Häuser – so auch die Magazaniks mit tatkräftiger Unterstützung Klavdijas. Derweilen spielen die Magazanik-Kinder ein ganz besonderes Spiel, zu dem sie wohl ihre Bürgerkriegs-Sozialisation inspiriert hat: Pogrom! Die Jungen verfolgen die einzige Magazanik-Tochter, nehmen ihre Puppe weg, schlagen sie, beschimpfen sie. Schließlich „töten“ sie ihre Schwester, indem sie sie an einer Schaukel festbinden und durch die Luft schaukeln – wieder kommt eine Zeitlupe in Einsatz, wie während der früheren Tötungen des Films. Efim ist erzürnt und schimpft auf seine Söhne. Alle haben nun im Keller Zuflucht gefunden. Hier beginnen der jüdische Handwerker und die russische Kommissarin, sich über die Zukunft, den Sozialismus und die antisemitische Pogromgewalt zu unterhalten. Efims Traum des sozialistischen Fortschritts besteht darin, dass eines Tages die Straßenbahn durch seine Stadt fahren könnte. Und doch sagt er mit Bestimmtheit, dass niemals eine Bahn in seiner Heimatstadt gebaut wird – es würde bald keine Menschen mehr hier leben, um sie zu benutzen. Erschüttert beschreibt er, wie sein Bruder von einem Pogromtäter mithilfe einer Friseurschere enthauptet wurde und stellt desillusioniert fest, dass sich niemand daran erinnern wird, wenn Efim Magazanik gewaltsam stirbt. Klavdija hingegen meint, dass das Schießpulver die Menschen bösartig werden lasse, man aber weiterhin für die Internationale kämpfen und auch bereit sein müsse, für sie zu sterben. „Und wann sollen wir leben?“, fragt Efim. Die kleine Magazanik-Tochter fragt „Tante Klavdija“, wo denn ihr Mann sei. „Er ist gefallen, im Kampf“, antwortet die Kommissarin müde. Die Bombardierung der Stadt nimmt an Intensität zu und die Kinder beginnen zu weinen.

Hier fängt Efim an, zu singen und zu tanzen, um seine Familie zu beruhigen. Ostjüdisch gefärbte Musik setzt ein, und alle Magazaniks beginnen in der wohl wunderschönsten, rührendsten und surrealsten Szenen des Films (und von mir aus auch der ganzen Filmgeschichte), im Kreis zu tanzen. Die Intensität des Reigens und der Musik nimmt zu, letztere wird zunehmend elektronisch verfremdet. Es folgt ein harter Schnitt. In nunmehr sepia-gefärbten Bildern marschiert ein große Gruppe Juden, darunter die Magazaniks, mit einem David-Stern an Brust, Arm oder Rücken gekennzeichnet, durch ein Tor in einen Hof, wo sich andere Juden in gestreifter Häftlings-Kleidung befinden. Schwarzer Rauch, der aus einem steinernen Turm steigt, kündet von ihrem kommenden Schicksal. Auch Klavdija steht da, ihr Kind auf dem Arm, und beobachtet das ganze fassungslos. Verstört blickt sie in die Kamera, bevor ihre Vision beendet wird.


Diese etwa zweiminütige Sepia-Sequenz ist das Herz des Films. Hier wird deutlich, dass es KOMISSAR nicht nur um die antisemitische Gewalt im Russischen Bürgerkrieg geht, sondern ganz explizit auch um den Holocaust, der knapp zwanzig Jahre später die jüdische Bevölkerung in der Ukraine und dem restlichen Osteuropa fast vollständig vernichten sollte. Eindeutig zieht Askol‘dov eine Verbindungslinie zwischen den Pogromen des Bürgerkriegs und dem Genozid. Die literarische Vorlage des Films, Vasilij Grossmans Kurzgeschichte „Komissar“ von 1934, wird hier – natürlich mit dem Wissen um den Völkermord – um eine ganz eigene Komponente erweitert und umgedeutet. 

Die Thematisierung des Holocaust grenzte in der Sowjetunion an ein Tabu. Die Bemühungen jüdisch-sowjetischer Künstler, mit dem „Schwarzbuch“ den Massenmord an den europäischen Juden in der sowjetischen Öffentlichkeit bekannt zu machen, scheiterten rasch an der Intervention des Staates, dem der Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg einen gewissen Schub an Legitimation gegeben hatte. Ein an Opfern orientiertes Narrativ über ethnische Massenmorde, an denen zudem manch ein nicht-jüdischer Sowjetbürger teilgenommen hatte, passte nicht in eine Geschichte der siegreichen Sowjetunion. Das „Jüdische Antifaschistische Komitee“, das die Dokumente zum „Schwarzbuch“ zusammengetragen hatte, wurde 1948 aufgelöst. Die Ermordung dessen Vorsitzenden, des Theaterregisseurs Solomon Michoėls, wurde auf makabre Weise als Autounfall getarnt. Die antisemitischen Kampagnen der frühen 1950er wurden zwar durch Stalins Tod abgebrochen, doch der Bann war gebrochen: der Sowjetstaat, der in den 1920er und 1930er Jahren zahlreichen jüdischen Bürgern Aufstiegsmöglichkeiten geboten und Antisemitismus vehement bekämpft hatte, wurde ab Mitte der 1950er Jahre zunehmend gleichgültiger und passiver gegenüber dem Judenhass.

Aleksandr Askol‘dovs überaus positive Darstellung jüdischer Figuren, denen er sehr offensichtlich große Sympathie entgegenbringt, und die Thematisierung antisemitischer Gewalt waren wohl die Hauptgründe, weshalb KOMISSAR verboten wurde. Dies geschah zudem 1967: einem Jahr, in dem der 50. Jahrestag der Oktoberrevolution glorreich gefeiert werden sollte und in dem der Sechstagekrieg antisemitische Ressentiments in der Sowjetunion noch festigte. Die Liberalisierung der sowjetischen Kulturpolitik, die Ende der 1950er Jahre begonnen hatte und durchaus Grenzen hatte, neigte sich zudem langsam dem Ende zu.

Doch auch in vielen anderen Bereichen war KOMISSAR ein Film, der in der Sowjetunion geradezu anecken musste. Der Bürgerkrieg erscheint hier nicht als ein glorreicher Kampf des Sozialismus gegen die Auswüchse des Alten Regimes, sondern als fast apokalyptischer Wirbelwind der gewaltsamen Zerstörung, der nur menschenleere, zerstörte Städte und verwirrte, gar traumatisierte Menschen zurücklässt. Die kampfmüde Hauptfigur bricht als als Soldat praktisch zusammen unter der Sehnsucht, ein normales und ziviles (Familien-)Leben führen zu können. Immer wieder deutet Efim an, dass er als Handwerker keinen Unterschied zwischen den wechselnden Herren der Stadt sieht: womit er nicht nur den latenten Antisemitismus in den niedrigen Rängen der Roten Armee anspricht, sondern auch die Dysfunktionalität und Misswirtschaft der sowjetischen Verwaltung, angesichts derer sozialistische Parolen wie leere Hülsen wirken mussten. Zudem strotzt der Film nur so von christlicher und jüdischer religiöser Symbolik: wenn immer wieder Kirchen und Synagogen im Stadtbild gezeigt werden, wenn Efim seiner Ehefrau die Füße wäscht, wenn Klavdija ihr Kind zu einer zerstörten Synagoge trägt, um dort eine Art Segnung zu empfangen. Überhaupt die Symbolik, die Chiffren, die Andeutungen, die Assoziationen, die Allegorien: überfüllt ist der Film damit, und sie haben größtenteils nicht die Funktionen von Antworten, also von festgelegten Deutungen, sondern eher von Fragen – somit ein ungewöhnliches Werk in einem Regime, das eher eine Antwort- als eine Frage-Kultur hatte.

Ein anderer Film der 1960er Jahre aus dem staatssozialistischen Osteuropa, der sich mit dem Holocaust befasste (und hier auf diesem Blog bereits besprochen wurde), könnte einem assoziativ als komplementäres Gegenstück zu KOMISSAR einfallen: Juraj Herz‘ SPALOVAČ MRTVOL (Der Leichenverbrenner). Im Gegensatz zu Askol‘dovs Film, wo die Täter der antisemitischen Gewalt überhaupt nicht zu sehen sind, stellt Herz diese ganz bewusst in den Mittelpunkt. Auch ist die surreale Verfremdung hier wesentlich ausgeprägter und konstanter. Doch in ihren elliptisch-assoziativen Bildern lassen sich doch Gemeinsamkeiten in den beiden Filmen finden.

Freilich hat Aleksandr Askol‘dov für sein Werk sehr viel schwerer gebüßt als sein tschechoslowakischer Kollege. Nicht nur wurde sein Diplomfilm verboten. Askol‘dov wurde auch aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, mit einem lebendslangen Verbot belegt, weitere Spielfilme zu drehen und schließlich die Provinz verbannt. Erst 21 Jahre später wurde KOMISSAR aus dem Giftschrank geholt und erlebte seine Weltpremiere beim Internationalen Filmfestival Berlin, wo er einen „Silbernen Bären“ gewann. Während seiner Verbannung in Tatarstan drehte Askol‘dov zwar einige kurze Dokumentarfilme über eine LKW-Fabrik, doch KOMISSAR ist und bleibt der einige Spielfilm des heute 80-Jährigen.




Die Screenshots lassen es vielleicht erahnen, aber die deutsch-russische Ruscico-Edition des Films ist alles andere als ideal: das Bild ist etwas unklar, wenig kontrastreich und läuft mit überaus unangenehmen Nachzieheffekten. Das Prädikat „restaurierte Fassung“ auf der Hülle erscheint da ein bisschen wie ein Hohn. Als Alternative gäbe es eine UK-Fassung von Artificial Eye, die zudem auch noch über zahlreiche Extras verfügt, über deren Bildqualität ich jedoch keine konkrete Aussage treffen kann (außer, dass sie nicht schlechter sein kann). In Frankreich und Italien ist der Film Anfang dieses Jahres erstmals veröffentlicht worden, wobei die französische Edition nur französische Untertitel hat und die italienische allen Anschein nach nur in einer Synchronfassung vorliegt.

Samstag, 9. Juni 2012

Familienurlaub, Liebe und Massenterror

DIE SONNE, DIE UNS TÄUSCHT (UTOMLENNYE SOLNCEM/SOLEIL TROMPEUR)
RUS/F 1994
Regie: Nikita Michalkov
Darsteller: Nikita Michalkov (Sergej Kotov), Oleg Men’šikov (Mitja), Ingeborga Dapkūnaitė (Marusja), Nadežda Michalkova (Nadja) u.a.


Prolog:

„Utomlennye solncem“ ist eine wunderschöne und typisch russische Instrumental-Konstruktion! Sie bedeutet soviel wie „Die von der Sonne Ermüdeten“. Mit dem sechsten grammatikalischen Fall wird der Titel des sowjetischen Schlagers „Utomlennoe solnce“ (Die ermüdete Sonne) verballhornt. Die melancholische Komposition heißt eigentlich auf polnisch „To ostatnia niedziela“ (Der letzte Sonntag) und stammt aus der Feder des polnischen Jazz-und-Tango-Komponisten Jerzy Petersburski. Zenon Friedwalds dazugehöriger Text handelt vom letzten Treffen zweier getrennter Liebhaber. Aleksandr Cfasmans Jazz Band adaptierte zwei Jahre später, nämlich 1937, eine russisch-sowjetische Version des Lieds unter dem Titel „Utomlennoe solnce“, mit einem ähnlichen Text.
„Utomlennoe solnce“ war zu seiner Erscheinungszeit ein Hit und bildete gewissermaßen den Soundtrack zum Großen Terror. Es ist ein kleiner Goof, dass das Lied von 1937 im Film verwendet wird, der 1936 spielt. Schlichtweg einfacher wäre es gewesen, die Handlung ein Jahr nach hinten zu verlegen, denn die Komposition trägt in allen möglichen Variationen ganz entscheidend zur Atmosphäre des Films bei!

Die ermüdende Sonne:

Morgens um halb zehn: Einige friedliche Bauern wollen auf dem Feld arbeiten, aber plötzlich tauchen aus dem Nichts Panzer auf. Ein Militärmanöver beginnt, ganz egal, wie viel Weizen dabei draufgeht. Die Bauern sind empört und wollen dies natürlich verhindern. Und dann taucht er auf! Ein tapferer Reiter in Leinenhosen und Matrosenunterhemd, der sich den Panzern mutig entgegenstellt. Er weist die Leiter des Manövers wortgewaltig zurecht, schreit einige Befehle und... das ganze wird abgeblasen und soll anderswo stattfinden. Es ist morgens um halb zehn im schönen Sommer des Jahres 1936 in der Sowjetunion.

Der Patriarch, Held des Russischen Bürgerkriegs, Altbolschewik und Oberst der Roten Armee Sergej Kotov (exzellent vom Regisseur Nikita Michalkov dargestellt) versammelt an einem heißen Tag Ehefrau, Tochter, erweiterter Familienkreis und Bekannte in seiner Sommer-Datscha in der Nähe von Moskau. Die Gesellschaft frühstückt, trinkt Tee, plaudert, hört Schallplatten, tanzt, musiziert, macht Witze, geht schwimmen und amüsiert sich prächtig. Es ist die Idylle einer aristokratisch anmutenden Familie, wie Čechov sie nicht besser hätte beschreiben können. Währenddessen entledigt sich das stalinistische Regime im ersten Moskauer Schauprozess der Altbolschewiki Kamenev und Zinov’ev und bereitet eine beispiellose Terrorkampagne vor, die zur Erschießung Hunderttausender Menschen führte. Und dann kommt auch noch ein unerwarteter Gast in Kotovs Datscha.

Um zunächst eines klarzustellen: Der Film endet für die wichtigsten Figuren des Films eher schlecht! Und wenngleich „Die Sonne, die uns täuscht“ wahrscheinlich nicht nur einer der besten, sondern auch differenziertesten Filme über den Stalinismus ist, so ist seine Beschäftigung mit dem Thema bis zur letzten halben Stunde sehr subtil und eher verdeckt – zumindest für jeden, der den Film zum ersten Mal sieht. Es dominiert die chaotische Atmosphäre einer Familienkomödie, die von absurd-grotesken Situationen durchzogen ist. Die Datscha gleicht einem Irrenhaus. Onkel Vsevolod schwärmt zusammen mit den zwei Omas von den alten Zeiten, wenn er nicht gerade die hypochondrische und leicht schwachsinnige Haushälterin anbaggert. Onkel Kiriks erratisches Verhalten lässt an seiner geistigen Gesundheit ebenfalls zweifeln, wenn er nicht gerade die Alkoholreserven plündert oder eine junge Musikstudentin anbaggert, die ebenfalls aus unbekannten Gründen das Kotov’sche Anwesen besucht. Dazwischen ist Kotovs Tochter Nadja so quengelig wie ein sechsjähriges Kind es eben sein kann.

Noch mehr Leben in die ohnehin verrückte Bude bringt Mitja. Er ist ein attraktiver Mann in den Dreißigern, humorvoll, eloquent, gebildet, musikalisch geschult und er kommt mit allen beteiligten Personen wunderbar aus. Hinter der fröhlichen Fassade lauert jedoch der Zerfall von Kotovs Familie, denn Mitja ist auch der ehemalige Liebhaber von Marusja, der Ehefrau Kotovs. Die Liebe zwischen den beiden lodert noch unter der Oberfläche. Und Mitja ist Offizier des NKVD und hat den Auftrag, Stalins Terror in die fröhlich-ausgelassene Gesellschaft am ländlichen Rand Moskaus zu bringen.

Mitja ist nicht zuletzt dank der außergewöhnlichen Darstellung Oleg Men’šikovs so interessant geraten. „Utomlennye solncem“ ist dadurch aber noch lange nicht ein Film über einen Täter! Michalkov macht es sich tatsächlich nicht so einfach. Denn obwohl es sich oberflächlich um eine oft absurde Familienkomödie mit einigen melodramatischen Elementen handelt, ist die Darstellung des Stalinismus in diesem Film sehr viel differenzierter und subtiler, als bei der ersten Sichtung denkbar wäre. Dafür muss man sich jedoch von gängigen, von der Totalitarismus-Theorie beeinflussten Sichtweisen entfernen, wonach ein allmächtiger sowjetischer Staat seine eigenen Bürger nur durch Terror unterworfen habe.

Mitja ist als NKVD-Offizier zwar offensichtlich ein Täter. Doch auch er hat eine komplizierte Vergangenheit. Während des Russischen Bürgerkriegs kämpfte er auf Seiten der Weißen Armee und emigrierte nach deren Niederlage. Voller Sehnsucht, seine Heimat und seine Geliebte Marusja wieder zu sehen, ging er mit den sowjetischen Sicherheitsbehörden einen Deal ein und arbeitete aus dem Ausland als Doppelagent. Kurz nach seiner Rückkehr in die russische, nun sowjetische Heimat, beorderte ihn eine hochgestellte Armee-Persönlichkeit wieder in den Auslandsdienst... und nahm Mitja gleich noch die geliebte Marusja weg.

Diese hochgestellte Persönlichkeit ist natürlich niemand anders als Kotov selbst. Kotov, der die Entführung und Hinrichtung emigrierter weißer Offiziere selbst organisiert hat. Kotov, der seinen Dienstrang nicht nur gebraucht, um Urlaubs-störende Panzermanöver zu beenden, sondern auch um einen lästigen Rivalen in Sachen Liebe loszuwerden. Kotov, gläubiger Altbolschewik und Stalinist. Kotov, der nicht nur Stalins Widmung auf einem gemeinsamen Foto hat, sondern auch dessen direkte Kreml-Telefonnummer. Kotov, dessen Name und Beziehungen ihn jedoch vor dem Großen Terror nicht schützen werden.

Sowohl Mitja wie Kotov differenzieren sich im Verlaufe des Films und lösen Zuordnungen wie „Täter“ und „Opfer“ zunehmend auf. Die „Bösen“ sind keine absoluten Bösen, und die „Guten“ haben selbst Schmutz (und Blut) an ihren Händen kleben. Die drei dargestellten NKVD-Schergen sind keine sadistischen Schläger, sondern „normale“ Leute: Sie schwitzen (weil es eben Sommer und extrem heiß ist), sie packen ihre Mittagsbrote aus (weil sie eben hungrig sind), sie fahren einen Häftling nach Moskau, wo er wahrscheinlich erschossen sind (weil es eben ihr Job ist). In wenigen Bildern erfährt hier der Zuschauer hundert Mal mehr über die Vollstrecker des stalinistischen Terrors als etwa in Andrzej Wajdas überaus krudem Machwerk „Katyń“.

Oberflächlich folgt die Haupthandlung des Films der klassischen Chruščev’schen Deutung des Stalinismus: der Große Terror als „Große Säuberung“, als Selbstzerstörung des Partei-, Armee- und Staatsapparats, letztlich als Selbstviktimisierung der bolschewistischen Elite. In einem charakter-zentrierten Film mit komplexen individuellen Hauptfiguren ist es sicherlich schwierig, den Massencharakter der stalinistischen Gewalt darzustellen. Doch zeigt der Film zumindest bei einer Figur, dass der Terror jeden treffen konnte, und zwar ganz besonders jene, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren.

Doch gerade in seiner Stalinismus-Darstellung jenseits des reinen Terrors läuft „Utomlennye solncem“ zu Hochform auf. Dass der Film sich oft so anfühlt, als hätte ausgerechnet der Fellini der Spätphase Čechov beim Verfassen des Drehbuchs geholfen, ist für die treffende Charakterisierung der Stalin-Ära durchaus hilfreich. Wenn es nicht gerade um die Aushandlung zwischenmenschlicher Beziehungen geht, verfällt der Film in ein befremdliches und bizarres Chaos oder montiert völlig irrationale Handlungen aneinander. Als sich die Kotov’sche Gefolgschaft an einem Flussstrand mit zahlreichen anderen Badegästen gerade entspannt, taucht aus dem Nichts eine Bürgerwehr auf, die eine spontane und dilettantische Gasmaskenübung veranstaltet. Der ganze Spaß endet im völligen Chaos: Personen werden verletzt, die Liegetragen sind nicht für Frauen über 100 Kilo konzipiert und das ganze dient scheinbar letztlich nur dazu, dem Chef der Bürgerwehr eine kleine Nacktbade-Sitzung zu ermöglichen. In dieser befremdlichen Szene ist ein Kern-Wesenszug der Sowjetunion der 1930er festgehalten: das stalinistische Regime war ein Mobilisierungs-Regime, das ganz bewusst mit inszeniertem Chaos die Bevölkerung in permanenter Alarmbereitschaft halten wollte und das die Gesellschaft mit dem militanten Kampfgeist der Bürgerkriegs-Ära durchdringen wollte.

Der Stalinismus ließ den Geist des Russischen Bürgerkriegs für eine Generation wieder aufleben, die ihn selbst nicht aktiv erlebt hatte. Während Getreidebrigaden in den Dörfern den Bürgerkrieg wieder in Echt aufleben ließen, wurden Schlachtfelder an anderer Stelle künstlich in Form sozialistischer Monumentalprojekte geschaffen. Die Moskauer Metro, aber auch der Weißmeer-Ostsee-Kanal zeugen noch heute davon. In „Utomlennye solncem“ werden hingegen in der Nähe von Kotovs Datscha auf Großbaustellen Heißluftballons und Zeppeline gebaut. Das ist sicherlich als Satire auf die stalinistischen Monumentalvorhaben mit ihrem blinden und militanten Aktionismus zu verstehen – besonders angesichts ihres Verwendungszwecks! Obwohl sich tatsächlich nicht ausschließen lässt, dass ein sozialistischer Wettbewerb zum Heißluftballon-Bau tatsächlich stattgefunden hat.

Das Regime ließ seinen Bürgern aber auch sehr wohl Freiräume zur Entspannung und zum Rückzug, ja gar zu einer geradezu kleinbürgerlichen Familienidylle. Gerade die gemeinsamen Szenen zwischen Kotov und seiner Tochter Nadja (gespielt von der Tochter des Regisseurs und Hauptdarstellers Nadežda Michalkova) sind auf ehrliche Weise bewegend und rührend. Sie sind auch die einzigen Momente, in denen Spannung und Chaos weichen... zumindest vorübergehend. Denn Anspannung, Alarmbereitschaft und Aktionismus wurden als Ausnahmezustand zum Normalzustand, während der Rückzug als potentieller Normalzustand zur Ausnahme wurde. Diese extreme Anspannung der frühen Stalin-Zeit ist immer vorhanden und dominiert, wenngleich meist latent, die Grundstimmung des Films: sei das nervöse Klopfen auf ein Wasserglas, das subtile und leicht aggressive Minderwertigkeitsgefühl Kotovs gegenüber der aristokratisch-intellektuellen und frankophilen Familie Marusjas, die herumliegenden Glasscherben am Badestrand, die beiläufige Erwähnung von Säuberungen an der Fakultät beim Frühstück oder die Narben an Mitjas und Marusjas Körper, die von vergangenen tödlichen Kämpfen und Selbstverletzungen zeugen.

Mit dem Zweiten sieht man angeblich besser. Bei „Utomlennye solncem“ werden die meisten Zuschauer vielleicht erst ab der dritten Sichtung etwas sehen, da der Film aufgrund seiner Vielschichtigkeit durchaus überwältigen kann. Selbst bei der vierten Sichtung kann man noch kleine Details erkennen, die die Komplexität des Films weiter bereichern – ohne ihn unbedingt logischer machen zu müssen: Z.B. die überaus schwierige Beziehung Mitjas zu Marusja, deren Ursprünge im Grenzbereich zwischen Inzest und Pädophilie vermutet werden können. Auch die Frage, wie der Prolog und der Epilog chronologisch zusammengehören, kann je nach Sichtung eine andere Antwort finden: liegt ein ganzer Tag zwischen ihnen oder trennt sie nur wenige Minuten? Eine interessante Frage, die an Mitjas Schicksal nichts ändert, sehr wohl aber die Bedeutung des Telefonats im Prolog: trägt Stalin oder Mitjas eigenes Gewissen eine größere Schuld am Verderben des charmant-teuflischen NKVD-Offiziers?

Epilog:

„Utomlennye solncem“ hat 1994 den Großen Preis der Jury beim Cannes-Festival und ein Jahr später den Oscar für den besten fremdsprachigen Film gewonnen. Dies trug wohl dazu bei, dass Michalkov den Erfolg irgendwie erneuern wollte, etwa durch eine Fortsetzung. Da am Schluss des Films eigentlich alle wesentlichen Figuren tot sind und Michalkov keine Fortsetzung als Zombie-Version drehen wollte – was in einer gewissen Weise gar nicht so unpassend gewesen wäre – hat er eine riesige, großkalibrige „deus ex machina“ ausgepackt. Die Figuren sind eigentlich gar nicht gestorben oder gestorben worden, sondern kämpfen nun gegen das faschistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Das ganze ist 2010 rausgekommen, heißt „Utomlennye solncem 2“ und sieht vom Plakat her aus wie eine Art „Rambo à la russe avec moustache“... Vielleicht sind die Zombies der geplanten Untoten-Version einfach nur abgehauen, nachdem sie Michalkov das Gehirn weggefuttert haben.

Technischer Hinweis:

Der Film ist im deutschsprachigen Raum nicht auf DVD zu finden. Wenn er im deutschsprachigen Fernsehen läuft, dann nur massiv (um etwa 20 Minuten) gekürzt! Der gepflegte Cinephile findet den Film in einer britischen DVD-Ausgabe, hier mit der ungekürzten Laufzeit von 146 Minuten.

Freitag, 27. April 2012

Bilderflut aus den Karpaten

FEUERPFERDE (DDR-Titel SCHATTEN VERGESSENER AHNEN, original (ukrainisch) TINI ZABUTYCH PREDKIW, russisch TENI ZABYTYCH PREDKOW)
UdSSR (Ukraine) 1964
Regie: Sergej Paradschanow
Darsteller: Iwan Mikolaitschuk (Iwan), Larissa Kadotschnikowa (Maritschka), Tatjana Bestajewa (Palagna), Spartak Bagaschwili (Jurko), Nina Alisowa (Iwans Mutter)


FEUERPFERDE, der erste Film, in dem sich Sergej Paradschanow künstlerisch voll verwirklichen konnte, ist von fast unfassbarer Schönheit. Paradschanow findet erlesene Bildmotive ohne Ende, die meist in leuchtenden Farben präsentiert werden. In Verbindung mit der ungemein beweglichen Kamera ergibt sich ein visueller Rausch, der unablässig auf den Zuschauer einwirkt. Man kommt manchmal nicht mehr dazu, die Untertitel zu lesen, weil man ständig von den Bildern überwältigt wird.


Die Handlung ist - zum Glück, könnte man fast sagen - nicht besonders kompliziert. Sie spielt bei den Huzulen, einem Volk von halbnomadischen Schafzüchtern in den nördlichen Karpaten, und ist in einer unbestimmten vormodernen Vergangenheit (die bei den abgeschieden lebenden Huzulen bis ins späte 19. Jh. andauerte) angesiedelt, in der noch Mythen, Legenden und Aberglaube ins Alltagsleben hineinwirkten. Neben den Bildern trägt auch der Soundtrack, der sich teilweise aus huzulischer Volksmusik speist, zur Schönheit des Films bei. So gibt es archaisch-dissonant wirkende Klänge der Trembita, eines entfernt mit dem Alphorn verwandten Blasinstruments, und fremdartig-schönen Frauengesang, der an "Le Mystère des Voix Bulgares" erinnert.


Es handelt sich um eine Verfilmung der Erzählung "Schatten vergessener Ahnen" (1912) des ukrainischen Schriftstellers Michailo Kozjubinskij (1864-1913), der sich dabei seinerseits bei huzulischen Märchen und Legenden bedient hatte. Der erste Teil des Films ist eine Art "Romeo und Julia auf dem Dorfe". Am Anfang sind die späteren Liebenden, Maritschka und Iwan (von ihr "Iwanko" genannt), noch Kinder. Maritschkas Vater erschlägt Iwans Vater im Streit, nachdem dieser ihn ausgerechnet beim Gottesdienst in der Kirche provoziert hatte. Trotz der Bluttat befreunden sich die Kinder. Die Jahre vergehen, und aus den Freunden wird ein Liebespaar. Aber Iwans Mutter hat für die Tochter der verfeindeten Familie nur Hass übrig. Iwan, der als einziger von vielen Geschwistern noch lebt, muss für seine verwitwete Mutter sorgen und hat nicht genug Geld, um Maritschka heiraten zu können. Um doch noch genug zu verdienen, um einen eigenen Hausstand gründen und die Geliebte heiraten zu können, verdingt sich Iwan als Schäfer auf einer weit entfernten Weide. Doch die große Liebe endet tragisch. Während seiner Abwesenheit stürzt Maritschka beim Versuch, ein entlaufenes Lamm aus einer Felswand zu retten, in einen reißenden Wildbach und ertrinkt. Iwan ist am Boden zerstört und versinkt in Apathie.


Die zweite Hälfte des Films verfolgt Iwans weiteren Weg. Nach Jahren der Verwahrlosung und des ziellosen Umherschweifens (der Film ist hier für einige Minuten schwarzweiß, um seine Verfassung widerzuspiegeln) findet er langsam ins Leben zurück. Er heiratet die wohlhabende und gut aussehende Palagna, doch die Ehe steht unter keinem guten Stern. Sie bleibt kinderlos, und Iwan kann Maritschka nicht vergessen, was schließlich auch Palagna nicht verborgen bleibt. Um ihn trotzdem an sich zu binden, will sie mit Hilfe von Magie für Nachwuchs sorgen, doch das geht nach hinten los. Palagna verfällt dem mächtigen Zauberer Jurko, der sogar Stürme bändigen kann, und wird seine Geliebte. Schließlich planen die beiden sogar, Iwan mit Hilfe schwarzer Magie loszuwerden. In einer Dorfschänke kommt es zu einem Kampf der Rivalen, und Jurko verletzt Iwan mit einem Beilhieb am Kopf. Halb besinnungslos torkelt Iwan in einen Wald, wo ihm Maritschka erscheint. Ein Geist, oder nur eine Halluzination? Paradschanow lässt die Unterschiede verschwimmen. Als ihn Maritschkas Erscheinung schließlich berührt, stirbt Iwan. Den Schluss des Films bildet Iwans Totenfeier, die nahtlos in ein bacchantisches Fest übergeht, das von staunenden Kindern durch ein Fenster beobachtet wird.


Es ist tragisch, dass es in Paradschanows Biographie eine Lücke von 15 Jahren gibt, in denen er keinen Film drehen durfte. Sergej Paradschanow wurde als Kind armenischer Eltern (sein Geburtsname war Sarkis Paradschanian) in Tiflis geboren, wo er aufwuchs und zunächst studierte. Dann ging er nach Moskau an die staatliche Filmhochschule, wo Alexander Dowschenko, der Altmeister des ukrainischen Films, zu seinen Lehrern zählte. Nach seinem Abschluss 1951 ging Paradschanow auf Dowschenkos Anraten zu den nach ihm benannten Filmstudios in Kiew. Dort drehte Paradschanow eine Reihe von Dokumentar-, Kurz- und Spielfilmen, die er später alle als wertlos bezeichnete. Die stalinistische Doktrin des Sozialistischen Realismus wurde seit der Tauwetterperiode (nach dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956) nicht mehr durchgesetzt, schwebte als Ideal aber immer noch über dem sowjetischen Film, und Paradschanow konnte oder wollte sich nicht komplett davon lösen. Umso radikaler tat er es dann mit FEUERPFERDE. Dass ein völlig anderer sowjetischer Film möglich war, hatte ihm vor allem Andrej Tarkowskijs erster Spielfilm IWANS KINDHEIT gezeigt. Paradschanow und Tarkowskij wurden bald enge Freunde und blieben es bis zu Tarkowskijs Tod 1986.


Auch FEUERPFERDE wurde von den Kiewer Dowschenko-Studios produziert. Dass das überhaupt möglich war, lag vor allem am ukrainischen Parteichef Petro Schelest, der ein starker Förderer der kulturellen und in gewissem Ausmaß auch der politischen Autonomie der Ukraine war, und der selbst ukrainischen Dissidenten erstaunlichen Spielraum gewährte. Es ist auch nicht richtig, dass Paradschanow wegen FEUERPFERDE unmittelbar in Schwierigkeiten kam, wie manchmal behauptet wird. Ein Teil der kommunistischen Kulturbürokratie war sicher irritiert, aber ein erstaunlich großer Teil der sowjetischen Kritiker feierte den Film, und selbst ein staatliches Gremium wie der ukrainische Zweig von Goskino belobigte FEUERPFERDE und sorgte dafür, dass er auch außerhalb der Ukraine nicht russisch übersprochen, sondern in der ukrainischen Originalfassung in die Kinos kam, was durchaus als Privileg zu verstehen war. Ein Privileg war es auch, dass FEUERPFERDE im westlichen Ausland auf Festivals gezeigt wurde, wo er über ein Dutzend Preise gewann (jedoch keinen BAFTA Award, wie in der IMDb und der deutschen Wikipedia fälschlich behauptet wird).


Bald begannen dann jedoch Paradschanows Probleme. Nach Chruschtschows Sturz im Oktober 1964 stieg zwar Schelest in der Parteihierarchie weiter auf, aber insgesamt wurde das innen- und kulturpolitische Klima der UdSSR rauer. Paradschanow sprach seine Ablehnung des Sowjetsystems offen aus, unterzeichnete Petitionen für inhaftierte Dissidenten etc. und bekam die Folgen zu spüren. Er wurde wegen "ukrainischem Nationalismus" verhaftet (was bei einem armenisch-georgischen Regisseur durchaus bemerkenswert war), aber bald wieder freigelassen. 1966 übersiedelte er von Kiew nach Jerewan in Armenien. Nach FEUERPFERDE wurden sowohl in der Ukraine wie in Armenien vier Jahre lang alle seine eingereichten Drehbücher abgelehnt, abgesehen von einem kurzen Dokumentarfilm 1967. Dann durfte er 1968 in Armenien wieder einen Spielfilm drehen, der um Sayat Nova, einen armenischen Dichter, Troubadour und Mönch des 18. Jahrhunderts, kreist, und der sich einer stringenten Handlung verweigert und stattdessen Tableaus von atemberaubender Schönheit präsentiert. Doch der vorgesehene Titel SAYAT NOVA musste in ZWET GRANATA (DIE FARBE DES GRANATAPFELS) geändert werden, und unmittelbar nach der Fertigstellung wurde der Film verboten. 1971 wurde dann eine von Sergej Jutkewitsch entschärfte und verstümmelte Fassung des Films in die sowjetischen Kinos gebracht. 1980 wurde eine weiter korrumpierte Kopie der Jutkewitsch-Fassung in den Westen geschmuggelt und sorgte dort trotz ihrer Mängel für Aufsehen.


Nach DIE FARBE DES GRANATAPFELS wurden wiederum alle Drehbuchentwürfe abgelehnt, und Ende 1973 wurde Paradschanow verhaftet und angeklagt. Die Anklage war ein wildes Gebräu, das Homosexualität, eine angebliche Vergewaltigung, Verbreitung von Pornographie, illegalen Handel mit Ikonen und weiteres umfasste. Richtig daran war nur, das Paradschanow bisexuell war, die anderen Punkte waren an den Haaren herbeigezogen oder frei erfunden. Paradschanow wurde zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt und in verschiedenen Straflagern in Sibirien untergebracht, meist unter Schwerkriminellen und in unwürdigen Bedingungen. Seine Freunde Tarkowskij und Michail Wartanow protestierten öffentlich, und es gab auch internationale Proteste, vor allem von französischen und italienischen Künstlern und Intellektuellen. Aber erst nach vier Jahren wurde Paradschanow freigelassen. Angeblich gab ein persönliches Treffen von Louis Aragon und dessen russischer Frau mit Leonid Breschnew den Ausschlag.


Paradschanow lebte jetzt in Tiflis und durfte weiter keine Filme drehen. 1982 wurde er erneut verhaftet und angeklagt, nach einem Dreivierteljahr im Gefängnis aber freigesprochen. Und 1984, kurz vor Beginn der Ära Gorbatschow, erhielt er endlich wieder eine Drehgenehmigung. Mit dem in Georgien gedrehten DIE LEGENDE DER FESTUNG SURAM (1985) und dem in Aserbaidschan entstandenen KERIB, DER SPIELMANN (1988) griff Paradschanow seinen Stil der 60er Jahre wieder auf (der bei beiden Filmen als Co-Regisseur genannte Schauspieler Dodo Abaschidse ist nur aus formalen Gründen aufgeführt, in Wirklichkeit hat Paradschanow allein inszeniert) und erneuerte auch seinen bereits in den 60er Jahren errungenen internationalen Ruf. Beide Filme gewannen diverse Preise, und Paradschanow reiste auch in den Westen, so 1988 zum Münchner Filmfest, wo er Ehrengast war und eine Retrospektive seiner Filme gezeigt wurde. Ein weiterer begonnener Film, der autobiographische Elemente enthalten sollte, blieb durch Paradschanows Tod unvollendet. Er starb 1990 in Tiflis an Krebs, und er hinterließ große Fußstapfen, die kaum jemand ausfüllen konnte. "Wer versucht, mich zu kopieren, ist verloren", soll er einmal gesagt haben.


FEUERPFERDE ist in Russland bei RUSCICO und in England bei Artificial Eye (engl. SHADOWS OF FORGOTTEN ANCESTORS) auf DVD erschienen. Eine deutsche Lizenzausgabe der RUSCICO-Scheibe scheint derzeit nicht mehr erhältlich zu sein. - Selten habe ich mich mit dem Aussortieren der Screenshots so schwer getan wie hier, deshalb muss ich jetzt einfach noch ein paar bringen. Zum Vergrößern draufklicken.








Donnerstag, 20. Oktober 2011

WENN DIE KRANICHE ZIEHEN

Dies ist die gekürzte und leicht überarbeitete Version eines Artikels, der 2004 im Usenet und 2006 als PDF in der Filmzentrale veröffentlicht wurde (in der längeren Fassung wird noch der erstaunliche SOY CUBA angerissen, der eine eigene Besprechung verdient).

WENN DIE KRANICHE ZIEHEN (DDR-Titel DIE KRANICHE ZIEHEN, russ. LETJAT SCHURAWLI)
UdSSR 1957
Regie: Michail Kalatosow
Darsteller: Tatjana Samoilowa (Veronika), Alexej Batalow (Boris), Wassili Merkurjew (Fjodor Iwanowitsch), Alexander Schworin (Mark), Swetlana Charitonowa (Irina), Valentin Subkow (Stepan)


Im Februar 1956, knapp drei Jahre nach Stalins Tod, fand in Moskau der 20. Parteitag der KPdSU statt. Auf dieser denkwürdigen Veranstaltung griff Nikita Chruschtschow in einer berühmt gewordenen Rede Stalin scharf an und leitete damit die Entstalinisierung ein. In der darauf folgenden "Tauwetterperiode", die bis zur "neuen Eiszeit" unter Leonid Breschnew (ab 1964) währte, genossen Künstler und Intellektuelle in der Sowjetunion weit mehr Freiheiten als im Vierteljahrhundert zuvor. Eine nur lose zusammenhängende Gruppe von Filmschaffenden nutzte die neue Freiheit, um sich von den Zwängen des "Sozialistischen Realismus" zu lösen und individuell geprägte, teilweise gar systemkritische Filme zu drehen. Ihr bekanntester Vertreter war Michail Kalatosow, und WENN DIE KRANICHE ZIEHEN war der künstlerisch und kommerziell erfolgreichste Film der Epoche.


Moskau 1941, kurz bevor die Sowjetunion in den 2. Weltkrieg hineingezogen wird. Während ein Schwarm Kraniche im eleganten V-förmigen Formationsflug über den Himmel zieht, trifft sich an den Ufern der Moskwa ein junges Liebespaar. Boris Borosdin ist Arbeiter und Sohn eines angesehenen Arztes, Veronika will irgendwann mal Architektur studieren. Boris nennt sie Belka (Eichhörnchen), und in der Tat erinnert sowohl ihr hübsches Gesicht als auch ihr quirliges Wesen ein wenig an das agile Nagetier. Veronika sieht den Vögeln nach und rezitiert ihren Lieblingsvers: "Kraniche wie Schiffe, am Himmel segelnd, weiße wie graue, mit langen Schnäbeln, ziehen sie dahin ..." Mit der Idylle ist es schnell vorbei: Nazi-Deutschland marschiert in der Sowjetunion ein. Boris und sein Freund und Arbeitskollege Stepan melden sich freiwillig zur Front, zunächst ohne Wissen von Veronika und Boris' Familie. Boris' Cousin Mark dagegen, ein junger Pianist, hofft auf seine Freistellung. Mark, der in der Wohnung der Borosdins lebt, macht auch Veronika schöne Augen, ohne eine Chance bei ihr zu haben. (In einer deutschen Fassung des Films wurde aus Mark aus unerfindlichen Gründen Boris' Bruder, was aber in mehrfacher Hinsicht keinen Sinn ergibt. Er ist definitiv sein Cousin.)


Einen Tag vor Boris' Abmarsch, und vor Veronikas Geburtstag, vereinbaren Boris und die noch immer ahnungslose Veronika ihre Hochzeit, und Veronika malt sich in Gedanken ihr weißes Brautkleid aus. Dann erscheint Stepan, und die schockierte Veronika erfährt von Boris' Entschluß. Auch seine Familie ist entsetzt. Sein Vater Fjodor Iwanowitsch Borosdin hält ihm eine Standpauke, und auch seine Schwester Irina, eine angehende Ärztin, und seine Großmutter machen ihm Vorwürfe. Als am nächsten Tag zwei junge Kolleginnen von Boris in der Wohnung erscheinen, um dem ausrückenden "Helden" eine offizielle Grußbotschaft des Arbeiterkomitees zu überbringen, unterbricht sie Fjodor Iwanowitsch unwirsch und macht sich mit grimmiger Ironie über die hohlen Phrasen lustig. Allein für diese Szene wäre der Regisseur wohl noch wenige Jahre zuvor in einem Straflager in Sibirien verschwunden. Am Tag des Aufbruchs verfehlen sich die Liebenden, um Abschied zu nehmen. Boris lässt als Geburtstagsgeschenk für Veronika ein Stoff-Eichhörnchen zurück, das ihr die Großmutter aushändigen soll. Unter ein paar Süßigkeiten versteckt er seinen Abschiedsbrief. Als Veronika in der Wohnung der Borosdins erscheint, ist Boris schon weg, und in der Hektik erhält sie zwar das Eichhörnchen, aber sie übersieht den Brief. Veronika eilt zum Sammelpunkt der ausrückenden Soldaten, aber auch hier kommt sie zu spät. So werden Boris und Veronika getrennt, ohne sich noch Lebewohl sagen zu können.


Etwas später. Veronika und die Borosdins warten ungeduldig auf Nachrichten von Boris. Bei einem Luftangriff sucht Veronika in der U-Bahn Schutz, während ihre Eltern leichtsinnigerweise in der Wohnung zurückbleiben. Das Wohnhaus erhält einen Volltreffer - Veronikas Eltern sind tot. Die verstörte Veronika wird von den Borosdins in ihrer Wohnung aufgenommen, als sei sie bereits Boris' Frau. Bei einem neuerlichen Luftangriff bleiben Mark und Veronika allein in der Wohnung zurück. Mark nützt die Situation, um sich wieder an Veronika heranzumachen. Zunächst ohrfeigt sie ihn, aber dann gibt sie im emotionalen und realen Chaos des Bombenhagels nach. (Einige Kritiker wollen aus der Szene herauslesen, dass Veronika von Mark vergewaltigt wird, aber dafür kann ich keine deutlichen Anzeichen erkennen.) Am nächsten Morgen eröffnen Mark und Veronika der völlig überraschten Familie, dass sie heiraten werden. Dies empfinden die Anderen als Verrat an Boris und quittieren es mit versteinerten Mienen und eisigem Schweigen.


Szenenwechsel an die Front. Boris ist mit seiner Kampfgruppe in einer absolut trostlosen, sumpfigen Gegend von den Deutschen eingekesselt worden. Auf einem Erkundungsgang wird er von einer Kugel getroffen, wohl von einem Scharfschützen abgefeuert. Er bricht zusammen und stirbt kurz darauf. Nächster Szenenwechsel: Eine Stadt irgendwo in Sibirien, in die ein Teil der Bevölkerung evakuiert wurde. Fjodor Iwanowitsch leitet das Lazarett, in dem Irina als Ärztin und Veronika als Krankenschwester arbeiten. Noch immer haben sie keine Nachricht von Boris, sie wissen nur, dass er vermisst wird. Die Ehe von Mark und Veronika, die von Anfang an unter keinem guten Stern stand, ist so gut wie gescheitert. Veronika ist deprimiert, sie macht sich Selbstvorwürfe und sehnt sich nach Boris. Dem vom aktiven Dienst freigestellten Mark gegenüber ist sie abweisend. Der wiederum beginnt ein Verhältnis mit einer gewissen Antonina Monastyrskaja, hinter der auch sein Vorgesetzter Tschernow her ist. Im Lazarett kommt es zu einem kleinen Tumult. Ein verwundeter Soldat randaliert, als er erfährt, dass seine Braut in seiner Abwesenheit einen Anderen geheiratet hat. Fjodor Iwanowitsch hält dem Mann eine Standpauke, und ohne dabei Veronikas Anwesenheit zu bemerken, erklärt er ihm, dass er an dieser "Verräterin" nicht viel verloren hat, um ihn damit wieder aufzurichten. Aber Veronika bezieht die Predigt auf ihre eigene Situation, und ihre Selbstvorwürfe schlagen in jähe Verzweiflung um. Sie rennt fluchtartig ins Freie und auf eine Brücke, um sich vor einen heranbrausenden Zug zu stürzen. Im letzten Augenblick kommt es anders: Ein kleiner elternloser Junge wird auf der Straße neben Veronika beinahe von einem Auto überfahren. Ihre Selbstmordgedanken sind jetzt verflogen, sie kümmert sich um den Jungen - der auch Boris heißt - und nimmt ihn mit in ihre Unterkunft.


Unterdessen hat Mark Veronikas Eichhörnchen seiner neuen Flamme Antonina geschenkt. Veronika verursacht einen kleinen Eklat, als sie sich das Eichhörnchen zurückholt und Mark dabei wild ohrfeigt. Zwischen den beiden ist es nun endgültig aus. Bei dieser Gelegenheit kommt auch endlich der im Eichhörnchen versteckte Brief zum Vorschein - Boris' letzter Gruß an seine Belka. Währenddessen macht Antonina ihrem anderen Verehrer Tschernow Aussichten, falls dieser ihr eine Spazierfahrt spendiert. Da er keinen Wagen zur Verfügung hat, wendet er sich an Fjodor, um sich vom Lazarett einen Krankenwagen zu leihen. Er lässt durchblicken, dass er das als Gegenleistung für seine erwiesenen Gefälligkeiten erwartet. Da Fjodor keine Ahnung hat, wovon die Rede ist, erklärt ihm Tschernow, dass er doch um Marks Freistellung von der Front gebeten habe. Schnell erkennen beide, dass sich Mark mit dieser Lüge seine Freistellung erschlichen hat. Der aufgebrachte Fjodor stellt Mark zur Rede und hält ihm eine Strafpredigt, dann verbannt er ihn aus dem Kreis der Familie. Dagegen hält er Veronika, der er längst verziehen hat, zurück, als diese ebenfalls gehen will. Etwas später taucht ein Kamerad von Boris in der Unterkunft der Borosdins auf und überbringt die Todesnachricht. Er erzählt, dass Boris auch während der heftigsten Kämpfe immer von seiner Belka gesprochen hat. Allerdings hat er selbst Boris nicht tot, sondern nur verwundet gesehen, und so klammert sich Veronika an die Hoffnung, dass er vielleicht doch noch lebt.


Letzter Szenenwechsel: Wieder in Moskau, nach Ende des Krieges. Veronika hofft immer noch auf Boris' Heimkehr. Als eine große Gruppe Heimkehrer auf dem Bahnhof empfangen wird, wartet Veronika mit einem Blumenstrauß in der Menge. Boris ist nicht unter den Soldaten, aber Stepan. Als er Veronika erblickt, zeigt er ihr ein Foto von ihr, das ihm Boris vor dem verhängnisvollen Erkundungsgang ausgehändigt hat - für den Fall der Fälle. Ohne überflüssige Worte bestätigt er damit Boris' Tod. Jetzt erst akzeptiert Veronika die bittere Wahrheit. Während viele der Umstehenden Freudentränen vergießen, schluchzt sie vor Kummer. Stepan hat mittlerweile eine Lokomotive bestiegen und hält eine Rede: "[...] aber wir werden die Gefallenen nie vergessen. Die Zeit wird vergehen. Alles wird neu aufgebaut. Unsere Wunden werden geheilt. Aber der Hass gegen den Krieg wird ewig glühen! Wir empfinden tiefes Beileid für diejenigen, die ihre Angehörigen nie mehr treffen werden. Und wir werden alles tun, damit die Bräute ihre Bräutigame nie verlieren, damit die Mütter um das Leben ihrer Kinder nie zittern, damit die mutigen Väter nie heimlich weinen müssen. Wir haben gesiegt, nicht um alles zu zerstören, sondern um aufzubauen!" Während Stepan Applaus erntet, hellt sich Veronikas Miene auf. Sie hat Stepan aufmerksam zugehört und nimmt seine Worte zum Anlass, ihren Frieden mit der Vergangenheit zu machen und in die Zukunft zu blicken. Sie verteilt ihre Blumen an Passanten und lächelt, zum ersten Mal seit langer Zeit. Dann geht sie mit Fjodor Iwanowitsch nach Hause. Und über den Himmel zieht wieder ein Schwarm Kraniche.


WENN DIE KRANICHE ZIEHEN ist ein erfreulich unideologischer Film. Weder antideutsche noch kommunistische Propaganda spielt eine Rolle. Wenn der Film überhaupt eine politische Botschaft hat, dann ist es die pazifistische aus Stepans Ansprache. Aber die eigentliche Botschaft ist eine menschliche: Einerseits davon, welches Leid der Krieg auch und gerade bei den Zivilisten anrichtet, aber andererseits auch davon, dass das Leben weitergeht, egal was passiert.


Michail Kalatosow wurde 1903 als Michail Kalatosischwili in Tbilisi (Tiflis) in Georgien geboren. 1925 wurde er Schauspieler, kurz darauf Kameramann, und ab 1927 arbeitete er als Regisseur von formal anspruchsvollen Dokumentarfilmen, mit denen er sich in die Tradition Dsiga Wertows stellte. Das bekannteste dieser frühen Werke ist SOL SWANETIJ (DAS SALZ SWANETIENS) von 1930, ein ethnographisch angehauchter Film über die Bewohner einer abgelegenen Berggegend Georgiens. In seinen Frühwerken erschien Kalatosow unter seinem richtigen Namen in den Credits, aber berühmt wurde er erst unter der russischen Namensform, die ich deshalb hier bevorzuge. Obwohl Kalatosow eigentlich linientreuer Kommunist war, erregte DAS SALZ SWANETIENS bei den stalinistischen Kulturbürokraten wegen seiner formalen Gestaltung bereits erhebliches Stirnrunzeln. Sein nächster Film mit dem Titel LURSMANI CHEQMASHI (1931) wurde dann wegen "Negativismus" verboten, und Kalatosow durfte mehrere Jahre keinen Film mehr drehen. Stattdessen wurde er dazu verdonnert, in der georgischen Filmindustrie administrative Aufgaben wahrzunehmen. Ab 1939 durfte er dann wieder drehen, daneben war er weiterhin in der Verwaltung tätig. Gegen Ende des 2. Weltkriegs war er als sowjetischer Kulturattaché in Los Angeles. Ich nehme an, dass er die Gelegenheit genutzt hat, um sich über die Verhältnisse in Hollywood zu informieren. Nach dem Krieg gab es in seinem Werk erneut eine mehrjährige Pause. In dieser Zeit war er wieder führend in der sowjetischen Filmverwaltung tätig, 1945/46 sogar als stellvertretender Minister. Ab 1950 kehrte Kalatosow dann neuerlich auf den Regiestuhl zurück. WENN DIE KRANICHE ZIEHEN war der fünfte Film seit dem Wiedereinstieg von 1950, und er wurde ein überragender Erfolg. Und das nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch im westlichen Ausland. Als Krönung errang WENN DIE KRANICHE ZIEHEN beim Filmfestival in Cannes 1958 die Goldene Palme. Kalatosow war ein berühmter Mann.


Der Erfolg verdankte sich vor allem zwei Faktoren: Erstens der Leistung der Hauptdarsteller, zweitens der herausragenden Kameraarbeit von Sergej Urussewski. Alexej Batalow und insbesondere Tatjana Samoilowa spielen ungemein lebhaft und ausdrucksstark und lassen beim Zuschauer vom ersten Moment an eine emotionale Bindung an die Protagonisten entstehen. Die damaligen Jungstars - Samoilowa spielte in den KRANICHEN erst ihre zweite Filmrolle - ernteten weltweit begeisterte Kritiken. Aber auch die Nebenrollen sind vorzüglich besetzt. Vor allem Wassili Merkurjew erfüllt seinen Fjodor Iwanowitsch mit Leben und lässt ihn "menscheln". Das Ensemble insgesamt schafft es mühelos, den Zuseher an der Geschichte teilhaben zu lassen. Das gilt natürlich in besonderem Maße für das damalige sowjetische Publikum, das die Zeit des Krieges noch aus eigener Erinnerung kannte, und das damals wohl zum ersten Mal eine ungeschminkte, realistische Darstellung der Leiden zu sehen bekam, frei von den offiziellen Parolen über Heldentum und Opfermut. Entsprechend oft sollen damals in den sowjetischen Kinos die Taschentücher gezückt worden sein.


Aus der heutigen zeitlichen Distanz betrachtet, ist jedoch die brillante optische Gestaltung das herausragende Merkmal von WENN DIE KRANICHE ZIEHEN. Das wird übrigens auch von Alexej Batalow so gesehen, wie er in einem zehnminütigem Video-Statement, das sich als Bonusmaterial auf einer DVD des Films befindet, neidlos anerkennt. Kalatosow und Sergej Urussewski hatten 1955 erstmals zusammengearbeitet, WENN DIE KRANICHE ZIEHEN war der zweite von insgesamt vier gemeinsamen Filmen. Die beiden hatten eine ungeschriebene Übereinkunft, die ihnen ein gegenseitiges Vetorecht einräumte: Keiner der beiden würde in seinem Bereich etwas durchsetzen, was dem anderen nicht gefiel. Aber die beiden lagen in künstlerischer Hinsicht ohnehin auf einer Wellenlänge, wie Batalow im erwähnten Statement erzählt. Er bezeichnet es als einen Glücksfall, dass sich die beiden gefunden hatten. Urussewskis Spezialität waren lange, dynamische Kamerafahrten, die die Protagonisten bei ihren Aktionen begleiten und so eine "mitfühlende" Kamera schaffen. Der Effekt ist gelegentlich dem einer subjektiven Kamera ähnlich, bei der das Geschehen aus der Sicht des Handelnden gezeigt wird, ohne dass dieser selbst zu sehen ist. Doch Urussewskis Technik ist weit virtuoser und auch subtiler als die eher einfache subjektive Kamera. Er hat seine Rolle in diesen Sequenzen einmal so beschrieben: "Die Kamera kann ausdrücken, was der Schauspieler nicht zu porträtieren in der Lage ist: seine inneren Empfindungen. Der Kameramann muss mit den Schauspielern mitspielen." Diese dynamischen Kamerafahrten wurden zum größten Teil mit Handkameras gedreht. Urussewski hatte während des Krieges zwei Jahre als Kameramann beim Militär gedient und dort seine Vorliebe und seine Fertigkeit für die Handkamera entwickelt. Die Sequenzen sind auch in der größten Hektik stets so flüssig gedreht, als hätte Urussewski eine moderne Steadicam zur Verfügung gehabt - doch die wurde erst viele Jahre später erfunden.


Neben den Kamerafahrten kamen weitere Stilmittel wie etwa mehrfache Überblendungen zum Einsatz, und auch der Schnitt ist stellenweise virtuos und erinnert an die glorreichen Tage des russischen Stummfilms. Alle diese optischen Finessen werden jedoch keineswegs als selbstzweckhafte Gimmicks eingesetzt, sondern sie dienen der Geschichte. Insbesondere korrespondieren die virtuosesten Szenen jeweils mit der aufgewühlten Seelenlage der Protagonisten. Das möchte ich an den markantesten Beispielen verdeutlichen. Schon ziemlich am Anfang des Films gibt es eine Szene in dem Wohnhaus, in dem sich ganz oben die Wohnung von Veronika und ihren Eltern befindet: Veronika steht oben im Treppenhaus und Boris rennt hinauf, um den Termin ihres nächsten Rendezvous zu vereinbaren. Dabei folgt die Kamera Boris in der lichten Öffnung des Treppenhauses, immer auf gleicher Höhe mit ihm, und schraubt sich sozusagen spiralförmig in die Höhe. Doch diese an sich schon eindrucksvolle Szene ist nur eine Generalprobe für eine Wiederholung unter ungleich dramatischerem Vorzeichen. Als nämlich Veronika nach dem Bombenangriff, der ihre Eltern das Leben kostet, zum Wohnhaus zurückkommt, hetzt sie, von den schlimmsten Befürchtungen getrieben, durch die noch brennenden Ruinen und im Treppenhaus nach oben. Nur - außer dem Treppenhaus steht von dem Haus kaum noch etwas, man sieht durch riesige Löcher in den Mauern auf die Straße. Ohne darauf zu achten, dass sie sich selbst in Lebensgefahr begibt, rennt Veronika auf den Stufen nach oben, von der Kamera begleitet. Erst als sie, oben angekommen, feststellt, dass von der elterlichen Wohnung buchstäblich nichts mehr übrig ist, bleibt sie wie angewurzelt stehen. Eine Szene, die einem den Atem stocken lässt.


Am Tag von Boris' Abfahrt setzt Veronika alles daran, ihn noch einmal zu sehen, um sich zu verabschieden. Sie fährt zunächst mit einem Bus in die Nähe der Wohnung der Borosdins, steigt aus, rennt durch eine Menschenmenge und dann über eine Straße, über die gerade ein Panzerkonvoi rollt. Dabei folgt ihr die Kamera ohne Schnitt aus dem Bus heraus, durch die Menge - schnell, aber ohne störende Wackler, und immer auf Tuchfühlung mit ihr -, um in dem Moment, als sie die Straße mit den Panzern überquert, unversehens in einige Meter Höhe emporzusteigen und Veronika und die Panzer aus der Vogelperspektive zu zeigen. Nachdem Veronika Boris in der Wohnung verfehlt hat, eilt sie zum Abmarschplatz der Soldaten, wo im allgemeinen Trubel die Szene eine noch dynamischere Fortsetzung findet. Auch der nächtliche Bombenangriff, den Mark nutzt, um Veronika zu verführen, ist eindrucksvoll in Szene gesetzt. Durch einen Bombentreffer irgendwo in der Nachbarschaft fällt das Licht aus, und die Wohnung wird nur noch durch die Explosionsblitze erleuchtet, was eine stroboskopartige Beleuchtung und dadurch eine fast expressionistische Stimmung erzeugt. Auch die akustische Gestaltung dieser Szene ist außergewöhnlich: Marks Klavierspiel wird mit dem Heulen der Luftschutzsirenen und dem Krachen der einschlagenden Bomben kombiniert, was für eine ziemlich infernalische Soundkulisse sorgt.


Ein optischer Höhepunkt ganz besonderer Art ist Boris' Sterbeszene. Er wird in den Rücken getroffen, und während er langsam zusammenbricht, beginnen sich die Baumkronen über ihm zu drehen. Zugleich ziehen Szenen seines Lebens an ihm vorbei: Zunächst sein vorhin erwähnter Lauf im Treppenhaus empor, doch dann eine Szene seines Lebens, nicht wie es war, sondern wie es hätte sein können - nämlich seine Hochzeit mit Veronika, die sie sich gemeinsam ausgemalt hatten, und die nie stattfand. In einer mehrfachen Überblendung der sich drehenden realen Baumkronen und der halluzinierten fröhlichen Hochzeitsgäste und vom herumwirbelnden weißen Schleier von Veronikas Brautkleid steigert sich die Szene zu einem wahren optischen Crescendo, das man gesehen haben muss. Auch Veronikas Beinahe-Selbstmord ist außergewöhnlich virtuos inszeniert. Sie rennt wie von Furien gehetzt zu der Brücke, dabei wird sie teilweise durch die Latten eines Zaunes gefilmt, teilweise (während des Laufs!) in extremer Großaufnahme von vorn, und einige bis zur Abstraktion verfremdete schnelle Zwischenschnitte auf die Umgebung verstärken noch die Dynamik der Situation. In ihrer Gesamtheit erscheint die Szene so rasant und dramatisch, dass sie einem Eisenstein alle Ehre gemacht hätte, und sie visualisiert perfekt Veronikas desolate psychische Verfassung in diesem Moment. Das letzte Beispiel ist auch die letzte Szene des Films, die Heimkehr der Soldaten am Moskauer Bahnhof. Während sich Veronika in der verzweifelten Hoffnung, Boris doch noch wiederzusehen, in angstvoller Eile durch eine riesige wogende Menschenmasse kämpft, folgt ihr die Kamera durch all die Menschen so mühelos, als besäße Urussewski die Fähigkeit, herumstehende Passanten zu durchdringen, als seien sie gar nicht da. In ihren gemeinsamen Filmen erwiesen sich Kalatosow und Urussewski als Dreamteam der entfesselten Kamera.


WENN DIE KRANICHE ZIEHEN ist in diversen Ausgaben auf DVD erschienen.