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Mittwoch, 9. März 2016

Entspannt angeln mit Howard Hawks

MAN‘S FAVORITE SPORT? („Ein Goldfisch an der Leine“)
USA 1964
Regie: Howard Hawks
Darsteller: Rock Hudson (Roger Willoughby), Paula Prentiss (Abigail Page), Maria Perschy (Isolde „Easy“ Mueller), Norman Alden (John Screaming Eagle), John McGiver (William Cadwalader), Roscoe Karns (Major Phipps), Forrest Lewis (Skaggs), Charlene Holt (Tex Connors)


In meinem Jahresrückblick zu 2015 habe ich den guten Vorsatz formuliert, mich künftig mehr mit Howard Hawks zu beschäftigen. Eine Neusichtung von THE BIG SLEEP offenbarte mir, dass dieser Film auch weiterhin erst einmal nicht in meinem persönlichen film-noir-Kanon aufgenommen wird (sondern höchstens in den erweiterten Kreis). MAN‘S FAVORITE SPORT?, den ich kürzlich zum ersten Mal sah, hat mich hingegen sofort vollkommen umgehauen...

In wenigen Tagen muss Angelexperte Roger das Angeln
lernen. Ein Blick in die selbstgeschriebene Broschüre
bietet bisweilen willkommene Hilfe.
Roger Willoughbys Tag fängt nicht so gut an. Auf dem Weg zur Arbeit fährt eine Frau mit ihrem Auto gefährlich nahe an ihn heran und klaut ihm dann auch noch seinen Parkplatz. Roger ist bei Abercrombie & Fitch im Bereich Outdoor-Ausrüstung angestellt, gilt als ausgewiesener Experte in Sachen Angeln und hat auch die Broschüre „Fishing Made Simple“ verfasst. An diesem Morgen wird Roger zu seinem Chef Cadwalader zitiert. Dort trifft er auch die Frau wieder, die ihm den Parkplatz geklaut hat: Abigail Page, eine PR-Agentin, die zusammen mit Isolde Mueller, der Tochter eines Angelcamp-Besitzers, ganz besondere Pläne für Roger bereit hält. Er soll nämlich Abercrombie & Fitch als Kandidat bei einem Angelwettbewerb repräsentieren, an dem unter anderem auch die Kunden teilnehmen, die er in seinem Job als Angelexperte berät. Eine Idee, die Roger ganz und gar nicht gefällt und wenig später muss er den beiden Frauen unter Einhaltung strikter Geheimhaltungsmaßnahmen auch erklären, warum: er hat in seinem ganzen Leben noch niemals geangelt (und verabscheut außerdem Fisch in jeglicher Form). Abigail will dennoch nicht locker lassen, droht Roger gar, sein Geheimnis preiszugeben, wenn er am Wettbewerb nicht teilnehmen sollte bietet ihm aber dennoch an, ihm in den wenigen Tagen, die bis zum Beginn des Wettbewerbs bleiben, das Angeln beizubringen. Am Lake Wakapoogee beginnt dann ein mehrtägiges, hartes Training – lebensgefährliche Anglerhosen, ein falscher Indianer mit einem großen Appetit für 5- und 20-Dollar-Scheine, motorradfahrende Bären, hartnäckige Reissverschlüsse und die stets unermüdliche, schnellredende und „strangely attractive“ Abigail säumen Rogers qualvollen Weg in Richtung Angelmeisterschaft...

MAN‘S FAVORITE SPORT? ist nicht der erste Filmtitel der fällt, wenn Howard Hawks erwähnt wird. Bis mir der OPAC der Stadtbücherei „Ein Goldfisch an der Leine“ nach entsprechender Suche ausspuckte, hatte ich selbst von dem Film noch nie gehört. Und tatsächlich gilt er im Allgemeinen nicht gerade als Schwergewicht in der Hawks-Filmografie. Er lief in den USA ganz okay, aber nicht überragend, Kritiken waren freundlich, aber verhalten. Wie so oft sah dies auf der anderen Seite des Atlantiks ganz anders aus, und die Franzosen, die Hawks in den 1950er Jahren zu einem der weltgrößten Filmkünstler erklärt hatten, standen auch 1964 zu ihm: Jean-Luc Godard als individueller Kritiker wie auch die gesamte Redaktion der cahiers du cinéma kürten MAN‘S FAVORITE SPORT? zu einem der 10 besten Filme des Jahres. Der britische Filmjournalist Phil Hardy ging in einem kurzen Review noch weiter, als er MAN‘S FAVORITE SPORT? als „the quintessential Hollywood auteur movie“ bezeichnete.

Aus einer recht spannungsarmen Geschichte mit einer etwas weit hergeholten Grundsituation zaubert Howard Hawks in seinem viertletzten Film tatsächlich ein Stück pure und dabei wolkenleichte Kinomagie. Was diese ausmacht und vor allem wie sie entsteht, ist schon schwieriger zu erklären. Ich denke, man kann es mit einer Trias aus gelungenen Einfällen und liebevollen Details, wunderbar liebenswürdigen Charakteren (gespielt von tollen Schauspielern) und einer Grundatmosphäre totaler Entspannung zumindest ansatzweise erläutern.

MAN‘S FAVORITE SPORT? platzt stellenweise vor lauter Einfälle, Ideen, Details. Sie sind teilweise nur kleine Witze, doch tragen sie zur besonderen Textur des Films bei und werden dank des Einsatzes der Darsteller und Hawks‘ unendlichen Inszenierungstalent zu großen Momenten.
Die Opening Credits mit dem beschwingten Titelsong etwa, die von einer merkwürdigen Montage unterlegt werden: Bilder von Frauen, die Sport treiben, umrahmt von der Kontur der Buchstaben aus dem Filmtitel. Fast etwas pop-art-mäßig. Die sich drehende Karusell-Bar, an der sich Roger mit Abigail und Easy unterhält, kurz, bevor er ihnen das große Geständnis macht: sie verleiht der Dialogszene eine ungemeine Dynamik und bietet natürlich auch einen Aufhänger für einen Gag. Sein Geständnis macht Roger in einem Klaviermuseum (!), aber erst, nachdem er alle automatischen Klaviere im Raum mit Kleingeld gefüttert hat und damit eine dröhnende Kakophonie auslöst (damit niemand sonst sein Geständnis hört). Die Kuss-Szene, die brutal von einem kleinen „Stummfilmschnipsel“ unterbrochen wird, in dem zwei Züge aufeinander kollidieren (was ihr einen sehr modernistischen Touch gibt: so etwas würde man eher in einem „postmodernen“ nouvelle-vague-Film und nicht in einem „klassischen“ Hollywood-Film erwarten). Das Dinner, bei dem Abigail in unkontrolliertes Lachen ausbricht, nachdem Roger seinen ersten Bissen Salat gegessen hat, und er stimmt darauf ein (bis er den Grund für ihre Heiterkeit erfährt). Der Regen, der auf die dünnen Blusen Abigails und Easys niederprasselt, so dass Roger zunehmend vom Anblick der beiden geniert ist, während sie seelenruhig weiterreden. Bis hin zu kleinen Details: das auffällige, knallrote Jacket, das Roger eines Abends trägt oder das Gemälde mit Wurst-Stilleben an einer Wand in Cadwaladers Hütte. Alles kleine Details, die MAN‘S FAVORITE SPORT? eine sehr dichte und einzigartige Textur geben, ohne dabei seine Leichtigkeit zu untergraben.

Unterredung im pop-artig dekorierten Klaviermuseum.
Zwischen Roger und Abi eine nackte Frau als Vermittlerin.
Kuss mit Zug-Crash. Eine Inspiration für David Cronenberg?
Wichtige Zutaten für ein gesundes Leben: Lachen und Salat
Ein modebewußter Film: Blusen mit Durchsichtsoption...
...und ein Jackett aus 100% Technicolor-Wolle.
Voller Körpereinsatz beim Camp-Aufbauen und beim Angeln
MAN‘S FAVORITE SPORT? war als Variation von BRINGING UP BABY gedacht und ursprünglich sollte auch Cary Grant die Hauptrolle spielen. Grant lehnte die Rolle ab, weil er nicht als 59-Jähriger mit der zum Drehzeitpunkt 24-jährigen Paula Prentiss spielen wollte. Wenn man sieht, wie glaubwürdig Hawks John Wayne in RIO BRAVO als love interest von Angie Dickinson inszenieren konnte (wie viele Dinge in diesem Film eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, das trotzdem perfekt funktioniert), dann hätte es auch mit Grant sicher gut geklappt. Dennoch möchte ich Rock Hudson in der Rolle des Roger Willoughby nicht missen. Hudson, den ich als Darsteller nur in den großen Douglas-Sirk-Melodramen kenne, ist tatsächlich ein großartiger Komödiant. Nicht nur mimisch, sondern tatsächlich auch körperlich: ein echter Slapstick-Künstler!
Roger wird von Cadwalader zum Angelcamp geschickt, aber er soll dort nicht in den Bungalows nächtigen, sondern unter freiem Himmel campen: das sei einfach glaubwürdiger für einen Angelexperten wie ihn und außerdem könne er dabei auch ein paar Neuheiten aus dem Laden austesten. Als Roger sein Plätzchen gefunden hat und anfängt, sein Camp zu bauen, folgt der Moment, wo Hudson sein großes Talent unter Beweis stellt. Roger ist von dem ganzen Equipment sichtlich überfordert, und es dauert nicht lange, bis er tollpatschig darüber stolpert und zu akrobatischen Einlagen gezwungen wird. Als er kurz danach ein Zelt versucht aufzubauen, gibt es zwar keine Stolperakrobatik mehr, aber zumindest eine absolut herzzerreissende und zugleich brüllend komische Hilflosigkeit angesichts der Einzelteile, die sich nicht zusammenfügen wollen.
Abigail und Easy beobachten das aus einer gewissen Distanz mit sichtlichem Amüsement. Und so tut es auch die Kamera. Später, wenn Roger beim Training bzw. beim Wettbewerb selbst fischt, passiert das gleiche: mit großem mimischem und körperlichen Einsatz legt sich Hudson ins Zeug und die Kamera lässt ihn in Ruhe gewähren. Ein toller Schauspieler, viel Wasser und eine Angelrute, die meist nicht richtig funktionieren will – was braucht man mehr für große Filmmomente?

Paula Prentiss, die später von Hawks selbst mild kritisiert wurde, vereint hingegen perfekt Sexappeal und Smartness zu einer tollen Variation der Hawksianischen Frau. Sie sieht großartig aus, ohne wirklich eine klassische Hollywood-Schönheit zu sein. Maria Perschy entspricht eher diesem Schönheitsideal und ohne deutschen Akzent wäre sie, wenn dieser Film von einem konventionelleren Regisseur gemacht worden wäre, wohl eher als Hauptdarstellerin gecastet worden und Prentiss als „Sidekick“. Tatsächlich ist Prentiss, wie ihre Abigail von Roger genannt wird, „strangely attractive“. Sie ist unglamourös in einem sehr positiven Sinne: keine Diva, sondern ein angenehm geerdeter Mensch. Prentiss‘ Rolle ist weniger slapstick-mäßig als Hudsons, dafür kann sie mit vielen schnellen Dialogen glänzen, bei denen ihre Abigail Roger meistens mitten im Satz unterbricht. „I hate domineering women“, sagt Roger einmal. Als Zuschauer kann man sie nur lieben.

Klassische Lead-Sidekick-Rollen vertauscht?

John Screaming Eagle: immer im Richtigen Moment mit der
richtigen Dienstleistung da (wenn der Preis stimmt)
Meine Lieblingsnebenfigur ist John Screaming Eagle, der im Angelcamp arbeitet (oder vielleicht einfach nur so da ist, das ist aber auch unwichtig). Ein Mann, der als Indianer gekleidet ist, gestelzt wie ein Klischee-Indianer spricht, tatsächlich aber nur ein kleiner, aber sympathischer Trickbetrüger mit wahrscheinlich genauso rein-angelsächsischem Hintergrund wie Willoughby, der sich den Touristen als Stammesführer vorstellt, um ihnen besser und authentischer pseudo-indianischen Krimskrams für teures Geld verkaufen zu können – letzteres funktioniert bei Cadwalader übrigens vorzüglich! Als er nach einem kurzen Gespräch mit Roger von diesem als Betrüger entlarvt wird, spricht er auch mit normaler Stimme normales Englisch. Für den Rest des Films wird John zu einer Art Schutzengel Rogers, der immer wieder als Beobachter im Hintergrund das Treiben der Hauptfigur beobachtet und zwischendurch auch eingreift. Was dann Roger meist einen Schein kostet. John Screaming Eagle hört etwa mit, dass Roger nicht angeln kann: Roger muss zahlen, damit die Information geheim bleibt. John Screaming Eagle beobachtet, wie Roger einen Fisch auf außergewöhnliche Weise fängt und dabei ins Wasser fällt: das kostet nichts, aber den Selbstgebrannten, den er zufällig mit dabei hat und der Roger aufwärmen kann, lässt er sich ebenso entlohnen wie später die Information, wo Abigail sich versteckt hat. Immer, wenn John Screaming Eagle sich an ihn mit verstellter „Indianer“-Stimme wendet, weiß Roger, dass er bald etwas bezahlen muss. Wirklich böse kann man dem Mann natürlich nicht sein, denn auch er muss ja irgendwie leben. Und zudem bereichert er mit seiner schillernden Art den Film – und mit seinen Konfuzius-Zitaten (Konfuzius war schließlich „chinese-Indian“!), die sich rasch verselbständigen und von den anderen Figuren „genutzt“ werden. „Confucius say 5 birds in hand worth 20 who fly away“ sagt dann Roger zu John, als er darauf beharrt, dass eine bestimmte Dienstleistung (von der er nicht wusste, dass er sie gebrauchen würde) 5 und nicht 20 Dollar kosten soll. Schließlich werden Konfuzius-Weisheiten auch ohne Anwesenheit von John Screaming Eagle ausgetauscht. „Confucius say, woman who stick nose in other people‘s drink is liable to get it punched“, zitiert Roger den chinesischen Philosophen als Abigail ihn danach fragt, wie viele Martinis er schon hatte. „Confucius say fishermen who have too many martinis only gotta catch olive“, antwortet sie prompt. Wer sagt, ostasiatische antike Philosophie sei langweilig?

Skaggs und Major Phipps, ganz Rechts Easy:
für das Drehbuch unnötig, aber warum auf sie verzichten?
Wesentlich geerdeter, wenngleich nicht weniger sympathisch sind Major Phipps und Skaggs, zwei ältere Herren und leidenschaftliche Angler, die jedes Jahr am Wettbewerb beim Lake Wakapoogee teilnehmen und sich ständig (wenngleich immer freundlich) streiten. Skaggs war letztes Jahr besser als Major Phipps, der dieses Jahr seinen Freund ziemlich rasch abhängt, weil er Roger Willoughbys Broschüre über das richtige Angeln aufmerksam gelesen hat. Zwei ältere Herrschaften, die niemandem mehr irgendetwas beweisen müssen, mit einer lockeren Haltung gegenüber den Dingen des Lebens: grumpy old men, die gar nicht so grumpy sind und deren Lockerheit mehr zählt als ihr Alter (ein bisschen wohl wie Howard Hawks selbst, der während des Filmdrehs 66 Jahre alt war).
Auf eine gewisse Art ist Maria Perschys Easy der faszinierendste Charakter des Films. Sie ist zwar Abigails „Sidekick“ (empfiehlt ihr zum Beispiel, Roger etwas offensiver ihr Interesse an ihm zu offenbaren), aber im Grunde ist sie eine Figur ohne dramaturgische Funktion. Sie ist sozusagen „unnötig“. Aber MAN‘S FAVORITE SPORT? ist kein Film, der in Kategorien von Notwendigkeiten denkt und nur sehr rudimentär in Kategorien klassischer filmischer Dramaturgie, und deshalb ist Easy einfach trotzdem die richtige Figur am richtigen Platz. Sie ist einfach da und der Film lässt sie gewähren. Und damit symbolisiert sie auch die Quintessenz dessen, was MAN‘S FAVORITE SPORT? (unter anderem) ausmacht. 

Es ist ein Film wie ein Zusammensein mit Freunden in der Kneipe. Vielleicht kann der eine besser Witze erzählen, oder auf lustigere Weise Wienerischen Dialekt nachahmen, oder der eine ist der bessere Gesprächspartner im Bereich Film, aber eine „Funktion“ hat da niemand. Man sitzt zusammen, trinkt und hat dabei am Leben Spaß. Es ist ein Gefühl, den ich mangels besserer Begrifflichkeiten als „spät-Hawks‘ianisches Feeling“ bezeichnen würde.

MAN‘S FAVORITE SPORT?, aber auch RIO BRAVO (1959) und HATARI! (1962) haben dieses Feeling. Filme natürlich, die eher „character-driven“ als „plot-driven“ sind. Ob LAND OF THE PHARAOHS (1955), Hawks letzter Film vor RIO BRAVO, schon dieses Feeling hatte, kann ich nicht beurteilen. In RIO BRAVO kommt er oft zur Geltung. Meist wird dieser Film als Western beschrieben, in der eine kleine Gruppe von Gesetzeshütern einen Verbrecher gefangen hält und von dessen Kumpanen belagert wird. Doch diese Sichtweise zwingt sich letztlich nicht auf, und man kann ihn ebenso als lockeres Kollektivportrait sozialer Aussenseiter sehen. Oder als Geschichte eines „verlorenen“ Mannes, der nach und nach, mit harter Arbeit und teils Unterstützung seiner Freunde, seine menschliche Würde wiedererlangt (diese Lesart, die ich bei der letzten Sichtung des Films überaus sinnvoll fand, macht Dean Martins Dude zur eigentlichen Hauptfigur des Films). Oder man kann RIO BRAVO auch als versteckte Screwball-Komödie sehen, bei der eine Frau mit geschädigtem Ruf aber großem Selbstbewusstsein alles tut, um den örtlichen Sheriff in ihr Bett zu bekommen. Das eigentliche Belagerungsszenario kann jedenfalls leicht in den Hintergrund gedrängt werden. Übrig bleibt ein großer Film über Freundschaft, Kameradschaft, professionelles und menschliches Ethos und Liebe. Ein Film, der komplett zu sich findet, wenn einige Männer sich zusammensetzen, Kaffee trinken und zwei Liedchen trällern (dieser wunderschöne Moment wird von vielen als Szene zur Ausbeutung von Ricky Nelsons und Dean Martins kommerziellem Sänger-Potential gesehen – zu unrecht, wie ich finde). Man könnte sagen: RIO BRAVO ist ein Film über einige Menschen, die ganz entspannt eine gute Zeit miteinander haben und dabei, wenn man so will nebenbei, von diesen belagernden Verbrechern gestört werden.

Bei HATARI! wird diese Art der Inszenierung gar radikalisiert. „Avantgardistisch“ ist ein zu akademischer Begriff, um HATARI! zu beschreiben, passt aber zu der Art und Weise, die Grundstrukturen dramaturgischen Erzählens dermaßen sorglos über Bord zu werfen, und einfach nur ein paar Männer und Frauen zu zeigen, die tagsüber arbeiten und sich abends beim Musizieren sowie bei Gesprächen und Getränken entspannen und das zweieinhalb Stunden lang! MAN‘S FAVORITE SPORT? hat vieles von diesem Feeling, von dieser Komme-was-möge-Haltung. Es gibt keine Zielgerichtetheit, auch keine wirkliche Dringlichkeit (trotzdem Roger so schnell wie möglich das Angeln lernen soll), sondern nur eine grenzenlos entspannte Atmosphäre. Das einzige, was in MAN‘S FAVORITE SPORT? vielleicht fehlt, ist eine Musiziernummer, bei der John Wayne mit lächelnder „the-Duke-approves“-Mine im Hintergrund steht (hier die Version davon in HATARI!).

Das Bemerkenswerteste ist jedoch: alle drei Filme fühlen sich dabei absolut richtig an! Sie sind gewissermassen perfekt, dabei aber vollkommen ungezwungen und federleicht. Das ist wohl der Kern des „spät-Hawks‘ianischen Feelings“ und steht im Gegensatz zu einer Perfektion von sagen wir einmal Stanley Kubrick, die niemals ungezwungen, locker und federleicht war (und ich glaube nicht, dass das ausschließlich mit seinen „schwereren“ Themen zusammenhängt). Bei Hawks gibt es keine mathematische Perfektion, die Zahnrädchen makellos ineinander greifen lässt, sondern nur dieses lockere Ensemble, wo einfach alles harmonisch zusammenpasst. Oliver Nöding in seinem wunderbaren Review von HATARI! hat dies gar als komplett alternativer Ansatz des Filmemachens beschrieben.

RIO BRAVO, HATARI! und MAN‘S FAVORITE SPORT? sind jedenfalls solche „perfekten“ Filme (man sehe sich für letzteren nur einmal auf den Screenshots die tollen Bildkompositionen an!), und konnten nur von einem wirklich großen Meister mit vielen Jahrzehnten Erfahrung gedreht werden. Perfektion in Leichtigkeit und Leichtigkeit in Perfektion: etwas, das man gerne öfter in meist eher skeptisch betrachteten „Spätwerken“ suchen könnte, statt diese pauschal als „müde“ oder „lustlos“ abzutun. Durch Hitchcocks letzten und sträflich unterschätzten Film FAMILY PLOT weht ein Hauch von etwas, das dem „spät-Hawks‘ianischen Feeling“ nahekommt. Oder auch durch den vielgeschmähten MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN des großen Hawks-Fans John Carpenter (der ironischerweise aber zugleich „Hitchcock-Film“ ist und für dessen Rufbesserung ich bereits meinen Beitrag geleistet habe). Wer weiß, vielleicht findet sich auch „spät-Hawks‘ianisches Feeling“ in Kubricks EYES WIDE SHUT?

In diesem Sinne ist MAN‘S FAVORITE SPORT? tatsächlich ein Film über einen Mann, der entspannt angeln geht. Sehr spannend ist natürlich auch eine alternative Lesart: ein meisterhafter Experte in einer bestimmten Materie, der viel Wissen durch mehr oder minder alte Männer „an der Front“ gewinnt, bricht eines Tages auf, um seine Theorie in die Praxis umzusetzen, bricht dabei alle möglichen Regeln und kommt dabei trotzdem zu einem mehr als ansehnlichen Ergebnis. Das könnte auch ein Filmkritiker sein, der von älteren Meistern (z. B. Howard Hawks) alles lernt, was es über Filme zu lernen und zu wissen gibt und dann später seine Redaktionsräume verlässt, um selbst auf bislang ungesehene Weise Filme zu drehen – also das, was die großen Hawks-Bewunderer der ersten Stunde, Jean-Luc Godard, François Truffaut, Eric Rohmer, Jacques Rivette und Claude Chabrol taten. MAN‘S FAVORITE SPORT?, eine augenzwinkernde Hommage des Meisters an seine Schüler? In der Trivia-Sektion des Films bei IMDb ist zu lesen, dass die cahiers du cinéma einmal von ihren beliebtesten auteurs O-Töne für eine Ausgabe sammeln wollten. Hawks schickte ohne weitere Erklärung ein Filmstill von Rock Hudson, der bis zum Hals im Wasser steht.

Das Statement des auteur
MAN‘S FAVORITE SPORT? ist in vielen Ländern auf DVD erhältlich. Die westeuropäische DVD von Universal Pictures dürfte in Deutschland, UK und Frankreich die gleiche sein und ist mit guter Bildqualität (wie die Screenshots hoffentlich zeigen) und optimaler Tonqualität ausgestattet.

Mittwoch, 23. Dezember 2015

Tödliche Weihnachten

YOU BETTER WATCH OUT aka CHRISTMAS EVIL aka TERROR IN TOYLAND
USA 1980
Regie: Lewis Jackson
Darsteller: Brandon Maggart (Harry), Jeffrey DeMunn (Philip), Dianne Hull (Jackie)


Es ist Weihnachten im Jahre 1947. Die beiden kleinen Kinder Harry und Philip sitzen auf der Treppe mit ihrer Mutter und warten auf den Weihnachtsmann. Der schlüpft tatsächlich durch den Kamin, nimmt sich einen Schluck von der Bowle, die extra für ihn hingestellt wurde und legt die Geschenke unter den Baum. Später in der Nacht liegen Harry und Philip im gemeinsamen Schlafzimmer im Bett. Philip meint, dass der Weihnachtsmann Papa war, was Harry zornig ablehnt. Letzterer schleicht sich aus dem Bett ins Wohnzimmer und überrascht den Weihnachtsmann (nun ja, eigentlich seinen Vater), der gerade in einem anregenden Vorspiel mit der Mutter vertieft ist – was Klein-Harry so sehr verstört, dass er wieder nach oben rennt und nach dem guten alten Rezept Charles Foster Kanes eine Schneekugel zerstört (und sich dann mit einer Scherbe Schnitte in der Hand zufügt).

In der Jetztzeit geht es Harry wieder besser – mehr oder weniger. Sein Kindheitstrauma hat er mit einer extremen Weihnachtsobsession verarbeitet und seine Wohnung komplett mit Weihnachts-Kitschregalien eingerichtet. Harry schläft nicht in einem Pyjama, sondern in einem Weihnachtsmannkostüm. Er hat keinen Kalender, sondern eine Schiefertafel, die anzeigt, wie viele Tage bis Weihnachten noch bleiben. Seine Freizeit verbringt er gerne damit, die Kinder aus der Nachbarschaft mit einem Fernglas zu stalken, um dann in zwei verschiedenen dicken Büchern Eintragungen vorzunehmen: die guten Kinder bekommen „Bienchen“ im „Good Boys & Girls“-Band, die schlechten Kinder (etwa Jungs, die sich für Nacktmodelle in Schmuddelheftchen interessieren) werden hingegen im „Bad Boys & Girls“-Buch verewigt.

Vom Weihnachtstrauma zum Weihnachtsfetisch
und Voyeurismus
Seinen besonderen Lebensstil finanziert Harry mit einer passenden Arbeit: er ist in einer Spielzeugfabrik angestellt und geht dort seinen Kollegen auf die Nerven, in dem er sie immer wieder dazu ermahnt, sich für die Qualität der Erzeugnisse ins Zeug zu legen – zum Wohl der Kinder. Dafür bekommt er gelegentlich von einflussreicheren Arbeitskollegen Nacht- und Wochenendschichten zugeteilt.
Vielleicht ist dies der Grund, weshalb er die Thanksgiving-Einladung seines Bruders Philip ablehnt, der im Gegensatz zu ihm eine Familie gegründet hat (und der seinen älteren Bruder trotz Mahnungen seiner toleranten Ehefrau Jackie für einen Versager hält). Oder vielleicht war Harry nur davon angewidert, dass Philip mit seiner Angetrauten Sex im Wohnzimmer hatte (was Harry, der zufällig vorbei spazierte, beobachtete – oder sich vielleicht nur einbildete?). Oder vielleicht ist Harry einfach zu aufgeregt und gestresst, weil Weihnachten vor der Tür steht und er als selbsternannter Weihnachtsmann bald viel zu tun haben wird.

So muss er zunächst sein Kostüm nähen, seinen weißen Bart vorbereiten und... aber was ist mit Geschenken? Die nimmt sich Harry einfach in einer Nacht-und-Nebel-Aktion an seinem Arbeitsplatz. Ein Werbespot seiner Firma hat schließlich die Spende von Spielzeugen an eine Klinik für behinderte Kinder versprochen. Doch bei einer Weihnachtsfeier des Betriebs hat Harry erfahren, dass dies nur ein reiner Image-Spot war. Der selbsternannte Weihnachtsmann weiß sogleich, wen er als erstes beschenken muss. Mit den geklauten Spielzeugen eilt er zur Klinik, wo er völlig verdutzten Angestellten eine ganze Kleinlasterladung an Spielzeugen übergibt. Die ganze Aktion hat er natürlich als Weihnachtsmann verkleidet ausgeführt.

Später will Harry den fiesen Marketing-Angestellten der Firma nach einer Weihnachtspredigt zur Rede stellen. Das geht schief, weil einige Kirchenbesucher sich über seine Aufmachung lustig machen und er gezwungen ist, drei von ihnen mit einem Spielzeugsoldaten und einer Spielzeugaxt zu töten. Nach dem Blutbad gerät Harry in die Weihnachtsfeier einer Familien-Assoziation, wo er nolens volens fröhlich tanzt und dann die anwesenden Kinder dazu ermahnt, brav zu sein, bei Nichtbefolgen dieser Anweisung allerdings Schlimmstes androht (letzteres verunsichert auch eine der erwachsenen Feiernden). Nach der Party besucht Harry dann noch seinen vorlauten Arbeitskollegen, der ihm immer wieder Nacht- und Wochenendschichten zugeschoben hat und verteilt wieder Geschenke: den Kindern des Kollegen legt er Päckchen unter den Weihnachtsbaum, den Kollegen selbst ermordet er im Schlaf, indem er ihn zunächst mit dem Geschenkesack zu ersticken versucht und ihm dann mit einem Dekostern die Kehle aufschlitzt.

Harry auf Weihnachtstour und vom Lynchmob verfolgt
Sein Bruder und seine Schwägerin machen sich Sorgen
Am Tag nach Heiligabend sind Harrys Blutbäder öffentlich geworden. Die Polizei warnt alle Bürger vor Leuten, die als Weihnachtsmänner gekleidet sind – was aufgrund unzähliger Denunziationen eine Massenverhaftung von Weihnachtsmännern nach sich zieht und im Kreise besorgter Kleinbürger gar zu einer hysterischen Lynch-Atmosphäre führt. Als Harry am Weihnachtsabend wieder durch die Gegend zieht, wird er von besorgten Eltern angegriffen: diese verwandeln sich in einen zornigen Mob im Blutrausch und verfolgen mit offensichtlichen Lynchabsichten den verkleideten Harry. Dieser flüchtet zu seinem Bruder, gibt ihm die Schuld an seinem exzessiven Verhalten, weil dieser in der Kindheit die Existenz des Weihnachtsmann verleugnet hat und fährt mit seinem weihnachtlich aufgemachten Van wieder weg. Vom Lynchmob verfolgt lässt Harry seinen Wagen durch ein Brückengeländer krachen. In den letzten Sekunden vor seinem Tod stellt er sich vor, wie er mit seinem Van in der Manier eines klassischen Weihnachtsmannschlittens in der Mondnacht davonfliegt.

YOU BETTER WATCH OUT, der auch als CHRISTMAS EVIL veröffentlicht wurde (nun auch kürzlich in einer neuen deutschen DVD-Edition), wird gerne als Vorläufer des Weihnachts-Slasherfilms bezeichnet. Das ist wohl nicht ganz falsch, allerdings haben sich bei mir während der beiden kürzlichen Sichtungen eher Assoziationen zu TAXI DRIVER aufgedrängt. Man stelle sich einmal vor, Paul Schrader hätte seine großstädtische Adaption von Robert Bressons JOURNAL D‘UN CURÉ DE CAMPAGNE nicht auf einen entfremdeten und einsamen Taxifahrer mit puritanischen Gewalt- und Vernichtungsfantasien übertragen, sondern auf einen entfremdeten und einsamen Spielzeugfabrikangestellten mit ebenso puritanischem Weltbild, starken Identitätsproblemen und einer schweren, ödipal motivierten Weihnachtsobsession. Es wäre vielleicht so etwas ähnliches wie YOU BETTER WATCH OUT herausgekommen. Die Vorstellung jedenfalls, beide Filme im Double Feature nacheinander zu schauen und zu vergleichen, scheint recht reizvoll.

Denn YOU BETTER WATCH OUT ist tatsächlich kein richtiger Slasher, sondern eher das „dichte“ Psychogramm einer verzweifelten, entfremdeten, traumatisierten Figur. Vielleicht mehr noch als TAXI DRIVER verweigert er sich jeglichem einfachen Zugriff. Er ist kein Thesenfilm, dessen „Botschaft“ schon nach drei Minuten deutlich wird, sondern präsentiert sich tatsächlich als Film über extreme soziale und emotionale Einsamkeit, das zwar klar satirische, gesellschaftspolitische Elemente enthält, dessen existentielle Traurigkeit und Schwere aber wesentlich mehr wiegt.

Ein faszinierender Hauptdarsteller
Es ist faszinierend, was YOU BETTER WATCH OUT den Zuschauern für eine Figur zumutet: ein Voyeur mit einem unerträglich puritanischen Weltbild und schlichtweg kranken Kontrollfantasien, dessen fast schon naives Bemühen, Gutes zu tun, zwar bemerkenswert ist, zugleich aber von der Unfähigkeit, eigenes Schlechtes zu erkennen, neutralisiert wird. Harry ist zugleich eine lächerliche Figur mit einem skurrilen Weihnachtsfetisch, der im Film zwischendurch an der Grenze zum Camp präsentiert wird und gleichzeitig auch ein brutaler und skrupelloser Mörder. Doch YOU BETTER WATCH OUT gibt Harry weder der Lächerlichkeit preis, noch verurteilt er ihn, sondern bemüht sich um analytisches wie auch emotionales Verstehen. Das gelingt nicht zuletzt an der grandiosen Darstellung Brandon Maggarts, der die Figur Harrys mit Haut, Haaren und Poren atmet und bis in kleinste Nuancen perfekt spielt. Als schüchtern-freundlicher Mann auf der Straße, als tüchtigen Arbeiter, als grimassierender Weihnachtsmann vor dem Spiegel, als vor Zorn und Abscheuimpulsen zitternde Zeitbombe, als Lebensmüden mit furchtbar traurigen Augen.

Eine Verurteilung von Harry ist auch gar nicht möglich im Angesicht dessen, dass der Film an der Niederträchtigkeit vieler anderer Figuren keinen Zweifel lässt. Das Mörderische siedelt YOU BETTER WATCH OUT durchaus bei Harry an, aber eben auch im durchschnittlichen, kleinbürgerlichen Milieu. Wenn der Weihnachtsmann am Schluss von einem wütenden und offenbar wahrlich tötungsbereiten Lynchmob verfolgt wird, stellt der Film (sicherlich wenig subtil) eindeutig die Frage, ob der Sonderling Harry wirklich viel schlimmer ist als der durchschnittliche „besorgte“ Nachbar. Diese Szenen, um wieder kurz auf Assoziationen zu sprechen zu kommen, erinnern wiederum an Fritz Langs Inszenierung entfesselter Mobgewalt, sei es in METROPOLIS, in M oder in FURY. Als ein kleines Kind dem in Serie mordenden Weihnachtsmann ein heruntergefallenes Messer mit Springklinge lächelnd reicht, scheint dies fast direkt auf M anzuspielen.

Im Gegensatz zu einigen Behauptungen, die man so im Internet findet, ist YOU BETTER WATCH OUT keineswegs Lewis Jacksons einziger Film, sondern sein dritter, allerdings auch letzter in einer Karriere mit nicht besonders hoher Output-Frequenz. THE TRANSFORMATION: A SANDWICH OF NIGHTMARES von 1974 ist bei der IMDb mit dem Tag „lost film“ markiert, wobei nicht ganz klar ist, ob sich das auf den Film selbst oder vielleicht auf ein Element des Inhalts bezieht (IMDb unterscheidet hier dummerweise offensichtlich nicht). 1970 hatte Jackson auch THE DEVIATES gedreht, der wohl auf den ersten Blick eine Sexkomödie war.

Eines der wenigen Bilder, die den Alternativtiteln CHRISTMAS
EVIL oder TERROR IN TOYLAND gerecht werden
YOU BETTER WATCH OUT ist in Deutschland als CHRISTMAS EVIL erschienen bei cmv laservision mit einem unglaublich hässlichen Cover, das einen Film mit genetisch mutierten Zombie-Weihnachtsmännern erwarten lässt. Frühere Editionen waren entweder stark limitiert, oder sind nun überteuert, oder nur im 1,33:1-Format erhältlich. Die cmv-laservision-DVD ist trotz des hässlichen Covers okay, mit guter Bild- und Tonqualität, allerdings ohne Untertitel für die englische Originalfassung. Sie enthält drei Audiokommentare: einmal mit dem Regisseur Lewis Jackson alleine, dann mit Lewis Jackson und Hauptdarsteller Brandon Maggart, und schließlich einen mit Lewis Jackson und John Waters, einem Fan des Films, der ihn als den „großartigsten jemals gedrehten Weihnachtsfilm“ bezeichnet. Übrigens lehnte Kathleen Turner, die später die Titelfigur in Waters‘ tollem SERIAL MOM spielte, die Rolle als Jackie, also Philips besonnene Ehefrau, ab. Die erwähnten Audiokommentare wurden für eine der vielen US-amerikanischen DVD-Editionen des Films eingesprochen. Im Vereinigten Königreich wurde er von Arrow Film veröffentlicht.
Etwas unklar – wie so oft – ist die Fassungsgeschichte des Films. YOU BETTER WATCH OUT ist nur einer der Titel, unter denen er erschienen ist. Ebenso wurde er unter den Titeln CHRISTMAS EVIL (unter dem auch die meisten DVD-Veröffentlichungen dies- und jenseits des Atlantiks fungieren) veröffentlicht, aber auch als TERROR IN TOYLAND. Der erste Titel, der auch (siehe den Screenshot des Titels) in meiner DVD-Fassung zu sehen ist, entspricht zumindest thematisch am besten dem Film, während letztere eher darauf zielen, ihn als Slasher oder Horrorfilm zu vermarkten und möglicherweise bei Neuaufführungen genutzt wurden. CHRISTMAS EVIL hat sich nun sogar durchgesetzt. Ob der Titelsalat auch mit der Existenz eines sogenannten „director‘s cut“ zu tun hat, ist mir unklar. Jedenfalls gibt es offenbar eine Fassung, die ich als „Nicht-director‘s-cut“ bezeichnen würde und die 100 Minuten dauert sowie eine „re-release“-Fassung von 95 Minuten (gemäß IMDb), die vielleicht (?) mit dem „director‘s cut“ identisch ist, der wiederum allerdings nur 94 Minuten dauert (bei DVDs aus PAL-Ländern wegen der Formatkonvertierung 90 Minuten) und auch auf allen DVD-Editionen enthalten ist. Auf der DVD von cmv laservision sind ungefähr 6 Minuten an „Deleted Scenes“ in der Bonussektion enthalten: ob es sich um tatsächlich ungenutztes Material handelt oder um die sechs Minuten, die aus der „originalen“ (?) 100-Minuten-Fassung herausgeschnitten wurden, ist allerdings unklar. Viele ungeklärte Fragen...


Wenn ich all unseren Lesern diesen zutiefst pessimistischen, teils verstörenden, aber durchwegs faszinierenden Weihnachtsfilm ans Herz lege, möchte ich ihnen natürlich die kommenden Feiertage nicht verderben, ganz im Gegenteil. Ich selbst verabschiede mich mit diesem Text in die Weihnachtspause, werde Anfang Januar mit einem mittlerweile traditionellen persönlichen Jahresrückblick zurückkehren und wünsche all unseren Lesern frohe Feiertage und einen guten Rutsch ins neue Jahr.

Sonntag, 13. September 2015

Ein (Nicht-)Musical in Rot

HOT BLOOD
USA 1956
Regie: Nicholas Ray
Darsteller: Cornel Wilde (Stephano Torino), Jane Russell (Annie Caldash), Luther Adler (Marco Torino)


Marco Torino ist in großen Sorgen. Er ist der König einer großen Roma-Gemeinde in einer sonnigen US-amerikanischen Stadt (wahrscheinlich Los Angeles) – das ist keine einfache Aufgabe, und sie wird ihm zunehmend schwer fallen, denn er ist lungenkrank und muss sich entweder bald zurückziehen und zur Ruhe setzen oder aber sterben. Seine Krankheit verheimlicht er gegenüber seinen Angehörigen. Deshalb arbeitet er fleißig daran, eine Nachfolge zu finden. Die Wahl fällt auf den jüngeren Bruder Stephano, der jedoch Probleme macht: Stephano hat sich von der traditionellen Roma-Kultur entfernt und möchte am liebsten ein bürgerliches US-Leben führen, mit einer „Gajo“-Freundin und einem Job als Tanzlehrer bei reichen „Gajo“-Familien. Damit der kleine Bruder König der Gemeinde werden kann, muss er nach Marcos Willen heiraten und zwar eine richtige Romni, die ihn auf den richtigen Weg bringt. Die passende Kandidatin ist schnell gefunden: Annie Caldash, die Marco kürzlich aus dem Gefängnis zusammen mit ihrem Vater und ihrem Bruder (gespielt von James H. Russell – auch im wahren Leben Jane Russells Bruder) befreit hat, in dem er ihre Kaution bezahlte.

Alle sind mit der geplanten Hochzeit zufrieden, außer Stephano, der sich von seinem Bruder nichts vorschreiben lassen und keine Unbekannte heiraten möchte (auch wenn er ihre üppige Oberweite anerkennend begutachtet hat). Doch Annie offenbart Stephano, dass sie sowieso ganz eigene Pläne hat: sie, ihr Vater und ihr Bruder sind eigentlich Ehebetrüger, die nur Marcos Mitgift kassieren wollen. Kurz, bevor die Ehe ausgesprochen wird, soll Annie ein Malaise vortäuschen und würde dann mit dem Geld abhauen. Ein Plan, der Stephano gefällt: so muss er nicht wirklich heiraten, und wenn sein Bruder eins ausgewischt bekommt, dann freut er sich umso mehr.

Natürlich kommt alles anders, und die Hochzeit läuft nicht so, wie geplant. Das heißt eigentlich: sie läuft tatsächlich so, wie eine Hochzeit üblicherweise läuft. Annie täuscht nämlich kein Unwohlsein vor, sondern lässt die Ehezeremonie tatsächlich vollziehen. Ihr überraschter Vater gerät darüber in Tränenausbrüche (was die Anerkennung aller Anwesenden hervorruft „so viele Emotionen“!). Der vollkommen düpierte und nun frisch vermählte Stephano wird darüber hingegen zur Weißglut getrieben, doch muss er seine Wut während der restlichen Festlichkeiten zügeln. Nur die Peitsche bei dem Braut-und-Bräutigam-Peitschentanz lässt er besonders heftig knallen.

Marco Torino ist krank und sucht einen Nachfolger
Sein Bruder Stephano wird zu einer Ehe überlistet
Als beide sich dann im Schlafgemach befinden, fliegen die Fetzen und werden gar Fenster zu Bruch gebracht, was die Hochzeitsgäste, die vor der Zimmertür kampieren und singen, als großes „Temperament“ deuten. Im Inneren des Zimmers befindet sich das Paar allerdings nicht in stürmischer Umarmung, sondern in einem tiefen Streit. Annie möchte tatsächlich eine ernsthafte Ehe führen. Stephano droht hingegen gleich mit einer Scheidung nach traditioneller Roma-Manier: er wird vor dem Rat der Gemeinde aussagen, dass es „keine Liebe“ gibt – und fertig wäre die Sache. Stephano geht dann zu einem Date mit seiner „Gajo“-Freundin weg. Seine Wut tobt er letztlich damit aus, dass er dem Agenten einer Tanzlehrervermittlung, der ihn wohl aus Rassismus nicht eingestellt hat, eine öffentliche Tanzvorführung gibt und ihn schlussendlich durch ein Schaufenster schmeißt. Die Polizei ist bald zur Stelle, und so verbringt Stephano seine Hochzeitsnacht im Knast.

Marco bezahlt natürlich die Kaution für seinen Bruder, während der Rest der Familie nichtsahnend im Wohnzimmer sitzt und wartet, bis das Ehepaar aufsteht und zum Frühstück rauskommt. Stephano, dem das alles egal ist, benutzt nicht die Schleichwege und so kommt offiziell raus, dass er die Hochzeitsnacht nicht bei seiner Frau verbracht hat. Für Marco ist es nun umso wichtiger, dass Stephano endlich in seiner Ehe ankommt. Er bittet Annie, Stephano um jeden Preis zu ihrem Ehemann zu machen (ergo: zu verführen), damit er ein guter Nachfolger wird und setzt Stephanos Ehefrau sogar in Vertrauen über seinen Gesundheitszustand. Die möchte sowieso ihren Ehemann verführen und mischt ihm auch einen leckeren Wein mit Pfirsichen. Stephano, leicht betrunken, deutet nun Annie gegenüber an, dass er die nächste Nacht ganz gerne mit ihr verbringen würde. Genau in diesem Augenblick platzt Marco, der die letzten paar Minuten an der Tür gelauscht hat, rein. Stephano, der in der Situation (nicht ganz zu Unrecht) ein Arrangement zwischen Marco und Annie hinter seinem Rücken wittert, läuft wutentbrannt weg, um sich mit seiner „Gajo“-Freundin zu treffen und vielleicht sogar mit ihr auf Tanztournee zu gehen. Dass Annie ihm folgt und dann die Freundin sogar in eine Kneipenschlägerei verwickelt, besiegelt endgültig seinen Entschluss, wegzugehen.

So beginnt Stephanos Tanztournee – während derer er immer wieder an Annie denken muss. Deshalb kehrt er rasch zurück, nur um zu entdecken, dass bei einer großen Feier seine Ehefrau recht fröhlich mit seinem Bruder tanzt und die beiden recht doppeldeutige Sachen sagen. Stephano reagiert etwas eifersüchtig – was Annie und Marco tatsächlich eiskalt zusammen kalkuliert haben, um den wütenden Ehemann besser an seine Frau zu binden. Der Abend endet damit, dass Stephano wieder Lust auf seine Ehefrau hätte, doch die will nur schlafen und fühlt sich am nächsten Morgen absolut elend. Das liegt daran, dass sie aus Versehen ein Aphrodisiakum geschluckt hat, das der Opa (nach einem Originalrezept aus Serbien) spontan für Stephano gebraut hatte. An dem fürchterlichen Gebräu wäre zweifelsohne jedem Menschen speiübel geworden, doch natürlich denken jetzt alle, dass Annie schwanger sei. Auch Stephano denkt das, nimmt aber an, dass Marco der Vater des (nichtexistenten) werdenden Kindes sei. So bricht er auf, um seinen Bruder zu verprügeln und verkracht sich dann definitiv mit Annie. Als er jedoch erfährt, dass Marco totkrank ist, wird er wieder weich. Zu spät: beim nächsten Ratstreffen des Clans wird Stephano zum neuen König gewählt und seine erste Amtshandlung besteht darin, vor dem versammelten Rat Annies Scheidungsantrag („There is no love!“) zu bestätigen. Als sich die Versammlung auflöst, spornt Marco seinen Bruder dazu an, wie ein „Gajo“ zu handeln und Annie nachzurennen. Dies tut er, hält um ihre Hand an, beide liegen sich in den Armen und Stephano trägt Annie auf den Schultern ins nächstgelegene Zimmer, um nun die Ehe endlich zu „vollziehen“.

Ende gut, alles gut: Stephano trägt Annie über die Schulter ins nächste freie Zimmer

Nicholas Ray drehte in seiner Karriere noirs, Westerns, Melodramen und auch das eine oder andere Epos, jedoch weder ein Musical, noch eine Screwball-Komödie (auch wenn JOHNNY GUITAR – hier einige Worte von mir zu diesem Film – sich teilweise wie ein Musical mit gesprochenen Worten statt Gesängen und Gewaltausbrüchen statt Tänzen anfühlt). HOT BLOOD ist gewissermaßen das, was in Rays Filmographie einem Musical und einer Screwball-Komödie am nächsten kommt. In die Kinos kam HOT BLOOD zwischen den Meilensteinen REBEL WITHOUT A CAUSE und BIGGER THAN LIFE und gilt heute gemeinhin als kurioses Nebenwerk, wobei dies meist tendentiell eher pejorativ gemeint ist.

Die Franzosen wussten es natürlich als erste bereits besser. Jean-Luc Godard, dem kein Superlativ auf der Welt grandios genug war, um DIE Ikone der späteren nouvelle-vague-Rebellen zu loben, schrieb 1957 in seiner Kritik zu HOT BLOOD mit dem Titel „Rien que le cinema“ (Nichts anderes als das Kino), dass Nicholas Ray der einzige Regisseur der Welt sei, der nicht nur fähig, sondern auch willens wäre, das Kino im Falle seines Verschwindens neu zu erfinden. Etwas weniger ekstatisch lobte François Truffaut die Lebendigkeit und Inszenierung des Films.

Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Es gibt viele und gute Gründe dafür, HOT BLOOD dämlich zu finden. So ist das Drehbuch etwa ziemlich klobig und ruckelt an vielen Ecken und Enden. Marcos schwere Krankheit bleibt die meiste Zeit eine reine Behauptung: manchmal hüstelt Luther Adler etwas vor sich hin, aber so etwas wie Fallhöhe wird noch nicht mal im Ansatz entwickelt. Die Konflikte zwischen den beiden Brüdern scheinen die meiste Zeit wie aus der Konservendose zu kommen und eine tragische oder überhaupt ernsthafte Ebene wird da nie erreicht (selbst dann nicht, als Stephano Marco verprügelt). Das aufgepappte Happy-End könnte lächerlich sein, weil er einfach nicht zu den Konflikten passen will, die vorher mit viel Mühe, aber ohne wirkliche Überzeugungskraft aufgebaut wurden (vielleicht können diese Konflikte deshalb so rasch beiseite gewischt werden, weil sie eh keine Schwere entwickeln konnten). So entwickelt HOT BLOOD eine eigentlich unpassende Balance: die Sachen, die hier passieren, sind zu ernsthaft und tragisch, um den Film wirklich als vollwertige Komödie wahrzunehmen, aber irgendwie auch zu lachhaft, als dass irgend ein Sinn für Tragik entstehen könnte.

Am problematischsten ist aber natürlich das Bild, das in HOT BLOOD von „Zigeunern“ gezeichnet wird: so ein Film würde in dieser Form heute nicht mehr gedreht werden, und darüber sollten wir alle sehr froh sein! HOT BLOOD ist so etwas wie eine audiovisuelle Enzyklopädie aller Zigeuner-Klischees, die man sich so denken kann: der „Zigeuner an sich“ tanzt gern, ist überhaupt sehr musikalisch, trägt bunte Sachen und Bling-Bling-Kram, spricht ständig von Temperament und Emotionen („hot blood“ und so), klaut gerne Sachen, ist fürchterlich abergläubisch, hat es nicht so mit der Moderne, lebt und denkt nur in Familienstrukturen, haut „Gajos“ gerne in die Pfanne etc. Auch kann man den Eindruck nicht loswerden, dass „Zigeuner“ lediglich die Funktion haben, mit ihren Stereotypen das Drehbuch zusammenzuhalten. Es ist ein Drehbuch, dass in einer geschlossenen Gruppe mit strengen, traditionellen Strukturen und Bräuchen (etwa arrangierten Ehen) spielen muss: christlich-traditionalistische Gruppierungen, von denen es in den USA einige gibt, hätten dafür auch herhalten können, aber dann hätte der Film das Hays-Büro wohl definitiv nicht passieren können, und außerdem würden die Figuren dann keine bunten Sachen tragen und tanzen. Das alles hinterlässt schon ein etwas flaues Gefühl im Magen, nicht zuletzt, wenn eine der Nebenfiguren dann fragt, wen man denn beklauen könne, wenn keine „Gajos“ da wären.

Diese Probleme können sicher nicht beiseite gewischt werden wie die intradiegetischen Konflikte am Ende. Doch HOT BLOOD bietet selbst von alleine einige interessante Anmerkungen und Überlegungen zu den Problemen, die er aufwirft. Er baut Klischees auf, die er teilweise wieder zerschlägt. Er schreibt Roma Eigenschaften zu, um dann wenige Augenblicke später andere Eigeschaftszuschreibungen als solche zu entlarven. „No gajos? Who do we steal from?“ fragt also der Opa verwundert, nur um dann von Marco  ein genervtes „Papo, why do you upset me?“ entgegen geschmettert zu bekommen. Immer wieder muss Marco Leute aus seiner Gemeinde mit teils recht teuren Kautionen aus dem Gefängnis befreien: er zahlt dann Hunderte von Dollars an die Polizei für Menschen, die verhaftet worden sind, weil sie (O-Ton Marco) „verdächtigt wurden, Zigeuner zu sein“. Stephano klagt hingegen gegenüber dem Tanzagenten die Ungerechtigkeit an, dass er nicht als privater Tanzlehrer engagiert wird, weil reiche Leute einen „Zigeuner“ nicht in ihrer Villa haben möchten.

Die Welt außerhalb der Roma-Gemeinde in Blau-Grün-Tönen
Es ist bei Ansicht des Films kaum zu glauben, dass HOT BLOOD ursprünglich ein ernsthaftes und ethnografisch minutiöses Drama über das Leben der Roma in den USA sein sollte. Das Drehbuch in der Urfassung stammt von der Journalistin Jean Evans, mit der Nicholas Ray Ende der 1930er Jahre verheiratet war, und die Geschichte war tatsächlich das Ergebnis intensiver ethnografischer Recherchen seitens Evans‘ in US-amerikanischen Roma-Gemeinden. Es wurde dann allerdings von Jesse L. Lasky und Ray komplett umgeschrieben – das eine oder andere tragische Element, das etwas kontextlos im Film herumschwebt, mag wohl auf Evans‘ Originaldrehbuch zurückzuführen sein. Jedenfalls mag HOT BLOOD mag zwar jede Menge Böcke abschießen im Bezug auf die Darstellung von Roma in den USA, andererseits nimmt der Film eine fast hermetische Binnenperspektive ein: es gibt zwar einige wenige Nicht-Roma-Figuren, doch keine, die von Belang wäre. Der Polizist auf der Station, Stephanos Freundin, der Tanzagent und die Kassiererin des Trailerparks, in dem Marco den Wohnwagen für seine letzte Reise stehen hat – das war‘s. Interessanterweise wird die Umgebung dieser Figuren farblich anders codiert als die Umgebung der Roma, nämlich in Blau-Türkis-Tönen: Stephanos Freundin fährt einen türkisfarbenen Wagen, das Wachhäuschen der Trailerpark-Kassiererin ist blau-grün, während die Roma in Rot- und Orange-Tönen und -Variationen (darunter auch das intensive Nicholas-Ray-Rot) eingebunden sind – und in Rot treten bei Nicholas Ray meistens die „Guten“ auf.

HOT BLOOD sieht die Gemeinde der Roma als Gruppe von ethnischen und sozialen Außenseitern, innerhalb derer wiederum gebrochene Individuen leben. Außenseitergruppen und -individuen: klassische Nicholas-Ray-Helden auch in diesem Film. So problematisch der klischierte Blick des Films auf seine Hauptfiguren ist, so intensiv und leidenschaftlich identifiziert er sich auch mit ihnen. Der Film ist auf ihrer Seite und das ohne wenn und aber. Das unterscheidet HOT BLOOD auch merklich von Rays letztem Hollywood-Film, dem absolut unsäglichen 55 DAYS AT PEKING, der einen dezidiert imperialen Blick auf chinesische (und überhaupt ostasiatische) Figuren hat.

Howard Hawks sagte einmal, ein guter Film sei „drei gute Szenen und keine schlechte“. Ob das unmotivierte und angeklebte Happy-End eine schlechte Szene ist, sei dahingestellt (ich finde sie eher unpassend als wirklich schlecht). Auf jeden Fall hat HOT BLOOD mehr als drei gute Szenen. Vielleicht ist er nicht mehr als die Summe seiner Teile, doch die einzelnen Teile haben es teils wirklich in sich! Der Film ist voller Szenen, die man von der Grundstruktur her in vielen anderen Filmen der Zeit sehen würde, aber die dennoch auch offbeat sind, die ein Element haben, die sie einzigartig macht.

Die Hochzeitsszene bietet zunächst so etwas wie den komödiantischen Höhepunkt des Films, als während der Vermählungszeremonie Stephano und Annies Vater innerhalb kürzester Zeit merken, dass Annie die Vermählung durchziehen wird. Die Kombination von Cornel Wildes entsetztem Gesichtsausdruck und Jane Russells selbstbewußtem Auftreten bietet nicht nur den vielleicht größten Lacher des Films, sondern verdichtet auch in einem  einzigen Bild nonverbal die komplette Situation.

Peitschentanz in Nicholas-Ray-Rot
Wie die kurz darauf folgende Peitschentanzszene die Wächter des Production Codes passierte, muss wohl ein Rätsel bleiben. Man kann diese Momente getrost als eine Art Sex-Ersatzszene sehen: Russell tanzt lasziv, hebt ihr weißes Brautkleid, enthüllt darunter viel Bein sowie ein ein knalliges Nicholas-Ray-Rot, während Wilde seine lange Peitsche schwingt. Er schlägt ihr die roten Zierblumen und den Schleier vom Kopf, versucht mehrmals, sie mit der Peitsche an sich zu ziehen. Ein Verführungs- und Unterwerfungsspiel, das wütender Sex mit einem Hauch „kinkiness“ kombiniert und – wie viele andere Momente im Film – wie der unfertige oder abstrahierte Entwurf einer Musical-Szene wirkt. (was die Probleme von HOT BLOOD mit dem Production Code Office betrifft, so wird er zumindest bei IMDb als einer von vielen Filmen in der Sektion „features“ der Dokumentation HOLLYWOOD UNCENSORED erwähnt).

Die nächste dieser „unfertigen“ Musical-Szenen ist Stephanos Tanzeinlage vor der Agentur, die ihn abgelehnt hat. Er will dem Agenten demonstrieren, wie gut er tanzen kann. Alle umgebenden Personen klopfen einen Rhythmus, während Stephano herausfordernd zu tanzen beginnt. Das ganze wird größtenteils als Totale gefilmt, damit man das Gesicht des Tänzers nicht sieht – weil Wilde hier gedoubelt wurde. Das gibt der Sequenz auch eine merkwürdige und sehr auffallende Distanz.

Anfang und Schluss der bizarrsten
(Nicht-)Musicalnummer des Films

Der bizarrste Moment im ganzen Film ist zugleich die merkwürdigste Interpretation einer Musical-Szene. Stephano kommt nach der Nacht im Gefängnis zurück. Annie erwartet ihn, fest entschlossen, ihn zu verführen. Sie bereitet gerade einen Wein mit Pfirsichen vor und adressiert Stephano mit einer Mischung aus Rede, Sprechgesang und Gesang. Dieses Spiel mündet in die Musicalnummer „I could learn to love you“, die allerdings nicht live von Russell gesungen wird, sondern als „playback“ gespielt wird: Annie singt das Lied nicht, sondern denkt es nur, sie stellt es sich vor, während Stephano sich im Hintergrund umzieht, sich kurz wäscht, sein Hemd sucht und anzieht. Das ganze endet mit der Linie „Husband, here‘s your wine“, während Annie Stephano ein Glas hinhält. Die Musik stoppt, Stephano guckt wie hypnotisiert auf Annie, die die Schlusslinie des Liedes noch einmal sprechen muss, damit ihr Ehemann reagiert – als wäre er von dieser Musik, die Annie eigentlich nur denkt, hypnotisiert worden.

Diese „extradiegetische Musicalnummer“ gehört schon jetzt zu meinen absoluten Szene-Favoriten des Jahres, und überhaupt von dem mir bisher bekannten Werk Nicholas Rays. Auch nach ihr gibt es viele denkwürdige Szenen. Etwa die wüste Prügelei zwischen Stephanos Ehefrau und seiner „Gajo“-Freundin in der Kneipe. Oder natürlich auch der dramatische Gürtelkampf zwischen Stephano und Marco: die beiden geraten auf dem Trailerpark, in dem Marco seinen „letzten“ Wohnwagen stehen hat, in einen schweren Streit, und Stephano ist bereit, sich mit Marco zu prügeln. Statt sich aber wie vulgäre „Gajos“ zu hauen, machen sie es auf traditionelle „Zigeuner“-Art: Sie hauen sich gegenseitig mit ihren Gürteln. Diese Szene ist auf vielerlei Art bemerkenswert. Erstens natürlich einfach nur aufgrund der ungewöhnlichen Kampfweise: schließlich peitschen sich hier zwei Männer mit Gürteln. Zweitens ist diese späte Szene innerhalb des Films praktisch symmetrisch zur frühen Peitschentanzszene auf der Hochzeit angeordnet und spiegelt sie in gewisser Weise. Während Stephano in der ersten eine Frau auszupeitschen versuchte, auf die er wütend war, weil er sie nicht haben wollte, versucht er in letzterer den Mann auszupeitschen, der ihm diese Frau, die er nun doch begehrt, vermeintlich wegnehmen will. Drittens erinnert diese Kampfszene in ihrer Inszenierung ein wenig an die Kampfszene mit den Springklingenmessern vor dem Planetarium in REBEL WITHOUT A CAUSE. Überhaupt scheint in HOT BLOOD das eine oder andere von Rays berühmten James-Dean-Film übernommen worden zu sein. Auffällig ist etwa, dass die Polizeistation am Anfang HOT BLOOD im Eingangsbereich ebenso einen „Thron“ hat, wie jene in REBEL WITHOUT A CAUSE (in beiden Fällen handelt es sich um einen Sitz für Personen, die sich ihre Schuhe putzen lassen möchten – warum auch immer so etwas im Eingangsbereich einer US-amerikanischen Polizeistation stehen sollte). Auf den „Thron“ setzt sich im früheren Film der vollkommen betrunkene Jim Stark, im späteren Film „thront“ tatsächlich der König der Roma-Gemeinde, während er sich mit einem Polizisten unterhält.

Ein merkwürdiger Thron in REBEL WITHOUT A CAUSE
und in HOT BLOOD
Und natürlich (und da ähnelt HOT BLOOD in Rays Werk nicht nur REBEL WITHOUT A CAUSE) strotzt der Film nur so vor Rot. Mit Ausnahme von vielleicht Michael Powell und Emeric Pressburger (ich kenne allerdings nicht genug ihrer Filme, um da eine sichere Aussage machen zu können) gibt wohl niemanden, der die Farbe Rot so inszeniert wie Nicholas Ray. Kein Mensch im Universum trägt Rot wie die Figuren bei Ray: Viennas leuchtend rote Lippen, ihre Halsschlaufe, ihr Hemd in JOHNNY GUITAR, Jim Starks Jacke, Judys Mantel und Platos Socke in REBEL WITHOUT A CAUSE, Richie Averys Jacke oder einzelne Kleidungsstücke der Schüler in BIGGER THAN LIFE, und eben Stephanos T-Shirts und Schals sowie Annies Blusen, Korsetts und Röcke in HOT BLOOD. 

Ich habe, um ein wenig vergleichen zu können, REBEL WITHOUT A CAUSE gleich nach der zweiten Sichtung von HOT BLOOD zwecks Verfassen dieses Text geschaut. Dabei ist etwas passiert, was ich nicht erwartet hätte: HOT BLOOD ging aus dem (persönlichen) Vergleich als eindeutiger Sieger hervor, während REBEL WITHOUT A CAUSE – Jean-Luc Godard möge mich dafür gerne steinigen – in meiner Wertschätzung mit dieser (dritten) Sichtung erneut ein wenig niedriger rutschte. Die Gründe dafür (unter anderem eine trotz allem sehr traditionelle und auch unangenehme Sichtweise auf Männlichkeit, die ihn fast schon zum sozial konservativen Film macht) würden einen eigenen Text benötigen. HOT BLOOD gefiel mir bei der ersten Sichtung ganz gut und ich fand ihn so bizarr und bemerkenswert, dass er mir einen eigenen ausführlichen Text wert zu sein schien. Bei der zweiten Sichtung nun habe ich ihn wirklich ins Herz geschlossen...

Ein Film voller Rot

...und nach meinem jetzigen Kenntnisstand würde ich ihn in Rays Werk als Mittelteil einer inoffiziellen „Trilogie des Fieberwahns, der knalligen Farben und überlebensgroßen Gesten“ einordnen, chronologisch zwischen JOHNNY GUITAR und PARTY GIRL – Filmen, die im Kern hauptsächlich aus diesen drei Elementen bestehen (wobei die restlichen Zutaten von JOHNNY GUITAR für zwanzig Filme reichen). Die große Klasse von JOHNNY GUITAR mag HOT BLOOD vielleicht nicht haben (aber das können sowieso nur ganz wenige Filme von sich behaupten), und wahrscheinlich scheitert er im Gegensatz zum wohl großartigsten Western aller Zeiten darin, aus dem Fieberwahn, den knalligen Farben und den überlebensgroßen Gesten etwas wahrhaftig Großes zu machen. Diesem Scheitern zuzusehen ist allerdings ein Erlebnis voller Überraschungen, absolut faszinierend und kurzweilig.



HOT BLOOD ist natürlich in französischen und US-amerikanischen, aber auch in italienischen, britischen und spanischen DVD-Editionen verfügbar. Ich selbst kann nur die UK-Fassung bewerten, die in Bild und Ton gut bis sehr gut ist.

Mittwoch, 1. Juli 2015

Wenig Chancen für morgen

ODDS AGAINST TOMORROW (dt. WENIG CHANCEN FÜR MORGEN)
USA 1959
Regie: Robert Wise
Darsteller: Harry Belafonte (Johnny Ingram), Robert Ryan (Earle Slater), Ed Begley (Dave Burke), Shelley Winters (Lorry), Kim Hamilton (Ruth Ingram), Lois Thorne (Eadie), Gloria Grahame (Helen), Will Kuluva (Bacco), Carmen de Lavallade (Kitty), Mae Barnes (Annie)

Johnny Ingram
Die bis zur Unkenntlichkeit zerfetzten und verkohlten Leichen zweier Männer (wie man als Zuschauer weiß - zu sehen bekommt man sie nur von Leichentüchern bedeckt) liegen vor rauchenden Trümmern nebeneinander auf dem Boden. Dialog eines Sanitäters und eines Polizisten:

"Well, these are the two that did it."
"Which is which?"
"Take your pick!"

Der Clou dabei: Als sie noch lebten, war der eine ein Farbiger und der andere ein rassistischer Weißer, der voller Hass und Verachtung auf Ersteren herabblickte. Jetzt sind sie ununterscheidbar geworden - man kann sich aussuchen, wer wer ist. Hämischer als Robert Wise (und seine Drehbuchautoren Abraham Polonsky und Nelson Gidding) am Schluss von ODDS AGAINST TOMORROW kann man Rassismus kaum verhöhnen.

Earle Slater
Zurück zum Anfang. ODDS AGAINST TOMORROW ist die Geschichte dreier verkrachter Existenzen in New York City, die sich widerwillig zu einem Bankraub zusammenschließen. Johnny Ingram ist ein talentierter junger Nachtclubsänger, den seine Leidenschaft für Pferdewetten in den privaten und finanziellen Ruin getrieben hat. Seine Frau Ruth hat sich wegen seines Lebenswandels von ihm scheiden lassen, seine kleine Tochter Eadie darf er nur zu den genau festgesetzten, knapp bemessenen Zeiten sehen. Johnny kann kaum die Alimente für Ruth und Eadie zahlen, und er hat 7500 Dollar Schulden bei dem Gangsterboss Bacco, von denen er nicht weiß, wie er sie zurückzahlen soll - wenn er nicht beim nächsten Rennen gewinnt. Earle Slater, der Rassist, stammt aus den Südstaaten, und seit seiner Zeit bei der Armee hat er beruflich und privat nichts auf die Reihe gekriegt. Momentan ohne Job, ist er impulsiv und unberechenbar. Es ist Selbstmitleid und ein latenter Minderwertigkeitskomplex, den er mit seinem aggressiven Verhalten kaschiert. Slater saß schon zweimal im Gefängnis, das zweite Mal wegen Totschlags. Zahm ist er nur bei seiner Freundin Lorry, die einen guten Job hat und genug für beide verdient. Doch Slaters Ego verträgt es auf Dauer nicht, von ihr ausgehalten zu werden.

Dave Burke
Treibende Kraft des Bankraubs ist der gealterte Ex-Polizist Dave Burke. Er saß ein Jahr in Sing Sing ein, weil er vor einem Ausschuss zur Untersuchung des organisierten Verbrechens die Aussage verweigert hatte. Er sei da zum Sündenbock gestempelt worden, meint er zu Slater bei ihrer ersten Begegnung. Vielleicht war das so, vielleicht war er aber auch selbst in korrupte Machenschaften verstrickt. Wie sich nämlich zeigt, besitzt er einen guten Draht zu Bacco. Es ist Burke, der den Plan für den Überfall ausbaldowert und Johnny und Slater als Komplizen auserkoren hat, und der sie nun nacheinander zu sich bestellt. Slater sieht eine Chance, seine finanzielle Misere zu beenden, und sagt mit Vorbehalten zu. Johnny ist ein alter Bekannter von Burke, fast sind sie sogar Freunde - aber nur fast. Denn Johnny will zunächst sauber bleiben und lehnt seine Mitwirkung ab. Da greift Burke zu einem drastischen Mittel: Er wendet sich an Bacco, und der setzt daraufhin Johnny die Daumenschrauben an. Bacco verlangt die sofortige Zurückzahlung der Schulden, und um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, droht er Johnny, sich an Ruth und Eadie zu vergreifen. Johnny weiß, dass es sich um keine leeren Drohungen handelt, und weil er keine andere Möglichkeit sieht, das Geld aufzutreiben, gibt er nun doch seine Zusage zur Mitwirkung. Doch als Slater erfährt, dass ein Farbiger mit von der Partie ist, will er nichts mehr damit zu tun haben und zieht sich zurück. Aber nach einem unerfreulich verlaufenden Tag, an dem Lorry befördert wird und noch mehr Geld verdient, während Slater mit der aufdringlichen Nachbarin Helen schläft, hält er es weniger denn je aus, ohne eigenes Einkommen dazustehen, und er steigt doch wieder ins Boot.

Bacco und Burke füttern Tauben - und hauen Johnny in die Pfanne
So findet sich also das ungleiche Trio zusammen. Und jeder der drei hat einen triftigen Grund dafür, auch Burke. Wenn er seinen beiden Komplizen seinen Plan schmackhaft machen will, spricht ihm zwar die nackte Geldgier aus den Augen, doch da ist noch mehr. Die Wände seiner kleinen Wohnung in einem heruntergekommenen Hotelbau, in dem der Wind durch das Treppenhaus pfeift, sind vollgepflastert mit Erinnerungsfotos, Urkunden und Ehrenplaketten aus 30 Jahren Polizeidienst. Es ist offenkundig, dass er noch nicht mit seiner Polizistenvergangenheit und deren unrühmlichem Ende abgeschlossen hat. Er will sich nicht nur materiell verbessern, sondern auch neue Reputation gewinnen. "Fifty grand can change it back", sagt er zu Johnny, und damit meint er die 50.000 Dollar, die jeder der drei als Beute zu erwarten hat. Wohlgemerkt, 50.000 Dollar von 1959, ungefähr das Achtfache wert wie dieser Betrag heute. - Als Ziel ausersehen ist die First National Bank in einer Kleinstadt am Hudson River, 100 Meilen nördlich von New York. (Der Ort namens Melton ist fiktiv, die dort spielenden Szenen wurden in Hudson gedreht.) In dieser Bank werden jeden Donnerstag die Lohngelder der örtlichen Firmen für die Auszahlung am folgenden Freitag bereitgehalten und in den Abendstunden die Tageseinnahmen der Geschäfte am Ort gezählt und in die Bücher eingetragen - ein Vermögen in kleinen, nicht registrierten Scheinen, das nur darauf wartet, von Burke und seinen Spießgesellen abgeholt zu werden. Denn in der Bank befinden sich dann nur einige harmlose Angestellte und ein alter, kurzsichtiger Wachmann. Man muss nur in die Bank hineinkommen, und genau dafür brauchte Burke unbedingt Johnny. Denn an jedem dieser Donnerstage bringt ein Kellner aus einer nahe gelegenen Imbissbude um 18:00 Uhr Verpflegung für die Bankangestellten an einen Seiteneingang, der dafür vom Wachmann kurz geöffnet wird. Dieser Imbiss-Bote ist ein Farbiger, und der Plan sieht vor, ihn kurzzeitig außer Gefecht zu setzen, während Johnny in einer identischen Kellner-Uniform an die Tür klopft. Wenn der kurzsichtige Wachmann erst einmal geöffnet hat, wird es leicht sein, ihn zu überwältigen, und der Rest ist ein Kinderspiel.

New York City ...
Am Tag des Überfalls fahren die drei getrennt nach Melton, um sich erst dort zu vereinen, und schon dabei kommt es zu Unregelmäßigkeiten im Ablauf. Slater fährt den hochfrisierten Fluchtwagen und tankt kurz vor dem Ziel, und dabei wirft der Tankwart aus reiner Neugier einen Blick unter die Motorhaube und erkennt mit dem Blick des Fachmanns, dass der äußerlich unscheinbare alte Kombi stark übermotorisiert ist, worauf Slater aufbrausend reagiert. Wird sich der Tankwart an ihn erinnern, wenn er von dem Überfall hört? Als Johnny in der Stadt flaniert, ereignet sich ein harmloser kleiner Autounfall - und ein Polizist spricht ihn direkt an und fragt ihn, ob er den Unfall gesehen hat. Johnny trägt eine Sonnenbrille, aber wird ihn der Polizist mit seinem geübten Blick später vielleicht trotzdem beschreiben oder wiedererkennen können? Zwischen Johnny und Slater herrschte seit ihrer ersten Begegnung eine aggressive Spannung, und Burke musste immer wieder beschwichtigend eingreifen. Nun, beim Treffen der drei auf einer Brache irgendwo am Rand von Melton, droht die Stimmung weiter zu eskalieren, und Burke kann nur mit Mühe verhindern, dass die beiden anderen jetzt schon übereinander herfallen. Da bis zum Abend noch einige Zeit bleibt, trennen sie sich vorerst wieder, um die Zeit totzuschlagen, durch zielloses Herumgehen oder Dasitzen und auf den Fluss Starren. In dieser Passage kommt die Handlung für fünf Minuten praktisch zum Stillstand. Nach klassischen Genre-Konventionen müsste man das als Durchhänger bezeichnen. Doch in Wirklichkeit ist der Film in dieser Sequenz völlig bei sich. Nicht durch Handlungselemente, aber durch eine Atmosphäre bleierner Langsamkeit und Schwere wird eines klargemacht: nämlich, dass die Protagonisten längst auf verlorenem Posten stehen. Um noch mit heiler Haut davonzukommen, müssten sie schleunigst zusammenpacken und verschwinden. Doch selbst wenn jeder einzelne von ihnen das wollte, würden sie durch ihre interne Gruppendynamik daran gehindert werden.

... und Melton / Hudson
So nimmt das Verhängnis also seinen Lauf. Unmittelbar vor dem Überfall weicht Slater vom Plan ab. Entgegen der Abmachung gibt er Johnny nicht die Autoschlüssel für den Fluchtwagen, sondern er behält sie zunächst selbst und gibt sie dann in der Bank an Burke weiter. Der Überfall selbst verläuft zunächst wie geplant. Der Wachmann kann problemlos überwältigt werden, und in der Bank gibt es keine Überraschungen. Doch als Burke als erster die Bank verlässt, steht zufällig ein Polizeiwagen ganz in der Nähe. Burke wird zum Stehenbleiben aufgefordert, und als dann Sekunden später die Alarmsirene der Bank losgeht, kommt es sofort zur Schießerei mit den Polizisten. Burke wird getroffen und bricht fluchtunfähig zusammen. Statt seinen Lebensabend im Gefängnis zu verbringen, zieht er es vor, sich eine Kugel in den Kopf zu schießen. Johnny und Slater könnten jetzt noch mit dem schnellen Wagen fliehen - wenn sie den Schlüssel hätten. Doch der liegt jetzt vor Burke auf der Straße, mitten im Schussfeld der Polizei. So bleibt nur die Flucht zu Fuß, und aus dem Schusswechsel mit der Polizei wird dabei eine Schießerei der beiden Kontrahenten gegeneinander. Der finale Showdown findet auf den Dächern riesiger Treibstofftanks statt. Es kommt, wie es kommen muss: Eine Kugel schlägt an der falschen Stelle ein, und alles fliegt mit einem gewaltigen Rumms in die Luft (wie es zehn Jahre zuvor schon James Cagney in Raoul Walshs WHITE HEAT widerfuhr). Als i-Tüpfelchen folgt der schon geschilderte Epilog mit den Sanitätern und Polizisten. Als die Leichen abtransportiert werden, gerät ein Schild mit der Aufschrift "STOP - DEAD END" ins Bild.

Zwei Seiten von Slater - mit Lorry und Helen
ODDS AGAINST TOMORROW wird meist als Film noir bezeichnet. Das ist auch nicht falsch, aber von den klassischen Vertretern der Gattung aus den 40er und frühen 50er Jahren unterscheidet er sich doch deutlich. 1959 gedreht, weist er schon deutlich in die 60er Jahre. Das beginnt schon mit der Titelsequenz, die mit abstrakt-grafischen Ornamenten gestaltet ist, und die an Kreationen des großen Meisters Saul Bass erinnert. Heute noch modern wirkt auch der unterkühlt-jazzige Soundtrack des Films. Geschrieben wurde er von John Lewis, dem musikalischen Vordenker und Pianisten des Modern Jazz Quartet. Diese Formation verband Bebop und Cool Jazz mit Einflüssen europäischer Klassik und bewahrte dabei eine dezente Blues-Note. Lewis und seine drei Kollegen im Modern Jazz Quartet spielten die Musik auch ein, unterstützt von einigen weiteren Solisten und einem Orchester. Der Soundtrack erschien 1959 auch auf LP. - Die Außenaufnahmen - von denen es reichlich gibt - wurden komplett on location in New York und in Hudson gedreht, und die Innenaufnahmen entstanden auch nicht in Hollywood, sondern in einem altehrwürdigen Studio in der Bronx, das einst der Biograph Company gehört hatte. ODDS AGAINST TOMORROW knüpft damit nicht an die klassischen Noirs an, die meist komplett im Studio produziert wurden, sondern an die Semidocumentaries wie etwa Jules Dassins THE NAKED CITY (1948), in dem der "Big Apple" New York der eigentliche Star des Films ist. - Nicht neu, aber selten genutzt war ein Stilmittel, das Robert Wise unbedingt einmal ausprobieren wollte, wozu er jetzt die Gelegenheit hatte, nämlich den Einsatz von Infrarot-empfindlichem Film in manchen Szenen (das hatte beispielsweise auch schon Leni Riefenstahl bei DAS BLAUE LICHT gemacht). Noir-typisches low key lighting gibt es dagegen wenig, und die meisten Szenen spielen im Tageslicht.

Johnny bei Ruth und Eadie
Produziert wurde ODDS AGAINST TOMORROW von einer kleinen und kurzlebigen Firma namens HarBel Productions, und "HarBel" bedeutete nichts anderes als "Harry Belafonte". Tatsächlich war Belafonte die treibende Kraft des Films. Durch Hits wie "Matilda", "Island in the Sun" und dem "Banana Boat Song" bereits berühmt und wohlhabend geworden, konnte er es sich leisten, seine eigene Produktionsfirma zu gründen. ODDS AGAINST TOMORROW war ihr erster Film, allerdings war er kommerziell erfolglos, und nachdem ein oder zwei weitere von HarBel produzierte Filme an der Kasse auch durchfielen, gab Belafonte seine Ambitionen als Produzent schnell wieder auf. In den Credits von ODDS AGAINST TOMORROW wird er nicht genannt, aber er war tatsächlich der Executive Producer, also der, der letztlich zahlt und anschafft. Und er war es, der den Stoff auswählte (nach einem Roman eines William McGivern, von dem der Film dann vor allem am Schluss erheblich abweicht), und der Abraham Polonsky als Drehbuchautor und Robert Wise als Regisseur verpflichtete. In den Credits steht "Directed and produced by Robert Wise", aber in seiner Eigenschaft als Produzent war Wise nur für die praktischen Tagesentscheidungen beim Dreh zuständig - der Chef war Belafonte. Belafonte hatte damals auch schon als Schauspieler reüssiert, vor allem mit der männlichen Hauptrolle in Otto Premingers CARMEN JONES, so dass es keine Hybris war, sich selbst mit der Rolle des Johnny zu betrauen. Tatsächlich hatte er HarBel auch dazu gegründet, sich selbst Rollen von starken, unabhängigen Charakteren abseits subalterner Klischee-Schwarzer zu verschaffen (auch in dieser Hinsicht ist ODDS AGAINST TOMORROW meilenweit von den Noirs der 40er Jahre entfernt). Es war auch Belafonte, der das Modern Jazz Quartet ins Spiel brachte, aber Wise war von dieser Idee auch gleich begeistert.

Killens oder Polonsky? Auflösung unten im Text
Über Robert Wise, einen der vielseitigsten Regisseure, die Hollywood hervorgebracht hat, will ich hier nicht viele Worte verlieren, und dafür ein bisschen über Abraham Polonsky (1910-1999) berichten, dessen Drehbuch schon mehr oder weniger fertig war, als Wise engagiert wurde. Polonsky war Kommunist und machte kein großes Geheimnis daraus. Im Krieg war er beim militärischen Geheimdienst OSS in Frankreich aktiv, danach schrieb er u.a. die Drehbücher zu Robert Rossens BODY AND SOUL und den von ihm selbst inszenierten FORCE OF EVIL, beide mit John Garfield in der Hauptrolle. 1951 wurde Polonsky von Sterling Hayden (der auch beim OSS gewesen war) vor dem einschlägigen Kongressausschuss unamerikanischer Umtriebe bezichtigt. Daraufhin selbst vorgeladen, weigerte er sich, seinerseits Namen zu nennen, und wurde deshalb von seinem damaligen Studio 20th Century Fox gefeuert und auf die Schwarze Liste gesetzt. In den 50er Jahren lebte er dann hauptsächlich als ungenannt bleibender Drehbuchautor von TV-Serien. Unter wechselnden Pseudonymen soll er auch weiterhin an Kinofilmen beteiligt gewesen sein, aber anscheinend ist nichts Näheres darüber bekannt, um welche Filme es sich handelte und wie er sich jeweils nannte. ODDS AGAINST TOMORROW ist jedenfalls der erste Film nach Polonskys Blacklisting, bei dem seine Mitwirkung gesichert ist. Weil aber die Schwarze Liste damals noch Bestand hatte, war er in den Credits als John O. Killens aufgeführt. Dieser Name war nicht erfunden, sondern Killens war ein schwarzer Schriftsteller, und ein guter Freund von Belafonte, der sich hier als Strohmann zur Verfügung stellte. Als weiterer Drehbuchautor von ODDS AGAINST TOMORROW ist Nelson Gidding (1919-2004) gelistet. Gidding war ein Freund von Robert Wise, und er schrieb allein oder gemeinsam mit anderen bei vier weiteren Wise-Filmen das Drehbuch, nämlich I WANT TO LIVE!, THE HAUNTING, THE ANDROMEDA STRAIN und THE HINDENBURG. Ich bin nicht sicher, ob Gidding bei ODDS AGAINST TOMORROW als zusätzlicher Strohmann eingeführt wurde, sozusagen zur doppelten Absicherung, oder ob er noch nennenswert zum Script beitrug, das ja eigentlich schon fertig war, als er dazustieß. Falls Letzteres, war sein Beitrag jedenfalls deutlich kleiner als der von Polonsky. Bemerkenswert ist übrigens, dass die Involvierung von Polonsky nicht nur dem engsten Kreis um Belafonte und Wise bekannt war, sondern mit semi-offizieller Billigung durch United Artists geschah, die den Vertrieb von ODDS AGAINST TOMORROW übernahm. 1997, zwei Jahre vor seinem Tod, wurde Polonsky von der Writers Guild of America offiziell als Autor von ODDS AGAINST TOMORROW anerkannt.

Typisch Noir - in diesem Film eher die Ausnahme
Der Banküberfall gegen Ende des Films nimmt nur wenig Raum ein, viel mehr Zeit und Gewicht bekommen davor die Interaktionen der drei Protagonisten untereinander und mit ihrem jeweiligen Umfeld: Johnny als Sänger und Vibraphonist in einem verrauchten Nachtclub. Sein letzter Besuch bei Ruth, wobei er als Fremdkörper wirkt, weil sie gerade mit ihren honorigen (und überwiegend weißen) Bekannten von der Eltern-Lehrer-Vereinigung (PTA) eine Sitzung abhält. Sein letzter Ausflug mit Eadie in den Central Park. Als er nach dem Ausflug mit Ruth allein ist, wird deutlich, dass er sie noch immer liebt, aber sein Versuch, wieder eine Brücke zu ihr zu bauen, wird abgeblockt. Belafonte gibt diesen zornigen jungen Mann zwischen Verzweiflung und Selbstbehauptungswillen sehr überzeugend. Und Earle Slater und sein kompliziertes Verhältnis zu Lorry, sein Seitensprung mit der verheirateten Helen, und seine brutale Überreaktion, als er in einer Bar von einem vorlauten jungen Soldaten provoziert wird. Robert Ryan - privat ein netter Mensch - wohnte damals in derselben Gegend wie Belafonte, und sie waren gut miteinander bekannt, ihre Kinder gingen zusammen zur Schule. Wie so oft in seiner Karriere spielt Ryan hier keinen platten, eindimensionalen Schurken, sondern einen getriebenen Charakter, in dessen Abgründe man hineinschauen, die man aber nicht ausloten kann. Auch Ed Begley gibt eine famose Vorstellung. Er stand in seiner Karriere selten in der ersten Reihe, glänzte aber in prägnanten Nebenrollen, etwa in TWELVE ANGRY MEN, SWEET BIRD OF YOUTH, BILLION DOLLAR BRAIN (wo er als durchgeknallter Milliardär mit einer Privatarmee die Sowjetunion erobern will und von Michael Caine als Agent Harry Palmer daran gehindert wird) oder in dem vom Italowestern beeinflussten HANG 'EM HIGH mit Clint Eastwood. - Die überzeugenden Darsteller, Wise, Polonsky, die Musiker, der Kameramann Joseph Brun und Belafonte als Mastermind des Ganzen haben einen Film gemacht, der heute auf mich zeitlos modern wirkt.

Zeit totschlagen bis zum Abend
ODDS AGAINST TOMORROW ist u.a. in den USA und in England auf DVD erschienen. In der US-DVD von MGM, die ich besitze, ist in den Credits tatsächlich Polonsky statt Killens aufgeführt. Der Soundtrack ist auf CD und Vinyl zu haben. Derzeit ist ODDS AGAINST TOMORROW auch auf drei Portionen verteilt auf YouTube zu sehen.

Eine Lunchbox als Sesam-öffne-dich; der Autoschlüssel - unerreichbar