Mittwoch, 2. Januar 2013

2012 – Manisch-epischer Reiseführer durch ein Filmjahr mit Statistiken und Listen, oder: Wie ich auf einen Spiritisten reinfiel



Und... wieder ein Jahr rum!
Ein filmreiches Jahr. Viele Filme gesehen: in vielen Kinos, auf DVD, im Fernsehen und – ja auch das! – in den großen Weiten dieses so genannten Internets; gute Filme, Meisterwerke, schlechte Filme, totale Gurken, schwarz-weiß, farbig, 2D, 3D, kurz, sehr kurz, lang, episch... Wahrscheinlich habe ich noch nie so viele Filme in einem Jahr gesehen... zumal so viele mir unbekannte Werke.

Statistik, Statistik, wer ist die schönste Liste im ganzen Land?
Klar: Statistiken sagen oft nicht viel aus, üben aber trotzdem eine große Faszination aus. Bei mir entspringt dieses Bedürfnis nach statistischen Auswertungen dem Drang, mich und meine Umwelt in eine Ordnungsstruktur zu erfassen. Wer weiß, wie mein Zimmer aussieht, wird wahrscheinlich irgendetwas von „Überkompensierung“ murmeln. Sei‘s drum. Vielleicht steht auch die Neugierde dahinter, solche Fragen wie „Wie oft gehe ich ins Kino?“, „Wie viele Kinosäle lerne ich neu kennen?“, „Wie viele DVDs sehe ich?“ und „Wie groß ist der statistische Anteil an Stummfilmen in meinen Filmsichtungen?“ nicht nur rhetorisch zu stellen.
2012 habe ich 399 Filme gesehen. Alpha und Omega bildeten Viscontis SENSO und Powells PEEPING TOM. 340 der Filme waren Neusichtungen, das sind nicht ganz 90 %. Insgesamt 90 Filme (also über ein Fünftel) habe ich im Kino geschaut. Von diesen wiederum waren 42 Stück aktuelle Filme, Premieren und Vorschauen.

Vado ad cinematographico
Ob 90 Filme im Kino in einem Jahr nicht etwas teuer sind? Nicht, wenn man in mehr als die Hälfte (52 um genau zu sein) kostenlos reingekommen ist.
Dazu gehören zunächst alle Besuche bei Filmfestivals, in meinem Fall dem go East Festival in Wiesbaden, der Viennale und dem Weimarer trekoulor-Festival. Mit einem charmanten Lächeln und einer Presseakkreditierung ausgestattet, konnte ich auf diese Weise 44 Filme in neun verschiedenen Kino-Locations sehen.
Zu meinen kostenlosen Kinobesuchen gehören auch vier Pressevorführungen mit einem großartigen Film (SKYFALL), einem exzellenten Film (SHAME) und zwei dämlich-peinlich-schlechten Gurken (BLACK GOLD und TOTAL RECALL). Auch eine Aufführung von BRONENOSEC POTEMKIN mit Orchesterbegleitung im Deutschen Nationaltheater Weimar konnte ich dank Pressekarte erleben.

Eine kostenlose Vorstellung von Manfred Noas NATHAN DER WEISE gab es am 16. November im Weimarer mon ami-Kino im Rahmen des „Weimarer Rendez-vous mit der Geschichte“ – die befremdlichen antisemitischen Kommentare eines Senioren nach Ende des Films kamen als unerfreuliche und ärgerliche Zugabe ebenfalls kostenlos dazu. Je einen Film von Chaplin (EASY STREET) und Keaton (COPS) sah ich im Jenaer Haus auf der Mauer: Der Pianist Richard Siedhoff begleitete seine eigenen, selbst zusammen geschnittenen und vervollständigten 8-Millimeter-Fassungen. Als Werbeveranstaltung für das Magazin unique war der Eintritt kostenfrei, aber nicht umsonst. Last but not least hat mich der nette luzifus mit einer Freikarte in das Weimarer Cinemagnum zu THE DARKEST HOUR eingeladen.
So kommt man als Cinephiler auch kostenlos an seinen Filmgenuss. Aber keine Angst: einerseits wurden durch Fahrt- und teilweise auch Übernachtungskosten diese Gewinne wieder gut ausgeglichen, andererseits habe ich zur Mehrheit dieser Filme auch Artikel verfasst – und die schreiben sich bekanntlich nicht von alleine. Für den Rest habe ich wie alle anderen Normalsterblichen bezahlt: zwischen vier Euro Ermäßigungs-Flatrate im mon ami-Kino und rekordverdächtigen 12,80 Euro für einen 3D-Film mit Überlänge an einem Samstag-Abend im CineStar Weimar (HUGO) – die 3D-Brille natürlich noch nicht mit eingerechnet...

18 Kino-Locations
Lichthaus-Kino im Straßenbahndepot Weimar: 26
Kino mon ami Weimar: 12
Caligari FilmBühne Wiesbaden: 9
Apollo-Kinocenter Wiesbaden: 8
Gartenbaukino Wien: 6
CineStar Weimar: 4
Filmmuseum Wien: 4
Metro-Kino Wien: 4
Murnau-Filmtheater im Deutschen Filmhaus Wiesbaden: 4
Café Wagner Jena (35-Millimeter-Projektion): 2
CineStar Leipzig: 2
Haus auf der Mauer Jena (8-Millimeter-Projektion): 2
Passage-Kino Leipzig: 2
Cinemagnum 3D-Kino Weimar: 1
Congress Centrum Neue Weimarhalle (35-Millimeter-Projektion): 1
Deutsches Nationaltheater und Staatskapelle Weimar (Stummfilm-Aufführung mit Orchester): 1
Stadtkino Wien: 1
Weimarhallenpark (Open Air-Kino): 1

Das perfekte Kino zu finden ist nahezu unmöglich.
Der prunkvolle Saal der Caligari FilmBühne in Wiesbaden hat eine Sitzbequemlichkeit und eine Beinfreiheit, die als fürstlich, nein geradezu als kaiserlich zu bezeichnen ist. Die Leiste zum Abstellen der Getränke („Caligaris Bierrampe“) ist eine tolle Idee. Und doch: die Leinwand ist gerade groß genug, wenn man ganz vorne sitzt, die Getränkepreise sind völlig horrend und zu den Toiletten muss man gefühlte 100 Treppenstufen steigen. Trotzdem ist die Caligari FilmBühne das wohl beeindruckendste Kino, das ich 2012 kennen gelernt habe. Zumal der allererste hier jemals gezeigte Film... Murnaus FAUST war!
Ein großer Favorit ist und bleibt das Lichthaus, mit seiner kleinen Lounge, seinem heruntergekommenen Charme, seinen immer wieder wechselnden und gut bezahlbaren Angeboten an „exotischen“ Bieren, seinem exklusiven Stummfilm-Programm... Kern ist nach wie vor die Urigkeit von Saal 1 mit seinen Sofas und Sesseln, die wie vom Sperrmüll aufgelesen aussehen (weil sie es wahrscheinlich sind): individueller Sitzkomfort für jeden einzelnen Zuschauer! Aus dreier solcher Reihen (die klassischen Kino-Sitzreihen dahinter beachte ich nicht) wurden kürzlich zwei gemacht, und damit die Beinfreiheit in der zweiten und von mir bevorzugten Reihe erhöht. Das liegt hoffentlich nicht an Einbussen – zum Beispiel MOONRISE KINGDOM war gerade hier ein fulminanter und im wörtlichen Sinne heißer Hit –, sondern am Anbau eines zusätzlichen Kinosaals: Saal 3, den ich zum leicht enttäuschenden WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN in seiner provisorischen Form und Lage kennen gelernt habe. Ein kleiner Minuspunkt ist jedoch die weiterhin eklatante Unterrepräsentation von OV-Aufführungen, die nur selten durchbrochen wird... Cine-Wüste Thüringen halt.
Cinematographische Primzahl
Für Stummfilme ist der Saal 1 jedoch unschlagbar – 2012 sah ich hier acht Stück: METROPOLIS (zwei Mal), DER LETZTE MANN, VARIETÉ, FAUST – EINE DEUTSCHE VOLKSSAGE, FRAU IM MOND, GEFAHREN DER BRAUTZEIT, GENERAL‘NAJA LINIJA und SPIONE. Dabei ist es bezeichnend für mich, dass ich in diesem Jahr drei 3D-Filme gesehen habe (THE DARKEST HOUR, HUGO, THE PIRATES), jedoch insgesamt 51 Stummfilme (knapp ein Achtel aller Sichtungen) .

Dass ich als Mensch gelegentlich zu Einzelgängertum neige, färbt sich auch auf meine Art des Kinobesuchs. Dieser war
alleine: 40 X
in Begleitung von
1 Person: 32 X
2 Personen: 11 X
3 Personen: 3 X
5 Personen: 1 X
6 Personen: 1 X
Bei zwei der von mir in Kino-Aufführung gesichteten Filme war ich hingegen Co-Organisator (und daher weder „alleine“ noch „begleitet“ im klassischen Sinne).

Kino alleine oder in Begleitung?
Beides hat Vorteile und Nachteile. Mit einer oder mehreren Personen, die man im Idealfall gut leiden kann, etwas zu unternehmen, ist an sich erfreulich. Zusätzlich kann man sich unterhalten, bevor der Film beginnt (ein Vorteil, wenn der Film zu spät startet). Oder man kann sich noch während der Vorstellung des Gefühls vergewissern, im falschen Film gelandet zu sein, oder bei Toilettengängen gegenseitig auf Jacken, Taschen und Getränke aufpassen oder Kekstüten, die für eine Person zu groß sind, gemeinschaftlich leer futtern. Man kann nach der Vorstellung in Gesellschaft essen, trinken und den Film diskutieren.
Jedoch neigt manch Kinobegleiter dazu, Geräusche zu machen: etwa mit geschmuggelten Chipstüten oder mit dem nervösen Tick, die Filmmusik mittels rhythmischen Klopfens auf einer Flasche zu unterstützen. Größere Gruppen haben auch ochlokratische Neigungen und setzen sich aller Vernunft zum Trotz viel zu weit hinten im Kinosaal.
Ebenso sei hier auf das Meditative, ja fast Kontemplative, aber auch sehr Intime der Filmrezeption verwiesen...
Vielleicht sollte man folgende Regel aufstellen: je „anspruchsvoller“ der Film ist, desto alleiner sollte man ihn schauen. Doch was bedeutet schon „anspruchsvoll“? Tarr Belás A TORINÓI LÓ alleine zu schauen und im Anschluss etwas verwirrt, verstört und in persönlichen Gedanken versunken durch Weimar zu spazieren war genau so richtig, wie THE EXPENDABLES 2 in Begleitung von fünf Kollegen zu sehen: im Anschluss wurde bei einem Bier in aller Ausführlichkeit das bestmögliche Casting für THE EXPENDABLES 3 besprochen. Eine der Erkenntnisse: Michael Dudikoff und Lorenzo Lamas dürfen nicht fehlen!

Bleiben immer noch die restlichen Dreiviertel der Filme, die ich in folgenden Formaten gesehen habe:
DVD: 240 (≈ 60 %)
gWdsgI: 54 (≈ 14 %)
TV-Ausstrahlung: 15 (≈ 4 %)

Scribo ergo sum oder: Cinephilie funktioniert wie Heroinsucht!
Das einzige Mittel gegen das Virus des Films ist: mehr Film. Die Vorteile liegen auf der Hand: auf die Dauer ist Cinephilie weniger teuer als Toxikomanie, sie ist sozial etwas verträglicher, und eine Überdosis führt nicht zum Tod, sondern höchstens zu Müdigkeit, Sekundenschlaf-Attacken und Schlaf.
Seit April 2012 fungiert luzifus als mein größter DVD-Dealer, der mich regelmäßig versorgt: sowohl die Qualität der Filme selbst als auch die Präsentationsform sind großen Schwankungen unterworfen. Vom Meisterwerk bis zur fast körperlich schmerzhaften Gurke, von wundervollen, üppigen DVD-Boxen bis zum miserablen Screener in schlechter Qualität und mit bildfüllenden Wasserzeichen war alles dabei. Meine Gegenleistung: zu jedem Film eine Besprechung schreiben, die je nach Rubrik zwischen 1.500 und 7.000 Zeichen schwankt und irgendwann bei multimania. Das Magazin für zeitgenössische multimediale Kultur veröffentlicht wird (oder auch nicht).
Insgesamt habe ich 2012 147 Filme gesehen (global also etwa 37 %), die ich im weitesten Sinne besprochen habe – vom häufigsten Format der 1.500-Zeichen-Kurzrezension bis hin zur ausführlichen 25.000-Zeichen-Besprechung, von einer konzentrierten Abhandlung bis zu einem peripherem Kommentar in einem Sammeltext.

Zur Herkunft, nach Häufigkeit geordnet
211: USA
28: Frankreich
26: Deutschland (ausgehendes Kaiserreich und Weimarer Republik)
18: Deutschland (alte und neue Bundesrepublik)
17: UK
12: Italien, UdSSR
7: Polen
6: Hongkong, Kanada, Russland
4: SFR Jugoslawien
3: ČSSR, Japan, Korea (Süd), Neuseeland, Spanien, Ungarn
2: Belgien, Dänemark, Serbien
1: Argentinien, Australien, Brasilien, Bulgarien, China, Deutschland (DDR), Finnland, Griechenland, Kazachstan, Kosovo, Kuba, Mexiko, Niederlande, Norwegen, Österreich, Philippinen, Schweden, Schweiz, Slowenien, Tschechische Republik, Ukraine, Uzbekistan


Ein Amerikaner namens David
Der aufmerksame Leser wird gemerkt haben, dass US-amerikanische Werke die Mehrheit der Filme bildet, die ich gesehen habe. In der Tat gehen einige meiner größten Entdeckungen des Jahres auf die USA zurück. Darunter finden sich Werke von Regisseuren, die mir bis dahin entweder unbekannt oder sehr wenig vertraut gewesen sind: Gregg Araki, Budd Boetticher, Charles Chaplin, Roger Corman, Samuel Fuller, Elia Kazan, Fritz Lang, Joseph Lewis, Anthony Mann, Otto Preminger, Nicholas Ray, Robert Siodmak, Jacques Tourneur, Orson Welles.
Meine relative Vernachlässigung des ostasiatischen Raums ist im Gegenzug nach wie vor sträflich und wird mir immer wieder – dankenswerterweise! – durch Manfred Polak in Erinnerung gerufen, wenn er eine Besprechung zu einem japanischen Film veröffentlicht. Noch viel sträflicher ist die völlige Abwesenheit des afrikanischen Kinos: widerspiegelt dies vielleicht die Veröffentlichungspolitik deutscher (westeuropäischer) Filmverleihe? Bin ich selbst gegenüber den spärlichen Angeboten blind? Ich hoffe, dass diese Kinoregion, die ich in den Jahren zuvor zumindest bruchstückhaft kennen gelernt habe, bei mir 2013 nicht leer ausgehen wird.
Besser vertreten ist hingegen das osteuropäische Kino, dessen Qualitäten ich immer wieder verteidigen werde! Dies hat mir mein erstmaliger (und hoffentlich nicht letzter) Besuch beim go East Festival Wiesbaden vollends bestätigt.
Lateinamerika und Skandinavien sind wiederum selten in meinen diesjährigen Sichtungen vertreten. Zumindest aber ersteres taucht ein Mal (im weitesten Sinne sogar zwei Mal) in meiner aktuellen Top-10-Liste auf.

Zum Erscheinungsjahr, nach Häufigkeit geordnet und in Jahrzehnten gruppiert
77 2010er Jahre
62 1950er Jahre
54 2000er Jahre
48 1940er Jahre
41 1920er Jahre
31 1990er Jahre
27 1960er Jahre
19 1970er Jahre
19 1980er Jahre
11 1930er Jahre
8 1910er Jahre
2 1900er Jahre

Die starke bis sehr starke Überrepräsentation von Filmen der 1920er, 1940er und 1950er Jahre ist teilweise (aber keineswegs absolut) eine Erklärung dafür, dass knapp 41 % aller 2012 gesehenen Filme schwarz-weiß waren, nämlich 163 Stück!

Du sitzt also den ganzen Tag im Kino und schaust einen Film nach dem anderen? ...
... fragte mich etwas ungläubig die Mitbewohnerin meines Gastgebers bei der Viennale. Manche Menschen denken, dass es eine Verschwendung sei, seine Zeit mit Filmen zu verbringen. Mir fallen hingegen Hunderte Dinge ein, mit denen man seine Zeit noch sinnloser vergeuden kann (z. B. Joggen, eine Dorfdisco besuchen, Fußball gucken, Gesichts-Buchen und vieles mehr).
Zur Ehrung dieser netten jungen Dame, die mir trotz großer Zweifel an meiner geistigen Gesundheit liebenswürdigerweise einen Pausen-Apfel mitgab...

Der filmreichste Tag des Jahres: Samstag, 21. April, oder: ein typischer Filmfestival-Tag
An diesem Tag habe ich beim go East Festival zehn Filme in sechs Filmblöcken geschaut. Auch qualitativ erwies sich der Tag als außergewöhnlich.
1. Filmblock – DEDUNA, russ.: SVETLJAČKI (Dato Janelidze, UdSSR 1987): Vom Alltag eines kleinen Mädchens in einem georgischen Bergdorf. Filmpoesie in Reinform.
2. Filmblock – GRATINIRANI MOZAK PUPILIJE FERKEVERK / ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU / O LJUBAVNIM VEŠTINAMA ILI FILM SA 14441 KVADRATOM / NEDOSTAJE MI SONJA HENI (Karpo Godina, Jugoslawien 1970-1972): Vier formal strenge, aber wundersame Experimental-Kurzfilme aus dem Lande Titos.
3. Filmblock – GOMARËT E KUFIRIT (Jeton Ahmetaj, Kosovo 2010): Der erste von und in der unabhängigen Republik Kosovo produzierte Film handelt von absurd-komischen jugoslawisch-albanischen Grenzstreitigkeiten, in denen unter anderem ein der Spionage verdächtiger Esel (der titelgebende „Grenzesel“) eine Rolle spielt.
4. Filmblock – FABRIKA / BLOKADA (Sergej Loznica, Russland 2004-05): Zwei sehr unterschiedliche Experimentaldokus – ein faszinierender, meditativer Blick in eine russische Metall-Fabrik und eine grundlegend misslungene Soundcollage zu historischen Bildern der Leningrader Blockade.
5. Filmblock – GAAMER (Oleg Sencov, Ukraine 2011): Wenig beeindruckende psychologische Studie eines jugendlichen Spielsüchtigen.
6. Filmblock – PRAKTIČNI VODIĆ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM (Bojan Vuletić, Serbien/Deutschland/Frankreich/Ungarn/Kroatien 2011): Wunderbare romantische Komödie der etwas anderen Art, die nicht umsonst drei Mal frenetischen Applaus vom Publikum erhielt.


Robert, Roman, Buster & Charlie
Manch ein Regisseur ist mir 2012 genug oft begegnet, um die Sichtungen im Rückblick zu fragmentarischen Werk-Retrospektiven erklären zu können – inklusive persönlicher Rangliste mit Wertungen.

Robert Siodmak
Den gebürtigen Dresdener lernte ich mit THE KILLERS im Rahmen meiner film noir-Retrospektive kennen, die unser aller liebster deutsch-französischer Sender im Januar ausgelöst hatte. Möglicherweise war es vollkommen beknackte Synchro, die sich wie ein hässlicher kakophonischer Schleier über den ganzen Film legte, die meine Begeisterungsstürme in Grenzen hielt. Doch Siodmak drehte vier Jahre später fast genau den selben Film (Überfall-Story mit femme fatale und Burt Lancaster) noch einmal, mit meiner Meinung nach erheblich größerem Erfolg. Dass er nicht nur noirs und freudianische Schocker drehen konnte, bewies er auch in einem „trivialen“, aber soliden Piraten-Abenteuer und in einem frühen Proto-Neorealismus/Proto-Nouvelle-Vague-Film.

1 CRISS CROSS, USA 1949, 5/5
2 THE SPIRAL STAIRCASE, USA 1946, 4,5/5
3 THE DARK MIRROR, USA 1946,4,5/5
4 MENSCHEN AM SONNTAG (Co-Regie mit Edgar G. Ulmer), Deutschland 1930, 4/5
5 THE FILE ON THELMA JORDON, USA 1950, 3,5/5
6 THE CRIMSON PIRATE, USA 1952, 3,5/5
7 THE KILLERS, USA 1946, 3/5

Roman Polański
Drei zu besprechende Rezensions-Exemplare (die polnische, die britische und die aktuellste Produktion) führten zu einer Ausleihe aus der Stadtbücherei (dem Shakespeare-Stoff) und zu einer im Vergleich zur Erstsichtung überaus erfreulichen Neuentdeckung des Neo-Noirs. Den Satanisten-Film gab es etwas früher unabhängig von den anderen. Fazit: „Polańskis Horrorfilm“ wird für mich von nun an immer REPULSION sein und der gute Mann sollte nie wieder Hörbuch-Adaptionen von Theaterstücken verfilmen.

1 NÓŻ W WODZIE, Polen 1962, 5/5
2 REPULSION, UK 1965, 5/5
3 CHINATOWN, USA 1974, 4,5/5
4 MACBETH, UK/USA 1971, 4/5
5 ROSEMARY‘S BABY, USA 1968, 3/5
6 CARNAGE, Frankreich/Deutschland/Polen/Spanien, 0/5

Buster Keaton
THE GENERAL blieb auch bei der zweiten Sichtung auf großer Leinwand und der vielleicht fünften oder sechsten insgesamt ein unschlagbares Filmerlebnis. Er zeugt vom visuellen Genie eines Mannes, dessen zeitgenössische Erfolglosigkeit vielleicht am ehesten durch seinen „trockenen“ und sogar „zynischen“ Humor erklärbar ist. Mit der Verschmelzung von Kino-Realität, Kino-Projektion und Traum in SHERLOCK JR. schuf er im wörtlichen Sinne todesmutig etwas, was man heute wohl als postmoderne Reflexion über das Medium Film bezeichnen würde. Selbst seine Filme, die an laschen Drehbüchern leiden, weisen eine visuelle Phantasie auf, die mir persönlich bei einem gewissen schnurrbärtigen Zeitgenossen etwas fehlt: genannt sei eine Point-Of-View-Kamerafahrt aus der Perspektive eines wütenden Bullen (in GO WEST wohlgemerkt, nicht in COPS), die möglicherweise Eisenstein zu einer Sex-Szene in GENERAL‘NAJA LINIJA inspirierte.

1 THE GENERAL, USA 1926, 5/5
2 SHERLOCK JR., USA 1924, 5/5
3 STEAMBOAT BILL JR., USA 1928, 4,5/5
4 COPS, USA 1922, 4,5/5
5 OUR HOSPITALITY, USA 1923, 4/5
6 THREE AGES, USA 1923, 3,5/5
7 THE NAVIGATOR, USA 1924, 3,5/5
8 GO WEST, USA 1925, 3,5/5
9 COLLEGE, USA 1927, 3/5

Charles Chaplin
Wenn wir den Keaton-Chaplin-Dualismus als existierend anerkennen mögen, dann bin ich definitiv ein Keaton-ist! Dafür gibt es mehrere Gründe. Chaplin filmt keine Drehbücher, sondern reiht oft nur Gags und Kurz-Sequenzen aneinander, die für sich genommen manchmal ganz nett sind (und manchmal eben nicht), zur Summe addiert jedoch kein sinnvolles Ganzes ergeben: als hätte er beliebige Szenen beliebig und vor allem ohne dramaturgischen Rhythmus montiert. Gerade bei MODERN TIMES, CITY LIGHTS und THE GOLD RUSH wurde ich das Gefühl nicht los, dass diese Filme ebenso gut vierzig Minuten länger hätten sein können... oder eben vierzig Minuten kürzer: was freilich nichts an der großartigen Schönheit (die Einführung des Blumenmädchens in CITY LIGHTS) oder überaus erquicklichen Komik einzelner Sequenzen (der Tramp experimentiert mit Kokain in MODERN TIMES) ändert. Doch selbst der Kurzfilm THE IMMIGRANT fühlt sich wie zwei willkürlich aneinander geklatschte Episoden an (was er tatsächlich auch war!). THE CIRCUS scheint mir eine Ausnahme zu sein: ein starkes und stringentes Drehbuch, das nicht in lose Einzelteilchen zerfällt, wird verknüpft mit einer visuell ausdrucksstarken Bildgestaltung, die so konsistent ist wie in keinem anderen Werk Chaplins. Ironischerweise fühlte sich THE CIRCUS ein bisschen wie ein Film von Buster Keaton an... und teilt sich nun mit THE GREAT DICTATOR, dem einzigen Chaplin-Film, den ich vor 2012 kannte, das erste Treppchen auf meinem Chaplin-Podest.

1 THE CIRCUS, USA 1928, 5/5
2 THE IMMIGRANT, USA 1917, 4/5
3 EASY STREET, USA 1917, 3,5/5
4 MODERN TIMES, USA 1936, 3/5
5 CITY LIGHTS, USA 1931, 3/5
6 THE GOLD RUSH, USA 1925, 2,5/5


Die Top-10-Liste der aktuellen Kino-Filme 2012
Das Kerngeschäft bei „Whoknows Presents“ liegt seit jeher nicht bei aktuellen Kinoproduktionen. Trotzdem folgt hier, zwecks Vollständigkeit, meine persönliche Top-Ten der aktuellen Filme (deutscher Kinostart bzw. Kino-Uraufführung bzw. Direct-to-Video-Auswertung im Jahre 2012).

001
PRAKTIČNI VODIĆ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM (Reiseführer durch Belgrad mit Singen und Weinen), Bojan Vuletić, Serbien/Deutschland/Frankreich/Ungarn/Kroatien 2011
Vier Paare mit jeweils einem Belgrader und einem nicht-serbischen Partner erleben die Freuden und Mühen der Liebe mit Alkohol, Autoverfolgungsjagden und S&M-Spielchen.
Bojan Vuletićs Debütfilm ist eine herrliche Dekonstruktion der Rom-Com als verspielte Experimental-Agitprop für den Beitritt Serbiens zur EU. Wunderbar vergnüglich und vergnüglich wunderbar entfaltet sich ein Werk von einer unbändigen Energie, das Genre-Unterhaltung und hoher cinematographischer Anspruch verknüpft. Wir dürfen alle hoffen, dass in der westeuropäischen und angelsächsichen Hemisphäre sich irgendein Filmverleih findet, das bereit ist, diese Perle von einem Film unter mehr Leute zu bringen!

002
SKYFALL, Sam Mendes, UK/USA 2012
Ein britischer Geheimagent wird wieder mal auf die Welt losgelassen und erlebt Abenteuer, die ihn in den (provisorischen) Tod, in die Vergangenheit und in ödipale Neurosen führen.
Ein Mann wird von einer Menge dazu angefeuert, ein Glas Whiskey zu trinken. Auf der Hand, die das Getränk hält, krabbelt ein sichtlich gereizter Skorpion. Unser Held zögert kurz, trinkt auf ex und stellt Gefäß und Arachnidum wieder ab. Dies, aber auch die restlichen 142 Minuten des Films erlauben diesem, neben THE SPY WHO LOVED ME und YOU ONLY LIVE TWICE, sowohl auf dem Podest meiner Lieblings-Bond-Filme aller Zeiten wie auch auf diesem Jahres-Podest zu kuscheln.

003
KILLER JOE, William Friedkin, USA 2011
Der Mordkomplott einer Trailer-Trash-Familie läuft außer Kontrolle, als der beauftragte Profikiller mit der Tochter anfängt anzubandeln.
In Wien verpasst, bei der Direct-to-DVD-Auswertung in Deutschland nachgeholt... Das Versprechen des deutschen Covers (Action-Thriller) führt noch mehr in die Irre als die Tag-Line des Original-Plakats: „A totally twisted deep-fried Texas redneck trailer park murder story“. Vielmehr ist KILLER JOE eine völlig irrsinnige Groteske, ein schockierendes Prinzessinnen-Märchen, das sich offen und hemmungslos in seinem abstoßenden Sadismus und seiner abartigen Lüsternheit suhlt und zugleich ein hysterisch-komischer Abgesang auf den Amerikanischen Traum, dessen heftige Lacher einem manchmal (ja: wie ein Hähnchen-Schenkel) im Hals stecken bleibt... Und ein großartiges Ensemble-Stück, aus dem freilich Matthew McConaughey mit seiner vollkommen wahnsinnigen und Oscar-reifen Darstellung am überraschendsten hervorsticht!

004
A TORINÓI LÓ (Das Turiner Pferd), Tarr Belá/Hranitzky Ágnes, Ungarn/Frankreich/Deutschland/Schweiz/USA 2011
Ein Kutscher, seine Tochter und ihr Pferd erleben die letzten Tage vor dem windig angekündigten Weltuntergang.
Eine Abfolge von hypnotischen, minutenlangen und präzise choreographierten Plansequenzen baut mit Víg Mihálys Cello-Musik eine unheimliche Bedrohungskulisse auf, die für über zwei Stunden aufrechterhalten wird. Tarrs letzter Film (so angekündigt) ist ein herausforderndes, sehr extremes, aber letztlich auch sehr lohnendes Kino-Erlebnis.

005
COSMOPOLIS, David Cronenberg, Kanada/Frankreich/Portugal/Italien 2012
Ein Börsenmakler-Yuppie lässt sich mit seiner Limousine zu seinem Friseur chauffieren. Dabei läuft einiges schief.
Nach drei konsternierend schlechten Filmen (der „Viggo-Mortensen-Trilogie des Grauens“), kehrt David Cronenberg wieder zu ganz großer Form zurück. Aspekte des im vorangehenden Mainstream-und-Ödnis-Gesuhle verloren geglaubten „Body Horrors“ kehren leicht verzerrt zurück, verknüpft mit einer Hauptfigur, die in ihrer absurden Odyssee etwas an Pavel Čičikov erinnert: kryptische Dialoge reihen sich aneinander, gerahmt von kryptischen Handlungen. Diese sollte man vielleicht trotz vieler sozialer Implikationen am besten jenseits gesellschaftlicher Rahmenbedingungen rezipieren, als reines „l‘art pour l‘art“ – wie die Prosa des Nikolaj Gogol‘.

006
MONEYBALL (Die Kunst zu gewinnen – Moneyball), Bennett Miller, USA 2011
Ein frustrierter Trainer und ein Wirtschafts-Mathe-Nerd stellen mit Hilfe von Statistiken die beste Baseball-Mannschaft des Jahres zusammen.
Bennett Millers drittes Werk ist der ultimative Film für intellektuelle Sportmuffel, da es sich nicht um einen richtigen Sport- oder Baseball-Film handelt: Weg mit Sportler-Kitsch, Champion-Märchen, und epischen Endspielen, her mit Mathematiker-Nüchternheit, Wirtschafts-Nerd-Berechnungen und Stochastik-basierten Kulissen-Gesprächen! Der Höhepunkt des Films ist daher kein Baseball-Spiel (von denen sieht man sowieso kaum etwas), sondern ein telefonisches Konferenz-Gespräch, bei dem ein desillusionierter Trainer und ein Yale-Absolvent über Sieg und Niederlage entscheiden.

007
MEDIANERAS, Gustavo Taretto, Argentinien/Spanien/Deutschland 2011
Ein junger Mann und eine junge Frau suchen in Buenos Aires die große Liebe und merken dabei gar nicht, dass sie nebeneinander aneinander vorbei leben.
Eine romantische Komödie zeigt normalerweise, wie sich ein Paar kennenlernt, zunächst nicht versteht, dann zusammenkommt, dann Konflikte meistern muss und schließlich doch „happy ever after“ lebt. In seinem ersten abendfüllenden Film zeigt Gustavo Taretto hingegen den Prolog dazu: den parallel verlaufenden Lebensalltag zweier Personen, die sich erst ganz am Schluss überhaupt begegnen. Eine äußerst fruchtbare Idee, die zwischen leichter Komödie und sowjetisch anmutenden Montage-Sequenzen nebenbei auch die Stadt Buenos Aires portraitiert. Als experimentelle Rom-Com die perfekte Ergänzung zur Nummer eins der Liste.

008
CHICO & RITA, Tono Errando/Javier Mariscal/Fernando Trueba, Spanien/UK 2010
Ein kubanischer Pianist teilt eine Nacht und einen Musikhit mit einer Sängerin, die daraufhin sehr viel erfolgreicher als er Karriere in den USA macht.
Ein Animationsfilm, der Jazz-, Latin-Music-, Musical-, Melodrama- und Kuba-Liebhaber gleichermaßen erfreuen dürfte: seelische Konflikte, Abwägungen zwischen Kunst und Kommerz, Milieu-Studien, Liebesgeschichten und Musik bringen die warmen gezeichneten Bilder auf wunderbare Weise nahe. CHICO & RITA ist wahrscheinlich der schönste „kleine“ Film, der (erst) 2012 in Deutschland zu sehen war.

009
THE EXPENDABLES 2, Simon West, USA 2012
Einige alte Männer brechen auf, um einige Bösewichter wegzurotzen.
In einem bestimmten Moment gegen Ende des Films wird eine Milchglasscheibe zerschossen. Sie bricht zusammen und offenbart 188 Jahre geballter Actionkraft: Sly, Arnie und Bruce ballern sich, nebeneinander stehend, ihren Weg frei! Natürlich hat man auf diesen Moment die ganze Zeit gewartet. Aber auch bis dahin bekam man eine blutig-schmackhafte Schlachtplatte mit einer Portion Ironie, einem Klecks Selbstreferentialität und einer vollhumorigen Sättigungsbeilage serviert, die besser mundete als der erste Menü-Teil. Was nicht so glücklich verlief: eine Kobra biss Chuck Norris, und nach fünf Tagen voller Schmerzen und Agonie... starb die Kobra.

010
THE DARKEST HOUR, Chris Gorak, USA 2011
Zwei verblödete Yuppies und einige extrem dämliche Party-Touristinnen wehren in Moskau eine Invasion elektromagnetischer Aliens ab.
Dieser wackere Bewerber um einen Platz in der Flop-Liste scheiterte letztlich in diesem Bestreben, weil er sich als herrliches SciFi-Trash-Vehikel entpuppt hat. Kein Wunder, dass der 3D-Blödsinn in dem Moment weitestgehend weggelassen wird, als es mit dem Tohuwabohu richtig losgeht. Und wenn gerade keine nonchalant spannende und effizient inszenierte Action-Sequenz läuft, kann man sich über die irrsinnigen Filmfehler (Faradayischer Käfig für Dummies) und sonstige Dämlichkeiten köstlich amüsieren – zwar unfreiwillig, aber köstliches Amüsement bleibt köstliches Amüsement! Und von der gekonnten Inszenierung des Raumes (ein komplett menschenleeres Moskau) durch Chris Gorak hätte Fledermaus-Chris was lernen können.

À propos Fledermäuse...
Wer Top sagt, muss auch Flop sagen können:

1 zerschnittene Gurke
THE DARK KNIGHT RISES, Christopher Nolan, USA/UK 2012
Ein Ex-Vigilant mit Hinkebein holt sein Fledermaus-Gummikostüm aus der Mottenkiste und macht sich daran, einen bösen Bodybuilder mit komischer Maske und einer Kehlkopf-Krankheit zu schnappen.
Ein einstündiger Film mit einem unnötigen und dämlichen 90-Minuten-Prolog, der dem Zuschauer fünf Mal das bisher Geschehene wiederkäut und in den Rachen stopft... mit unfassbar dilettantisch gefilmten Action-Szenen... mit unzähligen unnötigen Figuren (unter anderem eine Frau mit einem Katzen-S&M-Fetisch)... mit einem so unsubtilen wie unentschlossenen Subtext... gefilmt von einem Regisseur, der trotz enormer Budget-Ausgaben für das Setdesign scheinbar noch nie in seinem Leben etwas von „deep focus photography“ gehört hat – soll das Blockbuster-Kinoereignis des Sommers gewesen sein?

2 Joghurt
TOTAL RECALL, Len Wiseman, USA/Kanada 2012
Ein langweiliger Hänfling mit zu wenig Phantasie will sich Urlaubersatz-Erinnerungen ins Gehirn implantieren lassen. Plötzlich verfolgen ihn seine Frau und andere unangenehme Erscheinungen und wollen ihn töten.
Ein typischer „Der-alte-Film-bringts-nicht-mehr-aber-wir-sind-so-geil-und-machen-‘n-neueren-und-besseren-Film-und-sahnen-nebenbei-schön-ab“-Remake: die sind meistens fürchterlich. Da freut es einen riesig, wenn das mit dem Absahnen nicht geklappt hat. Das lag hoffentlich auch am mangelnden Talent von so ziemlich allen Beteiligten: Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann, Cutter, Darsteller... Ob der Setdesigner talentiert ist, kann man nur schwer sagen, denn „deep focus photography“ und „establishing shots“ sind hier Fremdwörter. Ob die Action-Sequenzen gut sind, ist ebenso schwierig zu sagen: dazu wackelt die Kamera zu stark und offenbar wurde der ohnehin unfähige Cutter nicht stundenweise, sondern im Akkord bezahlt.

3 Salz & Pfeffer
WILLIAM BURROUGHS: A MAN WITHIN, Yoni Leyser, USA 2010
Ein junger Dokumentarfilm-Regisseur, der sich für unglaublich hip hält, interviewt ein paar aufmerksamkeitsbedürftige Promis und montiert dieses Material mit Stopmotion-Arbeiten aus dem Kinderg... ersten Semester und Wochenschau-Clips aus Yout... Filmarchiven.
Falls sich jemand ob der Synopsis im Kontrast zum Titel wundert: ja, es soll im Film eigentlich um den Beat-Poeten und Kult-Schriftsteller William Burroughs gehen! Stattdessen gibt es eine der unzähligen Dokus, die mangelnde Recherche über und fehlendes Verständnis für das Subjekt mit einem Schnittgewitter aus Promi-Interviews („ja, also damals bla-bla-blub-blub...“), Zeitkolorit-Clips („60er Jahre, ich sage jetzt einfach mal ‚Kubakrise‘ und fühl mich dabei klug“) und „impressionistischen“ Bildern („Bin ich ein geiler Künstler oder bin ich ein geiler Künstler?“) zu übertünchen versucht. Material und Informationen über das eigentliche Thema können bei dieser masturbatorischen Selbstdarstellung eigentlich nur stören.

4 Essig & Öl
BLACK GOLD, Jean-Jacques Annaud, Frankreich/Italien/Katar/Tunesien 2011
Ein arabischer Fürst übergibt seinen Sohn einem rivalisierenden Fürsten zur Erziehung. Wegen des Öls, der im Niemandsland zwischen ihren Territorien gefunden wird, gibt‘s später Zoff und der Milchbubi, der mittlerweile einen netten kleinen Milchbubi-Bart hat, mischt auch ein bisschen mit.
Kaum zu glauben, aber wahr: einer der interessantesten europäischen Regisseure der 1980er Jahre hat einen dämlichen Lawrence von Arabien-Verschnitt mit billigem CGI, lausigen Darstellern, einer „hippen“ Wackel-„Ästhetik“, lächerlicher Ethno-Musik mit gelegentlichen Maurice Jarre-Versätzen und Dialogen jenseits von Gut und Böse gedreht. Über 130 Minuten lang balancierte der Film zwischen unfreiwilliger, schreiender Komik und fast körperlich fühlbaren Schmerzen ob des unfassbaren Blödsinns.

...und fertig ist der Gurken-Salat!

Ein süßer Nachtisch gefällig?
JACK & JILL, Dennis Dugan, USA 2011
Adam Sandler (gespielt von Adam Sandler in einem Adam-Sandler-Kostüm) bekommt Besuch von seiner nervigen Zwillingsschwester (gespielt von Adam Sandler in Frauenkleidern) und ein Al Pacino am Rande des Nervenzusammenbruchs (gespielt von Al Pacino in verschiedenen Theater- und Alltagskostümen) verliebt sich in Adam Sandler (also in jene Fassung mit Frauenkleidern)...
Die große Befriedigung, die ich beim hemmungslosen redaktionellen Zerreissen dieses erbärmlichen Dings verspürte, war geradezu orgiastisch... und rechtfertigt eine privilegierte Sonderkategorie. Das Resultat: wahrscheinlich der beste Text, den ich 2012 geschrieben habe.


Die große und tolle und wunderbare Top-52-Liste
Nun folgt das emotionale Zentrum, der Kern dieses manisch-epischen Reiseführers: meine persönliche Bestenliste nicht-aktueller Filme, nach Präferenz geordnet. Die Regeln: es handelt sich ausschließlich um Neusichtungen (ich habe also keinen der gelisteten Filme vor dem Jahr 2012 je gesehen) und um Produktionen von vor 2011. Die Zahl 52 bietet sich als banale Zahl ohne besondere Eigenschaften an und steht am ehesten für die Anzahl der Wochen im Jahr...

1 THE AMAZING MR. X aka THE SPIRITUALIST, Bernard Vorhaus, USA 1948
2 DEDUNA [russ.: SVETLJAČKI], Dato Janelidze, UdSSR 1987
3 THE BIG COMBO, Joseph H. Lewis, USA 1955
4 JOHNNY GUITAR, Nicholas Ray, USA 1954
5 HANGOVER SQUARE, John Brahm, USA 1945
6 SUNRISE – A SONG OF TWO HUMANS, Friedrich Wilhelm Murnau, USA 1927
7 FAUST – EINE DEUTSCHE VOLKSSAGE, Friedrich Wilhelm Murnau, Deutschland 1926 
8 DETOUR, Edgar G. Ulmer, USA 1945
9 GENERAL‘NAJA LINIJA aka STAROE I NOVOE, Sergej Ėjzenštejn/Grigorij Aleksandrov, UdSSR 1929
10 DIE NIBELUNGEN, Fritz Lang, Deutschland 1924
11 THE LIVING END, Gregg Araki, USA 1992
12 THE INTRUDER aka SHAME aka I HATE YOUR GUTS!, Roger Corman, USA 1962
13 THE LADY FROM SHANGHAI, Orson Welles, USA 1947
14 VARIETÉ, Ewald André Dupont, Deutschland 1925
15 LE PLAISIR, Max Ophüls, Frankreich 1952
16 THE RED SHOES, Michael Powell/Emeric Pressburger, UK 1948
17 IMITATION OF LIFE, Douglas Sirk, USA 1959
18 YOU ONLY LIVE ONCE, Fritz Lang, USA 1937
19 FORTY GUNS, Samuel Fuller, USA 1957
20 ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU, Karpo Godina, Jugoslawien 1971
21 RIDE LONESOME, Budd Boetticher, USA 1959
22 THE LONG, HOT SUMMER, Martin Ritt, USA 1958
23 CHEMI BEBIA [russ.: MOJA BABUŠKA], Kote Mikaberidze, UdSSR 1929
24 SHERLOCK JR., Buster Keaton, USA 1924
25 POINT BLANK, John Boorman, USA 1967
26 SUSPIRIA, Dario Argento, Italien 1977
27 PSYCHO 2, Richard Franklin, USA 1983
28 FERRIS BUELLER‘S DAY OFF, John Hughes, USA 1986
29 KISS ME DEADLY, Robert Aldrich, USA 1955
30 SZEGÉNYLEGÉNYEK, Jancsó Miklós, Ungarn 1966
31 OBLOMOK IMPERII, Fridrich Ėrmler, UdSSR 1929
32 OUT OF THE PAST, Jacques Tourneur, USA 1947
33 CRISS CROSS, Robert Siodmak, USA 1949
34 AKAI TENSHI, Masumura Yasuzō, Japan 1966
35 ADVISE & CONSENT, Otto Preminger, USA 1962
36 KLADIVO NA CARODEJNICE, Otakar Vávra, ČSSR 1970
37 THE THIN RED LINE, Andrew Marton, USA 1964
38 IN A LONELY PLACE, Nicholas Ray, USA 1950
39 THE LONG GOODBYE, Robert Altman, USA 1973
40 DOUBLE INDEMNITY, Billy Wilder, USA 1944
41 BODY HEAT, Lawrence Kasdan, USA 1981
42 THE IRON HORSE, John Ford, USA 1924
43 BLOOD BEACH, Jeffrey Bloom, USA 1980
44 HEAVENLY CREATURES, Peter Jackson, Neuseeland/Deutschland 1994
45 LAWRENCE OF ARABIA, David Lean, UK/USA 1962
46 KONTO AUSGEGLICHEN, Franz Peter Wirth, BRD 1959
47 BOUDU SAUVÉ DES EAUX, Jean Renoir, Frankreich 1932
48 CAT PEOPLE, Jacques Tourneur, USA 1942
49 IM SCHATTEN DER MADE, John Bock, Deutschland 2010
50 MYSTERIOUS SKIN, Gregg Araki, USA/Niederlande 2004
51 THE BIG RED ONE, Samuel Fuller, USA 1980
52 THE STRANGE LOVE OF MARTHA IVERS, Lewis Milestone, USA 1946

Auch hier gilt: wer topt, muss auch floppen können.

Flop-Seven der nicht mehr ganz frischen Filme (chronologisch geordnet)
Knapp die Hälfte der Liste bilden Filme, die ich 2011 nicht gesehen und nun 2012 nachgeholt habe; könnte also einiges dafür sprechen, dass 2011 das schlechtere Kinojahr war...

1 DER GEISTERZUG, Rainer Wolffhardt, BRD 1957
2 LA COLLECTIONNEUSE, Eric Rohmer, Frankreich 1967
3 THE THIN RED LINE, Terrence Malick, USA 1998
4 BLACK SWAN, Darren Aronofsky, USA 2010
5 HOTEL LUX, Leander Haußmann, Deutschland 2011
6 CARNAGE, Roman Polański, Frankreich/Deutschland/Polen/Spanien 2011
7 THE IDES OF MARCH, George Clooney, USA 2011

Aber das traumatischste Filmerlebnis des Jahres war mit großer Wahrscheinlichkeit...
SUNRISE – A SONG OF TWO HUMANS: Eine „besondere“ Projektion mit einer „ganz“ „besonderen“ Live-„Musik“-„Begleitung“... oder wie ich lieber sage: SONNENUNTERGANG – EIN LIED VON ZWEI TÖLPELN
7. August, Tatort Kulturarena Jena: eine Projektion von Murnaus Meisterwerk wird von einem Schlagzeuger und einem DJ-Elektronik-Sampling-Typen „begleitet“, oder besser gesagt in elektroakustischem Müll mit brutalster Gewalt erstickt...
Wenn ich nach Metaphern suchen müsste, würde ich wohl irgendetwas von Folter-Session mit Schlagbohrer und Fleischerhaken oder lebendiger Vivisektion mit einem rostigen Suppenlöffel erzählen. Am unerträglichsten war diese nonchalante „Wir-peppen-den-ollen-Film-mal-n‘-bissel-auf“-Attitüde, die den (Un-)Geist solcher Veranstaltungen ausmachen: Konzerte, bei denen sich die Musiker selbst in den Mittelpunkt stellen und die Filmprojektion lediglich als Schmuckwerk dient. Eine ungeheure und argumentations-arme Respektlosigkeit gegenüber Filmkunst. Schockierend, grenzenlos empörend und traumatisierend bis heute.


Die Reihen und Entdeckungen des Jahres


Die düstere Seite Hollywoods
Der film noir oder der Anfang des modernen Kinos?
Auf die Frage, was eigentlich einen film noir ausmacht, kann es so viele Antworten geben wie... Zeichen in diesem Text. Ist es die barock-expressionistische Photographie? Dann müsste der visuell gemäßigt inszenierte THE BIG SLEEP wohl rausfallen. Ist es die verwirrte bis gar fast vollkommen unverständliche Geschichte? Der minimalistische DETOUR wäre dann wohl kein noir. Ist es die femme fatale? Dann zählt THE RECKLESS MOMENT mit seiner Hausfrau-Protagonistin wohl nicht dazu. Ist es die Darstellung einer Welt der Verzweiflung, des Misstrauens, der Paranoia, der triebhaften Begierde, der irrationalen Gewalt und der Todessehnsucht, in der es keine Zukunft, sondern nur eine unerträgliche Gegenwart und eine abscheuliche Vergangenheit gibt? Vielleicht. Ein Universum der existentiellen Angst, in der es keine Klarheiten, keine Sicherheiten, keine Antworten gibt. Möglich. Eine Umwelt, in der das unaufhaltsame Schicksal mahlt und aus guten Menschen Mörder macht. Auch... Die noirs sind jedenfalls Filme, in denen visueller Stil und ungewöhnliche Erwählweisen einer klassischen erzählerisch-dramaturgischen Kohärenz übergeordnet sind: das „wie“ siegt über das „was“.
Ein Double-Feature THE LADY FROM SHANGHAI/DOUBLE INDEMNITY am 16. Januar im Rahmen einer kurzweiligen noir-Reihe bei arte regte mich dazu an, in den nächsten Monaten möglichst viele Filme aus dieser spannenden Stilrichtung zu sehen. Darunter waren viele Meisterwerke, jedoch keine einzige Niete – höchstens mittelmäßig gute Filme. Am Schluss des Jahres zähle ich 43 klassische noirs, drei Proto-noirs und elf Neo-noirs. Eine Liste nach Präferenz soll hier dem Hinweis weichen, dass zwölf der ersten, zwei der zweiten und drei der dritten Kategorie in meiner Top-52-Liste zu finden sind.


Der geheimnisvolle Deutsche und der unbekannte Amerikaner
Fritz Lang jenseits von M und METROPOLIS

Es ist eine Schande, aber wahr: bis zu Beginn des Jahres 2012 hatte ich lediglich drei Filme Fritz Langs gesehen: M, METROPOLIS, und DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE. Nun sind es 21 Stück, und statt einer Spanne von sechs Jahren seines Schaffens überblicke ich nun (zumindest fragmentarisch) 40 Jahre der umfangreichen Filmografie.
Mehrere Faktoren haben zu häufigen Begegnungen mit diesem österreichisch-deutsch-amerikanischen Ausnahmeregisseur geführt: meine persönliche film-noir-Schau, die Retrospektive bei der Viennale, eine über mehrere Wochen ausgedehnte Reihe beim dritten französischen Fernsehen FR3, mehrere Aufführungen in Weimarer und Jenaer Kinos, eine zu Rezensionszwecken zur Verfügung stehende DVD... alle haben dazu beigetragen, dass Fritz Lang für mich zum meist gesehenen Regisseur des Jahres wurde... und gewissermaßen auch zu meinem persönlichen 2012er-Star.
Meine Grunderkenntnis, die ich schon kurz nach der Viennale geäußert habe, hat sich bestätigt: Abwägungen zwischen dem „deutschen“ und dem „amerikanischen“ Lang sind nicht gerechtfertigt! Oder einfacher ausgedrückt: Naserümpfen vor seinen amerikanischen Filmen ist genau so dämlich, wie sein frühes deutsches Schaffen unterschiedslos auf einen Podest zu stellen.
So hat mich ein Werk, in dem ein Meisterverbrecher Verwirrung und Chaos stiftet, sehr beeindruckt: die Rede ist hier vom relativ unbekannten SPIONE, während alle drei DR. MABUSE-Filme mich nur wenig überzeugt haben. Über den tollen YOU ONLY LIVE ONCE schrieb ich hier bereits. Sehr langsam, in einem klassischen Sinne fast völlig spannungslos, dafür umso unerbittlicher entwickelt sich SCARLET STREET, der sich als der (bislang) emotional verstörendste Film Langs entpuppt hat. Eher enttäuschend, da meiner Meinung nach nur „solide“, war das andernorts in den Himmel gelobte Plädoyer eines Österreichers zum verantwortungsvollen Kaffeegenuss: THE BIG HEAT. Die gerne als dümmlicher Kitsch verschrieene Indien-Dilogie punktete hingegen mit erstaunlich klaren und scharfen Farb-Bildern, die eine irreale, (alp)traumhafte Atmosphäre schufen... und natürlich auch mit „a costume that definitely pushes the envelope on 1950s movie dress codes“ (Tom Wiener, allmovie.com).
Eine dritte und vierte Sichtung von METROPOLIS waren mir diesmal wieder im Kino gegönnt. Bei der ersten Aufführung döste ich stellenweise fast weg (was auch an meiner Tagesform lag). Die zweite Aufführung drei Wochen später erwies sich als großartiges Kinoerlebnis. Der Pianist Richard Siedhoff spielte zwar den gleichen, selbst komponierten, äußerst düsteren Score, jedoch sehr viel ungestümer: die Musik verwandelte sich in entscheidenden Momenten von einer ohnehin exzellenten Begleitung in einen Katalysator, der die Emotionen der Bilder in einem völlig wahnsinnigen Ausmaß potenzierte (eine Kostprobe, die der tatsächlichen Live-Aufführung naturgemäß nicht gerecht werden kann, gibt es hier).

5/5
1 M, Deutschland 1931
2 METROPOLIS (Sichtung am 19. Februar), Deutschland 1927
3 DIE NIBELUNGEN, Deutschland 1924
4 YOU ONLY LIVE ONCE, USA 1937
– SCARLET STREET, USA 1945

4,5/5
6 FRAU IM MOND, Deutschland 1929
7 SPIONE, Deutschland 1928
8 MAN HUNT, USA 1941
9 HANGMEN ALSO DIE!, USA 1943
10 THE WOMAN IN THE WINDOW, USA 1944

4/5
11 METROPOLIS (Sichtung am 29. Januar), Deutschland 1927
12 DER TIGER VON ESCHNAPUR, BRD/Frankreich/Italien 1959
13 DAS INDISCHE GRABMAL, BRD/Frankreich/Italien 1959
14 HOUSE BY THE RIVER, USA 1950
15 DER MÜDE TOD, Deutschland 1921

3,5/5
16 THE BLUE GARDENIA, USA 1953
17 SECRET BEYOND THE DOOR, USA 1948

3/5
18 DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE, Deutschland 1933
19 THE BIG HEAT, USA 1953
20 DR. MABUSE, DER SPIELER, Deutschland 1922

2,5/5
21 DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE, BRD/Frankreich/Italien 1960

2/5
22 DAS WANDERNDE BILD, Deutschland 1920


Sex, Gewalt und Drogen mit Homos, Bis, Heteros... und Aliens
Gregg Araki: Queer-Ikone, Independent-Rebell, Kino-Visionär
Was wäre, wenn Jean-Luc Godard ein knapp drei Jahrzehnte jüngerer bisexueller japanisch-stämmiger Amerikaner wäre, der Filme über desillusionierte queere Jugendliche und Alien-Invasionen dreht? Die Antwort lautet: Gregg Araki. 
Als vielleicht radikalster und konsequentester Vertreter einer Independent-Filmbewegung, für die der Name „New Queer Cinema“ geprägt wurde, verteilte Gregg Araki seit Beginn der 1990er heftige cineastische Ohrfeigen an alle Homophoben, Konservativen und religiösen Extremisten in den USA. In seinem dritten Film THE LIVING END (seine ersten beiden gelten als quasi verschollen) weigern sich die beiden Homosexuellen Luke und Jon, einer homophoben Gesellschaft klein beizugeben und schlagen gegen diese bei einem Roadtrip mit aller Gewalt zurück. Zu Unrecht als „schwule Variante“ von THELMA & LOUISE abgetan, erinnert Arakis Film mit seiner rohen, ungezügelten und explosiven Energie eher an Godards À BOUT DE SOUFFLE.
In dieser rohen Energie liegt auch der Reiz von Arakis Werk. Alleine sein thematischer Mut würde ihn zu einem beachtenswerten Regisseur machen. Doch es ist die besondere Ästhetik seiner Filme, die ihn einzigartig macht und den Begriff „Visionär“ rechtfertigt: der fragmentierte Erzählstil, die extremen subjektiven Perspektiven seiner Protagonisten (oft an der Grenze zum Voyeuristischen), der zutiefst schwarze Humor deren Lacher oft im Halse stecken bleiben, die exaltierte Farbdramaturgie mit ihren extremen Übersättigungen. Nicht zuletzt pflegt der Regisseur eine Motivik, die wohl als „Araki-Raum“ bezeichnet werden könnte: weitwinklig fotografierte Totale mit bizarren Setdesigns, in denen sich die Figuren in ihrer Einsamkeit verlieren.
Araki ist ein ungezügelter amerikanischen Independent, der vieles von jenen Sachen, die uns heutzutage gerne als „Indie“ verkauft werden, blass aussehen lässt...

1 THE LIVING END, USA 1992, 5/5
2 MYSTERIOUS SKIN, USA/Niederlande 2004, 5/5
3 SMILEY FACE, USA/Deutschland 2007, 4,5/5
4 KABOOM, USA/Frankreich 2010, 4,5/5
5 NOWHERE, USA/Frankreich 2010, 4,5/5
6 TOTALLY FUCKED UP, USA 1993, 4/5
7 THE DOOM GENERATION, USA/Frankreich 1995, 3,5/5
8 SPLENDOR, UK/USA 1999, 3,5/5

Ein exzessiver und gigantomanischer Rückblick auf das Filmjahr 2012 an sich und auf mein ganz persönliches Filmjahr 2012 findet hier sein Ende. Der eine oder andere Film oder Regisseur wird sich bestimmt in der einen oder anderen künftigen Besprechung bei „Whoknows Presents“ finden.
Mein Ausblick für 2013: viele Filme...

Sonntag, 23. Dezember 2012

Frohe Weihnachten!

In den letzten beiden Jahren hat Bruno hier jeweils einen "Weihnachtsfilm" besprochen, aber ich hab es eigentlich nicht so mit Weihnachten, deshalb gibt es heuer keinen Film, sondern nur einen YouTube-Clip, und es geht darin auch nicht um das Fest des Kaufens, äh, der Liebe, sondern um eine unserer Lieblingsbeschäftigungen. Hier sind also die Kinks mit "Celluloid Heroes".



Wie heißt es doch so schön am Schluss: Celluloid heroes never really die! Genau. Nächstes Jahr geht es mit einem großen Jahresrückblick weiter, den David beisteuert. Bis dahin, gehabt Euch wohl!

Montag, 17. Dezember 2012

BOUDU: Flaches Wasser und deep focus

BOUDU - AUS DEN WASSERN GERETTET (BOUDU SAUVÉ DES EAUX)
Frankreich 1932
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Michel Simon (Boudu), Charles Granval (Édouard Lestingois), Marcelle Hainia (Emma Lestingois), Séverine Lerczinska (Anne Marie), Jean Gehret (Vigour), Max Dalban (Godin), Jean Dasté (Student), Jacques Becker (Dichter)


Renoirs vierter Tonfilm beginnt mit einem kurzen Prolog, in dem - sichtlich in Theaterkulissen - ein Pan oder Priapos einer Nymphe nachstellt. Damit wird ein Rahmen gesetzt, eine Meta-Ebene, die den gesamten Film "theatralisiert" - ein Motiv, das Renoir in den 30er Jahren gern verwandte (so beginnt auch schon LA CHIENNE (1931) mit einer Grand-Guignol-Vorstellung), und auf das er etwa in DIE GOLDENE KAROSSE (1952) mit seinem "Theater im Theater" zurückkam. Zugleich verweist der Prolog auf den Charakter des Films: Es ist ein Satyrspiel, ein erotisch aufgeladenes Bäumchen-wechle-dich, dessen Wendungen man nicht wirklich ernst nehmen sollte. Eine Satire auf bürgerliche Wert- und Moralvorstellungen ist BOUDU - AUS DEN WASSERN GERETTET auch, aber eine sehr milde, die ihre Protagonisten nicht denunziert, sondern liebevoll karikiert.

Monsieur Lestingois und Anne Marie
Nach dem Prolog folgt der direkte Umschnitt zum gutsituierten Pariser Buchhändler Édouard Lestingois, wie er mit seinem Hausmädchen Anne Marie, die zugleich seine Geliebte ist, herumschäkert und sich selbst dabei als "Priapos" und sie als seine "Chloé" bezeichnet, womit die Verbindung vom Rahmen zur Haupthandlung unmissverständlich etabliert ist. Lestingois, dessen Buchhandlung mit darüberliegender Wohnung direkt am Ufer der Seine liegt, ist verheiratet, aber seine Frau Emma ist am Eheleben nicht mehr interessiert, dafür achtet sie umso mehr aufs Geld. Lestingois dagegen ist im Grunde noch Idealist, der auch schon mal Bücher an einen armen Studenten verschenkt, der sie sich nicht leisten kann (gespielt von Jean Dasté, der seinen größten Auftritt 1934 in Jean Vigos L'ATALANTE hatte, hier in seinem ersten Film). Es ist auch von Anfang an klar, dass das Verhältnis von Lestingois und Anne Marie nicht nur sexueller Natur ist, sondern dass sie sich einfach mögen.

Jacques Becker mit einem Kurzauftritt
Szenenwechsel in einen großen Pariser Park, wohl der Bois de Boulogne. Einer seiner Bewohner ist der zottelige Clochard Boudu mit seinem ebenso zotteligen schwarzen Hund "Black". Als ihm dieser davonläuft und er ihn trotz Suche nicht wiederfindet, will er sich in der Seine ertränken. Doch just in dem Moment, als er von einer Brücke springt, erspäht ihn Lestingois von seiner Wohnung aus, und nun ist es an ihm, den Lebensmüden zu retten. Beherzt springt er ins Wasser, und unter den Blicken von dutzenden, wenn nicht hunderten Zuschauern zieht er den halbtoten Boudu aus dem Wasser. Mit Hilfe seines Nachbarn Vigour (der gerne am offenen Fenster Flöte spielt und damit für einige musikalische Überleitungen im Film sorgt) bringt ihn Lestingois in seine Buchhandlung, um die Schaulustigen abzuschütteln und die Wiederbelebung zu vollenden. Vigour ist Mitglied in einem "Lebensrettungsclub", obschon er noch nie an einer Lebensrettung teilgenommen hat, und geht nun mit entsprechender Begeisterung zu Werk, so dass Boudu gar nichts anderes übrigbleibt, als wieder zu sich zu kommen.

Spektakuläre Rettung vor großem Publikum
Jetzt wird beschlossen, dass Boudu erst mal als Gast im Hause Lestingois bleiben soll, auch wenn Madame Lestingois und Anne Marie den neuen Hausgenossen sehr skeptisch beäugen. Und ihre Vorbehalte sind nicht ohne Grund, wie sich bald erweist. Denn Boudu ist ein respektloser, um nicht zu sagen anarchischer Zeitgenosse, der sich als undankbar erweist und von vielen Segnungen der Zivilisation nichts hält. Insbesondere beginnt er schnell, Anne Marie zu begrapschen, er setzt die Küche unter Wasser und richtet Verwüstungen an, die ein Loriot nicht besser hingekriegt hätte, er wischt sich seine mit Schuhcreme beschmierten Hände an Madames Nachtwäsche ab, er spuckt in der Wohnung auf den Boden und so weiter. Lestingois' nächtliche Schäferstündchen mit Anne Marie müssen vorerst ausfallen, weil der zwischen den jeweiligen Schlafzimmern einquartierte (und auf dem Boden schlafende) Boudu den Weg blockiert. Als Lestingois entdeckt, dass Boudu sogar in ein Buch gespuckt hat (Balzacs leicht zynisches Ehehandbuch Physiologie du mariage - ein trockener Seitenhieb Renoirs auf die Ehe der Lestingois), ist auch bei ihm das Fass übergelaufen: Boudus sofortige Ausweisung ist beschlossen.

Madame Lestongois streckt die Zunge raus, und Monsieur Vigour
geht mit Einsatz an Boudus Wiederbelebung
Doch es kommt anders. Um seine Chancen bei Anne Marie zu erhöhen, vollzieht Boudu eine partielle Annäherung an die Zivilisation: Er geht zum Friseur. Und als ihm Madame seinen Rauswurf in ihrem Schlafzimmer mitteilen will, verführt er sie in Windeseile mit sanfter Gewalt. Während auf der Straße Marschmusik gespielt wird, bläst Boudu Madame den Marsch - und danach ist sie wie verwandelt. Wie ihr Gesichtsausdruck und ihre Körpersprache deutlich machen, hat die eben noch ziemlich frigide Madame ihre Lebenslust und den Spaß am Sex wiedergefunden. Gleichzeitig trifft die Nachricht ein, dass Lestingois für seine Rettungstat eine Medaille erhält, wodurch auch er milde gestimmt ist. So darf Boudu also vorerst bleiben. Während nun Madame kaum noch von Boudu lassen kann, hat nun auch Lestingois wieder Gelegenheit, sich mit Anne Marie zu beschäftigen. So geht das einige Tage dahin, doch dann treffen die beiden Paare unverhofft im selben Zimmer in eindeutiger Lage aufeinander, so dass der doppelte Ehebruch offenbar wird. Doch der (nach bürgerlichen Maßstäben) doppelte Skandal wird erstaunlich souverän gehandhabt: In einer geradezu rasanten Umgruppierung finden die wiedererblühte Madame und ihr Gatte wieder zusammen, während Boudu und Anne Marie nicht nur ein Paar werden, sondern - ermöglicht durch einen Lotteriegewinn Boudus über 100.000 Francs - sogar heiraten. So ist denn auch die nächste Szene nach dem Rearrangement der Paare gleich der Hochzeitsausflug: Eine sonntägliche Kahnfahrt von Boudu und Anne Marie, dem Ehepaar Lestingois und Monsieur Vigour auf der Marne.

Boudu richtet Verwüstungen an
Doch das allzu platte Happy End wird von Renoir abgesagt. Boudu schafft es, sich selbst und die anderen Insassen des Ruderboots ins Wasser der äußerst gemächlich dahinfließenden Marne zu befördern, indem er sich nach einer Seerose ausstreckt. Ob nun geplant oder einem spontanen Impuls folgend: Boudu nutzt das Durcheinander, um sich schwimmend von der Gruppe abzusetzen, zu den hier ziemlich ironisch anmutenden Klängen des Walzers "An der schönen blauen Donau". An einer unbeobachteten Stelle des Ufers geht er an Land und vollzieht seine Rückverwandlung in einen Clochard - er tauscht seine feinen Hochzeitskleider gegen das zerschlissene Gewand einer Vogelscheuche und lässt als krönenden Abschluss seine Melone in die Marne segeln. Nun ist er wieder ganz der Alte und hat seine Freiheit wiedergewonnen. Zwar fehlt ihm noch sein Hund, dafür schließt er jetzt Freundschaft mit einer Ziege. Unterdessen sitzt Lestingois auch wieder an Land, flankiert von seiner Frau und Anne Marie, und sie fragen sich, was wohl aus Boudu geworden ist. Beide Frauen sind eng an ihn gekauert. Der Beginn einer Ménage-à-trois? Wer weiß ...

Vor und nach dem Friseur
Man hat Boudus Rolle zu Recht mit einem Katalysator verglichen: Er geht am Ende unverändert aus der Reaktion hervor, aber er hat in seinem Substrat, dem Haushalt Lestingois, erhebliche Veränderungen bewirkt: Etliche Verklemmungen und Scheinheiligkeiten wurden beseitigt. Dass Boudu am Ende wieder auf der Straße landet, ist im französischen Film der 30er Jahre nichts Ungewöhnliches. Schon in LA CHIENNE endete Michel Simon als Landstreicher, dort allerdings ins Tragische gewendet. Auch in René Clairs Film mit dem programmatischen Titel À NOUS LA LIBERTÉ (ES LEBE DIE FREIHEIT) von 1931 suchen die beiden Helden am Schluss ihr Heil auf der Straße, und in Renoirs LES BAS-FONDS (NACHTASYL) von 1936 wird der Held (Jean Gabin) am Ende zwar kein Landstreicher im eigentlichen Sinn, aber er wandert mit seiner Geliebten auf Schusters Rappen in eine ungewisse, aber wahrscheinlich bessere Zukunft.

Voller Körpereinsatz bei Michel Simon
Als Komödie ist BOUDU kein Schenkelklopfer, aber es gibt doch einige komische Szenen, vom visuellen Kalauer (Lestingois sagt bei Boudus Wiederbelebung zu seiner Frau, dass die Zunge raus müsse, und sie streckt daraufhin ihre eigene Zunge raus) bis zu einigen absurden Umkehrungen. So gibt am Anfang im Park eine Frau Boudu 5 Francs, "damit er sich Brot kaufen kann", wie sie ihrer kleinen Tochter erklärt. Als kurz darauf ein feiner Pinkel in einem protzigen offenen Wagen im Park hält, öffnet ihm Boudu wie ein Chauffeur die Tür. Der Schnösel sucht in seinen Taschen nach Trinkgeld, aber als er nicht schnell genug etwas findet, gibt Boudu ihm die 5 Francs - damit er sich Brot kaufen kann, wie jetzt Boudu zur Verblüffung des Mannes und des Publikums erklärt. Als Boudu am Essenstisch Wein verschüttet, streut Madame Lestingois Salz darüber, um den Wein aus dem Tischtuch zu ziehen, wie sie zu Boudu sagt, der sich das nicht erklären konnte. Als dann Lestingois versehentlich den Salzstreuer umkippt, gießt Boudu einen Schwall Wein darüber - "um das Salz herauszuziehen", wie nun er erläutert. Renoirs Regieassistent Jacques Becker hat einen sehr schrägen ungenannten Kurzauftritt als ein Dichter im Park, der wild gestikulierend theatralischen Unsinn verzapft, als ihn Boudu nach dem Hund fragt. Als Satire ist BOUDU, wie schon erwähnt, recht mild. Der einzige negativ besetzte Charakter ist zunächst Madame Lestingois, aber nach ihrer Läuterung durch Boudu ist auch das Geschichte. Gesellschaftskritik ist nicht das vordringliche Anliegen des Films, aber den einen oder anderen sozialen Kommentar platziert Renoir doch. So fragt etwa Boudu im Park einen Polizisten, ob er seinen Hund gesehen hat, doch der bedeutet ihm nur, er solle sich verziehen, damit er ihn nicht einbuchtet. Als unmittelbar darauf auch einer feinen Dame ihr Hündchen abhanden kommt, holt derselbe Polizist seine Kollegen herbei, damit sie bei der Suche behilflich sein können.

Boudu gibt ein Trinkgeld; Madame und ein armer Student;
Madame nach ihrer Verwandlung durch Boudu
Deep focus cinematography heißt auf Englisch das Drehen mit großer Tiefenschärfe (oder Schärfentiefe, wie Puristen sagen), das es ermöglicht, die handelnden Personen sich in der "Tiefe des Raumes" bewegen zu lassen, und in Bildvorder- und -hintergrund sogar voneinander unabhängige Teile der Handlung stattfinden zu lassen. Als Paradebeispiel für diesen Stil wird oft, und nicht zu Unrecht, CITIZEN KANE genannt, aber Orson Welles und sein Kameramann Gregg Toland waren keineswegs die ersten, die das virtuos beherrschten. Auch Renoirs LA RÈGLE DU JEU (DIE SPIELREGEL) von 1939 ist ein perfektes Beispiel. Und natürlich ist Renoir die Technik nicht 1939 in den Schoß gefallen, sondern er hat schon vorher damit experimentiert, z.B. in LA CHIENNE und auch in BOUDU. Zwar nicht durchgehend, aber immer wieder mal setzt Renoir Tiefenschärfe ein, um beispielsweise in der Wohnung von Lestingois Räume im Vorder- wie im Hintergrund ebenso wie den verbindenden Flur scharf abzubilden und auch überall Handlung zu zeigen. Und in der Szene, als Lestingois aus seinem Arbeitszimmer heraus Boudu mit einem Fernrohr beobachtet, bevor dieser in die Seine springt, sind Lestingois und die Einrichtung des Zimmers im Vordergrund, der Quai im Mittelgrund und fahrende Autos und wuselnde Fußgänger im Hintergrund jenseits der Seine scharf zu sehen.

Ein Hochzeitsausflug und sein Ende
Aber die große Attraktion von BOUDU ist weder die Handlung noch die Kameraarbeit, sondern das ist Michel Simon. Mit Renoir und Simon hatte sich ein Traumpaar gefunden, und BOUDU ist ihr vierter und letzter gemeinsamer Film, nach TIRE AU FLANC (1928), ON PURGE BÉBÉ (Renoirs erster Tonfilm, 1931) und LA CHIENNE. (1940 arbeitete Renoir in Italien an TOSCA, in dem Simon ebenfalls mitspielt, aber Renoir brach die Arbeit daran ab und emigrierte in die USA. Den Film drehte dann Renoirs Freund Carl Koch, der Ehemann von Lotte Reiniger.) 1966 drehte Jacques Rivette für die Fernsehserie CINÉASTES DE NOTRE TEMPS ein dreiteiliges Portrait von Renoir, und der 90-minütige mittlere Teil widmete sich nur der Zusammenarbeit von Renoir und Michel, die auch beide darin auftraten. Michel Simon schätzte Renoir sehr dafür, dass er einer der wenigen Regisseure war, die ihn bei seinem Drang zum Improvisieren nicht bremsten, sondern bestärkten. Renoir wiederum schrieb einmal: "BOUDU, das ist Michel Simon. Das heißt, einer der größten lebenden Schauspieler und einer der größten Schauspieler der Geschichte des Theaters und des Kinos. BOUDU ist eine Hommage an Michel Simon." Die Rolle des Boudu ist ihm tatsächlich wie auf den Leib geschrieben. Das Drehbuch entstand nach einem 1925 erschienenen Theaterstück, und schon damals spielte Simon die Rolle auf der Bühne und erhielt dafür Lobeshymnen. Er war es auch, der Renoir die Verfilmung des Stoffes vorschlug, und er war dann der Hauptproduzent des Films (Jean Gehret, der Darsteller von Vigour, war ebenfalls an der Finanzierung beteiligt). Den Boudu spielt er mit entfesselter, anarchischer Freude und mit vollem Körpereinsatz. Er fläzt sich am Boden und auf dem Mittagstisch, er turnt und kaspert herum, er krächzt und grölt und grinst. Von seinen Rollen, die ich sonst noch kenne, ist nur sein Père Jules in L'ATALANTE damit vergleichbar. Wenn man nur diese beiden Filme von ihm kennen würde, könnte man wohl glauben, dass er tatsächlich so ist, aber wenn man zum Vergleich andere Rollen heranzieht, etwa den skurrilen, aber gesitteten Molyneux in DRÔLE DE DRAME oder den sinistren Zabel in Carnés LE QUAI DES BRUMES, dann erkennt man seine Bandbreite.

Rückverwandlung mit Vogelscheuche und Ziege
BOUDU SAUVÉ DES EAUX ist in den USA und in England (als BOUDU SAVED FROM DROWNING) sowie in Frankreich auf DVD erschienen. - 1986 drehte Paul Mazursky mit DOWN AND OUT IN BEVERLY HILLS (ZOFF IN BEVERLY HILLS) ein ganz brauchbares Hollywood-Remake, mit Nick Nolte als kalifornischem Boudu und Richard Dreyfuss und Bette Midler als seinen Gastgebern. Daraus entstand 1987 eine erfolglose 13-teilige Fernsehserie (mit anderen Hauptdarstellern). 2005 schließlich inszenierte Gérard Jugnot ein weiteres Remake, mit Gérard Depardieu in der Titelrolle und mit sich selbst als Lestingois (der hier Lespinglet heißt).

Wie wird es weitergehen?

Donnerstag, 6. Dezember 2012

Subtiler Terror in den schwarzen Bergen

POSLJEDNJE POGLAVLJE (THE ASCENT)
Montenegro 2011
Regie: Nemanja Bečanović
Darsteller: Amar Selimović (Jovan), Vlado Jovanovski (Zeko), Dejan Ivanić (Vuk), Ana Vučković (Vidrana), Inti Sraj (Vesna)

Den nachfolgenden Text habe ich in der Nacht vom 10. auf den 11. November 2011 geschrieben, etwa zwischen 01.30 Uhr und 02.30 Uhr. An diesem Abend hatte das Erste SouEuF-Festival Jena (Southeastern European Film Festival) begonnen, unter anderem mit der Projektion eines montenegrinischen Films, der mich (und wahrscheinlich auch andere Zuschauer) zutiefst beeindruckte. Der Text endete in der „Schublade“ und diente lediglich als Gedankenbasis für zwei meiner Festivalberichte. Dies ist nun eine redigierte, teils gekürzte und teils ergänzte Fassung des Artikels.


Das kleine, studentische Jenaer Südosteuropa-Filmfestival hat viele Besucher gefunden, zumindest genügend, um seinen Vorführraum aus allen Nähten platzen zu lassen. Die Atmosphäre ist familiär, die Organisation auf fast rührende Art und Weise dilettantisch: Rotwein und Weißwein waren um acht Uhr Abends schon alle, das ganze fing natürlich erst c.t. an und ein wirkliches Cinemascope-Erlebnis sieht grundsätzlich anders aus als eine Projektion auf eine viel zu kleine Leinwand. Alles nicht schlimm, wenn das mit Liebe rübergebracht wird, und das wurde es auch. Da kann man auch einen Filmriss gut verkraften, und mit Filmriss meine ich jetzt: CD-Kratzer bei 51min03sec. Kurz: es war eng, es war stickig, es gab keine stimulierende Flüssigkeiten. Die richtige Atmosphäre, um THE ASCENT, das Spielfilmdebüt des montenegrinischen Regisseurs Nemanja Bečanović zu schauen.
Stell dir vor, du bist Schriftsteller, hast eine Third-Life-Crisis, und sitzt an einem Roman, den du trotz deiner anstrengenden und aufreibenden Frühaufsteher-Gewohnheiten einfach nicht fertig kriegst – und du lebst in Podgorice, der Hauptstadt Montenegros. Was tun? Die Lösung: in ein abgelegenes Dorf der schwarzen Berge ziehen, um dort in einer Wohngemeinschaft mit Schafhirten ein wenig abzuschalten und jene Ruhe zu finden, die dir eine bessere Fokussierung ermöglicht. Gesagt, getan: der Bus ruckelt dich dann zu einer verlorenen Straßenkreuzung hin.
Das Dorf: vollkommen verlassen! Der Empfang: kühl wäre durchaus eine Untertreibung! Du musst dich etwa fünf Mal als Jovan vorstellen, damit dich deine wenig gesprächigen ländlichen Gastgeber endlich als Vuk und Vidrana begrüßen. Die schöne Vesna, die du vorher beim Abwaschen am Fluss aufgescheucht hast, grüßt aufgrund ihrer Stummheit nicht zurück, zumindest nicht verbal. Der Hausherr, Zeko, kommt schließlich auch noch dazu. Ja, montenegrinische Berghirten sind etwas befremdlich, ihre Haare sind struppelig und ihre Gesichter sind beängstigend kadaverbleich – dabei liegt Siebenbürgen doch so weit weg. Aber vielleicht wird doch noch was draus.
Wirklich? Jeder kennt das Gefühl. Man ist zu Gast bei jemandem zu Hause, und die Gastgeber streiten sich die ganze Zeit. Eheprobleme und Vater-Sohn-Beziehungen werden einem quasi nebenbei unter die Nase gerieben. Hinzu kommt noch eine leichte Anspannung, die von den scheinbar leicht inzestuösen Situationen herrühren. Dabei ist man sich gar nicht so sicher, wer von den Gastgebern in welcher Weise mit den anderen verwandt sind. Klar: Vuk und Vidrana sind anscheinend ein Ehepaar – oder zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit? Vesna ist die Schwester von einem der beiden mutmaßlichen Ehepartner – vielleicht? Wirklich sicher ist nur, dass Zeko als übermächtiger Patriarch über alles thront.
Eigentlich bist du ja ziemlich apolitisch, aber trotzdem halten es die Bewohner dieser verlassenen Berghütte für wahnsinnig wichtig, dir ihre tiefe Verbundenheit mit der Natur unter die Nase zu reiben. Dein Problem: es kommt als totales Hinterwäldlertum und extremistische Landideologie bei dir an. Diese Leute hassen Stadtbewohner, sie hassen Intellektuelle, sie hassen Menschen, die offensichtlich keiner „ordentlichen“ Beschäftigung nachgehen (zum Beispiel Schriftsteller), und sie hassen Raucher. Dumm, dass diese ganzen Attribute auf dich zutreffen. Aber Zeko ist durchaus bereit, sich für deine Ehre einzusetzen. Als Vuk dich verbal etwas in die Mangel nimmt, nimmt Zeko ihn in den Schwitzkasten, mit einer deutlichen Bereitschaft, ihm das Genick zu brechen, nur, damit Vuk sich bei dir entschuldigt. So viel hattest du eigentlich gar nicht erwartet!
Die Gesamtsituation ist auch sonst beunruhigend. Diese Menschen treiben dich zu beängstigenden und teils ziemlich blutigen Alpträumen. Sie schlachten ihre ganze Schafherde ab. Sie nehmen die Spiegel in deinem Zimmer weg, um sie in einem Schrank zu verstauen. Und zu sehen, wie Vesna im nahegelegenen Wald bei einem Hügel frisch aufgegrabener Erde in Größe und Form eines Menschen trauert, ist zwar rührend, aber auch nicht gerade vertrauenserweckend.
Aber die Macht des Wortes ist unendlich. Und dank dieser Macht kannst du schließlich auch die Herzen dieser verschlossenen Bergleute öffnen. Wirklich? Wirklich?? WIRKLICH???
THE ASCENT kann man einem Genre zuordnen, den ich mal als „poetischer Symbolismus“ bezeichnen könnte. Grundmuster: kaum Handlung im engeren Sinne, größtenteils sehr starre Kamera, sperrige Darstellungskunst. Was dabei herauskommt: meist prätentiöser Bockmist! Viele Regisseure bringen es mit ihrer Darstellung karger Landschaften, gesprächsloser zwischenmenschlicher Austausche und wenig dynamischer Kameraeinstellungen nur zu einem nebenwirkungslosen Schlafmittel-Surrogat. Nicht so Bečanović. Mit sehr minimalistischen Mitteln erzeugt er eine extrem dichte und spannungsgeladene Atmosphäre voller latenter Gewalt, Klaustrophobie und Paranoia. Vieles, was passiert, nein, sogar das meiste, ist bedeutungsschwanger. Misstrauen entsteht nicht so sehr durch verbale Attacken, als durch penetrantes Schweigen. In dieser Berghütte wird deutlich: „Nicht-Kommunikation“ ist vielleicht die extremste Form von Kommunikation. Da wir als Zuschauer mit Jovan mitfühlen, wird das Gefühl der Bedrohung immer sehr intensiv aufrecht erhalten. Denn so einfach die Ziegenhirten im Film auch scheinbar gestrickt sind, so absolut unberechenbar sind sie letztlich für den Städter Jovan. Und zwar im bösen wie auch im guten Sinne. Und schließlich auch im bösen Sinne...
Der Schluss des Films übertrifft an Radikalität das Allerschlimmste, das man sich im Verlaufe von etwa 80 Minuten erträumen konnte. Zugleich wirkt er aber auch auf seltsame Art und Weise logisch und folgerichtig.
Wer sich jetzt fragt, wie Jovan seinen Laptop über eine Woche lang in einer Berghütte nutzen kann, ohne ihn aufzuladen: keine Ahnung! Aber der Film ist ja sowieso symbolisch. Und vielleicht hat ihn die spannungsgeladene Atmosphäre aufgeladen.

Mittwoch, 28. November 2012

Kommissar Maigret gibt seinen Einstand

Jean Renoir, einer meiner Lieblingsregisseure, drehte seine ersten Filme Mitte der 20er Jahre, er war also noch ein Kind der Stummfilmzeit. Doch zu richtig großer Form lief er erst mit seinen Tonfilmen der 30er Jahre auf. Durch Renoirs Emigration nach der deutschen Besetzung Frankreichs 1940 und die völlig anderen Produktionsbedingungen, die er in Hollywood vorfand, bilden die 15 Filme von 1931 bis 1939 einen in sich geschlossenen Teil von Renoirs Werk. Von diesen 15 Filmen kenne ich bislang neun, und einen Teil davon werde ich in einer losen Reihe chronologisch vorstellen. Dabei konzentriere ich mich auf Filme, die hier zu Lande etwas weniger bekannt sind als die Großtaten DIE GROSSE ILLUSION, BESTIE MENSCH und DIE SPIELREGEL. Vielleicht bespreche ich danach noch zwei oder drei von Renoirs späteren Filmen, aber das überlege ich mir noch. Es beginnt mit einem für Renoir ungewöhnlichen Stoff, nämlich einem Krimi.



LA NUIT DU CARREFOUR
Frankreich 1932
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Pierre Renoir (Kommissar Maigret), Winna Winifried (als Winna Winfried, Else Andersen), Georges Koudria (Carl Andersen), Dignimont (Oscar), Jean Gehret (Michonnet), Georges Térof (Inspektor Lucas), G.A. Martin (Inspektor Grandjean)

"... der Geruch des Regens und der in Nebel gehüllten Felder, jedes Detail, in jedem Augenblick jeder Einstellung macht aus LA NUIT DU CARREFOUR den einzigen großen französischen Kriminalfilm, was sage ich, den einzigen großen französischen Abenteuerfilm." (Jean-Luc Godard, zitiert nach Meinolf Zurhorst: Lexikon des Kriminalfilms)

Kommissar Maigret
Von allen Roman- und Filmkommissaren ist Jules Maigret nicht nur einer der bekanntesten, sondern auch einer derjenigen, die von den meisten verschiedenen Schauspielern dargestellt wurden. Wer bei der Frage nach dem ersten Film-Maigret etwa an Jean Gabin denkt, liegt weit daneben, denn schon rund 26 Jahre vor Gabin blickte ein Maigret von der Leinwand, und es war Pierre Renoir, der ältere Bruder des Regisseurs. Georges Simenon, ein bereits durch Groschenromane einigermaßen bekannter Schriftsteller, begann 1931, die ersten Maigret-Romane in Buchform zu publizieren, und wurde damit zum Shootingstar der französischsprachigen Literaturszene. "La Nuit du carrefour", im April 1931 verfasst, war bereits der sechste Maigret-Roman des Schnellschreibers Simenon. Renoir verfolgte Simenon, der sich damals häufig auf Reisen befand, im Herbst 1931 regelrecht, um an die Filmrechte zu kommen. Die Mühe hat sich gelohnt - er bekam nicht nur die Rechte, und Simenon schrieb gemeinsam mit Renoir das Drehbuch, das Zusammentreffen wurde auch zum Beginn einer langjährigen Freundschaft. Aber Renoir gewann das Rennen um den ersten Maigret-Film nur knapp: Rund zehn Wochen nach LA NUIT DU CARREFOUR erschien mit LE CHIEN JAUNE bereits der nächste, Anfang 1933 der dritte. Dann dauerte es aber bis 1943 bis zum vierten (mit dem vierten verschiedenen Maigret-Darsteller). Danach, aber noch vor Jean Gabin, spielten beispielsweise auch noch Charles Laughton und Michel Simon den bedächtigen Kommissar mit der Pfeife.

Carl und Else Andersen
Stilistisch ist LA NUIT DU CARREFOUR ein Vorläufer des Film noir, gelegentlich wurde er sogar als der erste Film noir überhaupt bezeichnet. Der Titel, der übersetzt "Die Nacht an der Kreuzung" bedeutet, beschreibt den Schauplatz treffend. An einer Straßenkreuzung in einer ziemlich einsamen und trostlosen Gegend, ungefähr 30 Kilometer südlich von Paris, stehen drei Anwesen: Eine Autowerkstatt und Tankstelle mit der Wohnung des Besitzers Monsieur Oscar samt Gattin, flankiert von zwei großbürgerlichen Wohnhäusern. In dem einen wohnt der dickliche Versicherungsagent Michonnet mit seiner ebenso dicklichen Frau, im anderen der verschlossene Däne Carl Andersen mit seiner wesentlich jüngeren Schwester Else. Andersen, früher ein Offizier und Flieger aus nobler Familie, lebt jetzt davon, dass er einmal im Monat Stoffmuster an eine Firma in Paris verkauft. Else, die Carl gegenüber einen ziemlich dominierenden Ton an den Tag legt, zeigt eine Mischung aus (gespielter?) Naivität und Laszivität (Godard schreibt in dem Text, aus dem das obige Zitat stammt, von ihrem "altmodischen Sex wie bei einer rauschgift- oder philosophiesüchtigen Russin"). Eines Tages ist in Michonnets Garage sein Wagen verschwunden, dafür steht überraschenderweise der von Andersen darin. Als man daraufhin gemeinsam in Andersens Garage nachsieht, findet man tatsächlich Michonnets Wagen - mit einer Leiche darin.

Verqualmtes Büro
Der Tote mit Kopfschuss ist, wie sich erweist, ein holländischer Diamantenhändler namens Goldberg. Der einzige Verdächtige ist zunächst Andersen, und Maigret, der die Ermittlungen übernimmt, lässt ihn ins Hauptquartier der Pariser Kriminalpolizei am Quai des Orfèvres bringen. Doch bei einem stundenlangen zermürbenden Verhör beteuert er nur seine Unschuld und sagt sonst wenig. So lässt ihn Maigret wieder laufen und begibt sich an den Tatort, um sich dort ein Bild zu machen und alle Beteiligten nochmals zu verhören. Als der Abend hereinbricht, beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen. Goldbergs Witwe, die zur Identifizierung ihres Gatten anreist, wird vor Maigrets Augen mit einem Gewehr aus dem Hinterhalt erschossen. Andersen, der seine monatliche Fahrt nach Paris unternimmt, kehrt nicht zurück - hat er sich abgesetzt, oder ist ihm etwas zugestoßen? Else, die allein im großen Haus zurückgeblieben ist, wirft sich jetzt Maigret an den Hals, doch der alte Fuchs hält sie auf Distanz. Mitten in der Nacht - alle Beteiligten sind aber noch wach und beschäftigt - fährt eine offene Limousine vor, und die Insassen beginnen, im Stil von Chicago-Gangstern wild in die Werkstatt hineinzuballern (wie gut, dass Maigret 30 Mann Verstärkung aus Paris kommen ließ). Und das ist noch lange nicht alles. Irgendjemand versucht anscheinend, Else mit Veronal in einer Bierflasche zu vergiften - oder galt der Anschlag etwa Maigret? Carl Andersen wird in der Nähe seines Hauses angeschossen aufgefunden, womit die Frage nach seinem Verbleib geklärt wäre; Michonnet wird beim Versuch, in Andersens Haus einzudringen, festgenommen; Maigret findet heraus, dass Else gar nicht Carls Schwester ist, und mit ihrer noblen Herkunft ist es auch nicht weit her; und als Maigrets Leute die Autowerkstatt auseinandernehmen, finden sie nicht nur Juwelen, die Goldberg anderswo gestohlen und mit sich geführt hat, sondern auch jede Menge Kokain. Am Ende wird eine ziemlich umfangreiche Bande verhaftet, der Mörder Goldbergs überführt, und der Fall ist gelöst - so halbwegs jedenfalls.

Trostlose Gegend bei Regen und Nebel
Denn die Handlung des Film glänzt nicht gerade durch Klarheit, und am Ende bleiben viele Fragen offen. Man könnte sich ja auf den Standpunkt stellen, dass ein verwirrender Plot zum Konzept eines Film noir gehört (man denke etwa an Howard Hawks' THE BIG SLEEP), aber natürlich macht man es sich damit etwas zu einfach. Jean Mitry hat eine Erklärung für die Konfusion vorgebracht (der spätere Filmtheoretiker und Regisseur von PACIFIC 231 war als Schnittassistent und Nebendarsteller am Film beteiligt): Er habe während oder kurz nach dem Dreh versehentlich zwei bereits belichtete Filmrollen von LA NUIT DU CARREFOUR für einen eigenen Kurzfilm verwendet, den er gerade drehte, so dass sie durch Doppelbelichtung unbrauchbar wurden und für den Schnitt nicht mehr zur Verfügung standen. Diese Geschichte ist aber angezweifelt worden. Der Produzent Pierre Braunberger, der in den 20er und 30er Jahren etliche Filme Renoirs produzierte (nicht jedoch LA NUIT DU CARREFOUR), soll bei einer Probevorführung gegenüber Renoir geäußert haben, dass bei der Verfilmung ungefähr zwölf Seiten des Scripts (das Braunberger kannte) schlicht vergessen worden seien. Pascal Mérigeau, der gerade eine nagelneue Renoir-Biographie von 1100 Seiten vorgelegt hat, hält Mitrys Version für falsch, ist aber auch nicht sicher, ob die Braunberger-Version stimmt - so bleibt die Frage vorerst (und vielleicht für immer) offen. (Für hilfreiche Informationen zu diesem Punkt danke ich Prof. Chris Faulkner von der Carleton University, Ottawa.)

Else umgarnt Maigret
Wie dem auch sein mag - Logik und eine stringente Handlungsführung gehören nicht zu den Stärken von LA NUIT DU CARREFOUR. Dafür punktet der Film im Atmosphärischen. Wie schon geschrieben, besitzt er Ingredienzien eines Film noir. Starke Schwarzweißkontraste; verqualmte Polizeibüros im Halbdunkel am Quai des Orfèvres; der ebenso verqualmte Salon im Haus der Andersens; die meisten Szenen im Freien bieten Regen, Nebel, Dämmerung oder eine Kombination daraus, und ein beträchtlicher Teil des Films spielt sowieso in der Nacht. Und es gibt eine echte femme fatale. Die Dänin Winna Winifried ist fast so mysteriös wie die von ihr gespielte Else Andersen. Das beginnt schon mit ihrem Geburtsdatum - in der IMDb findet man nur "ca. 1914". Ich nehme an, dass Renoir selbst die Quelle dafür ist, denn er hat irgendwann mal geäußert, dass sie beim Dreh erst 17 war. Die Unsicherheit setzt sich bei ihrem Künstlernamen fort. In den Credits erscheint sie als "Winna Winfried", in den meisten Quellen jedoch als "Winna Winifried", in manchen aber auch als "Winna Winifred". Immerhin scheint festzustehen, dass sie als Amalie Nielsen in Kopenhagen geboren wurde. (Godard hielt übrigens ihren dänischen für einen englischen Akzent - da kannte er wohl Anna Karina noch nicht.) LA NUIT DU CARREFOUR war ihr erster Film, dem laut IMDb sechs weitere folgten - zuerst drei in England, dann wieder drei in Frankreich. Sie scheinen allesamt ziemlich obskur und vergessen zu sein. Nach 1940 verliert sich dann offenbar Winifrieds Spur.

Ein Zeitungsstand als "Uhr"
Ich bin zwar nicht so enthusiastisch wie Godard, aber sehenswert ist LA NUIT DU CARREFOUR allemal. Renoir zeigt sein Gespür für Stimmungen und glänzt mit kleinen Details. Beispielsweise verdeutlicht er die stundenlange Dauer von Andersens Verhör durch mehrmalige Zwischenschnitte zum unteren Teil eines Zeitungsstands. Man sieht nur die Beine der Kunden, aber man hört ihre Bestellungen: Beim ersten Mal "Le Matin" (eine Morgenzeitung), beim nächsten Mal "Paris-Midi" (ein Mittagsblatt), schließlich - man ahnt es schon - mit "Paris-Soir" eine Abendzeitung. Am Schluss liegen die Zeitungen gelesen und weggeworfen im Rinnstein. Gekonnt ist auch Renoirs Umgang mit Direktton (in der Frühzeit des Tonfilms keine Selbstverständlichkeit) in der Autowerkstatt und auf der Straße. Gelegentlich gewinnt die Geräuschkulisse die Dichte von Musique concrète. Und nicht zuletzt ist Pierre Renoir mit seinem "faulen Falkenauge" (Godard schon wieder) ein ganz ausgezeichneter Maigret. Simenon soll ihn sogar mal als den überzeugendsten Maigret bezeichnet haben, allerdings ist andernorts auch zu lesen, dass er diese Ehre Gabin und Rupert Davies zuerkannte. - LA NUIT DU CARREFOUR ist unter seinem Originaltitel in den USA auf DVD erschienen.

Montag, 19. November 2012

Lantana

Dies ist nun die letzte Besprechung, die Bruno geschrieben hat, vor ungefähr drei Monaten.

Manfred




Lantana
(Lantana, Australien/Deutschland 2001)

Regie: Ray Lawrence

Obwohl die Figuren im Abräumer bei den AFI-Awards 2001 zu komplex sind, als dass sich der Film von Ray Lawrence auf ein einzelnes Thema festlegen liesse,  kann man doch sagen, die Bereitschaft, sich über sich selber zu täuschen und sich von anderen täuschen zu lassen, spiele eine grosse Rolle. Die Täuschungsproblematik überträgt sich sogar auf den Zuschauer, der Erwartungshaltungen aufbaut, die sich schlicht als falsch erweisen. Denn „Lantana“ spielt nicht in einem nach Australien verlegten Twin Peaks, hat überhaupt nur auf den ersten Blick etwas mit David Lynch zu tun. Er lässt sich auch nicht mit Robert Altman’s „Short Cuts“ (1993) vergleichen, schon gar nicht mit dem Krötenregner „Magnolia“ (1999) von P.T. Anderson. Wer solche verlockenden Vergleiche, wie sie vom Criticus Roger Ebert angeboten werden, einmal überwunden hat, wird das dichte, auf einem Bühnenstück von Andrew Bovell mit dem passenden Titel „Speaking in Tongues“ beruhende Werk in seiner Eigenständigkeit zu würdigen lernen.


Im Mittelpunkt von „Lantana“ stehen vier Paare. Der unter dem Verlust seiner Gefühle leidende Polizist Leon Zat betrügt seine Frau Sonja mit Jane O’May, die sich von ihrem Mann getrennt hat. O’May wiederum beneidet ihren arbeitslosen Nachbarn Nik Daniels und dessen Frau um ihre offen gezeigte, uneingeschränkte Liebe zueinander. Sonja versucht Leidenschaft in ihre Ehe zurückzubringen, indem sie ihren Mann für einen wöchentlichen Salsa-Abend begeistern will, an dem allerdings auch die Frau teilnimmt, mit der er zweimal Sex hatte. Doch auch Sonja verheimlicht etwas vor Leon: Sie besucht die Psychotherapeutin Valerie und erzählt ihr von ihren Ängsten, betrogen zu werden. Valerie, die die Ermordung ihrer Tochter nie überwunden hat, ist allerdings selber vor Täuschungen nicht gefeit: Als ihr ein schwuler Patient zunehmend herausfordernd von seiner Beziehung zu einem verheirateten Mann berichtet, überkommt sie das Gefühl, er spiele auf ihren verschlossenen Gatten John an. – Und über all dem schwebt unheilvoll die Leiche einer Frau, zu der uns die Kamera am Anfang im dichten Tropengestrüpp, das dem Film seinen Titel gab, geführt hat.


Diese Leiche ist es, die den Zuschauer vom eigentlichen Problem der Vorstadtbewohner, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, ablenkt. Sie verlockt ihn zu gewohnten Vorstellungen vom Ablauf eines Krimis, und er rätselt während der ersten Hälfte von „Lantana“, um wen es sich bei dieser Leiche handeln möge, während er die zweite Hälfte der Frage widmet, ob und von wem die entdeckte Tote ermordet worden ist. Denn Jane, die von ihrem Liebhaber verlassen wurde und ihren Mann nicht zurück haben will, entdeckt, das Glück anderer Menschen nicht ertragend, an ungewöhnlicher Stelle einen Schuh… - Erst mit der Zeit erkennt man, dass der Toten im Gestrüpp eine ganz unerwartete Funktion zukommen könnte: Sie ist vielleicht das Opfer, das die Figuren benötigten, um wenigstens für eine gewisse Zeit ihrem Beziehungsgestrüpp zu entkommen und zu dem zu finden, was ihnen entgangen war oder von ihnen verdrängt wurde. Am Ende sieht man eine Jane O’May, die sich ihre Einsamkeit durch konsequent falsches Handeln unbewusst erstritten hatte, sich ganz alleine dem Salsa hingeben, während ein anderes Paar seine Probleme überwunden hat und eng umschlungen tanzt. Ein Schwuler beobachtet im Regen seinen kurzfristigen Liebhaber, der zu seiner Frau zurückgekehrt ist, während sich ein anderer Mann endlich der stillen Trauer um sein verlorenes Kind hingeben darf, die er vor seiner Frau verheimlichte.


Einzelne geradezu erlösend wirkende Szenen deuten an, was eigentlich im Zentrum steht: die Unfähigkeit der von Anthony LaPaglia, Geoffrey Rush, Barbara Hershey und  anderen hervorragend verkörperten Charaktere,  Gefühle einander mitzuteilen und sie offen auszuleben: Ein Mann, der beim Joggen mit dem Polizisten Leon zusammenstösst, sich plötzlich an ihn klammert und hemmungslos zu weinen beginnt, ein verstörter Mann, der von der sich befreiend ihrer Hysterie ergebenden Valerie nachts auf der bevölkerten Strasse angeschrien wird, weil er sie angesprochen haben soll. – Versuche, den Ensemblefilm mit „Short Cuts“ oder dem Krötending zu vergleichen, sind nicht berechtigt: Das Hauptthema und die sich daraus ergebenden Beziehungsprobleme halten die  Geschichte enger zusammen als die lockeren, verschiedenen Erzählungen von Raymond Carver entnommenen Episoden in Altman’s Meisterwerk. Und das unaufgeregte Fortschreiten mit scheinbar  dem echten Leben entnommenen Figuren zeigt, wie wenig sich „Lantana“  der Küche Hollywood mit ihrem gelegentlich unerträglichen Pathos anpasst. Hier wird in einer eigenen Liga gespielt, die derjenige für entdeckenswert halten wird, der seine Erwartungen ablegt und sich – Missverständnisse überwindend - dem Salsa hingibt.