Samstag, 5. April 2014

José Val del Omar: Spanisches Triptychon der Elemente

AGUAESPEJO GRANADINO
Spanien 1953-55

FUEGO EN CASTILLA
Spanien 1958-60

ACARIÑO GALAICO (DE BARRO)
Spanien 1961/1981-82/1995

alle drei Filme zusammen: TRÍPTICO ELEMENTAL DE ESPAÑA

Regie: José Val del Omar

FUEGO EN CASTILLA
José wer? José Val del Omar (1904-82) war ein spanischer Künstler und Techniker, den es außerhalb seiner Heimat erst noch zu entdecken gilt. Man findet online wenig Brauchbares über ihn auf Englisch (auf Deutsch noch weniger), am besten ist dieser Text. Wikipedia-Artikel über ihn gibt es nur auf Spanisch und Katalanisch. Immerhin existiert ein leider nicht ganz billiges englischsprachiges Buch (neben ungefähr einem halben Dutzend spanischen), das als Katalog zu einer Ausstellung in Madrid entstand, und Amos Vogel erwähnt Val del Omar in seinem Buch Film als subversive Kunst. Val del Omar vereinte in sich auf eine Weise, für die mir kein anderes Beispiel einfällt, einen Hang zu Spiritualität und Mystizismus mit einer Begabung für Tüftelei und Erfindungen auf den Gebieten der Film- und Tontechnik.

AGUAESPEJO GRANADINO
José Val del Omar wuchs in Granada auf, wo er als junger Mann u.a. mit Federico García Lorca befreundet war. Als 1931 in Spanien die Zweite Republik ausgerufen wurde, startete die neue Regierung unter dem Namen Misiones Pedagógicas ein Programm, das Lehrer, Techniker, Künstler und Intellektuelle in abgelegene und rückständige Dörfer entsandte, um Entwicklungshilfe im eigenen Land zu leisten, und Val del Omar schloss sich mit Begeisterung als Fotograf und Kameramann dieser Bewegung an. In den 30er Jahren filmte Val del Omar ca. 40 Dokumentationen für die Misiones Pedagógicas sowie einige auf eigene Rechnung. Fast alle diese Filme sind verschollen, es könnten aber noch irgendwo Exemplare überlebt haben. Im Booklet der DVD-Box (s.u.) ist zu lesen, dass in Puerto Rico sowie bei Kodak in Rochester (New York), wohin Kopien gelangt sein sollen, Nachforschungen angeleiert wurden. Ob diese inzwischen irgendetwas erbracht haben, ist mir nicht bekannt. Auf jeden Fall existieren noch ein Film von einer der pädagogischen Missionen unter dem Titel ESTAMPAS 1932 und Aufnahmen von christlichen und säkularen Festen in verschiedenen Städten, die von Val del Omars Tochter María José und deren Mann Gonzalo Sáenz de Buruaga vor zehn Jahren unter dem Titel FIESTAS CRISTIANAS/FIESTAS PROFANAS veröffentlicht wurden. Interessant sind dabei vor allem Aufnahmen von Prozessionen in der Osterwoche (Semana Santa) mit den langen spitzen Kapuzen, die in ähnlicher Form vom Ku-Klux-Klan übernommen wurden. Diese Filme sind ohne Ton und nur grob geschnitten, so dass man sie eher als dokumentarisches Material denn als ausgearbeitete Dokumentarfilme bezeichnen sollte. Ich nehme an, dass das auch für die meisten der verschollenen Filme gilt, anders wäre die hohe Zahl von über 40 Filmen in wenigen Jahren kaum zustande gekommen.

AGUAESPEJO GRANADINO - der Mond hat die Herrschaft übernommen
Anders geartet ist der ebenfalls erhaltene und 1935 entstandene VIBRACIÓN DE GRANADA, der keine Dokumentation, sondern ein Filmpoem ist und in manchen Bildmotiven schon wie ein Probelauf für den 20 Jahre später fertiggestellten AGUAESPEJO GRANADINO wirkt. Ebenfalls 1935 veröffentlichte Val del Omar ein künstlerisches Manifest, das wohl gewisse Berührungspunkte mit dem Surrealismus aufweisen soll. Ich hätte es gern gelesen, aber leider findet es sich nicht im Bonusmaterial der DVDs, und sonst auch nirgends (außer vermutlich im einen oder anderen der Bücher über Val del Omar). Überhaupt ist die Entwicklung von Val del Omars Gedankenwelt für mich nur schwer greifbar, weil im Bonusmaterial alles nur angedeutet statt detailliert ausgeführt wird. Jedenfalls entwickelte er schon früh einen Hang zu einem christlich inspirierten und spezifisch spanischen Mystizismus, der sich wohl im Lauf der Jahre kontinuierlich verstärkte. Fasziniert war er beispielsweise vom Schweißtuch der Veronika, weil dabei ein Portraitbild ohne Mitwirkung eines Malers sozusagen von selbst entstanden war, worin er eine gewisse Parallele zum Medium Film sah. Er interessierte sich auch für die Schriften von Johannes vom Kreuz (Juan de la Cruz), einem spanischen Mystiker und Heiligen aus dem 16. Jahrhundert. Val del Omars generelle Tendenz wird im Bonusmaterial als "Meca-Mystizismus" bezeichnet, als Mystizismus mit "mechanischen" (also film- und tontechnischen) Hilfsmitteln.

FUEGO EN CASTILLA
Scheinbar diametral entgegengesetzt zu diesen spirituellen Interessen ist Val del Omars Begabung und Interesse für Film- und Tontechnik (zu der sich später auch Video- und Lasertechnik gesellten). Das lief von Anfang an parallel - schon seit den späten 20er Jahren entwickelte Val del Omar Geräte, Aufnahme- und Wiedergabeverfahren, neue Filmformate und dergleichen mehr. Er bekam etliche Patente zugesprochen, doch keine seiner Erfindungen wurde kommerziell verwertet. Leider bleibt auch auf diesem Gebiet das Begleitmaterial der DVDs recht vage, so dass ich schlecht abschätzen kann, welches Potential in diesen Erfindungen steckte. Ein technischer Spinner war Val del Omar aber auf keinen Fall. Er war Mitglied internationaler Technikervereinigungen, besuchte Kongresse im Ausland und hielt dort gelegentlich auch selbst Vorträge. Sein Schwiegersohn Gonzalo Sáenz de Buruaga führt die kommerzielle Erfolglosigkeit in einem Text im Booklet auf eine im franquistischen Spanien allgemein verbreitete Geisteshaltung zurück, komplizierte Technik lieber von bewährten Quellen im Ausland zu beziehen, statt sich entsprechende Entwicklungen selbst zuzutrauen. Val del Omar selbst soll die Vertreter dieser Haltung als "Nachäffer" bezeichnet haben.

FUEGO EN CASTILLA 
Zumindest einige seiner Erfindungen waren wohl auch ihrer Zeit voraus. So entwarf er schon 1951 in Vorwegnahme späterer Surround-Sound-Techniken eine Installation mit nicht weniger als 14 dreidimensional angeordneten Audiokanälen. Bereits 1944 bekam er ein Patent für "diaphonischen" Sound (diafónico), wie er es nannte. Dabei kam im Kinosaal ein Audiostrom wie gewohnt von vorne, ein zweiter dagegen aus der entgegengesetzten Richtung, also von hinten. Wenn ich die knappe Beschreibung richtig verstanden habe, dann war hier nicht ein realistischer Raumklang das Ziel, sondern es sollte die emotionale Wirkung des Gehörten auf das Publikum moduliert werden. Wenn es so etwas wie eine Generallinie in all diesen Erfindungen gibt, dann war es wohl der Wunsch nach einem "totalen", nach einem multisensorischen Kino, das nicht nur die Augen und die Ohren, sondern möglichst alle Sinne (und natürlich auch den Geist) anspricht. Tatsächlich trug er sich auch mit Gedanken für Geruchs- und Tast-Kino. In letztere Richtung geht auch seine Entwicklung der Táctil Visión, auch wenn dabei nicht wirklich taktile Reize übermittelt werden. Vielmehr geht es dabei darum, durch optische Tricks die dreidimensionale Form und die Oberflächentextur der abgebildeten Objekte besser erfassbar, sozusagen mit den Augen ertastbar zu machen. Dazu werden einerseits Streifen- oder Rautenmuster auf die Objekte projiziert, wodurch sich Bildeffekte wie in der Op Art ergeben, andererseits wird stroboskopische Beleuchtung eingesetzt.

FUEGO EN CASTILLA
In den 40er Jahren, als sich Val del Omar irgendwie mit dem franquistischen Regime arrangiert hatte, arbeitete er als fest angestellter Fotograf und Tricktechniker bei einem großen Filmstudio, was ihm ein geregeltes Einkommen sicherte, ihn aber nicht ausfüllte. Irgendwann fasste er den Entschluss, wieder unabhängig eigene Filme zu drehen, die einerseits seine spirituellen Neigungen widerspiegeln sollten, die andererseits aber auch als Vehikel für einige seiner Erfindungen dienen sollten. Und damit sind wir nun endlich bei den drei Filmen, die Val del Omars Hauptwerk bilden, und wegen denen er überhaupt von fortdauerndem Interesse ist. Jeder der Filme ist einem der klassischen "Elemente" gewidmet (Wasser, Feuer und Erde - die Luft bleibt hier außen vor), und sie bilden eine geographische Achse: Von Granada im Südosten Andalusiens über das kastilische Herz Spaniens bis zur Provinz Galicien im Nordwesten. Die Filme dauern 21, 17 und 23 Minuten, zusammen also ziemlich genau eine Stunde. AGUAESPEJO GRANADINO, was ungefähr "Wasser-Spiegel [man beachte die Schreibweise] von Granada" bedeutet, ist der Film über das nasse Element, und er verwendet (erstmalig) diaphonischen Ton. Gedreht wurde an verschiedenen Orten in und um Granada, vor allem aber in der Alhambra, dem Wunderwerk maurischer Baukunst, mit ihren Brunnen und Wasserspielen. Gelegentlich verselbständigt sich das Wasser zu einem fast abstrakten Fluidum, ähnlich wie in Ralph Steiners H2O oder auch in Kenneth Angers EAUX D'ARTIFICE. Gelegentlich sind Gebäude oder Menschen als Reflexion auf einer Wasseroberfläche zu sehen, was wiederum etwas an Kurt Steinwendners VENEDIG erinnert. In einer Sequenz, in der der Mond sozusagen seine sinistre Herrschaft ausübt, ist der ansonsten schwarzweiße Film grün viragiert, was ihn hier noch etwas näher an den blau viragierten EAUX D'ARTIFICE heranrückt. Insgesamt ist aber AGUAESPEJO GRANADINO deutlich vielgestaltiger als Angers eher monolithischer Film. Der Soundtrack besteht zu einem beträchtlichen Teil aus elektronisch verfremdeten oder vollständig elektronisch erzeugten Geräuschen. Es gibt auch etwas Flamenco zu hören, wobei aber jeder folkloristische Eindruck vermieden wird. Daneben wird sehr ausgiebig (für meinen Geschmack etwas zu ausgiebig) aus irgendeinem poetischen Text zitiert. In den anderen beiden Filmen ist der Text demgegenüber sehr stark reduziert, was mir besser gefällt.

FUEGO EN CASTILLA
FUEGO EN CASTILLA ("Feuer in Kastilien") etabliert von Anfang an eine dunklere Stimmung als der Vorgänger. Der Untertitel Táctil Visión del páramo del espanto bedeutet ungefähr "Tactilvision der Hochebene des Schreckens", und ein paar Gedichtzeilen von García Lorca evozieren Assoziationen an Blut und Tod. Technisch wartet der Film wieder mit diaphonischem Ton auf, vor allem aber, wie der Untertitel schon ankündigt, mit Táctil Visión. Und was hier geboten wird, ist frappierend. Als Anschauungsobjekte für die Technik dienen hölzerne Heiligenstatuetten, gedreht wurden diese Sequenzen in einem Museum für religiöse Skulpturen in Valladolid. Die schnell wechselnden unterschiedlichen Schwarzweißmuster, die als Schatten auf die Gesichter der Skulpturen projiziert werden, erzeugen ein ums andere Mal verblüffende bis atemberaubende Bildwirkungen. In Filmen, die vor der CGI-Ära entstanden, habe ich so etwas bisher noch nicht gesehen. Einzelne Screenshots können diese Effekte nur höchst unzureichend wiedergeben. Daneben werden weitere verfremdende Techniken genutzt, etwa stark verzerrende Linsen. Beim Soundtrack kommen wieder elektronische Töne reichlich zum Einsatz. Die düstere Stimmung des Films wird am Ende aufgehoben. Wieder sind poetische Zeilen zu hören, die aber diesmal die Macht des Todes negieren und die der Liebe dagegensetzen. Und dann kommt nach dem schwarzweißen Hauptteil des Films noch ein Epilog, der eine Blumenwiese in Farbe zeigt, wobei Blau und Orange dominieren - es sieht fast wie neumodisches Color Grading aus. Wie zuvor schon bei AGUAESPEJO GRANADINO wird auch hier am Ende SIN FIN eingeblendet - OHNE ENDE.

ACARIÑO GALAICO (DE BARRO)
ACARIÑO GALAICO (DE BARRO) schließlich bedeutet "Liebeserklärung an Galicien (Aus Lehm)". Auch hier gibt es wieder etwas Táctil Visión, aber weit gemäßigter als im Vorgänger, dafür mehr verzerrte Bilder sowie Negativaufnahmen. Mehrfach ist ein Mann mit lehmverkrustetem Gesicht im Bild, auch galicische Landschaften und sakrale Kunst und Architektur in Santiago de Compostela sind zu sehen. Die Aufnahmen entstanden 1961, doch dann brach Val del Omar die Arbeit am Film ab, weil er ihm in irgendeinem Sinn zu negativ war, und weil er glaubte, seine selbstgesteckten Ziele nicht erreichen zu können. Erst 1981 nahm er Schnitt und Vertonung von ACARIÑO GALAICO in Angriff, aber durch seinen Tod wurde er nicht damit fertig. 1982 hatte Val del Omar einen Verkehrsunfall, der zunächst glimpflich verlaufen zu sein schien, aber nach ein paar Tagen fiel er ins Koma, und einige Wochen später ist er gestorben. Endgültig fertiggestellt wurde ACARIÑO GALAICO (DE BARRO) erst posthum 1995. Vermutlich hätte Val del Omar auch diesem Film diaphonischen Sound verpasst, aber weil keine gesicherten Informationen darüber vorlagen, wurde er in Mono abgemischt.

ACARIÑO GALAICO (DE BARRO)
FUEGO EN CASTILLA wurde 1961 in Cannes gezeigt, und für seine optischen Effekte wurde ihm dort ein Preis verliehen. Ein Durchbruch zu internationalem Ruhm war das für Val del Omar aber nicht. Im Gegenteil, im Ausland war er bald wieder weitgehend vergessen. In den 20 Jahren zwischen den beiden Arbeitsperioden an ACARIÑO GALAICO beschäftigte er sich weiter mit seinen Erfindungen und Tüfteleien, finanziell unterstützt von Tochter und Schwiegersohn. In Madrid richtete er sich ein Labor ein mit dem Namen Picto-Lumínica-Audio-Táctil (PLAT), in dem er nach dem Tod seiner Frau auch wohnte und ein wohl etwas asketisches Leben führte. In Spanien bestand immer ein gewisses Interesse an ihm, das seit den 90er Jahren kontinuierlich anwuchs und in Filmen und Ausstellungen über ihn sowie den bereits erwähnten Büchern kulminierte. Das spanische Label Cameo, das auch die verdienstvollen DVD-Sets Del Éxtasis Al Arrebato und Cine A Contracorriente herausgebracht hat, veröffentlichte 2010 eine Box mit nicht weniger als fünf DVDs unter dem Titel Val Del Omar. Elemental De España, die alle erhaltenen Filme von Val del Omar sowie einige Bonusfilme enthält. Allerdings sind die DVDs nicht alle voll befüllt - man hätte das auch auf vier oder sogar drei DVDs unterbringen können. Wie schon von den anderen beiden Sets gewohnt, ist auch dieses zweisprachig in Spanisch und Englisch abgefasst. - FUEGO EN CASTILLA ist auch auf Del Éxtasis Al Arrebato enthalten.

ACARIÑO GALAICO (DE BARRO)
Erst spät hatte Val del Omar wohl die Eingebung, seine drei Hauptwerke formell zu einem Triptychon zusammenzufassen, wobei er auf die Idee kam, dass die Filme in der umgekehrten Reihenfolge ihrer Entstehung betrachtet werden sollten. Das wurde von seinen Nachlassverwaltern aufgegriffen, so dass heute die reverse chronologische Ordnung die kanonische ist. In Stein gemeißelt ist das aber nicht, so dass das Triptychon, das 1996 seine Uraufführung in kompletter Form erlebte, auch in anderer Reihenfolge angesehen werden kann. Wie auch immer man die Filme sieht - gemeinsam durchzieht sie eine seltsam dräuende, rätselhafte Atmosphäre, und sie künden von einem für mich ebenso faszinierenden wie enigmatischen Regisseur.

José Val del Omar und seine Frau María Luisa Santos (Privatfilm von Val del Omar, 30er Jahre)

Mittwoch, 12. März 2014

Aufzeichnungen zu einem verkannten Meisterwerk: MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN („Jagd auf einen Unsichtbaren“)
USA / Frankreich 1992
Regie: John Carpenter
Darsteller: Chevy Chase (Nick Halloway), Daryl Hannah (Alice Monroe), Sam Neill (David Jenkins), Michael McKean (George Talbot), Stephen Tobolowsky (Warren Singleton), Gregory Paul Martin (Richard)


Ein post-alkoholisches Intoxikations-Syndrom ist am einfachsten zu Hause, sitzend oder liegend durchzustehen. Aber wo wäre da die Herausforderung? Nick Halloway jedenfalls sitzt den größten Kater, den er jemals hatte, früh morgens in einer wissenschaftlichen Physik-Tagung (zu deren primären Zielgruppe er nicht gehört) aus. Den Sekundenschlaf will er in der Sauna eines Verwaltungsbüros auskurieren – nur für ein paar Minuten. Als er später aufwacht, ist der größte Teil des Gebäudes um ihn herum verschwunden und er selbst unsichtbar geworden. Aus dem langweiligen Finanzanalysten ist der unsichtbare Mann geworden, der vor dem skrupellosen CIA-Agenten David Jenkins fliehen, nebenbei mit dem Leben als Unsichtbarer klar kommen und zugleich irgendwie die schöne Alice (wegen der er sich ursprünglich betrunken hatte) zurück erobern muss...

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN war sowohl beim Publikum wie auch bei den meisten Kritikern ein fulminanter Flop. Nicht einmal die Hälfte seines Budgets von 40 Millionen Dollar spielte er wieder ein. Stattdessen kassierte er saftige Verrisse. Die Zusammenführung von Exploitation-Meister John Carpenter und Klamauk-Komiker Chevy Chase in ein und demselben Film erschien vielen unpassend.

Memoirs of an Invisible Man isn't a movie. It's an identity crisis. The previews would have you believe it's a zany comedy. But the jokes are too far and few between. And if it's a comedy, why is John Carpenter directing it? This is the man who did Halloween... if Memoirs wants to get serious, why is Chevy Chase in the lead?“

war im Washington Post zu lesen. Das drückt ein ernsthaftes Erwartungsproblem aus: weder Carpenter- noch Chase-Fans bekamen, was sie sich erhofft hatten – und die meisten anderen waren überall dazwischen, außer im grünen Bereich. So sagte ein US-Kritiker, Carpenter sei offensichtlich von Aliens entführt und durch eine seelenlose Imitation seiner selbst ersetzt worden, die den Film gedreht habe. MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN wurde als Mediokrität, als Genre-Mix ohne Kohäsion, als selbstzweckhaftes Spezialeffekt-Spektakel ohne richtiges Drehbuch und Charaktere, als kommerzieller Ausverkauf geschimpft. Auch in Deutschland kam der Film größtenteils nicht viel besser weg. Aber Carpenter hat einmal über sich selbst gesagt: „In France, I'm an auteur; in Germany, a filmmaker; in Britain; a genre film director; and, in the USA, a bum.“ So wurde sein Film dann auch in den Cahiers du cinéma gelobt:

„Der Film wäre nichts ohne Carpenters Stil, der in meinen Augen unnachahmbar und blendend ist: eine Figur durchquert die Straße in einer Totalen, der unsichtbare Mann wird im Regen lichtdurchlässig, oder die langen Verfolgungsjagden in den verlassenen Straßen San Franciscos. So viele Einstellungen, die aus Carpenter einen der letzten großen Stilisten Hollywoods machen, im besten Sinne des Wortes. Er nimmt das Kino ernst, ohne jemals das Bewusstsein darüber zu verlieren, was für ein leichtgewichtiges Thema er hier behandelt. Das reicht, um Memoirs Of An Invisible Man zu einem der verspieltesten, anregendsten und intelligentesten Filme zu machen, die uns das amerikanische Kino in letzter Zeit hat sehen lassen.“

Das schrieb Nicolas Saada (später selber Filmemacher) im Leitmedium der französischen Filmkritik. Recht hat er: MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist einer der sträflich unterschätztesten Filme Carpenters, und meiner Meinung nach auch einer seiner besten. Es besteht (für mich) kein Zweifel: Dieser Film wurde von einem Meisterregisseur im vollsten Besitz seiner Kräfte und Könnerschaft realisiert – auch wenn dieser sich selbst von dieser faktischen Auftragsarbeit (ursprünglich sollte Ivan Reitman Regie führen) distanziert hat, als er ihr den üblichen Zusatz „John Carpenter‘s“ vor dem Titel verweigerte.

Mit einem Mix aus erstaunlicher Erzählökonomie und ausdrucksstarken Bildern arbeitet MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN sein rasantes Drehbuch ab. Keine Schnörkel, nichts Überflüssiges. Ein perfekter Aufbau, makellos durchgeführt. Vom ersten Bild (ein atemberaubender langsamer Kamera-Schwenk über die Skyline San Franciscos) bis zu den End-Credits. Der vielschichtige Umgang mit dem Protagonisten, also mit dem unsichtbaren Mann, ist wohl der größte Genie-Streich des Films: Carpenter macht das Unsichtbare sichtbar. Gerade das wird immer wieder bemängelt, weil das angeblich vor allen Dingen Ausdruck davon sei, dass man den Star des Films immer zeigen „müsse“. Man sähe halt Chevy Chase zu oft. Das kann sicherlich gut sein, und ganz bestimmt standen dahinter auch ganz pragmatische Budget-Überlegungen zur Einsparung von Spezialeffekten (MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN war mit 40 Mio. Dollar damals im gehobenen Budget-Mittelsektor – inflationsbereinigt wäre er heute sogar im hinteren Mittelfeld).

Das Zeigen oder Nichtzeigen des Protagonisten – und die vielen Zwischenstufen: partielles Zeigen oder Verfolgung der Kamera im „leeren“ Raum oder Zeigen von Nicks Einwirkungen oder Einnahme von Nicks point-of-view (letzteres auffällig verschwommen und weichgezeichnet – damit quasi als Traum codiert): damit spielt Carpenter sehr bewusst. Geschickt jongliert er mit dem Wissensvorsprung der Zuschauer, und den Wissenslücken der (sichtbaren) Film-Figuren. So erzeugt er in einer klassischen Hitchcock‘schen Weise Spannung, die sich des öfteren humorvoll entlädt. Darin ähnelt MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN dem vier Jahre zuvor entstandenen THEY LIVE, steht jedoch im Gegensatz zu noch früheren Filmen wie ASSAULT ON PRECINCT 13 oder HALLOWEEN, wo die meiste Zeit Wissensgleichheit zwischen Figuren und Zuschauer herrschte. Das Spiel mit dem Sichtbaren und dem Sichtbarmachen durchzieht den kompletten Film und fordert dabei den Zuschauer stets dazu auf, sich die Illusion der Unsichtbarkeit mitzudenken – MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN mag möglicherweise ein ziemlich dummer Film sein, aber zu keinem Moment hält er die Zuschauer für dumm.

Vielleicht demonstriert dies am deutlichsten die kleine und unscheinbare Szene mit dem Lieferanten: ein junger Mann bringt Lebensmittel vorbei, stellt diese auf den Küchentisch ab, wo er eine Abwesenheitsnotiz findet und daraufhin fängt er an, sich im Haus nach Wertgegenständen umzuschauen. Ist Nick abwesend? Wir wissen es zunächst nicht. Bis ein Kameraschwenk uns verrät, dass er da ist, den Lieferanten skeptisch beobachtet und ihm schließlich folgt. Als der Mann weiterhin in Wertgegenständen wühlt, flüstert ihm Nick von der Seite etwas zu, worauf dieser panisch flieht. Eine sehr schlichte und einfach, aber dennoch sehr effizient gefilmte Szene: ein eigener Act mit dramatischem Spannungsaufbau (der Lieferant weiß nicht, dass Nick da ist, aber wir) und eine kleine Szene, die in nicht einmal zwei Minuten sehr viel über die informellen, aber sehr mächtigen Kontrollfähigkeiten des unsichtbaren Nick.

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist zwar ein Multi-Genre-Film, leidet jedoch nicht eine Sekunde lang an Dissonanzen, wie sie zum Beispiel im oben genannten Zitat aus dem Washington Post erwähnt wurden: die Tonalitäten der verschiedenen Genres gehen flüssig ineinander über.

Natürlich ist MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN zunächst ein Science-Fiction-Film. Als solcher wurde er auch vielfach aufgrund seiner vermeintlichen Logiklöcher kritisiert: in einem Beitrag fragte jemand danach, warum man denn eigentlich den Dreck, der sich unter Nicks Fingernägeln sammelt, nicht sähe. Wie kleinlich. Natürlich sieht man den Mageninhalt Nicks, als er zum ersten Mal nach dem „Unfall“ isst (was zur vielleicht witzigsten Kotz-Szene der Filmgeschichte führt) – und später nicht mehr. Aber die Form folgt hier tatsächlich der Funktion: es geht in dieser ersten Szene darum, das Unbehagen eines Mannes mit seinem „neuen Körper“ darzustellen. Später hat er sich gewöhnt. Dogmatische Glaubwürdigkeitsfragen stünden hier nur der innerlich logischen Weiterentwicklung des Films im Wege.

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN auch ein Neo-Noir, und zu Beginn eine direkte Hommage an DOUBLE INDEMNITY: jeweils ein körperlich angeschlagener Mann zeichnet in einer Art Geständnis seine kürzlichen Erlebnisse auf. Und hinter dieser Aufzeichnung steht ein zunehmend desillusionierter Mann, der aus dem Off verbittert, fast zynisch seine eigenen Handlungen kommentiert. Inwiefern allerdings Alice als „femme fatale“ zu bezeichnen ist, sei dahingestellt (ich denke, eher nicht). Allerdings ist sie auch keine archetypische „Hawks‘ianische Frau“.

Vielmehr ist sie tatsächlich das Objekt einer Romanze, einer tragikomischen Liebesgeschichte, die den Film ebenso vorantreibt wie das Problem der physischen Unsichtbarkeit. Es ist eine Liebe auf den ersten Blick, die sich in eine Liebe des unmöglichen Blicks verwandelt: Nick kann Alice in die Augen schauen, aber nicht umgekehrt – zumindest nicht ohne Hilfsmittel. Die trotz aller Verrisse vielgelobte „Regen-Szene“ ist daher nicht nur ein toller und geradezu poetischer Special-Effect. Der Regen führt auch dazu, dass Alice dem unsichtbaren Mann erstmals richtig in die Augen schauen kann. Vielleicht ist das auch ein Wendepunkt in der Entwicklung der Nick-Figur.

Genauso wie dem Film vorgeworfen wurde, ein Science-Fiction-Film zu sein, wurde ihm auch vorgeworfen, eine Komödie zu sein und trotzdem von John Carpenter inszeniert worden zu sein. Ein hanebüchener Vorwurf: sind doch all seine Filme von Humor durchzogen (zugegeben der schwarzen und teils sehr brutalen Art) und war doch DARK STAR eine Art „gebrochene“ Slapstick-Komödie im Weltall. In MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN manifestiert sich der Slapstick in Form der schwierigen körperlichen und akrobatischen Herausforderungen, die das Leben als Unsichtbarer mit sich bringt. Herausforderungen wie zum Beispiel nachts ein Taxi zu bestellen (nämlich mit einem betrunkenen Mann als Hilfsmittel).

Freilich beherrscht Carpenter nicht nur Slapstick. Die Episode in Georges Haus lässt sich assoziativ als eine Art „gebrochene“ Woody-Allen-Komödie sehen: gutbürgerlich-neureiche Mittelschicht lässt sich bei einem Glas Wein über allgemeine und persönliche Befindlichkeiten aus, und diskutiert dabei über das Schicksal einer abwesenden Person, führt einen Diskurs über sie, na ja: lästert hauptsächlich über sie und verrät damit die allgemeine Flüchtigkeit der zwischenmenschlichen Bindungen, die Nick bis zum Unsichtbarsein pflegte – nur ist eben die diskutierte Person nur scheinbar abwesend.

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist nicht zuletzt auch eine milde Yuppie-Satire. Als Finanzanalyst ist Nick Halloway eigentlich ein eher unwahrscheinlicher Held für einen Film des dezidiert linken Alt-68er-Regisseurs Carpenter. In THEY LIVE (übrigens ein weiterer sträflich unterschätzter Film des Meisters) wäre er wahrscheinlich einer der kapitalistischen Aliens in Nadelstreifen-Tarnanzug gewesen. Zu Beginn hat Nick einen hervorragend bezahlten Job, eine schicke Wohnung, einen leichten und oberflächlichen Lebensstil. Er besucht regelmäßig einen Gentleman-Club für Neureiche, die sich ihres sozialen Status selbst vergewissern wollen (und wo der Barkeeper wohl Billig-Wodka in teuere Flaschen umfüllt). Viel Schein und wenig Sein. Im Rest des Films dreht sich diese Situation allmählich um. Nick hat seinen ganzen Schein verloren – wortwörtlich. Und findet sein Sein. Aber nicht sofort, denn das wäre ja zu einfach. Nach dem „Unfall“, in einer Situation existientieller Bedrohung, flieht er zunächst an bekannte Orte und denkt weiterhin den Kategorien, die er kennt. Daher kommt auch seine Absicht, sozial zurückgezogen ein Leben als millionenschwerer Börsenspekulant aufzubauen (so endet offenbar auch die gleichnamige Romanvorlage H. F. Saints aus dem Jahr 1988). In Georges Haus, und als er merkt, was Alice ihm bedeutet, denkt er schließlich doch um, und wandelt sich. Wird zum Menschen – auch „ohne“ Körper, ohne Schein. Aus dem Finanzanalysten Nick ist im Verlauf des Films ein Mensch geworden, der am Ende den 68er-Traum des „Aussteigers“ lebt (freilich in den Schweizer Alpen und nicht auf der „üblichen“ einsamen Insel). MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN glaubt an die Veränderlichkeit des Menschen, oder zumindest mancher Menschen, und ist damit die mildere „humanistische“ B-Seite des „zynischen“ THEY LIVE, wo die Kategorie (Un-)Sichtbarkeit bereits eine wichtige Rolle spielte.

Jetzt sind wir eigentlich schon bei der Frage, inwiefern der Film mehr als nur eine Sci-Fi-meets-Agenten-Gaudi ist. Abwegige Deutungsangebote gefällig? Wie wäre es damit: ein Film über prekäre Männlichkeit! Immer wieder entspinnt MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN fantastische Bedrohungsszenarien um die Hoden der männlichen Protagonisten. Verliert Nick mit seiner Sichtbarkeit auch seine Männlichkeit? Eine seiner ersten und dringendsten Ängste (er äußert sie, als er am „Unfallort“ in Ohnmacht fällt und kurze Zeit später abtransportiert wird) besteht jedenfalls darin, dass seine Eier bald in einer Petrischale landen könnten (O-Ton). Wem das nicht deutlich genug ist, sieht diese Angst in Nicks Traum manifestiert: sein Ruhmes-Traum (er ist sichtbar und ein allgemein beliebter Musik- und Sportstar) verwandelt sich in ein Alptraum, als Nick sich vor Alice auszieht und dabei offenbart, dass sein Geschlecht (noch?) unsichtbar ist. Jenkins (der am Ende dieses Traums auch plötzlich auftaucht) denkt ebenfalls in Hoden-Kategorien und bedroht seinen formellen Vorgesetzten Warren Singleton damit, dessen Testikeln in das Mittagessen seines bevorzugten Schlägers Morrissey zu verwandeln. Jedenfalls hat Nick, nachdem er seine Identität als oberflächlicher Yuppie abgelegt hat, schließlich seine Männlichkeit wieder gefunden und ein Kind gezeugt (der vielgescholtene Epilog erscheint so durchaus konsistent mit dem vorangegangenen).

Ohne MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN all zu sehr in ein Korsett der Aktualität pressen zu wollen: er ist sicherlich auch ein Film über die Möglichkeiten und Gefahren staatlicher Überwachung. Schließlich zeigt er die Konfrontation zwischen einem Agenten, der alles komplett unter Kontrolle und Überwachung halten möchte (es aber nicht kann und deshalb regelmäßig zu tödlicher Gewalt greift), und einem Unsichtbaren, der kraft seines physischen Zustands manchmal freiwillig, die meiste Zeit aber unfreiwillig zum Überwacher wird (und dem wir dann bei diesem Überwachen auch zusehen können, dürfen und müssen). Ein Film der überkreuzten Überwachungen, sowohl auf staatlicher wie auf privater Ebene. In letzterer verwandelt sich die besondere Beobachtungsgabe in Voyeurismus, und in diesem Bereich ist Nick dann auch durchaus überwachungsfreudiger: als er sich in Alices Zimmer befand und sie sich auszog, habe er sich bestimmt die Hände vor die Augen gehalten, versichert ihr Nick...

Howard Hawks abgöttisch zu lieben hindert nicht daran, Alfred Hitchcock ausgiebig zu huldigen und bei Carpenter sind das stets zwei Ergänzungsoptionen, und keine Gegensätze. MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist nicht nur ein sträflich unterschätzter Film, sondern auch eine vergessene Perle unter den vielen Hitchcock-Hommagen-Film dieser Welt. Er wurde schon als Carpenters persönlicher NORTH BY NORTHWEST bezeichnet, mit Chevy Chase als Cary Grant, Daryl Hannah als Eva Marie Saint und Sam Neill als James Mason. Die Darsteller-Analogien passen vielleicht weniger gut als die Ähnlichkeiten in Erzählform und Geschichte: Carpenters Film ist ebenso eine furiose Hetz-Jagd nach einem (hier: wörtlich) unsichtbaren Mann. Wie in einem guten Hitchcock ist die Hauptfigur kein Held, sondern ein „gewöhnlicher“ Mann, der in widrige Umstände gerät und von Kräften verfolgt wird, die er nicht kontrollieren kann. Wie oft bei Hitchcock gibt auch in MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN einen (sexuell aufgeladenen) Voyeurismus. Vielleicht ist es kein Zufall, dass in seinem unterschätztesten Film Carpenter eine Einstellung aus einem oft vergessenen, weil angeblich so „untypischen“ Hitchcock-Film, namentlich THE WRONG MAN, nachgestellt hat: das Gesicht einer unschuldigen Person verliert sich im Gesicht eines Verbrechers. Bei Hitchcock ist es ein Szenen-Übergang, bei Carpenter eine reflektierende Zugabteil-Scheibe. (Die Einstellung muss nicht nur als Spielerei abgetan werden: verschmelzen doch die Gesichter zweier Personen, die auf sehr dringliche, freilich aber verschiedene Weise Nick begehren)


Bei allen Meriten, die MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN sowieso hat, sollte man nicht vergessen, dass er auch ein hervorragender Schauspieler-Film ist. Den Unkenrufen zum Trotz: Chevy Chase passt perfekt in der Rolle als unsichtbarer Mann und die Chemie mit Daryl Hannah hat zumindest mich überzeugt. Die Unsicherheit, die Hannah teilweise ausstrahlt, kann man natürlich als Schwäche kritisieren, oder aber als glaubwürdige Erdung der Alice-Figur sehen (die eben keine unnahbare „Hitchcock-Blondine" ist, sondern eine Frau mit beiden Füßen auf dem Boden). Sam Neill, damals noch relativ unbekannt – JURASSIC PARK kam ein Jahr später raus –, spielt einen herrlich schmierigen Bösewicht, dem man seine Charme-Offensiven fast glauben möchte: dieses „fast“, das immer durch seine unangenehme und bedrohliche Erscheinung zerstört wird, kriegt er wunderbar hin! Seit jeher komme ich persönlich auch nicht darum herum, Michael McKean in der Rolle George Talbots herrlich komisch zu finden. Nur durch seine Äußerlichkeit: seine entfernte Ähnlichkeit mit einem gewissen langjährigen Premierminister Großbritanniens ist faszinierend.

Vier Facetten des Gregory Paul Martin
Das schauspielerische Sahnehäubchen des ganzen Films bildet jedoch der charismatische Gregory Paul Martin in seiner Rolle als Richard. Diese Figur wird vom Talbot-Ehepaar zusammen mit Alice zu einem Kurz-Urlaub in Georges Wochenendhaus eingeladen – offenbar ist der Hintergedanke dabei, dass Richard eine potentiell gute Partie für Alice sein könnte. Der Aufschneider, der große Töne schwingt, sich gerne in den Mittelpunkt stellt und für absolut toll hält, denkt das wohl auch. Aber daraus wird nichts. Denn schnell wird deutlich, dass sich hinter der Fassade eine gebrochene und fast lächerliche Figur verbirgt. Ein Style-Proll als Yuppie bzw. Yuppie als Style-Proll, dem Carpenter in THEY LIVE wahrscheinlich gnadenlos Nada auf den Hals gehetzt hätte, hier aber letztendlich doch irgendwie sympathisch ist (wenn auch nicht aus den Gründen, die Richard selbst denkt). Es ist eine ziemlich undankbare Rolle, die der Brite Gregory Paul Martin mit großer Bravour und einer „powerful commanding voice“ (O-Ton imdb: sehr treffend!) spielt. Im richtigen Leben scheint Martin ebenfalls ein Original zu sein. Er ist der Sohn des Musik-Produzenten und von manchen Leuten als „fünfter Beatle“ bezeichnete George Martin und ist von Haus aus Theaterschauspieler. Er besuchte Klassen zusammen mit Alan Rickman und stand auf der Bühne neben Daniel Day-Lewis und Ian McKellen. Zu sehen war er auch vor allen Dingen in US-amerikanischen TV-Serien. Daneben hat er auch einige Drehbücher verfasst, ein Bio-Lebensmittelunternehmen lanciert und sich als Astrologe betätigt (ist an einer Stelle die Aufforderung von Georges Frau an Richard, sein Ouija-Brett zu holen und eine Scéance zu halten, vielleicht eine Anspielung darauf?).

Was wäre aber auch ein Carpenter-Film ohne Carpenters Musik? Auch auf diese Frage hat MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN eine klare Antwort: es geht auch ohne den musikalischen Beitrag des Meisters selbst. Komponistin Shirley Walker hat, wenn man imdb glauben will, eine Premiere gefeiert: es war der erste Hollywood-Film mit einem komplett von einer Frau komponierten Orchester-Soundtrack. Später komponierte sie für Carpenter auch die Musik zu ESCAPE FROM L.A. und erreichte ein wesentlich größeres Publikum mit der FINAL DESTINATION-Reihe. Elektronischer Minimalismus à la früher Carpenter war ihr jedoch nicht gänzlich unbekannt: Ihren ersten Film-Credit hat sie als Synthesizer-Spielerin für APOCALYPSE NOW. Wenn sie nicht komponierte, wirkte sie als Dirigentin bei anderen Scores mit (z. B. Burtons BATMAN, BLACK RAIN, DAYS OF THUNDER, CHILD‘S PLAY 2, EDWARD SCISSORHANDS, BATMAN FOREVER). 2006 verstarb Walker mit nur 61 Jahren. Ihr wunderbarer Score für MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN bringt einen Hauch Pathetik, vor allen Dingen unterstützt er aber trefflich die Spannung der Bilder. Er ist dabei weniger hart und rhythmisch pointiert als Bernard Herrmanns Hitchcock-Arbeiten.

Es ist gut möglich, dass ich nunmehr bei MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN schon im zweistelligen Sichtungsbereich liege. Mit jeder weiteren Sichtung verliert der Film nicht nur nichts, sondern gewinnt vielleicht sogar an Wertschätzung meinerseits. Unter anderem diese wollte ich mit dieser Besprechung auch ausdrücken (und die „Aufzeichnungen zu einem verkannten Meisterwerk“ als potentielle Reihe im Blick behalten). Sie ist auch ein Aufruf dazu, gegenüber Sick Boys Lebenstheorie aus TRAINSPOTTING („at one point you've got it, then you lose it, and it's gone forever“) skeptisch zu sein und mit offenen Augen vermeintlich schlechte und nichtige „Spätwerke“ zu entdecken.


MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist zwar wie gesagt kein allgemein geliebter Film, aber dennoch in zahlreichen DVD-Editionen in Deutschland, Frankreich, UK und USA gut erhältlich.

Freitag, 21. Februar 2014

Das Salz des Meeres

Margot Benacerraf und ARAYA

REVERÓN
Venezuela 1952
Regie: Margot Benacerraf

ARAYA
Venezuela/Frankreich 1957/59
Regie: Margot Benacerraf
Darsteller: Familie Pereda, Familie Salazar, Familie Ortiz, weitere Laiendarsteller
Sprecher: Laurent Terzieff (franz. Fassung), José Ignacio Cabrujas (span. Fassung)

ARAYA
Das filmische Œuvre der 1926 in Caracas geborenen und dort aufgewachsenen Margot Benacerraf ist ausgesprochen übersichtlich: Gerade mal zwei fertiggestellte, dazu ein unvollendeter und leider verschollener Film, den sie mit Pablo Picasso drehte. Und doch nimmt sie in der venezolanischen - und darüber hinaus in der lateinamerikanischen - Filmgeschichte einen besonderen Rang ein. - Araya ist eine abgelegene Halbinsel im Nordosten Venezuelas, nicht allzu weit von Trinidad entfernt. Doch karibisches Flair gibt es hier nicht. Im Gegenteil - es ist ein öder, von der Sonne ausgedörrter Landstrich, in dem außer Kakteen, harten Gräsern und etwas Gehölz nichts wächst. Doch es gibt einen natürlichen Schatz: In einer flachen Lagune entsteht durch Verdunstung von Meerwasser Salz in rauen Mengen. Die Spanier entdeckten den Ort um 1500, und damals, als Salz mit Gold aufgewogen wurde, wurden hier enorme Reichtümer abtransportiert. Zum Schutz vor Piraten errichteten die Spanier eine gewaltige Festung - angeblich die zweitgrößte in der ganzen Karibik -, und Araya war (als einziger Ort im Gebiet des heutigen Venezuela) auf allen Karten Westindiens verzeichnet. Die Festung ist längst eine Ruine, doch das Salz wird immer noch abgebaut - und zwar 1957, als ARAYA gedreht wurde, mit weitgehend denselben Methoden wie seit 450 Jahren. Margot Benacerraf hat ihren Film über die Menschen und mit den Menschen gedreht, die an diesem unwirtlichen Ort leben, und sie hat ihnen damit ein Denkmal gesetzt.

ARAYA: Wir befinden uns nicht in Gizeh, sondern in Venezuela
Am modernsten war damals noch der Abtransport des Salzes: in Säcken auf den Ladeflächen offener Trucks zu einem nahegelegenen Hafen. Doch der Rest war Handarbeit. Das Salz wurde in Form großer poröser Platten mit den Händen direkt aus dem nicht einmal knietiefen Wasser der Lagune geholt, in kastenförmigen Kähnen verstaut, mit Stangen zu grobkörnigen Kristallen zerstoßen und noch einmal mit Meerwasser überspült, um es zu reinigen. Dann wurde es an Land gebracht und zum Trocknen ausgebreitet. Nach einem Tag schließlich wurde es mit Schubkarren und auf den Köpfen getragenen Körben zu teilweise riesigen Pyramiden aufgeschichtet. Die kleinsten wirtschaftlichen Einheiten dabei waren die Familien der Salzarbeiter (Salineros), die jeweils auf eigene Rechnung arbeiteten. Dabei gab es eine Arbeitsteilung nach verschiedenen Schichten, ein Teil der Arbeit wurde nachts verrichtet.

ARAYA
ARAYA ist keine Dokumentation im engeren Sinn, bei der eine vorgefundene Realität einfach abgefilmt wird, sondern ein nach einem detaillierten Drehbuch sorgfältig inszenierter Film. Schon vor Beginn der Dreharbeiten verbrachte Margot Benacerraf einige Zeit vor Ort, um sich mit den Bedingungen vertraut zu machen und das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, dann schrieb sie das Drehbuch, das dem Verlauf von 24 Stunden an einem der immer gleichen Tage folgt. Es beginnt mit einer kurzen Exposition, in der die Elemente - Himmel, Meer, die trockene Erde - wortlos vorgestellt werden; in der Mitte des Films (zugleich Mittagszeit des Tages) und am Ende gibt es vergleichbare Sequenzen. Danach folgt eine kurze Einführung in die Geschichte des Ortes, und der Rest des 82-minütigen Films ist einem Tag im Leben der Bewohner gewidmet, von 6 Uhr morgens bis in die Nacht hinein. Benacerraf bedient sich dabei dreier Familien aus drei verschiedenen Dörfern der Halbinsel.

ARAYA
Beltrán Pereda und seine Familie aus Manicuare verrichten die Nachtschicht, die bis 9 Uhr vormittags hinein dauert, tagsüber schlafen sie dann. Die jüngsten Söhne der Familie, die auch schon mitarbeiten müssen, sind noch keine 10 Jahre alt. Beltráns Schwester Luisa ist die beste Töpferin im Ort - und wie die anderen Frauen der Gegend hat sie noch nichts von der Töpferscheibe gehört. Dámaso Salazar und seine Söhne aus dem Dorf Araya am anderen Ufer der Lagune arbeiten tagsüber, von Sonnenauf- bis -untergang; Dámasos Frau Petra ist am Fuß der Pyramiden beschäftigt, wo das Salz mit Schaufeln in die Säcke befördert und abgewogen wird. In El Rincón, das nicht an der Lagune, sondern am offenen Meer liegt, leben keine Salineros, sondern Fischer, darunter Adolfo Ortiz vom Boot La Sensitiva. Auch er arbeitet hauptsächlich nachts. Adolfos Frau Isabel zieht tagsüber in den Dörfern der Salineros von Haus zu Haus, um die gefangenen Fische zu verkaufen; abends muss sie noch ins Gestrüpp, um den knorrigen Bäumen etwas Brennholz abzuringen. Ein unbeschwertes Leben hat (noch) Carmen, die kleine Tochter von Adolfo und Isabel. Sie sammelt am Strand Muscheln und Korallen, um damit mit ihrer Großmutter Gräber auf dem Friedhof zu schmücken - Blumen wachsen hier nirgends. Die Fischer von El Rincón und die Salineros leben in einer Symbiose - die einen beschaffen die Hauptnahrung für alle, die anderen liefern das Salz, mit dem die Fische haltbar gemacht werden. Autark ist die Gemeinschaft dennoch nicht: Trinkwasser wird in regelmäßigen Abständen von einem Tankwagen angeliefert. Verteilt wird es unter Aufsicht der ältesten Frau im Dorf nach einem Schlüssel, der sich nach der Anzahl der Familienmitglieder bemisst. ARAYA folgt in einem sorgfältig abgewogenen Rhythmus dem Lauf des Tages, zwischen den drei Familien wechselnd. Die nötigen Informationen übermittelt der Film nicht durch Dialoge, sondern mittels eines in sehr poetischer Sprache gehaltenen Off-Kommentars.

ARAYA: Petra Salazar beim Wiegen des Salzes
Gegen Ende des Films bricht die Dunkelheit herein. Adolfo Ortiz und die anderen Fischer stechen wieder in See, die Salazars gehen zu Bett, und für die Peredas beginnt eine neue Schicht, wodurch sich der Zyklus schließt. Als Zuschauer zieht man jetzt vielleicht schon ein Fazit dieses wunderbaren Films - da wird man von einer Serie von Sprengungen aus seiner Kontemplation gerissen, und schwere Baumaschinen rücken ins Bild. In Araya wird das Salz zukünftig mit industriellen Methoden abgebaut werden. Wie wird sich das auf die Lebensweise der alteingesessenen Bevölkerung auswirken? Werden die Salineros ein leichteres Leben haben, und werden alte Bräuche und die seit Jahrhunderten tradierten Lieder überleben? Das Voice-over formuliert das am Ende des Films noch als Frage, aber natürlich hat die Geschichte längst die Antwort gegeben: ARAYA beschreibt eine untergegangene Welt. Die Industrialisierung hat der Gegend keinen allgemeinen Wohlstand beschert, nur ein kleiner Teil der Männer wurde weiterhin beschäftigt, und die meisten sind weggezogen, um sich woanders Arbeit zu suchen. Die Erträge an Salz sind auch nicht so gestiegen wie seinerzeit erhofft: Ein Teil der damals errichteten Maschinen steht längst still und wird vom Salz zerfressen. Allerdings muss man nicht allen Aspekten dieser vergangenen Welt nachtrauern. Der Kommentar des Films mag poetisch sein, aber romantisch verklärend ist er nicht. Es wird sehr deutlich gemacht, dass es sich bei der Arbeit der Salineros um eine nicht endende Plackerei handelt. Der Schweiß floss in Strömen, der intensive Kontakt mit dem Salz führte häufig zu Wunden und Hautgeschwüren, und die Entlohnung war mehr als dürftig. Sozialkritisch im engeren Sinn ist ARAYA aber nicht. Dass es irgendwo auch Großhändler oder Konzerne geben musste, die durch das Schuften der Salineros reich wurden, kann man sich zwar denken, aber zur Sprache gebracht wird es im Film nicht. Es hätte auch schlecht ins Konzept eines poetischen Filmessays gepasst, der vor allem die Würde der Menschen von Araya betont.

ARAYA
Wie schon angemerkt, ist ARAYA ein sorgfältig durchinszenierter Film. Kaum eine Szene wurde "einfach so" abgefilmt, sondern immer gab es Regieanweisungen für die Darsteller. Bei den Familien hat Margot Benacerraf auch ein bisschen manipuliert: So war Carmen nicht wirklich die Enkelin von Großmutter Salazar, und Fortunato Pereda und eine junge Frau, die im Film ein Liebespaar sind, konnten sich in Wirklichkeit nicht ausstehen. ARAYA steht somit ein bisschen zwischen den Genres. An Vorläufern kann man einerseits Dokumentationen wie Luis Buñuels LAS HURDES und die Filme von Robert Flaherty ausmachen, insbesondere Flahertys MAN OF ARAN, andererseits mit Laiendarstellern gedrehte neorealistische Spielfilme wie etwa Viscontis LA TERRA TREMA. Margot Benacerraf hat sich wiederholt dagegen gewehrt, ARAYA als Dokumentation zu bezeichnen. Dem kann man aber nur zustimmen, wenn man diesen Begriff sehr eng definiert. Beispielsweise hat gerade Flaherty, der oft als Vater des Dokumentarfilms bezeichnet wird, auch kräftig manipuliert und inszeniert. In MAN OF ARAN etwa hat er aus echten Inselbewohnern eine fiktive Familie zusammengestellt, die nach seinen Regieanweisungen agiert, und er hat die Männer von Aran sogar animiert, eine seit vielen Jahren aufgegebene Tradition (nämlich die Jagd auf Riesenhaie von Ruderbooten aus) für den Film wieder aufzunehmen. In den sich steigernden Spannungsbögen dieses Films ist auch eine sorgsame Konstruktion des Gesamtaufbaus erkennbar. Wenn man akzeptiert, dass Dokumentarfilme immer ein gewisses Maß an Manipulation enthalten, mit einer großen Bandbreite im Ausmaß - Direct Cinema und Cinéma vérité am einen Ende des Spektrums, und Flaherty am anderen -, dann ist auch ARAYA ein Dokumentarfilm, natürlich am Flaherty-Ende. An Nachfolgern von ARAYA ist vor allem Glauber Rochas erster Spielfilm BARRAVENTO zu nennen. Rocha war 1959 als Journalist bei den Festspielen in Cannes, wo ARAYA Premiere hatte, anwesend. Er bewunderte den Film sehr und befreundete sich mit Benacerraf. Später hat Rocha mehrfach betont, dass ARAYA als eine Inspiration für das brasilianische Cinema Novo gedient hat. Ich fühlte mich auch etwas an Kaneto Shindōs DIE NACKTE INSEL erinnert, auch wenn der meines Wissens nicht von ARAYA beeinflusst wurde.

ARAYA
Margot Benacerrafs Eltern waren sephardische Juden aus dem Teil Marokkos, der spanisches Protektorat war. Nicht weniger als drei ihrer Onkel waren mit Französinnen verheiratet, deshalb lebte ein Teil ihrer Verwandtschaft in Frankreich. Der Medizin-Nobelpreisträger Baruj Benacerraf und der Mathematiker und Philosoph Paul Benacerraf waren ihre Cousins aus diesem Zweig der Familie. Wie schon erwähnt, wuchs sie in Caracas auf, wo sie ein Gymnasium und die Universität besuchte. In ihrer Jugend galt ihr Interesse der Literatur. 1944, als sie noch in die Schule ging, gewann sie bei einem staatenübergreifenden lateinamerikanischen Essay-Wettbewerb zum Thema "Einheit Lateinamerikas" den ersten Preis. An der Universität, wo das intellektuelle Klima stark von spanischen Exilanten, die das Land nach dem Bürgerkrieg verlassen hatten, geprägt war, schrieb sie ein Theaterstück mit dem Titel Creciente, das von Federico García Lorca beeinflusst war. Ihre Professoren reichten das Stück ohne ihr Wissen wiederum bei einem Wettbewerb ein, der von einer Regierungsstelle, der Universität und der Columbia University in New York veranstaltet wurde, und wieder gewann sie den ersten Preis. Jetzt hätte das Stück eigentlich in einer Auflage von 5000 Exemplaren veröffentlicht und am Nationaltheater aufgeführt werden sollen, doch das zerschlug sich, weil in Venezuela ein Staatsstreich stattfand und vorübergehend das Chaos ausbrach. Doch die Columbia University hatte als ihren Beitrag zum Preis ein dreimonatiges Stipendium spendiert, das dann sogar noch verlängert wurde. So machte sich Benacerraf also im Frühling 1949 auf nach New York, und ihr dortiger Dozent war kein Geringerer als Erwin Piscator, der an der New School for Social Research einen Dramatic Workshop initiiert hatte. Piscator förderte die gegenseitige Durchdringung von Film und Theater, aber Benacerraf, die aus den Kinos ihrer Heimat nur billige Importware aus Hollywood kannte, blieb zunächst auf Theater fixiert. Als sie aber einer der Filmstudenten, die im Stock über den Dramastudenten untergebracht waren, als Darstellerin für seinen Abschlussfilm requirierte, gab sie ihr Sträuben auf, begann sich für Film zu interessieren und begann auch, die technischen Grundlagen des Filmens aufzuschnappen. Eine Vorführung von Marcel Carnés LES ENFANTS DU PARADIS, die die Filmstudenten organisiert hatten, überzeugte sie schließlich restlos davon, das Filme Kunstwerke sein können.

Margot Benacerraf, l.u. mit Picasso in Vallauris (mit freundl. Genehmigung / courtesy of Milestone)
Als sie nach Abschluss ihres Studiums mit ihren Eltern auf Verwandtenbesuch in Paris war, wurde Benacerraf auf die dortige Filmhochschule IDHEC aufmerksam, bewarb sich, und wurde nach einer selektiven Aufnahmeprüfung angenommen, als eine von zehn Ausländern und eine von drei Frauen unter lauter Männern. Später bekannte Namen dieses IDHEC-Jahrgangs waren der Regisseur Robert Enrico und der Cutter Henri Lanoë. Das erste Jahr an der Filmhochschule, das vom November 1950 bis Juni 1951 dauerte, verlief enttäuschend, weil es nur Theorie gab - dem finanziell schlecht ausgestatteten Institut fehlten die Mittel zur praktischen Ausbildung der Studenten. Benacerraf, die ja schon eine geisteswissenschaftliche Universitätsausbildung hatte, wollte eigentlich die technischen Grundlagen lernen. So langweilte sie sich und schwänzte oft die Vorlesungen, um sich lieber Filme in den Kinos anzusehen. In den Ferien im Sommer 1951 war sie wieder in Caracas, und dort lief sie dem französischen Kulturattaché Gaston Diehl über den Weg, der ein Freund von Alain Resnais war und an einigen von Resnais' frühen Kurzfilmen über Maler und Bildhauer als Autor und bei VAN GOGH auch als Coproduzent beteiligt war. Nun wollte Diehl einen Film über den exzentrischen venezolanischen Maler Armando Reverón machen lassen, eigentlich von Resnais, aber der war mit einem anderen Projekt beschäftigt und lehnte ab. Und so bot Diehl Margot Benacerraf die Regie an.

ARAYA
REVERÓN ist in mancher Hinsicht schon ein Modell im Kleinen für ARAYA. Armando Reverón, der in seinen späten Jahren psychisch krank war, hatte sich schon in den 20er Jahren mit seinem Modell Juanita, die auch seine Lebensgefährtin und ab 1946 seine Frau war, in eine abgelegene Einsiedelei an der Küste zurückgezogen, um dort zu leben und zu malen. Der Ort war nicht ganz so abgelegen wie Araya, aber von Caracas aus nur umständlich zu erreichen. 1951 hatte Reverón schon einen Ruf als El Loco de Macuto (der Verrückte von Macuto). Wie bei ARAYA verbrachte Benacerraf auch hier zunächst einige Zeit bei Reverón und Juanita, um das Vertrauen des Malers zu gewinnen, dann schrieb sie ein detailliertes Drehbuch für den 23-minütigen Film. Für den Mittelteil des Films, der Reveróns Leben und Werk rekapituliert, fotografierte Benacerraf viele seiner Gemälde, und das war schwieriger, als es sich anhört. Reverón war damals ein bekannter Maler, aber noch kein Klassiker, dessen Werke im Nationalmuseum hingen wie heute. Benacerraf musste die Bilder mühsam bei Privatsammlern ausfindig machen, die sie dem Maler oft für ein Butterbrot abgekauft hatten, und mit deren Einverständnis fotografieren. Reverón identifizierte und datierte dann die Werke anhand der Fotos. Das erste und letzte Drittel des Films kreist Reverón sozusagen ein, indem sich die Kamera in zyklischen Bewegungen an das Anwesen und an den Maler selbst annähert und ihn schließlich beim Anfertigen eines Selbstportraits beobachtet. Auch hier folgt die Handlung (wenn man sie so nennen darf) dem Zyklus eines einzigen Tages, und wie die Salineros nahm auch Reverón, der von Film überhaupt keine konkrete Vorstellung hatte, Benacerrafs Regieanweisungen entgegen (und auch hier besteht Benacerraf darauf, dass es sich um keinen Dokumentarfilm handelt). Die eigentlichen Dreharbeiten, bei denen nur Benacerraf und ihr aus Jugoslawien stammender Kameramann Boris Doroslovacki (oder Doroslawaski - die Quellen sind sich nicht einig) zugange waren, waren in zwei Wochen erledigt, trotz der widrigen logistischen Gegebenheiten an diesem Ort, und obwohl Henry Nadler, der von Diehl vermittelte Produzent des Films, sehr mit Filmmaterial knauserte.

REVERÓN: Der Meister malt ein Selbstportrait. Im linken Spiegel sind zwei der Puppen zu sehen.
REVERÓN ist auch eine essayistische Erkundung des Verhältnisses von Wahn und Kreativität, und dafür war Armando Reverón eine geeignete Wahl. Neben seiner Malerei hatte er auch lebensgroße und für ihn beseelte Puppen angefertigt, und in der letzten Nacht vor der Abreise, nachdem Reverón das Selbstportrait vollendet hatte, kam es zu einer denkwürdigen Begebenheit: Benacerraf sollte nach Reveróns Anleitung im Kostüm einer Priesterin den individuell gestalteten Puppen, die auch jeweils einen Namen hatten, "ihre Sünden vergeben" - eine bizarre Mischung aus Wahngebilde, mystischer Zeremonie und künstlerischer Performance. Und Boris Doroslovacki sollte das alles mitfilmen, nach Reveróns Wunsch hätte das den Schluss des Films bilden sollen - doch auf Benacerrafs Anweisung hin tat der Kameramann nur so, als ob er filmte, weil kaum noch Filmmaterial übrig war und für den nächsten Tag noch ein paar Außenaufnahmen geplant waren, und auch, weil sie nicht selbst in ihrem Film auftreten wollte. Später hat sie bedauert, dass diese surreale nächtliche Zeremonie nicht auf Film gebannt wurde. Immerhin gibt es im Film expressive Aufnahmen der Puppen, die Benacerraf und Doroslovacki in einer der Nächte davor ohne Reveróns Anwesenheit machten. - Es gibt noch eine Parallele zwischen ARAYA und REVERÓN: Auch letzterer Film wurde gerade noch rechtzeitig gedreht. 1952 wurde Armando Reverón mit einem akuten Schub von Schizophrenie in eine psychiatrische Klinik eingeliefert und mit Elektroschocks behandelt, 1954 ist er gestorben.

ARAYA
Das Ende der Dreharbeiten war im Dezember 1951, und Benacerraf stand jetzt unter Zeitdruck, weil das zweite Jahr bei IDHEC bereits begonnen hatte und sie schleunigst zurückkehren musste, um nicht ausgeschlossen zu werden. Sie ging also zurück nach Paris, holte den versäumten Stoff nach und machte ihr Examen, und erst danach ging sie (ebenfalls in Paris) an Schnitt und Vertonung von REVERÓN. Einen wesentlichen Beitrag zur Wirkung des Films leistet der dicht strukturierte Soundtrack, für den Benacerraf den französischen Komponisten Guy Bernard gewinnen konnte. Teils exotische Hintergrundgeräusche, die Benacerraf mit einem tragbaren Tonbandgerät vor Ort aufgenommen hatte, werden sehr geschickt mit Bernards Musik gemischt. Im November 1952, fast ein Jahr nach dem Dreh, hatte REVERÓN schließlich Premiere auf einem Festival für Kunst-Dokumentationen, das Gaston Diehl organisiert hatte, und gewann dort den ersten Preis, und im Juni 1953 lief er unter großem Zuspruch des Publikums auf der 3. Berlinale. Festivalleiter Alfred Bauer konnte kaum glauben, dass diese kleingewachsene Frau diesen Film gedreht hatte - er dachte, sie sei die Tochter des Regisseurs, und er bat nach der Vorstellung "Herrn Benacerraf" auf das Podium. Berlin öffnete viele Türen. Benacerraf hatte nicht nur ihr erstes Fernsehinterview (für den NWDR, der damals auch noch für Berlin zuständig war), es waren auch André Bazin und Lotte Eisner anwesend, die begeisterte Artikel in Le Monde bzw. Cahiers du cinéma schrieben, und durch Eisners Vermittlung lernte Benacerraf Henri Langlois kennen, den Mitgründer und Leiter der Cinémathèque française. Die beiden wurden gute Freunde, und mit Langlois' Hilfe wurde REVERÓN auch in der Belgischen Cinémathèque in Brüssel und bei diversen anderen Gelegenheiten vorgeführt.

ARAYA
1953 erhielt Benacerraf durch ihre vielfältigen Kontakte zu Exilspaniern eine Einladung ins Atelier von Pablo Picasso in Paris, und Picasso wiederum lud sie ins südfranzösische Vallauris in der Nähe von Antibes ein, wo er regelmäßig Zeit mit Malen und Töpfern verbrachte. Picasso organisierte in Vallauris eine Freiluftaufführung von REVERÓN, war begeistert, und lud Benacerraf ein, einige Wochen in dem Ort zu verbringen, um einen Film mit ihm zu drehen. Nachdem es schon einige Filme über ihn gab, sollte es jetzt ein Film mit ihm sein, eine Art filmisches Tagebuch. Die Dreharbeiten im Sommer fanden in sehr lockerer und familiärer Atmosphäre statt und standen kurz vor dem Abschluss, doch dann wurde Picasso im September 1953 von seiner Lebensgefährtin Françoise Gilot mitsamt den gemeinsamen Kindern Claude und Paloma verlassen. Die gute Stimmung war dahin, und Picasso hatte anderes im Sinn als den Film. Nachdem Benacerraf einige Zeit untätig herumsaß, beschloss sie, vorerst nach Paris zurückzukehren, obwohl sie von Guy Bernard, der schon länger mit Picasso befreundet war (er hatte auch Resnais' GUERNICA vertont), gewarnt wurde, dass das das Ende des Films bedeuten könnte - und so kam es dann auch. Die verwendete Kamera hatte Picasso gehört, der auch das Filmmaterial bezahlt hatte, deshalb blieben die Aufnahmen bei ihm. Natürlich hatte Benacerraf vor, in absehbarer Zeit zurückzukommen und den Film fertigzustellen, aber die Gelegenheit dazu ergab sich nicht, und als Picasso im Lauf der Jahre mehrmals umzog, verlor sich irgendwann die Spur der Aufnahmen. Nach dem Selbstmord von Picassos zweiter Frau Jacqueline Roque im Jahr 1986 schwanden die Chancen, das Material doch noch aufzufinden, und es blieb bis heute verschollen.

ARAYA
1954 verbrachte Benacerraf ein halbes Jahr an einem von der UNESCO betriebenen audiovisuellen Zentrum in Mexiko (ihr Vorgänger auf diesem Posten war Chris Marker). Zwar war diese Zeit wegen überbordender Bürokratie wenig produktiv (angeblich musste man sogar wegen eines neuen Bleistifts einen Antrag an das UNESCO-Hauptquartier schicken), aber die Zeit war trotzdem von Bedeutung für sie. Erstens entwickelte sie erst in Mexiko ein Gefühl für eine gemeinsame lateinamerikanische Identität, was vorher aufgrund der Herkunft ihrer Eltern und ihres durch Exilspanier geprägten Studiums nicht der Fall war. Und zweitens konnte sie die Freundschaft zu Buñuel vertiefen, den sie schon in Paris kennengelernt hatte. Jedes Wochenende fuhr sie nach Mexiko City, um Buñuel und seine Freunde, viele davon exilspanische Künstler und Intellektuelle, zu treffen. Wieder in Venezuela, entwickelte Benacerraf Pläne für einen neuen Film. Ursprünglich sollte es ein Triptychon werden, ein Film aus drei jeweils ungefähr halbstündigen Episoden, von denen eine in den venezolanischen Anden, eine in der Ebene und eine an der Küste spielen sollte. Die Schauplätze für die ersten beiden Episoden hatte sie bereits gefunden, den für die Küste suchte sie noch, da stieß sie in einer Zeitschrift auf ein Foto von Araya - ein Ort, von dem sie bisher noch nichts gehört hatte. Sie fuhr hin, und bald war das Triptychon vergessen und ARAYA geboren. Damals bereits wusste sie, dass in einem halben Jahr die Industrialisierung in Araya Einzug halten würde, es bot sich also die einmalige Chance, diese Welt vor ihrem Untergang auf Film zu konservieren. Zunächst studierte Benacerraf die Geschichte der Halbinsel. Weil die Archive in Venezuela nichts Brauchbares hergaben, fuhr sie nach Spanien, und im "Indienarchiv" (Archivo General de Indias) in Sevilla wurde sie fündig und erfuhr alles, was sie wissen wollte.

ARAYA
Nachdem Benacerraf und die Einwohner sich gegenseitig miteinander vertraut gemacht hatten, entstand das Drehbuch, und dann wurde gedreht. Wie schon bei REVERÓN, dauerten auch bei ARAYA die eigentlichen Dreharbeiten deutlich kürzer als die Vorbereitungen - nämlich weniger als vier Wochen, im September und Oktober 1957. Und wie bei REVERÓN bestand das Team aus nur zwei Personen, Benacerraf und ihr Kameramann Giuseppe Nisoli, der für wunderbare Bilder sorgte. Anfangs hatten die beiden noch einen Assistenten dabei, aber der war so unorganisiert, dass er nach einer Woche gefeuert wurde. Wieder waren die logistischen Bedingungen schwierig, und wiederum gab es keine große Hilfe von Seiten der Produzenten. Als der Film in Cannes gezeigt wurde, mochte kaum jemand glauben, dass das Team aus nur zwei Leuten bestand. Insbesondere Kran-Aufnahmen über den Salzpyramiden benötigten einen professionellen Kamerakran mit Bedienmannschaft, so dachte man. Tatsächlich aber standen die Kamera und Nisoli auf einer ungesicherten Plattform, die an einem Kran hing, der von einer der bereits anwesenden Baufirmen entliehen wurde. Jeder Beauftragte für Arbeitsschutz wäre bei dem Anblick wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen. In Anbetracht der Umstände ging die Arbeit gut vonstatten, aber eine größere Panne gab es. Eigentlich sollte die kleine Carmen viel mehr Raum im Film einnehmen, aber durch ein technisches Problem wurde ein Großteil der Aufnahmen mit ihr ruiniert, was erst im Kopierwerk in Paris bemerkt wurde, so dass es nicht mehr korrigiert werden konnte. Ein eher skuriller Vorfall war das unangekündigte Auftauchen der Präsidentenyacht mit Diktator Marcos Pérez Jiménez, seinen Konkubinen und sonstiger Entourage an Bord. Viele der Einwohner von Araya lebten ohne offiziellen Trauschein zusammen, und der Herr Präsident hatte es sich in den Kopf gesetzt, das zu ändern, weshalb er auch einen katholischen Priester im Schlepptau hatte, der nun eine Massenhochzeit veranstaltete. Als der Anhang des Präsidenten die Filmausrüstung entdeckte, wurde Benacerraf aufgefordert, die Veranstaltung zu filmen, aber sie lehnte ab, weil wiederum das Filmmaterial knapp war, und wiederum hat sie das später bedauert. Mehr als zehn Jahre später fand diese leicht surreale Episode Eingang in eine Geschichte von Gabriel García Márquez mit dem etwas länglichen Titel "Die unglaubliche und traurige Geschichte von der einfältigen Eréndira und ihrer herzlosen Großmutter".

Crane shots - so geht das auch (mit freundl. Genehmigung / courtesy of Milestone)
Weil es in Venezuela nur zweitklassige Filmlabors gab, wurde das ganze Material nach Frankreich geschickt, und Benacerraf wollte bald hinterher reisen. Doch dann kam es zu Unruhen gegen den eben noch heiratsfördernden Diktator (der übrigens 1954 die "Sonderstufe des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland" - also die höchste Stufe des Bundesverdienstkreuzes - erhalten hatte), Chaos brach aus, und viele Freunde von Benacerraf wurden verhaftet. Diese wollte aus Solidarität jetzt das Land nicht verlassen, und so kam es, dass sie erst Mitte 1958, als sich die Lage nach dem Sturz des Diktators beruhigt hatte, nach Paris reiste und die aufwändige Postproduction in Angriff nahm. Wieder war Guy Bernard für den Soundtrack verantworltlich, der wiederum aus mit Tonband aufgenommenen Geräuschen und traditionellen Liedern und neuer Musik von Bernard zusammengemischt wurde. Zunächst fertigten Benacerraf, Bernard und die Cutterin eine dreistündige Fassung, die nach Ansicht der Beteiligten den internen Rhythmus der Handlung optimal unterstützte. Henri Langlois zeigte diese Fassung Jean Renoir, der daraufhin meinte, Benacerraf solle kein einziges Bild davon herausschneiden. Doch ein dreistündiger Film hätte damals im Verleih schlechte Chancen gehabt, und aus Cannes, wo der Film Premiere haben sollte, kam die Weisung, ihn drastisch zu kürzen, sonst würde er abgelehnt. So machte sich das Team also daran, den Film auf weniger als die Hälfte zu kürzen. Aus Zeit- und Kostengründen wurde dazu die dreistündige Fassung herangezogen, ohne eine Kopie anzufertigen, so dass die lange Fassung verloren ist. Benacerraf hat das später als den größten Fehler ihres Lebens bezeichnet. Weil inzwischen das Geld auszugehen drohte, wurde eine französische Firma als Partner an Bord geholt, so dass ARAYA offiziell eine venezolanisch-französische Produktion ist, obwohl es beim Dreh 1957 noch ein rein venezolanisches Projekt war.

ARAYA
Als letztes wurde der Text zum Voice-over geschrieben und aufgenommen. Den Text verfasste Benacerraf gemeinsam mit dem französischen Dichter Pierre Seghers. Gelegentlich wird Seghers als gleichberechtigter Drehbuchautor bei ARAYA bezeichnet, er war aber nur am Kommentar und nicht am eigentlichen Drehbuch beteiligt. Aus Zeitdruck, um rechtzeitig für Cannes fertig zu werden, wurde nur eine französische Fassung geschrieben und vom Schauspieler Laurent Terzieff gesprochen. Und dann war es schließlich soweit: Im Mai 1959 hatte ARAYA Premiere in Cannes, und er lief gegen Filme wie LES QUATRE CENTS COUPS, ORFEU NEGRO, NAZARIN und HIROSHIMA, MON AMOUR. ARAYA gewann den FIPRESCI-Preis (geteilt mit HIROSHIMA, MON AMOUR) sowie den Grand Prix de la Commission Superieure Technique. Danach lief er 1959 noch mit Besonderen Erwähnungen auf den Festivals von Locarno, Moskau, Edinburgh und Venedig, und es gab noch etliche andere Auszeichnungen. Leider konnte Benacerraf den Schwung der vielen Preise nicht für neue Filmprojekte ausnutzen, denn nach ARAYA wurde sie durch eine mysteriöse Krankheit für eineinhalb Jahre geschwächt und teilweise ans Bett gefesselt. Angebote gab es genug, aber sie musste sie alle ablehnen.

ARAYA
1965, als sie sich gesundheitlich erholt hatte, übernahm Benacerraf widerstrebend die Leitung des gerade gegründeten Venezolanischen Nationalen Instituts für Kultur und Schöne Künste (INCIBA). Sie hatte seit inzwischen sieben Jahren in Paris gelebt und wollte da eigentlich auch bleiben, aber dann ließ sie sich zur Rückkehr nach Venezuela überreden. Eine ihrer ersten Amtshandlungen war es, Landfahrzeuge und zwei Schiffe mit Filmprojektoren in den kulturell wenig erschlossenen Teil Venezuelas südlich des Orinoco zu entsenden, um der dortigen Bevölkerung Diashows und Filme vorzuführen (von denen etliche in dem UNESCO-Zentrum in Mexiko produziert wurden, in dem sie kurz gearbeitet hatte). Diese Aktion erinnert mich etwas an den Filmzug, mit dem Alexander Medwedkin in den 30er Jahren in der Sowjetunion umherfuhr. Benacerrafs nächster Streich folgte 1966: Nach dem Vorbild der Cinémathèque française gründete sie eine nationale Cinemateca in Caracas. Durch ihre Freundschaft mit Henri Langlois und Teilnahme an etlichen Konferenzen internationaler Cinémathèquen-Betreiber war sie genug mit der Materie vertraut, um diese Aufgabe meistern zu können. 1968 wollte Benacerraf wieder einmal einen Film drehen, und sie traf sich dazu in Barcelona mit Gabriel García Márquez, den sie kurz zuvor kennengelernt hatte. Gemeinsam schrieben sie mehrere Drehbuchfassungen zu "Eréndira" (ich beschränke mich jetzt auf die Kurzfassung des Titels), aber nachdem kein Produzent zu Benacerrafs Bedingungen (sie wollte nur in Venezuela oder Kolumbien drehen) den Film finanzieren wollte, veröffentlichte García Márquez den Stoff schließlich 1972 als Kurzgeschichte. Mitte der 70er Jahre schien Carlo Ponti den Film produzieren zu wollen, aber als er wegen eines Devisenvergehens großen Ärger mit der italienischen Justiz bekam, zerschlug sich das Projekt endgültig. In einem neuen Anlauf verfilmte schließlich der Brasilianer Ruy Guerra ohne Benacerrafs Beteiligung den Stoff 1983 in Mexiko (mit deutscher und französischer Beteiligung).

ARAYA: Carmen und ihre Großmutter
Im Lauf der Jahre entfaltete Benacerraf viele weitere film- und kulturpolitische Aktivitäten, die teilweise über Venezuela hinaus in Lateinamerika wirkten. So gründete sie 1991 zusammen mit García Márquez Latin Fundavisual zur Förderung audiovisueller Kunst in Lateinamerika. Für ihre Verdienste erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. ARAYA hatte aber trotz der vielen Preise in vielen Ländern Schwierigkeiten, in den Verleih zu kommen, was an der Schwierigkeit gelegen haben mag, ihn in die richtige Schublade zu stecken. In Venezuela kam er gar erst 1977 in die Kinos, und erst aus diesem Anlass wurde auch eine spanische Version des Voice-over geschrieben und vom Schriftsteller José Ignacio Cabrujas aufgenommen. 2005 wurde ein Versuch unternommen, ARAYA in den USA in die Kinos zu bekommen. Das scheiterte zwar aus finanziellen Gründen, aber die US-Firma Milestone, die auf die Wiederentdeckung alter Filmschätze spezialisiert ist, wurde auf ARAYA aufmerksam und restaurierte ihn aufwändig. Premiere der restaurierten Fassung war im Februar 2009 auf der Berlinale. Und 2011 schließlich erschien diese Fassung bei Milestone auf DVD, mit vorzüglicher Bildqualität, REVERÓN als Bonusfilm, Audiokommentaren (auf Englisch) von Benacerraf zu beiden Filmen und weiterem Bonusmaterial. Und regionalcodefrei ist diese vorbildliche Veröffentlichung auch noch. Hier gibt es eine offizielle Seite zum Film von Milestone mit weiteren Informationen, z.B. ein Press Kit als PDF.

ARAYA: Die Moderne bricht ein

Samstag, 8. Februar 2014

Man müsste Klavier spielen können! Oder lieber doch nicht?

DIE 5000 FINGER DES DR. T. (THE 5,000 FINGERS OF DR. T.)
USA 1953
Regie: Roy Rowland, Stanley Kramer (uncredited)
Darsteller: Hans Conried (Dr. Terwilliker), Tommy Rettig (Bart), Peter Lind Hayes (Mr. Zabladowski), Mary Healy (Mrs. Collins)

Der Erzschurke und sein Widersacher
Der kleine Bart Collins wird von seiner verwitweten Mutter zum Klavier spielen angehalten, doch er hasst das Instrument, und insbesondere seinen Klavierlehrer Dr. Terwilliker. Als er eines Tages beim Üben eindöst, hat er einen Albtraum: Er befindet sich im festungsartigen, von elektrischem Stacheldraht umgebenen Terwilliker-Institut, und der im echten Leben zwar unsympathische, aber sonst normale Dr. Terwilliker ist zu einem Superschurken geworden, zu einer Mischung aus Musiker und Mad Scientist - sozusagen ein Mad Pianist. Sein teuflischer Plan ist es, dem Klavier zur uneingeschränkten musikalischen Weltherrschaft zu verhelfen, mit sich selbst als obersten Maestro. Zu diesem Zweck lässt er alle Musiker, die ein anderes Instrument als Klavier spielen, einfangen und im großen mehrstöckigen Verlies unter dem Institut einkerkern. In der geräumigen Haupthalle des Instituts hat Dr. Terwilliker ein riesiges, bandwurmartig gewundenes Klavier errichten lassen. Als Höhepunkt des dämonischen Plans lässt er 500 Jungen entführen, die bei der in Kürze stattfindenden offiziellen Eröffnung des Terwilliker-Instituts alle zusammen (mithin mit 5000 Fingern) ein natürlich vom Doktor selbst komponiertes Stück zur Aufführung bringen sollen - und Bart ist einer von ihnen. Als ob das noch nicht reichen würde, fungiert seine unter hypnotischem Zwang stehende Mutter als Terwillikers Assistentin, und der Schurke hat auch noch angekündigt, sie demnächst zu heiraten.

Das Bandwurm-Klavier: Nur mit Bart, und voll besetzt
Doch Bart ergibt sich nicht in sein Schicksal. Statt sich in die ihm zugewiesene Zelle zu begeben, entflieht er in die labyrinthischen Gänge des Instituts. Der einzige, der ihm jetzt helfen könnte, ist der sympathische Klempner August Zabladowski, der gerade dabei ist, die Sanitäranlagen des Instituts zu installieren. Doch Zabladowski glaubt Barts Beteuerungen nicht - bis er erfährt, dass er selbst nach Abschluss der Installationsarbeiten in Dr. Terwillikers Desintegrator aufgelöst werden soll. Nach dem Vorbild eines Geruchsabsorbers (den sie im Verlies zur Luftverbesserung einsetzen) konstruieren die beiden einen Musikabsorber, der alle musikalischen Klänge aus der Luft in sich aufsaugt und somit unhörbar macht. So gelingt es, das Zwangskonzert zu sabotieren und Dr. Terwilliker in die Kapitulation zu treiben. Doch der Musikabsorber ist, dem Zeitalter entsprechend, atomic, und er beginnt, verdächtig zu qualmen und Funken zu sprühen ...

Klingonen auf dem Schirm? Nein, das ist nur das Terwilliker-Institut, nicht die Enterprise
THE 5,000 FINGERS OF DR. T. ist ein ziemlich schräges, fantasievolles und surreales Musical. Die Vorlage und die Liedtexte stammen von dem in den USA ungemein populären Kinderbuchautor "Dr. Seuss" (Theodor Seuss Geisel), dessen bei uns bekannteste Kreation der "Grinch" ist. Zusammen mit Allan Scott, der vor allem durch seine Bücher für etliche Fred-Astaire-Filme in Erinnerung geblieben ist, schrieb Dr. Seuss auch das Drehbuch. Die Musik stammt im Wesentlichen von Friedrich Hollaender, aber Heinz Roemheld und Hans Salter trugen auch etwas dazu bei. Weil Regisseur Roy Rowland krank wurde, hat Produzent Stanley Kramer, bekanntlich selbst ein Regisseur von Filmen wie FLUCHT IN KETTEN oder DAS URTEIL VON NÜRNBERG, einen Teil der Szenen gedreht. Dr. Seuss soll sogar behauptet haben, dass das meiste von Kramer inszeniert wurde. Ihren Teil zum Charme des Films tragen die zwar billigen, aber fantasiereichen Kulissen bei. Manche Sets wirken wie eine Disneyland-Version von Dr. Caligaris Cabinet, andere wie eine Reminiszenz an FLASH GORDON (oder ein Vorgriff auf STAR TREK), und auch die Kostüme sind dazu passend gestaltet. Ein erfahrener Routinier war der aus Böhmen stammende Kameramann Franz Planer, der schon vor seiner Emigration in Österreich und Deutschland bekannte Filme wie SODOM UND GOMORRHA, DIE FINANZEN DES GROSSHERZOGS und DIE DREI VON DER TANKSTELLE gedreht hatte. In Hollywood arbeitete er mit Regisseuren wie Ophüls, Siodmak, Litvak, Wyler, Dmytryk, Zinnemann und Huston.


Tommy Rettig war 1953 schon ein gefragter Kinderstar, aber richtig berühmt wurde er erst, als er 1954-57 in den ersten drei Saisonen die menschliche Hauptrolle in LASSIE spielte. Als er im Erwachsenenalter seine Karriere nicht fortsetzen konnte, geriet er vorübergehend in Turbulenzen, aber in späteren Jahren war er ein erfolgreicher Softwareentwickler (u.a. an dBASE, Clipper und FoxPro beteiligt). Seine Lieder in THE 5,000 FINGERS OF DR. T. singt Rettig nicht selbst, sondern er wird von Tony Butala synchronisiert, der als Erwachsener eine Sangeskarriere bei den Lettermen verfolgte. Hans Conried, in Baltimore geborener Sohn eines jüdischen Emigranten aus Wien, war ein vielbeschäftigter Film- und Fernsehschauspieler. Er stand zwar meist nur in der zweiten oder dritten Reihe, dafür verschafften ihm seine stimmlichen Qualitäten auch zahllose Engagements als Sprecher im Radio und bei Animationsfilmen. Die Chance, die sich ihm als Dr. Terwilliker bot, nutzte er mit sichtlicher Spielfreude. Mit seiner exaltierten Darstellung hat er mich etwas an Vincent Price erinnert. Mary Healy und Peter Lind Hayes, die in THE 5,000 FINGERS OF DR. T. wie füreinander geschaffen sind, waren im wirklichen Leben tatsächlich miteinander verheiratet. Anfang der 60er Jahre spielten die beiden die Titelrollen in der Sitcom PETER LOVES MARY, und auch sonst traten sie in ihrer langen Karriere oft gemeinsam auf. Auch ihre Biografie schrieben die beiden gemeinsam.


THE 5,000 FINGERS OF DR. T. war bei Publikum und Kritik ein grandioser Flop, und selbst Dr. Seuss hat den Film als "debaculous fiasco" bezeichnet, und in seiner offiziellen Biografie wird er vornehm verschwiegen. Dabei hat er das überhaupt nicht verdient. Zwar reissen einen nicht alle Musiknummern vom Hocker (zumindest mich nicht), aber als Gesamtpaket sind die 5000 FINGER ein sehr unterhaltsamer Spaß, der sich im Lauf der Jahre eine gewisse Fangemeinde erobert hat. Nach der mißlungenen Premiere wurde der Film um ungefähr eine Viertelstunde auf 89 Minuten gekürzt. Diese gekürzte Version ist u.a. in den USA, Spanien und Frankreich auf DVD erhältlich. Eine in privater Initiative erstellte vorläufige restaurierte Fassung von 102 Minuten kann man hier auf YouTube ansehen. Zur Einstimmung hier der Trailer.

Keine Angst, das ist nur der Liftboy im Fahrstuhl zum Verlies