Auf dem diesjährigen goEast-Festival in Wiesbaden widmeten sich zwei Retrospektiven dem Schaffen weiblicher Regisseure in Mittel- und Osteuropa. In der Sektion „Feministisch wider Willen / Reluctant feminism“ liefen 13 Langfilme sowie knapp zwei Dutzend Kurzfilme weiblicher Regisseure zwischen 1930 und 2014. Die Hommage-Sektion widmete sich der ungarischen Regisseurin Mészáros Márta und zeigte acht ihrer Spielfilme sowie zwei Kurzfilme.
Ich trieb mich dieses Jahr schwerpunktmäßig noch mehr als in den vorigen Jahren (2013, 2015, 2016) bei dem Retrospektiv-Programm herum. Eine große Stärke des Retrospektiv-Programms dieses Jahr lag darin, dass die Filmblöcke meist als Double-Features mit einem Kurzfilm und einem Hauptfilm gestaltet waren.
Donnerstag, 27. April
ab 17.30 Uhr, Murnau-Filmtheater
BUBA
Regie: Nutsa Gogoberidze
UdSSR 1930
39 Minuten, DCP
Impressionen vom Leben in einem Bergbauerndorf in Georgien.
© goEast Filmfestival |
In dokumentarischen, ethnografischen Bildern erleben wir den mühseligen Alltag einiger Bergbauern in einem wirtschaftlich unterentwickelten Gebiet Georgiens. Zu den beeindruckendsten Szenen gehört zweifelsohne das Einsammeln von Kuhdung, bei dem Jung und Alt gleichermaßen ohne Berührungsängte mitmischen und mitmatschen. Auch ein Gemeinschaftstanz und diese dunkle, stickige Hütte mit dem Kleinkindbett sind mir in Erinnerung geblieben. Ansonsten überwog während fast der gesamten Sichtung der Ärger über die penetrante Musikbegleitung (die als Tonspur bei der DCP enthalten war): abwechslungsweise fürchterliches elektronisches Gedudel oder Gewummere ohne jeglichen Bezug zu den Bildern – oder aber Ambientegeräusche aus der Konservendose, „passend“ zu den gerade laufenden Bildern. Wenn also Flussimpressionen zu sehen waren, gab es auch Geräusche von fließendem Wasser. Wenn ein windgepeitschtes Getreidefeld gezeigt wurde, hörte man schlecht aufgenommene Wind- und Sturmgeräusche. Die dahinter liegende Vorstellung, dass Stummfilmen etwas fehlt, nämlich der Ton, dass die Bilder also „unvollständig“ sind, könnte man putzig finden, wenn das nicht so ärgerlich wäre.
Nein, es war wirklich schwer, sich auf den Film zu konzentrieren. Das ist schade, denn die sowjetisch-georgische Filmemacherin Nutsa Gogoberidze war eine bedeutende Pionierin der Filmgeschichte: eine der frühen weiblichen Regisseure in der Sowjetunion – und wahrscheinlich die erste georgische Regisseurin überhaupt. Ihre Filmkarriere war allerdings nur von kurzer Dauer. Ende der 1930er Jahre wurde ihr Ehemann, ein hochrangiger Offizier der Roten Armee, im Zuge des Großen Terrors verhaftet und hingerichtet. Sie selbst wurde ins Lager geschickt und verbrachte dort 12 Jahre. Gogoberidze kehrte als gebrochene Frau zurück, drehte nie wieder einen Film und war emotional nicht mehr in der Lage, mit ihrer eigenen Tochter Lana zu kommunizieren. So sprach sie, als Lana Regisseurin wurde, mit ihr auch nicht über ihre frühere Filmkarriere. Sie arbeitete wohl noch bei einem sprachwissenschaftlichen Institut. Auf Nutsas Rückkehr aus dem GULag, die Lana später selbst in einem Film verarbeitet hat, komme ich noch weiter unten zu sprechen.
Vorführstörungen:
(diese Zusatzrubrik richte ich hiermit ein, weil die reibungslosen Projektionen – besonders im Murnau-Kino – nunmehr eher die Ausnahme als die Regel waren)
Der Film startet mittendrin – etwa bei Minute 1 oder 2. Er wird angehalten und nach einer kleinen Pause dürfen wir ihn dann von Anfang an sehen.
RVANYE BAŠMAKI („Zerrissene Stiefel“)
Regie: Margarita Barskaja
UdSSR 1933
85 Minuten, 35mm
Deutschland, wahrscheinlich kurz vor der Machterlangung der Nazis. Einige Schulkinder wollen die Streikaktivitäten ihrer sozialdemokratischen Väter unterstützen. So kommt es auch in der Schule zu Auseinandersetzungen zwischen Arbeiterkindern und bürgerlichen Kindern.
RVANYE BAŠMAKI ist der erste sowjetische Kinofilm, in dem Kinder die Hauptrolle spielen – und gemäß den Angaben des Programmhefts der erste internationale Kinderspielfilm mit Ton (Jean Vigos ZÉRO DE CONDUITE kam etwa zeitgleich heraus). Das Resultat ist in vielerlei Hinsicht absolut faszinierend, in anderen Bereichen wieder etwas weniger überzeugend.
Zunächst zu ersterem: das Besetzen von Laiendarstellern, zumal Kinder-Laiendarstellern, ist etwas, was man vielleicht mit dem italienischen Neorealismus (hier allerdings doch nur in Nebenrollen) oder mit einigen Filmen der „nouvelle vague“ verbindet, also mit dem Kino nach dem Zweiten Weltkrieg. Besetzungen mit Laiendarstellern gab es natürlich schon vorher. Jean Renoir nutzte schon Laiendarsteller (z. B. in TONI, über den Manfred hier schon schrieb). Barskaja hingegen engagierte ein ganzes Kollektiv an Laiendarstellern im Alter zwischen 1 1/2 und 13 Jahren (so eine Infotafel zu Beginn des Films). Die Kinder waren keine ethnischen Russen, sondern deutsche bzw. deutschstämmige Kinder, die sie aus einer deutschen Schule in einer der beiden russischen Hauptstädte rekrutierte. Das hatte den Hintergrund, dass Barskaja zweisprachige Kinder haben wollte, die zwischendurch (für die „deutsche“ Atmosphäre des Films) auch mal einige kurze Sätze auf Deutsch sprechen bzw. Lieder auf Deutsch singen konnten.
Diese Mühen wurden allerdings zerstört. Der Film wurde Anfang der 1960er Jahre wiederentdeckt – und dann „gesäubert“. Die Tonspur, offenbar größtenteils in Direktton aufgenommen, wurde komplett ersetzt: das „unsaubere“ Russisch der Kinderdarsteller mit dem deutschem Akzent wurde von nativ-russischen, weiblichen Sprechern nachsynchronisiert, die normalerweise Animationsfilme einsprachen. Die Original-Tonversion des Films gilt als verschollen.
Die pure visuelle Stärke des Films bleibt. Und seine unbegrenzte Liebe zum Zauber eines „trivialen“ Kinderalltags. RVANYE BAŠMAKI beginnt mit einer ausgedehnten Szene, in der Kinder Doktor spielen: ein kleines Kind hört die anderen mit seinem Stethoskop (einer kleinen Flöte) ab, stellt die Diagnose und vergibt gleich Rezepte. Die kindliche Unbekümmertheit überträgt sich auf den Film: vergiss Plot, vergiss Narration – jetzt wird erst mal gespielt! Die Modernität der „nouvelle vague“ und auch anderer Kinoreformbewegungen scheint hier um 30 Jahre vorweggenommen zu sein. Später gibt es mehr Plot, teilweise auch Politik unter die Nase gerieben – aber diese kleinen Pausen gönnt sich der Film immer wieder. Kinderstreiche, gar die kleine Verschwörung eines Kleinen, der seiner Mutter den Zucker klaut, indem er sich unter dem Tisch versteckt, die Tüte ansticht und ein Glas darunter hält... Visuell ist das ganze sehr ansprechend gefilmt: Barskaja wusste ganz genau, wo sie ihre Kamera hinstellen musste und vor langen, komplexen Plansequenzen hatte sie auch keine Angst.
Der Film „bricht“ zwischendurch immer wieder ein, als es darum geht, dass jetzt mal etwas „politisches Programm“ abgespult werden muss: mit bourgeoisen Kindern, die Hakenkreuzarmbinden tragen und Petzer sind, mit flotten Arbeiterkindern, die im richtigen Moment aufstehen, die Faust recken und sozialistische Kampfparolen brüllen.
Margarita Barskaja kam wie Nutsa Gogoberidze aus dem Kaukasus, genauer aus Baku. Sie wirkte als Darstellerin und Assistentin bei Aleksandr Dovženko und fühlte rasch, dass ihr Platz eher hinter der Kamera war. 1930 inszenierte sie ihren ersten von drei Filmen. RVANYE BAŠMAKI war der zweite. Der dritte folgte 1937 (OTEC I SYN – „Vater und Sohn“). Barskaja war Anfang der 1930er Jahre sehr erfolgreich, angesehen, Teil des politischen Establishments und führte Briefkorrespondenzen mit Stalin und Lazar‘ Kaganovič höchstpersönlich (einem der engsten Vertrauten in Stalins Clique). Ende der 1930er Jahre wendete sich das Blatt gegen sie: Barskaja wurde in der Ära des Großen Terrors zunehmend isoliert und schikaniert. 1939, mit nur 35 Jahren, beging sie in Moskau Selbstmord.
ab 20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
TRAMVAJ IDET PO GORODU („Eine Straßenbahn fährt durch die Stadt“)
Regie: Ljudmila Stanukinas
UdSSR 1973
22 Minuten, irgendeine miese digitale Datei mit Interlace-Streifen
Eine Straßenbahnfahrerin in Leningrad plaudert aus dem Nähkästchen, während eine versteckte Kamera aus dem Fenster die winterliche Stadt begutachtet oder die Passagiere filmt.
TRAMVAJ IDET PO GORODU ist weder ein großer, noch ein besonders ambitionierter Film, aber er ist vergnüglich, charmant und kurzweilig. Er ist eine Art Stadtsinfonie des winterlichen Leningrads: die Metropole ist verschneit und sieht alles andere als glamourös aus. Das ist aber mehr Wintertristesse als das Herausstellen sowjetischen Verfalls. Und bevor es zu traurig wird, gibt es die Passagiere zu beobachten: eifrige Leser, die in ihren Büchern vertieft sind; Verliebte, die sich küssen; müde Angestellte, die mit dem Schlaf kämpfen; Betrunkene, die sichtlich Mühe haben, auszusteigen; junge Marine-Soldaten, denen es trotz Anstrengung nicht gelingt, grimmig auszusehen; alte Damen, die mit ihren eleganten Pelzmänteln Respekt ausstrahlen; Sänger und Gitarristen, die die anderen Passagiere musikalisch unterhalten. Ein ganzes menschliches Mikrokosmos in einem kleinen Straßenbahnwaggon...
Der Film wurde in der Sowjetunion zensiert und eine Stelle gekürzt (wir sahen aber den vollständigen „Director‘s Cut“): zwischendurch erzählt die etwa 40-jährige Straßenbahnfahrerin, dass während der Hungerbelagerung Leningrads eine Nachbarin Tapetenkleister kochte und das Zubereitete auch gerne teilte. Als kleines Mädchen, die sie war, fand die Straßenbahnfahrerin das recht lecker. In der sowjetischen Erinnerungskultur wurde die genozidale Hungersblockade zum heroischen Kampf, zur heldenhaften „Verteidigung“ der Stadt umgedeutet (die Deutschen wollten die Stadt tatsächlich nie erobern, sondern zu Tode hungern) und da passten hungernde Familien, die Tapetenkleister aßen, nicht rein.
Die 86-jährige Regisseurin war bei der Vorführung anwesend. Dass die digitale Kopie extrem schlecht war und sogar hässliche Interlace-Artefakte zeigte, war daher suboptimal. Über Ljudmila Stanukinas habe ich kaum etwas gefunden. Aufgrund ihres Nachnamens kann man eine baltische Herkunft vermuten. Sie gab einige einführende Worte zum Film, doch ich kann mich daran nicht mehr exakt erinnern, weil er im Doppelprogramm mit RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE lief, dessen Regisseurin Lana Gogoberidze auch da war und sprach und ich wohl nicht richtig aufgepasst habe, so dass ich im ersten Moment Stanukinas für Gogoberidze hielt. Das „machte“ aber nichts, denn später „meldete sich“ Stanukinas wieder „zu Worte“...
RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE („Einige Interviews zu persönlichen Fragen“)
Regie: Lana Gogoberidze
UdSSR 1977
95 Minuten, 35mm
Die Journalistin Sofiko mag ihren Job: investigatives Recherchieren und das Interviewen von Menschen machen ihr Spaß. Doch wenn sie nach Hause kommt, muss sie sich noch um den Haushalt kümmern (Kochen, Putzen etc.). Dass ihr eigentlich netter Ehemann sie ständig annörgelt, wenn sie später nach Hause kommt – okay. Dass er eine Affäre hat, setzt Sofiko aber zu. Und dann sind noch die Erinnerungen an die Mutter, die einst aus dem Lager zurückkehrte...
© goEast Filmfestival Filmstill in Schwarzweiß – der Film ist farbig |
RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE erwischte mich zunächst etwas auf falschem Fuß, denn aufgrund des Programmhefts (und einer etwas kryptischen Ankündigung kurz vor der Projektion) hatte ich einen semidokumentarischen Essayfilm erwartet – vielleicht so etwas wie Pasolinis COMIZI D‘AMORE auf Georgisch – und kein „klassisches“ Familiendrama. Mit zunehmender Laufzeit spielte das aber keine Rolle mehr: aus den falschen Gründen auf den Film gefreut, aber dennoch zurecht.
Gogoberidzes Film ist ein sensibles, autobiografisch gefärbtes Frauenportrait. Es ist eher ein Alltagsfilm als ein Ereignisfilm, und dass Sofikos Ehemann eine jüngere Liebhaberin hat, dürfte wohl die größte „Wendung“ sein. Das ganze ist mit ruhiger Hand inszeniert, aber auch nicht undynamisch: fetzige, bassbetonte 70er-Jahre-Musik, die auch in einem italienischen Genrefilm der Ära nicht deplatziert wäre, läuft, wenn die Protagonistin festen und entschlossenen Schrittes über die Prachtboulevards von Tiflis geht. Zwischendurch pausiert die Handlung, wenn Ausschnitte von Interviews eingeblendet werden, die Sofiko mit diversen Frauen führt. Oder aber ihr plötzlich Bilder aus der Vergangenheit vor die Augen erscheinen. In einem dieser Flashbacks erleben wir die Rückkehr der Mutter aus dem Lager: eine traumatische, schockierende Erfahrung, weil Sofiko eine Frau, die mittlerweile zu einer totalen Unbekannten geworden ist, umarmen und „Mami“ nennen muss.
Das goEast-Programmheft nennt RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE einen der ersten feministischen Filme der Sowjetunion. Tatsächlich ist heute davon ausgehen, dass Frauen im realsozialistischen Osten zwar in der Arbeitswelt integriert waren, davon aber nicht unbedingt von der Last von „Küche und Herd“ befreit wurden. Wir sehen Sofiko arbeiten, zu Interviewterminen fahren, in der Redaktion an der Schreibmaschine sitzen. Abends kehrt sie nach Hause zurück, wo sie noch für ihre zwei Kinder und ihren Ehemann kochen muss – wobei letzterer keinen Finger rührt, sondern lieber hobbymäßig über Tierverhalten philosophiert. Es gehört zu den großen Verdiensten des Films, dass er die herrschende Geschlechterungerechtigkeit im Privaten präzise und unsentimental skizziert und die Belastung Sofikos zeigt, ohne dabei den Ehemann zu dämonisieren. Man würde Sofiko trotzdem eine sich latent anbahnende Liebesgeschichte mit ihrem engsten Arbeitspartner, einem Fotografen, aus vollstem Herzen gönnen. Doch es bleibt bei diesem wunderbar denkwürdigen Rendezvous in dessen Wohnung: er renoviert gerade, ist vollgeschmiert mit Farbe, nur mit großer Mühe improvisiert er eine Sitzgelegenheit für seine Arbeitskollegin, bereitet ihr dann Tee und Sandwiches zu – doch als er aus der Küche zurückkommt, ist sie auf dem Stuhl eingeschlafen. Also setzt er sich auf den Boden und schaut sie lange an, solange, bis sie aufwacht. Nachdem sie das tut, hat sie einige Visionen von schönen Momenten, die sie auf Arbeit mit dem Fotografen erlebt hat; sie merkt, was da los ist, welche Gefühle er für sie hat und was sein könnte – doch dann geht sie...
Ich habe einige Zeit gebraucht, um in RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE reinzukommen: kein Film, der sich beim Zuschauer anbiedert. Allerspätestens bei dem Rendezvous Sofikos mit ihrem Kollegen in dessen Wohnung, wo nichts passiert, wußte ich, dass der toll ist.
ab 22.30 Uhr, Murnau-Filmtheater
MAJD HOLNAP („Vielleicht morgen“)
Regie: Elek Judit
Ungarn 1979
104 Minuten, 35mm
Eszter und István lieben sich und sind verheiratet – allerdings nicht miteinander. Ihren Ehepartnern ist die Affäre bekannt und bei beiden Ehen kriselt es. Die zwei Liebenden sind in einem Schwebezustand zwischen Ehe und Affäre gefangen. Als István ein kleines Landhaus erbt, eröffnet sich beiden eine Perspektive, vielleicht zusammen ein neues Leben anzufangen.
© goEast Filmfestival Filmstill in Schwarzweiß – der Film ist farbig (zumindest auf Farbfilm gedreht) |
Wer denkt, dass erst Tarr Béla das ungarische Landleben als eine Aneinanderreihung dreckiger Matschpisten, vollkommen maroder Gebäude, kalter ungemütlicher Zimmer und schlechten Regenwetters gezeichnet hat, von der man nur beim nächsten Glas Alkohol eine zeitweilige Flucht finden kann, wird hier eines besseren belehrt. Hardcore kitchen sink realism auf Ungarisch! Doch ein bisschen anders ist das trotzdem: wo Tarr ein kalter oder zumindest unterkühlter Analytiker bleibt, ist Elek Judit eine Humanistin, die in dem ganzen Dreck und in dieser eiskalten Winterluft nach dem Funken des Menschlichen sucht.
Und die findet sie in einer Vielzahl kleiner Momente. Wenn die beiden Liebhaber in dem vererbten Häuschen zusammen im Bett liegen und Mühe haben, die richtige Schlafposition zu finden – weil verbringen im vererbten Landhaus trotz der wahrscheinlich langen Dauer ihrer Affäre ihre erste gemeinsame Übernachtung haben. Die Momente des ausgelassenen Glücks, wenn Eszter im Garten mit ihren Kindern spielt. Die offensichtliche Zärtlichkeit, die sowohl Eszter wie auch István trotz allem noch für ihre jeweiligen Ehepartner fühlen: Menschen, die sie noch liebkosen wollen, auch wenn sie sie vorher beim Streiten angeschrieen haben. Das Leben ist eben schwierig. Kein Wunder, dass Großes immer wieder auf morgen verschoben werden muss, wenn es schon so schwer ist, heute mit diesem komplexen Gefühlshaushalt umzugehen.
Mehr Licht, mehr Ordnung, höhere Temperaturen, mehr Farben (MAJD HOLNAP ist in Farbe, aber so grau-braun und entsättigt, dass er fast monochrom wirkt) oder geregelte Beziehungsverhältnisse gibt es am Ende nicht. Das dürfte auch die ungarische zeitgenössische Filmkritik damals aufgebracht haben, die sich über die Unordnung in den gezeigten Zimmern echauffierte und einen Hausputz forderte.
Hier ist noch die Gelegenheit, um die absolut fantastische Meszléry Judit, die Darstellerin Eszters, zu loben: vielleicht die tollste Schauspielerin, die ich beim ganzen Festival erleben durfte und das waren sehr viele! Rau und zärtlich, abweisend und attraktiv, mit einer pragmatisch-alltäglichen Gelassenheit und einer sinnlich-erotischen Ausstrahlung. Eine Frau mit der man sich als Mann vorstellen kann, diese fürchterliche ungarische Landtristesse zu ohne Schäden überleben – zumindest bis morgen.
Vorführstörungen: Zu so später Zeit gelingen dem Vorführer die Rollenwechsel nicht mehr wirklich nahtlos – aber angesichts dessen, was sonst noch so passiert ist, wiegt das nicht sehr schwer. Und außerdem quatscht jemand die ganze Zeit. Offenbar mit sich selbst. Nach einer gewissen Zeit merke ich, dass es Ljudmila Stanukinas ist, die immer wieder auf Russisch vor sich hin brabbelt und verbal auf den Film reagiert. Zunächst scheint es, dass sie sich an der sehr expliziten Darstellung von Nacktheit empört (die allerdings absolut nicht exploitativ oder lüstern-fetischisierend daherkommt). Aber auch wenn die Charaktere angezogen sind brabbelt sie immer wieder vor sich hin. Das fällt stark auf, weil MAJD HOLNAP ein extrem leiser Film ist: keine extradiegetische Musik, ländliche Stille ohne Stadtgeräusche, oft absolute Ruhe wenn die Figuren gerade nicht reden. Nun... es stellte sich in den nächsten Tagen heraus, dass der Regisseurin von TRAMVAJ IDET PO GORODU selbst nach dem vierten Filmblock nicht die Energie fehlte, um noch weiter zu brabbeln.
Freitag, 28. April
ab 10.30 Uhr, Presse-Sichtungsraum im Festival-Zentrum (Wiesbadener Casino-Gesellschaft)
ROSSIJA KAK SON („Russland als Traum“)
Regie: Andrej Silvestrov, Daniil Zinčenko
Russland 2016
72 Minuten, DVD
Dokumentarisches und Essayistisches zur und in der sibirischen Stadt Kansk.
ROSSIJA KAK SON ist ein Gemeinschaftsprojekt, das zwanzig Videokünstler während eines Videofilmfestivals in der Stadt auf die Beine gestellt haben. De facto gibt es also zwanzig verschiedene Regisseure, und Andrej Silvestrov sowie Daniil Zinčenko sind eher als Koordinatoren denn als alleinige Urheber zu sehen.
Diese Produktionsumstände sind dem Film in positiver wie auch in negativer Weise zu sehen. Unzählige Video-Vignetten sind miteinander montiert und da findet sich Witziges neben Prätentiösem, Poetisches neben Pompösem. Das einzige, was durch den Film wie ein roter Faden läuft, sind „Interviews“ mit Menschen, die erzählen, wie sie kürzlich gewaltsam gestorben sind (nach der dritten Geschichte ist dieses Konzept allerdings nicht mehr besonders originell, sondern nur noch nervig) – und eine junge Frau, die singend durch einen Wald läuft (das bleibt bis zum Schluss ein poetischer Lichtblick). Ansonsten viele kleine Filme. Ein amerikanischer Tourist „lernt“ Russisch und schafft es nicht, das nachzusprechen, was ihm die Stimme auf dem Tape vorsagt (nach einer Minute nicht mehr witzig). Ein Mann am Rand eines Flusses lässt aus der Jogginghose, die er trägt und oben weit auseinander zieht, Raketen in den Himmel schießen (kurzweilig gehalten und irgendwie witzig).
Fazit: einen solchen Film braucht im Grunde kein Mensch, und zu lang ist er auch. Aber in den Gefilden des experimentellen Video-Episodenfilms gibt es bestimmt schlimmeres.
Vorführstörung: eigentlich wollte ich einen der Wettbewerbsfilme schauen, die ich durch die ganzen Retrospektiven im Kino verpasste. Kein besonders extravaganter Plan, denn der Sichtungsraum hat eigentlich immer sämtliche Filme auf Lager, die beim Festival laufen (mit Ausnahme vielleicht einiger Retrospektivfilme). REKVIJEM ZA GOSPOĐU J., der neue Film von Bojan Vuletić, war allerdings nicht da, weshalb ich zwei Retrospektivfilme am Sonntag aus meinem Sichtungsplan streichen musste, um ihn zu sehen. Adrian Sitarus neuer Film FIXEUR war verfügbar, allerdings hatte die DVD einen Defekt und konnte nicht abgespielt werden. Mészáros Mártas ELTÁVOZOTT NAP („Das Mädchen“) war da, doch nach drei Minuten stellte sich heraus, dass die DVD keine Untertitel hat. Von Evgenij Jufit war gar nichts da. Es war schon eine halbe Stunde vergangen, deshalb nahm ich den kurzen ROSSIJA KAK SON. Als sich herausstellte, dass die DVD ein anamorphisch verzerrtes Bild hat, biss ich die Zähne zusammen und schaute trotzdem...
ab ca. 12.00 Uhr, „Bei Gabriel“ in der Rheinstraße
Mittagspause
Bei meinem ersten goEast-Festival 2012 entdeckte ich dieses wunderbare libanesische Lokal und seitdem ist es absolut undenkbar, dass ich nach Wiesbaden fahre, ohne wenigstens einmal hier zu essen. Ich gönne mir einen „Großen libanesischen Teller“ und bekomme, abgesehen von einigen der Filme, die wunderbarste Delikatesse meines diesjährigen Besuchs. Hummus, Falafel, scharfer Couscous-Salat, ein Tomaten-Petersilie-Salat, eingelegte Rote Bete und Auberginen – jede Zutat in der bestmöglichen Zubereitungsqualität. Ein kulinarisches Gedicht.
Wer Wiesbaden besucht, sollte wenigstens einmal hier Mittag essen gehen!
ab 14.00 Uhr, Caligari FilmBühne
ČESKE HRADY A ZÁMKY („Tschechische Burgen und Schlösser“)
Regie: Karel Hašler
Österreich-Ungarn 1914
11 Minuten, DCP
Ein Herr hofiert auf dem tschechischen Land eine Dame und muss dann aus unbekannten Gründen schnellstens nach Prag: da werden Autos entführt, Fahrräder geklaut und schließlich gar Polizisten abgehängt, um rechtzeitig zum Termin zu kommen...
Karel Hašler war so etwas wie ein Universalkünstler: Schauspieler, Theater- und Filmregisseur sowie -autor, Schriftsteller, Dichter, Komponist, Songschreiber, Sänger und Kabarettist – und gemäß dem, was zu sehen ist, war Hašler auch Stuntman. Bei ČESKE HRADY A ZÁMKY führte er nicht nur Regie, sondern schrieb auch das Drehbuch und spielte selbst die Hauptrolle. Der Film selbst war kein Kinofilm, sondern ein Einführungsfilm zu einem Theaterstück mit dem Titel „Pán bez kvartýru“ (Der Herr ohne Wohnung): Teil einer multimedialen Aufführung also. Entsprechend endet der Film ohne „Ende“-Titel, als sich Hašler durch die Dachluke eines Gebäudes nach unten seilt – im Theater sollte er sich wahrscheinlich auch von oben auf die Bühne herunterseilen.
ČESKE HRADY A ZÁMKY kann es in Sachen Witz und Tempo durchaus mit den zeitgenössischen US-amerikanischen Komödien Mack Sennetts mithalten: nachdem Hašler erst einmal losläuft, um in Prag einen ominösen Termin rechtzeitig zu erreichen, gibt es kein Halten mehr. Nach wilden Autoverfolgungsjagden folgen akrobatische Balanceakte auf den Dächern hoher Prager Gebäude – und entweder beherrschte Hašler tatsächlich sein Handwerk so gut, dass er Attrappen vertuschen konnte, oder aber er und seine Co-Darsteller turnten an manchen Stellen tatsächlich 15 Meter über dem Boden. Slapstick-Action made in Bohemia – genau wegen solcherlei Raritäten fahre ich zum goEast. Und wegen des folgenden Hauptfilms...
STARCI NA CHMELU („Hopfenpflücker“)
Regie: Ladislav Rychman
ČSSR 1964
90 Minuten, DCP
Eine Schulklasse hilft im Sommer bei der Hopfenernte. Dabei kommen sich die zwei radikalen Individualisten Filip und Hanka näher: er hat sich aus dem Gemeinschaftsschlafraum davon gemacht und sich mit „geliehenem“ Mobiliar auf dem Dachboden ein gemütliches Einzelzimmer eingerichtet, um in Ruhe lesen zu können (Marx, Masaryk und Seneca) – sie weigert sich, Abends in Arbeitsklamotten herumzulaufen und bevorzugt elegante Garderobe. Der Rivale Hans wirbt ebenfalls um Hanka und intrigiert gegen Filip...
© goEast Filmfestival |
Die Kamera schwebt am Rande eines Hopfenstrauch-Hains entlang (oder war das Hopfen? – der Titel des Films lässt das zumindest vermuten). Am Horizont sieht man eine Erhebung, die im leichten Gegenlicht von drei dunkel gekleideten Männern bestiegen wird. Sie sind bewaffnet – nein... wir sind ja nicht in einem Western (oder doch?)... sie tragen Gitarren und fangen an zu spielen und zu singen. Stimmen den Zuschauer in den Film ein und tragen zugleich das Lied vor, das STARCI NA CHMELU immer wieder begleiten wird, nämlich „Téma milenci v texaskách“ (Das Thema der Jeans-tragenden Liebenden). Die Gitarren-Linie wäre, wenn man es sich richtig überlegt, in einem Western auch gar nicht so verkehrt. Dezent ziehen sich die drei Musiker in Schwarz nach knapp einer Minute zurück – werden aber mehrmals wieder zurückkehren, um bei dem gleichen Lied, mit anderem Text, die Handlung wie ein griechischer Chor zu kommentieren. Zuschauer, denen nach diesem Anfang noch nicht alle sensorischen Rezeptoren geöffnet wurden, sind entweder tot oder lebendig-tote Zyniker. Wow! Wenn STARCI NA CHMELU so bleibt, wird das ein Knaller. Tatsächlich wurde er jedoch nur noch besser!
Aus einer total banalen Teenager-Schmonzette im Musical-Format zaubert Ladislav Rychman, der zumindest in seinem englischen Wikipedia-Eintrag als Pionier des tschechischen Musikvideos genannt wird, ein wahres Wunderwerk. Alles ist nur noch Tanz, Musik, Bewegung, Gesang, Farbe, zu purer Essenz konzentrierte Emotion. Das ist dermaßen dicht, dass STARCI NA CHMELU zwischendurch dem puren Experimentalfilm näher scheint als dem narrativen Film. Vielleicht kommt der Film einfach dem Wesen des Musicals (heißt: mit der Filmung von Musik, Tanz und Gesang zu „erzählen“) einfach so nahe wie nur die besten und kühnsten Vertreter seines Genres.
Für sich genommen mögen viele Bilder aus STARCI NA CHMELU etwas formalistisch und abstrakt erscheinen und manchmal könnte man denken, dass die inszenatorische Virtuosität (über die man mehrere Artikel schreiben könnte) zum Selbstzweck wird – doch das ist nicht der Fall. Denn die banale Teenager-Schmonzette wird mit zunehmender Laufzeit immer intensiver und existentieller. Da lieben sich zwei junge Menschen und treffen auf einen doppelten Widerstand: die Rivalität eines anderen Jungen – und den bürokratischen und puritanischen Starrsinn der Erwachsenen, die die Jugendlichen nur drillen wollen, ihnen aber kein eigenständiges Leben zugestehen möchten, oder auch Liebe (und von Sexualität gar zu schweigen). Der Film lässt keinen Zweifel daran, dass er auf der Seite seiner beiden Protagonisten steht. Es gibt eine lange Traumsequenz (für einen Mainstreamfilm, der STARCI NA CHMELU trotz allem eben auch war, sogar außergewöhnlich lang): der Protagonist träumt zu dem romantischen Lied „Den je krásný“ (Der Tag ist schön), dass seine Liebe zu Hanka bald zum Vorbild für die gesamte Gesellschaft wird und sogar die Hopfenernte danach ausgerichtet wird. Später hat sich das ganze ausgeträumt: der Film endet mit der Verbannung der beiden aus der Gesellschaft. Und das ist zweifelsohne eines der großartigsten „happy unhappy ending“, den man sich denken kann: ihre Verbannung ist ihre Befreiung. „Habe keinen Mitleid mit ihnen!“, sagt eine Lehrerin zu dem Rivalen Hans, als dieser dem wegfahrenden Bus der Liebenden hinterher blickt. „Ich bemitleide sie nicht. Ich beneide sie“, sagt er voller Sehnsucht in den Augen und in der Stimme.
Bevor hier noch 20.000 Zeichen mehr schreibe (zum Beispiel über die absolut begnadete Nutzung des Cinemascope-Formats) schlage ich dem geneigten Leser vor, selbst einen Blick auf einige der Musiknummern des Films zu werfen.
Hier ein Teil des oben besprochenen Filmanfangs. Man beachte, wie punktgenau in die Bewegung der Gitarristen geschnitten wird.
Hier die Vorbereitung zum Schulball. Rychman frönt hier in wunderbaren „dutch angles“. Die teilweise silhouettierten Bilder, und auch das Ende des Songs mit dem Aufsagen des Alphabets geben dem ganzen eine fast abstrakte Note.
Hier ein kurzer Ausschnitt aus der langen „Den je krásný“-Sequenz. Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, ob gleich zwei Träume nacheinander folgen oder es ein Traum-im-Traum gibt.
Hier wieder „Téma milenci v texaskách“, diesmal ganz kurz zu einer Prügelei in „dutch angles“.
Hier die Nummer „Bosa Nova“: der Höhepunkt des Films in Sachen expressiver Licht- und Farbgebung.
Und hier noch die Schluss-Version von „Téma milenci v texaskách“.
Vorführstörungen: Die Vorführung ist auf technischer Ebene makellos. Einige Zuschauer liefern sich allerdings immer wieder ironische Lachwettbewerbe, bei denen es darum geht, wer jetzt am lautesten die stilisierten Musical-Momente verlacht. Gefühlsmäßig handelte es sich auf jeden Fall um zynisch-ironische Verlachung, und nicht um befreites Lachen. Traurig...
Die ganzen dämlichen Pannen bei den Projektionen im Murnau und teilweise auch das Verhalten mancher Zuschauer im Caligari ließen mich manchmal daran zweifeln, ob ich 2018 wirklich wieder zum goEast-Festival kommen möchte. STARCI NA CHMELU beseitigt diese Zweifel wieder. Es sind genau solche Filme, für die ich Jahr für Jahr nach Wiesbaden fahre. Es sind solche Filme, für die man diese Kunstform liebt. Es sind diese Filme, für die man das Leben liebt.
ab 17.30 Uhr, Murnau-Filmtheater
BEDNIEREBA / FELICITA: EIN VERGESSENER GEORGISCHER CUT VON GEORGE ROMEROS „DAWN OF THE DEAD“
Regie: Salomé Alexi / N.N.
Georgien 2009 / Deutschland 2017
ca. 5-10 Minuten, irgendeine ranzige DVD aus der digitalen Zombie-Hölle
Zu Beginn ist die ganze Welt gestaucht: ein Film im Format von 1.85:1 oder 1.78:1 wird anamorphisch auf 1.33:1 zusammen gestreckt, so dass alles länglich gequetscht ist. Hier ist auch die Apokalypse ausgebrochen, denn alle Farben sind völlig durcheinander. Die Menschen haben allesamt blaue Gesichter wie die Zombies in George Romeros DAWN OF THE DEAD.
Nach 5 bis 10 Minuten wurde dieses klägliche Spektakel schließlich abgebrochen. Es folgte die Ankündigung, dass eine alternative DVD irgendwo im Stadtzentrum geholt wird. Deshalb läuft erst einmal der Hauptfilm des Filmblocks.
Sprachlos...
Übrigens war die Regisseurin Salomé Alexi bei dieser Vermurksung einer versuchten Filmvorführung anwesend...
FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES
Regie: Jasmila Žbanić
Bosnien und Herzegowina 2013
75 Minuten, DCP
Die australische Schauspielerin Kym Vercoe (gespielt von Kym Vercoe selbst) reist während eines Sommers nach Višegrad, Bosnien-Herzegowina, auf den Spuren des Schriftstellers Ivo Andrić‘ und seiner „Brücke über die Drina“. Im Hotel beschleicht sie ein merkwürdiges Gefühl. Zurück in Australien findet sie heraus, dass ihre Unterkunft während der jugoslawischen Zerfallskriege als Massenvergewaltigungslager diente. Im Winter kehrt sie zurück, um mehr zu erfahren...
© goEast Filmfestival |
FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES ist eine wahre Geschichte aus dem Leben der australischen Schauspielerin Kym Vercoe. Bei einem Besuch in Bosnien übernachtete sie in einem Hotel, in dem nichts darauf hinwies, dass vor ein paar Jahren dort über Hundert Frauen vergewaltigt und ermordet worden waren. Angeblich wurde das Hotel noch nicht einmal richtig renoviert. In enger Zusammenarbeit mit der bosnischen Regisseurin Jasmila Žbanić entwickelte die Australierin daraus den Film (ihr künstlerischer Input als Initiatorin des Projekts, Autorin und Hauptdarstellerin war also wahrscheinlich nicht weniger bedeutend als Žbanić‘ Beitrag als Regisseurin).
In Deutschland ist man daran gewöhnt, dass jeglicher historischer Stoff in eine period-Kostüm-Schmonzette umgewandelt wird: die DDR gibt es dann in Grau-Braun, und die Nazi-Ära mit vielen bunten Hakenkreuzfahnen und schnittigen SS-Uniformen (und wehe da stimmt ein Knopf nicht! Dann melden sich die Leute zu Wort, von denen man annehmen kann, dass sie die Gestalten sind, die an Samstagen auf Provinzstadt-Flohmärkten bei den entsprechenden Ständen Landser-Memorabilia und -Literatur kaufen). Am Schluss solcher Historien-Schmonzetten haben alle was gelernt – meistens, dass die Deutschen im Zweiten Weltkrieg ganz schön schwer gelitten haben. Wer, wie Petzold mit PHOENIX, nicht darauf einstimmt, dem wird es richtig schwer gemacht. Und wer kein Gekröse zeigt, gilt als Feigling, der sich nicht traut, „Tabus“ zu „brechen“ (in diese Richtung gab es im Vorfeld zur Veröffentlichung von Fatih Akins THE CUT teils sehr merkwürdige Wortmeldungen).
In FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES gibt es absolut konsequent kein einziges Bild von den thematisierten Gewaltverbrechen zu sehen. Das hat nichts damit zu tun, dass Vercoe und Žbanić keine „Tabus brechen“ wollen. Das hat vielleicht ein bisschen mit Pietät zu tun. Das ist aber im Grunde auch eine sehr konsequente Art, die Abwesenheit von Erinnerung an Massenverbrechen zu filmen. Indem wir mit Vercoe zusammen nach und nach entdecken, was vor einigen Jahren in dem kleinen beschaulichen Städtchen mit der Brücke über die Drina geschehen ist, passiert etwas interessantes: sukzessive fängt der Zuschauer (wie Vercoe) an, sein eigenes Wissen mit den völlig „banalen“ und „trivialen“ Bildern der Stadt abzugleichen. Eine harmlose, idyllische Brücke, das schöne Kopfsteinpflaster auf dieser Brücke, ein Hotelkorridor, ein Hotelbett: das alles verwandelt sich nach und nach im Kopf des Zuschauers in „aufgeladene“ Erinnerungsorte.
Ohne mich (bisher!) mit Claude Lanzmanns Dokumentarfilmen auszukennen, so dürften Vercoe und Žbanić einige von dessen Ansätzen in die Form eines fiktional-narrativen Spielfilms übertragen haben: kein „Archivmaterial“ (hier wären das wohl: Rückblenden mit simulierter Gewalt), sondern nur heutige Befragungen von (hier: gespielten) Zeugen an den Orten des Verbrechens. Wie unsicher und tastend Vercoe die Orte des Verbrechens erkundet, so ist auch sie selbst ihrer gesamten Handlungsweise unsicher. Hat sie zum Beispiel das Recht, den angelsächsischen Touristenführer Tim Clancy, der seit Jahren in Bosnien lebt und arbeitet, suggestiv zu fragen, warum er die Verbrechen in seinen Reiseführern nicht erwähnt? Und was kann sie eigentlich, als einfache australische Touristin, die sich noch nicht mal richtig mit dem Land auskennt, da wirklich ausrichten? Soll sie sich „einmischen“, wenn selbst ihr Umfeld in Australien (Mutter, Partner, Freunde) ihr ständig sagt, dass sie das jetzt mal sein lassen soll? Antworten gibt es keine, sondern hauptsächlich nur Fragen. Vercoe verabschiedet sich schließlich mit einer kleinen persönlichen, symbolischen Gedenkggeste, die in nicht einmal einer Minute von der Hotelputzfrau weggeräumt werden dürfte, aber im Kopf des Zuschauers noch lange nachhallt.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Ansatz im Bereich des Spielfilms (und FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES ist von A bis Z wie ein Spielfilm gefilmt) bislang völlig ungeprobt geblieben ist. Falls nein, dann Chapeau, Kym Vercoe und Jasmila Žbanić. Falls ja – dann auch trotzdem Chapeau, Kym Vercoe und Jasmila Žbanić!
BEDNIEREBA / FELICITA
Regie: Salomé Alexi
Georgien 2009
30 Minuten, irgendeine CD oder DVD mit mieser Bildqualität
In einem georgischen Bergdorf stirbt ein Mann bei einem Autounfall. Die Ehefrau befindet sich in Italien, um ihre Familie finanziell zu versorgen, kann leider nicht spontan in die Heimat fliegen und schaltet sich per Telefon der Trauerfeier zu...
© goEast Filmfestival |
Über Salomé Alexi schrieb ich schon 2015, als ich ihre wunderbare Schicksalsmaschine-Horrorfilm-Komödie KREDITIS LIMITI in meinem goEast-Festivalbericht besprach. Jetzt fand ich heraus, dass sie die Tochter von Lana und die Enkelin von Nutsa Gogoberidze ist: also die „dritte Gogoberidze“ einer ganzen Filmemacherinnen-Dynastie (Alexi heißt sie, weil sie den Nachnamen ihres Vaters, des 1978 verstorbenen Ehemanns Lanas, trägt).
BEDNIEREBA / FELICITA lässt keinen Zweifel daran, dass hier die Regisseurin von KREDITIS LIMITI am Werk ist: lange, fixe, minutiös kadrierte Tableaus mit einem extrem guten Blick für Raumkompositionen, ein ätzender, schwarzer und trotzdem humanistischer Humor, ein großes Gespür für die Absurditäten des Lebens, eine aktive, sich kümmernde weibliche Hauptfigur (hier allerdings nur hörbar, aber unsichtbar). Ob der Film vielleicht ein Tick zu lang ist, kann ich schwer sagen: die ständigen Pannen bei den Vorführungen steigern nicht gerade die Konzentration. Auf jeden Fall ist er sehr sehenswert.
Bei dem Q & A verriet Alexi, dass die starren Tableaus aus finanziellen Überlegungen heraus entstanden: das Geld reichte nur für ein Stativ, nicht für Dollies. Den Film hat Alexi komplett selbst aus eigener Kasse und mit Anleihen bei Freunden und Verwandten produziert, und gedreht wurde mit Laiendarstellern. Ihrer Meinung nach ein fantastischer Dreh: die Dorfbewohner hatten kein Problem mit langen Drehpausen, weil sie im Zweifelsfall 30 Meter weiter kurz nach Hause gehen konnten, oder aber einfach geduldig sitzen blieben, plauderten, entspannt eine rauchten.
Wie FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES ist auch BEDNIEREBA / FELICITA ein Film über Abwesenheit: hier nicht von Erinnerungszeichen, sondern von erwachsenen Frauen in wirtschaftlich benachteiligten Dörfern. Ein Bild von Arbeitsmigration vom anderen Ende her betrachtet – und was Alexi zu sagen hat, ist nicht schmeichelhaft: Rentnerinnen und Rentner, arbeitslose Frauen und Männer, die, wenn die Telefonverbindung gerade wieder gestört ist, hemmungslos über die „Italienerin“ lästern, die „ihr“ Dorf im Stich lässt und es sich in Italien gut gehen lässt – obwohl gerade sie mit ihrem Einkommen das halbe Dorf unterhält. Die Kinder des Dorfes (aber auch der sympathische Bruder des Verstorbenen) lassen trotzdem Hoffnung, dass hier nicht alles in Niederträchtigkeit versinkt.
Vorführstörungen: Nach dem ersten vermurksten Versuch, den Film zu projizieren, klappte es beim zweiten Mal etwas besser. Richtiges Bildformat, annehmbare Farben. Trotzdem war es eine fürchterliche digitale Kopie (gefühlt eine kaum 100MB große Datei auf einer CD): extrem krisselig und voller weißer Pixelartefakte auf den etwas dunkleren Farbflächen. Da die Figuren alle in Trauer Schwarz tragen, war das sehr auffällig. Die Frage, ob der Look des Films tatsächlich „gritty“ sein sollte (oder das doch die Projektion war) verneinte Alexi beim Q & A vehement: das Bild, aufgenommen mit einer hochqualitativen digitalen Kamera, sollte eigentlich absolut sauber, scharf und heller sein. Auch wenn sie es höflich ausdrückte (ich glaube, bei Agnieszka Holland wären Köpfe gerollt – dazu aber später mehr): Alexi war über die Projektion sehr verärgert.
ab 20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
CIPKA („Pussy“)
Regie: Renata Gąsiorowska
Polen 2016
8 Minuten, DCP
Eine junge Frau möchte es sich in ihrer Wohnung gemütlich machen und sich selbst befriedigen. Nach allerlei Störungen verwandelt sich ihr Geschlecht dann auch noch in einen kleinen Käfer, der ihr wegrennt und den sie erst wieder fangen muss, bevor sie endlich zur Sache kommen kann.
Ein kurzer Animationsfilm, der wahrscheinlich am gleichen Tag in Jena auf dem cellu l‘art-Kurzfilmfestival lief und dort den Preis des besten Films im Bereich Experimental, Animation, Dokumentation gewann. Ein kurzweiliger, charmanter Film – eher verspielt-witzig als wirklich provokativ, auch wenn ich das für das Polen der PiS-Ära nicht mit Sicherheit sagen kann.
HRA O JABLKO („Spiel um den Apfel“)
Regie: Věra Chytilová
ČSSR 1977
92 Minuten, 35mm
Dr. John (gespielt von Jiří Menzel, wie Chytilová selbst eine zentrale Figur der Tschechoslowakischen Neuen Welle) ist Arzt auf einer Entbindungsstation und ein kleiner Don Juan. Er hat mehrere Liebhaberinnen und bandelt dann auch rasch mit der neuen Schwester Anna an. Bald wird es für ihn schwierig, seine Arbeit und seine ganzen Liebschaften zu koordinieren.
© goEast Filmfestival |
Im Vorspann treibt sich die Kamera durch einen Garten – vielleicht der Garten Edens? Denn da ist auch ein Apfelbaum. Wild und nervös fährt sie auf die Äpfel zu, zoomt rein. Äpfel, Äpfel, Äpfel. Dann filmt sie auch die Äpfel, die heruntergefallen sind und im Gras liegen. Einige davon sind noch schön, andere sind schon lädiert und einige Exemplare sind bereits verfault. Ohne zur Ruhe zu kommen (HRA O JABLKO ist über weite Strecken mit einer extrem mobilen Handkamera gefilmt, die kaum jemals still steht) geht es weiter in die Entbindungsstation und da geht alles drunter und drüber: schreiende Hochschwangere, gestresste Ärzte, eilig umherlaufende Schwestern, Schweiß, Blut, kreischende Neugeborene. Keine Ruhe für die etwa 10 nächsten Minuten. Die Kamera tobt durch das Krankenhaus. Die fragmentierte, elliptische Montage ist nicht an logische Zusammenhänge interessiert, sondern an emotionaler Wucht. Blutige dokumentarische Bilder von Geburten werden mit Essensszenen aus der Kantine und weißen Mäusen (aus dem Versuchslabor im Krankenhaus?) zusammengeschnitten. Kurz: Chytilová kennt keine Gnade und macht keine Gefangene. Eine unglaubliche tour-de-force eines Filmanfangs.
So etwas wie Ruhe kehrt zum ersten Mal ein, als wir das Krankenhaus verlassen. Am verhältnismäßig ruhigsten ist es dann, wenn nur zwei Figuren in einem Raum sind – zumindest, solange keiner der beiden am Rande des Nervenzusammenbruchs oder des hysterischen Anfalls ist und das sind die Figuren HRA O JABLKO meist dann nicht, wenn sie gerade scharf auf Sex sind. Geilheit und hysterische Nervenanspannung: die zwei Grundzustände, in der sich die Charaktere – ob nüchtern oder schon angetrunken – im Film alternativ befinden. Nach und nach schält sich heraus, dass Dr. John die Hauptfigur sein soll, der eine Affäre mit der Ehefrau eines Arztkollegen hat und gleichzeitig die neue Schwester Anna anflirtet. Aber das stellt sich nur nach und nach heraus, weil HRA O JABLKO praktisch vollkommen frei von jeglicher Exposition ist und weil Chytilová sehr „demokratisch“ inszeniert: in diesem extrem dichten Film passiert unglaublich vieles – aber eine Wertung, was „wichtig“ ist und was nicht, gibt es nicht. Wenn Dr. John mit einer seiner Liebhaberinnen in seine Stammkneipe geht, dann lauschen wir nicht ihrem Gespräch: die Kamera wendet sich der Kabarettnummer zu, mit einer Barpianistin und einer leicht bekleideten Sängerin-Tänzerin. Im Krankenhaus spitzt sich diese Methode zu: flirtende Andeutungen und hoffnungsvolle Blicke, der Zustand der Hochschwangeren im Nebenraum sowie Personalfragen und das Abarbeiten von Monatsberichten prasseln fast gleichzeitig auf den Zuschauer ein.
HRA O JABLKO ist im Grunde eine einfache Screwball-Komödie, bloß ist das Tempo hier noch mal drei mal höher als bei den Hawks-Klassikern. Es ist ein absolut überwältigender Film, aber nicht im Sinne der tyrannischen Perfektion eines Kubricks, sondern aufgrund seiner „rohen“ und „ungeschliffenen“ Energie. Großartig!
HRA O JABLKO wurde, gemäß der Dame, die den Film vor der Projektion präsentierte, kurz nach Erscheinen verboten. Doch Chytilová wußte, wie sie sich für den Film einsetzen konnte. Ein hochrangiges Mitglied der tschechoslowakischen Filmkontrollkommission (der zufällig auch ein hochrangiger Armeeoffizier war) hatte sich kurz vor der Genehmigung des Filmdrehs für Chytilová eingesetzt und seine Intervention war maßgeblich dafür, dass sie den Film in Angriff nehmen konnte. Als der fertige Film kontrolliert wurde, setzte er sich für einen Kompromiss ein, um ein Verbot zu verhindern: Chytilová kürzte die blutigen dokumentarischen Bilder von Geburten und Kaiserschnittoperationen um einige Sekunden (Ausschnitte sind immer noch im fertigen Film erhalten). Als HRA O JABLKO kurz nach dem Erscheinen dann trotzdem noch verboten wurde, fuhr sie direkt zum Aufenthaltsort ihres Helfers hin (zu diesem Zeitpunkt der Anekdote nach eine ländliche Alkoholentzugsklinik) und appellierte an ihn: vom Film sprach sie überhaupt nicht, sondern davon, dass das Verbot ein Affront gegen seine Autorität sei. Er sei für die Veröffentlichung des Films verantwortlich, und wenn jetzt HRA O JABLKO verboten wird, dann würde er ja total lächerlich da stehen. Ein überzeugendes Argument: der hochrangige Beamte (ob trocken oder betrunken) fuhr sogleich nach Prag und machte da solange an passender Stelle Radau, bis der Film wieder in die Kinos genommen wurde. Egal, ob diese Anekdote nun stimmt, sie enthält sicher auch ein Körnchen Wahrheit. Erstens waren solcherlei Fälle von Kompetenz- und Verantwortungsgerangel für realsozialistische Staaten nicht untypisch. Zweitens passt die Geschichte zu Chytilová: wenn sie geschlagen wurde, verkroch sie sich nicht weinend in die Ecke, sondern schlug mit den Waffen ihres Gegners zurück.
Vorführstörungen: die Kadrierung des Bildes wurde bei zwei Filmrollen vermurkst und es war unten ein relativ breiter schwarzer Streifen zu sehen. Da die Kopie keine Untertitel hatte, wurden diese live mit einem Beamer projiziert, doch die Person, die sich kümmern sollte, war nicht da. Eine junge Dame mit guten Tschechisch-Kenntnissen, die eigentlich nur als einfache Zuschauerin den Film sehen wollte, opferte sich für diese Aufgabe. Sie war offensichtlich und verständlicherweise überfordert, weil sie HRA O JABLKO wahrscheinlich zum ersten Mal sah und es sich um einen Film handelt, in dem manchmal drei und mehr Personen gleichzeitig und extrem schnell sprechen. Des weiteren war die alte russische Filmregisseurin wieder in einer mitteilungsseligen Stimmung und blabberte die ganze Zeit. Flankiert wurde sie von einem jungen Mann, der in ihrer Nähe saß und ebenfalls die ganze Zeit vor sich her quasselte oder demonstrativ laut lachte (wenn er nicht gerade – ebenso demonstrativ laut – hustete und schniefte). Beide Störer machten sich Konkurrenz und stachelten sich gegenseitig regelrecht an.
ab 22.15 Uhr, Murnau-Filmtheater
WIR LASSEN UNS SCHEIDEN
Regie: Ingrid Reschke
DDR 1968
90 Minuten, 35mm
Die Ehepartner Koch haben gerade eine Ehekrise. Er zieht aus und fängt an, mit der Musiklehrerin des Sohnes anzubandeln. Sie hingegen lernt einen Architekten kennen, der am Bau des Fernsehturms am Alexanderplatz mitwirkt. Zwischendurch streiten sich die beiden Ehepartner darüber, wer jetzt mit der Erziehung des Sohns dran ist. Und schließlich kommen sie sich wieder näher.
Vielleicht war es unfair, diese Ehekomödie nach Chytilovás HRA O JABLKO zu zeigen, der ziemlich viele Filme im direkten Vergleich altbacken und bieder aussehen lässt, aber WIR LASSEN UNS SCHEIDEN war dann doch ein kleiner Tiefpunkt des Festivals. Filmhistorisch ist er nicht uninteressant: es war einer der Filme, die nach dem „Kahlschlag-Plenum“ produziert wurden, als es darum ging, in kurzer Zeit wieder die ostdeutsche Filmindustrie anzukurbeln und die Kinos mit lokalen Produktionen zu versorgen – wobei narrative und ästhetische Experimente (vorerst!) wieder out waren. WIR LASSEN UNS SCHEIDEN war auch ein Film, der eine Art „konservative“ Wende in der Familienpolitik der DDR begleiten sollte: das Scheidungsrecht wurde belassen, doch die Scheidungsrate sollte trotzdem nach unten gedrückt werden. Das macht den Film filmhistorisch irgendwie auch wieder interessant: denn wenn die Frau nicht arbeiten würde, könnte man man ihn glatt für eine bundesdeutsche Ehekomödie halten. Am Ende ist die Kernfamilie wieder glücklich und einträchtig vereint und die „traditionellen, bürgerlichen Familienwerte“ wurden geschützt. Dass die Ehefrau arbeitet, wird aber nicht trotzdem zu keinem Zeitpunkt zur Disposition gestellt.
Handwerklich ist WIR LASSEN UNS SCHEIDEN gut gemacht, aber eben auch recht beliebig. Das Drehbuch ist Stangenware: jegliche Wendung kann man etwa 50 Meter gegen den Wind riechen. Und der Humor war absolut nicht meins: Wenn Papa sich mit Sohnemann über einen fast zwei Meter breiten Bogen Papier beugt, auf dem detailliert die gemeinsamen Wochenendaktivitäten geplant sind, dann ist das meiner Meinung nach wirklich zu grob gestickt. Gemäß der Dame, die den Film vor der Vorführung einführte, war für die Rolle des Vaters, besetzt vom eher (man könnte fragen: passenderweise?) farblosen Dieter Wien, ursprünglich Armin Mueller-Stahl vorgesehen, der wegen Krankheit allerdings kurzfristig absagen musste. Ob er den Film gerettet hätte, wage ich trotzdem zu bezweifeln.
Vorführstörungen: Etwa in der Mitte des Films schiebt sich plötzlich ein schwarzes Rechteck unten links in das Bild. Wenn da mal nicht schöne Erinnerungen an das „Bonusprogramm“ des letzten Jahres wach werden? Jedenfalls bleibt die schwarze Störstelle auch für die nächsten paar Minuten im Bild. Entnervt gehe ich zur Kasse, um Bescheid zu geben (und hole mir bei der Gelegenheit gleich ein „Frust“-Bier). Ohne weitere Erklärung wird mir nach etwa zwei Minuten gesagt, dass das Problem gelöst sei. Des weiteren wurde WIR LASSEN UNS SCHEIDEN ohne Untertitel gezeigt. Für Zuschauer, die Deutsch nicht fließend verstehen, gibt es deshalb über Kopfhörer eine Simultanübersetzung. Darum brabbelt die alte russische Regisseurin bei diesem Film besonders laut vor sich hin, damit sie sich selbst durch die Kopfhörer hören kann.
ab 00.00 Uhr, Schlachthof Wiesbaden
goEast-Party mit DJ Malalata und DJ Janeck – und einem kurzen informellen Regisseursgespräch
Auf der traditionellen goEast-Party am Freitag-Abend im Schlachthof (etwa 200 Meter vom Murnau-Kino entfernt) möchte ich bis 01.00 Uhr etwas verweilen, bevor ich einen Freund am Bahnhof abholen werde. In einem Nebenraum wird Frei-Wodka ausgeschenkt. Es ist relativ voll. Auf einmal sehe ich einen Mann, der mir bekannt vorkommt, weil ich ihn im Festivalkatalog gesehen habe. Nach einigem Zögern spreche ich ihn an. Ob er Englisch spricht (ja). Ob er zufälligerweise ein Regisseur aus Rumänien ist (ja). Ob er Adrian Sitaru ist (ja). Ich sage ihm, wie fantastisch ich seinen Film DOMESTIC finde, den ich 2013 beim Festival sah. Wie großartig gefilmt die lange Plansequenz ist, in dem das kleine Mädchen das Huhn in der heimischen Badewanne schlachtet. Wie traurig es ist, dass ich seinen neuen Film FIXEUR wegen terminlichen Unpässlichkeiten verpasst habe und ausgerechnet dieser Film im Presseraum nicht läuft. Wir plaudern noch fünf Minuten. Er gibt mir seine Mail-Adresse und meint, dass er mir eventuell den Film über einen Link geben könne. Wir verabschieden uns. Er geht zur Bar, um sich ein neues Bier zu holen. Ich gehe hinaus in Richtung Bahnhof...
In Teil 2 meines Festivalberichts, der in Kürze hier erscheinen wird, geht es unter anderem um Mészáros Márta, um Frauenknastfilme aus dem realsozialistischen Bulgarien und um die wichtige Frage, warum Agnieszka Holland eigentlich Jean-Marie Le Pen nicht getötet hat...