Mittwoch, 3. Oktober 2018

Tutto è film: Bericht vom 5. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms (Teil 2)








Samstag, 28. Juli

14.00 Uhr

IL SOLE NELLA PELLE ("Ein Sommer voller Zärtlichkeit")
Regie: Giorgio Stegani
Italien 1971
92 Minuten (Deutsche Fassung)
Die Schülerin und Industriellentochter Lisa (Ornella Muti) liebt den etwas älteren italienisch-französischen Hippie Robert (französisch auszusprechen – gespielt von Alessio Orano). Da dieser das Leben eher locker, gitarrenspielend und singend angeht, wird er von Lisas Vater (Chris Avram) als Gammler angesehen – und Ausländer ist er ja auch noch. Deshalb brechen die beiden jungen Menschen zu einer kleinen Insel auf, um dort ihre Liebe auszuleben, doch der Vater hat ihnen längst die Polizei (unter anderem Luigi Pistilli) an den Hals gehetzt.
Der als großers Liebesfilm angekündigte Film des Terza Visione 2017 (LA SPOSINA) hatte mich damals nicht vollends überzeugt. Stattdessen gab es nun in diesem Jahr IL SOLE NELLA PELLE, und dieser Film war wirklich einer der konsequentesten, bittersüßesten und schönsten Liebesfilme, die man sich denken kann – vollkommen der Liebe seiner beiden Protagonisten ergeben, in jedem Moment, 24 Bilder pro Sekunde.
Die Liebe wird gleich zu Beginn des Films entflammt, als Lisa und Robert aneinander vorbei gehen und sich in die Augen blicken. Zunächst braucht es überhaupt keine Worte dazu. Die Annäherung findet dann in "Polynesien" statt, einem illegalen FKK-Camp außerhalb der Stadt, wo Lisa zusammen mit einigen Mitschülern mitgeht, weil es da eben Nackte zu sehen gibt. Dort findet sich Robert dann auch nackt, eine sanfte Melodie spielend, hinter einem Wasserfall sitzend, der wie ihn wie ein Vorhang verdeckt. Schließlich spaziert er ein Stück mit Lisa, seine Gitarre als natürlichen Lendenschutz vor sich tragend – und lässt sich lieber freiwillig von der Polizei verhaften, als wegzurennen. Mit Lisa ist es anders. Mit ihr würde er bis ans Ende der Welt rennen oder eben in einem Boot zu einer kleinen Insel wenige Kilometer vor der Küste segeln, um dort mit ihr auf ewig ohne Polizei und ohne kapitalistischen Druck zu leben.
Der größte Kontrahent von Lisas und Roberts Liebe ist nicht in erster Linie die Polizei, sondern Lisas Vater: ein Mann, der sich für äußerst progressiv und liberal hält, solange seine Tochter von den ihr gewährten Freiheit gefälligst keinen Gebrauch macht. Vor allem ist er ein Mann, der nicht gemerkt hat, dass seine Tochter größer geworden ist und der sie nach wie vor gerne als "unschuldige" Sechsjährige sieht, die ihre Arme nach ihrem Vater ausstreckt, sobald sie ihn sieht. Konsequenterweise sieht der Vater immer wieder Rückblenden dieser Szenen vor seinen Augen, wenn er seine Tochter mit Robert sieht, durch ihr leeres Zimmer geht oder sie schließlich nach Ende der Hetzjagd wieder zu sich nehmen will (es aber mit Druck tun muss). Er ist gewissermaßen der erste, der sie verdinglicht, indem er sie zu einer Erinnerung degradiert.
Wenn der Vater seine Tochter liebt (also in Form einer sechsjährigen, "unschuldigen" Erinnerung – nicht als real existierenden Menschen), so verabscheut er Robert: ein Freigeist ohne reguläre Tagesbeschäftigung, ein gitarrenspielender Hippie und ein Ausländer. Dass Robert zur Hälfte Italiener ist, zählt für ihn nicht. Als er ihn kennenlernt, taxiert er ihn ganz minutiös mit verwundertem und leicht angeekeltem Blick: eine geradezu obszöne Fleischbeschau; als würde er ein erlegtes, exotisches Tier betrachten.
Davor fliehen sie, Lisa und Robert, mit einem Segelboot Papas und bauen sich auf der Insel eine eigene, kurzlebige Utopie der Liebe auf (sie dauert nicht einen ganzen Sommer, wie der deutsche Titel suggeriert, sondern nur knapp 24 Stunden). Nun... ich hatte kurz nach dem Terza-Visione-Festival das große Vergnügen, den eher zweifelhaften THE BLUE LAGOON aus dem Jahr 1980 in einer 35mm-Vorstellung zu sehen (bei einer "öffentlichen Testsichtung", einer 35mm-Sneak also). Gemeinhin heißt es, das italienische Genrekino würde oft bei amerikanischen Vorbildern abkupfern, aber bei IL SOLE NELLA PELLE und THE BLUE LAGOON ist es offensichtlich anders rum. Hymnische Naturbilder, ein junges Paar, nackt an einem paradiesischen Strand, Rumturteln im Meer mit Unterwasserkamera: das gibt es in beiden Filmen und beide Filme wollen nicht weniger als die ganz großen Gefühle. THE BLUE LAGOON verbockt es kläglich (wenn auch oft auf faszinierende Weise), IL SOLE NELLA PELLE kriegt sie, die großen Gefühle. Wahrscheinlich liegt es daran, dass Lisa und Robert als glaubwürdige Liebende aus Fleisch und Blut erscheinen, die ihre Liebe vor allem mit Blicken Ausdruck verleihen, und nicht als klotzige Pappkameraden, die eben noch als kleine Kinder fürchterlich nervig waren und sich nun in fürchterlich tumben Sätzen austauschen; daran, dass der italienische Film die Liebe seiner Protagonisten durchaus "unschuldig" filmt, ohne lüsternen Blick (den er ja immer wieder stark verurteilt), während der amerikanische Film niemals ganz den Verdacht zu tilgen vermag, Fantasien nach blutjungen nackten Mädchen befriedigen zu wollen; daran, dass italienische Komponisten, hier im Speziellen Gianni Marchetti, musikalische Halbgötter waren (hier ein Musikausschnitt – begleitet von einigen brutal beschnittenen pan-and-scan-Bildern aus diesem tollen Cinemascope-Film).
Die Utopie, die sie da auf ihrer kleinen Insel aufbauen, ist umhauend. Sie schwimmen ein wenig im Meer. Dann bricht sie ihre Scheu und zieht sich aus, um ihre Bluse auf dem heißen Sand zu trocknen. Und schließlich verschwimmt alles mit der großartigen Musik von Gianni Marchetti zu reinen Gefühlen: exzessiv ausgespielt in Bildern der Liebenden vor der paradiesischen Landschaft im Sonnenuntergang, Bilder, die manche Leute wohl als Kitsch bezeichnen würden, weil sie leider nicht das ganz große Gefühlskino darin sehen und bei diesem Anblick zerschmelzen.
Für kurze Zeit ist IL SOLE NELLA PELLE ein utopischer Film, aber er weiß, dass das nicht ewig dauern kann – ja noch nicht einmal 24 Stunden. Dann werden die Liebenden, die gerade spielerisch über den Strand rennen, von zwei Fischern entdeckt: beide vermuten gleich, dass der Junge das Mädchen wohl vergewaltigen will, aber sonderlich schockieren tut sie diese Annahme nicht, ja es scheint sogar fast ein Wunschgedanke zu sein (eine Dialektik aus Empören und Aufgeilen, die der Mondofilm SVEZIA INFERNO E PARADISO beim Terza Visione letztes Jahr auf viel rohere Weise nicht zeigte, sondern vielmehr gar selbst verkörperte). Wesentlich interessanter für die beiden Fischer ist, dass das verschwundene Segelboot des reichen Industriellen, auf das ein Finderlohn ausgesetzt ist, am Strand bereit zum Mitnehmen anliegt. Dass sie das Boot schließlich mitnehmen und der Küstenwache liefern, löst dann die große Hetzjagd nach den beiden Liebenden aus, die der deutschen Videoveröffentlichung des Films auch den Titel gegeben hat ("Zu Tode gehetzt"). Der Vermutung des Vaters, dass seine Tochter von Robert entführt und nun auf der Insel ununterbrochen vergewaltigt wird, schließt sich die Boulevardpresse nur zu gerne an, und organisiert gleich einen Helikopter, um Bilder davon zu machen. Als die Liebenden schließlich zurückgebracht werden, dürfen natürlich die geifernden "besorgten Bürger" als Zuschauerkolonne hinter der Polizeiabsperrung nicht fehlen. Dass es Lisa eigentlich ganz gut geht, dass sie nicht vergewaltigt worden ist, dass sie Robert so aufrichtig liebt, wie er sie liebt, will niemand sehen. Stattdessen wird sie in der schaurigsten Szene des ganzen Films, die einen wirklich fassungslos zurücklässt, zu einer ärztlichen Untersuchung geschickt: der Arzt schaut Lisa schon genüsslich altherrenschmierig an, während er langsam seinen Gummihandschuh überzieht...
Wenn alles anders gewesen wäre, hätte vielleicht der Kommissar (Luigi Pistilli), der die Suche nach den vermissten Liebenden organisieren muss, Lisas Vater sein können. Er spricht es nicht aus, aber man spürt unterschwellig, dass er für die beiden Liebenden auf der Flucht Mitgefühl hat, und wesentlich weniger Verständnis für Lisas arroganten Vater, der zudem meint, als reicher Industrieboss über die Polizei wie über eine Privatkavallerie verfügen zu können. Da er kein Chef sei, tue er nur das, was ihm sein Chef sagt, meint der Kommissar an einer Stelle etwas verbittert gegenüber dem Industrieboss. Luigi Pistilli (sowieso!) und Chris Avram sind ganz toll, und beide haben markant-charismatische Gesichter, die sich entfernt ähneln: in einem Dialog werden beide Gesichter in Nahaufnahme im Gegenschnitt gezeigt, ja gar parallelisiert, als würden sich die zwei Männer über ihren Status als Vater Lisas streiten. Wer der bessere Vater ist, kann jeder Zuschauer für sich entscheiden.
IL SOLE NELLA PELLE ist knallhart, weil er ganz genau weiß, dass die Liebe der beiden zum Scheitern durch äußere Umstände verurteilt ist. Aber er glaubt auch an die Schönheit ihrer Liebe. Die letzten Bilder überlässt er nicht den lüsternen Journalisten, die während einer verkommenen Fleischbeschau mit Nacktbildern (muss man sich so die Redaktionssitzungen der BILD bei der Auswahl der BILD-Girls vorstellen?) am Rande mitbekommen, dass Robert beim Versuch, zu Lisa zu fliehen, tödlich verunfallt ist. Die letzten Bilder des Films gehören in einer Rückblende den beiden glücklich Liebenden in einem Moment ihrer selbst geschaffenen Utopie.

Der Blog Bahnhofskino hat in einem Podcast zum Festival drei Filmeinführungen aufgezeichnet, hier zu finden (zweiter Podcast). Ab Minute 4:30 ist Carolin Weidners wunderbare und poetische Einführung zu IL SOLE NELLA PELLA zu hören.


16.00 Uhr

ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA ("Vampire gegen Herakles")
Regie: Mario Bava, Franco Prosperi
Italien 1961
91 Minuten
Herakles (Reg Park) bricht mit seinem besten Kumpel Theseus (George Ardisson) in die Unterwelt auf, um dort einen Stein zu finden, der seiner schwer verwirrten Geliebten den Verstand zurückgeben kann.
Für einige Zuschauer gehörte ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA zu den meist erwarteten Filmen des Festivals. Bava, der große Meister der farbenprächtigen Tableaus, die nach 200 Mal mehr Geld aussahen, als sie tatsächlich gekostet haben. Etwas später am Abend (wahrscheinlich nach TUTTO È MUSICA), während des Sonnenuntergangs über der Frankfurter Skyline, witzelten wir in einer kleinen Gruppe darüber, dass Bava diese Skyline wahrscheinlich mit 10.000 Lire und ein bisschen Spucke noch wesentlich schöner in einem Studio hätte nachbauen können.
Nun, so leid es mir tut, aber ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA ist in meiner Erinnerung etwas verblasst, ohne, dass ich ihn wirklich schlecht gefunden hätte. Ich hatte anfänglich große Mühe, reinzufinden, was vielleicht daran lag, dass die Pause nach IL SOLE NELLA PELLE mit kaum 10 Minuten leider viel zu kurz war und mir der Film noch völlig "unverdaut" auf der Seele lag. Irgendwie war ich noch nicht in der passenden Stimmung, um zwei Muskelmännern dabei zuzuschauen, wie sie in der Exposition Dutzendschaften von Pappkameraden weg prügeln. Hinzu kam eine etwas anstrengende Comic-Relief-Figur, die das Duo aus Herakles und Theseus ergänzt (ohne es zum Trio werden zu lassen). Zu sich schien der Film dann anzukommen – oder besser gesagt: ich zum Film, als Herakles und Theseus in der Unterwelt ankamen. Hier entwickelte sich dann eine ziemlich faszinierende Abfolge beeindruckender, jenseitiger Bilder aus einer fremden Welt, mit großer Künstlichkeit und Kunstfertigkeit im Studio kreiert, bevölkert von ätherisch schönen Botinnen des Todes und furchterregenden Monstern. Das Steinmonster war besonders schön, und wenn ich sie nicht im Sekundenschlaf geträumt habe, so gab es Wesen, die ein wenig an Zombies erinnerten (also: an jene Zombies, die sieben Jahre später in NIGHT OF THE LIVING DEAD zu sehen waren, oder zumindest ein Jahr später bei CARNIVAL OF SOUL).
Die Rückkehr von Herakles und Theseus aus der Unterwelt gelingt nur, weil Theseus ein Mädchen aus der Unterwelt mitnimmt, was den Zorn der Götter auf die Menschen leitet. Von da an wird ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA zu einer Art Liebesdrama in der Zwickmühle: ohne das Unterweltmädchen, das Theseus liebt, wäre die Rückkehr von der Reise in die Unterwelt nicht gelungen, die nur dazu diente, Herakles wieder seine Geliebte zu geben – wie kann nun ausgerechnet Herakles seinen Freund Theseus dazu bringen, zum Wohle der Menschheit, die mit zornigen Plagen der Götter überzogen wird, auf seine Liebe zu verzichten? Das ist schon sehr gut eingefädelt, aber da verschwimmt der Film dann auch schon etwas in meinem Gedächtnis: das letzte Drittel ist für mich ziemlich verrauscht, weil mich eine temporäre Müdigkeit in eine Abfolge von Sekundenschläfchen stürzte. Die oft etwas träumerischen Bilder, die Bava so gekonnt zu einem tranceartigen Flow inszeniert, verleiten im Zweifelsfall doch dazu, Morpheus keinen zu großen Widerstand zu leisten. Vom Showdown habe ich nur kursorisch etwas mitbekommen. Nur noch, dass am Ende alles wieder gut wird, weil Theseus seine genauen Erinnerungen an die Geliebte verloren hat, sich dafür aber einfach die Verlobte des Comic-Relief-Sidekicks schnappt, der sich daraufhin sofort im Meer ertränkt – Herakles, Theseus und dessen künftige Frau mit einem glücklichen Lachen zurücklassend.


20.15 Uhr

TUTTO È MUSICA
Regie: Domenico Modugno, Tonino Valerii
Italien 1963
97 Minuten
Alles ist Musik, so erklärt der Schlagersänger Domenico Modugno, der sich selbst spielt (später aber auch andere Figuren), am Anfang des Films. In kleinen Episoden mit melancholischen Trinkern, suizidalen Gentlemen, freiheitsliebenden Pferden, gewieften Touristenführern, adeligen Mördern im Knast und verliebten Kindern wird das dann auch demonstriert.
Was für ein unglaublicher Wahnsinnsfilm! TUTTO È MUSICA erscheint auf dem Papier wie ein Ego-Projekt des berühmten Schlagersängers Domenico Modugno, der mit "Volare" Ende der 1950er Jahre einen internationalen Hit hatte; wie ein Film, der nur dazu dient, Modugnos größte Hits zu bebildern (was er größtenteils tatsächlich auf extrem eigensinnige Weise tut). Modugno wirkte hier gleichermaßen als Regisseur, Autor, Produzent, Komponist, Sänger, Komparse (er tritt auch als er selbst auf) sowie als Darsteller. Vom stromlinienförmigen Projekt der Egobefriedigung könnte der Film allerdings kaum weiter entfernt sein. TUTTO È MUSICA war in seiner Merkwürdigkeit, seinem schieren Wahnsinn und seinem Anspruch, ausschließlich seiner eigenen Logik unterworfen zu sein, vielleicht das Pendant des diesjährigen Terza Visione zu Giulio Questis ARCANA im letzten Jahr. TUTTO È MUSICA ist ein "Musicarello", ein Schlagerfilm, ein Musical, aber in Form eines Episodenfilms vereint er auch Elemente des autobiografischen Essayfilms, des harten Melodramas, des experimentellen Großstadtessays, des frühen Mondofilms, der Fellin'esken Fantasie, des fiktiven Tierfilms, des wüst-grotesken Slapsticks, des Knastfilms, des späten Neorealismus und des Coming-of-Age-Films. Wie Christoph im Programmheft unvergleichlich schön und treffend geschrieben hat: TUTTO È MUSICA erwecke den Eindruck "eine altersgewiefte, als Abschreibungsprojekt realisierte und daher etwas verheimlichte Wahnsinnstat eines amerikanischen Studioregisseurs zu sein, der im europäischen Altersexil begeistert die bisweilen lästigen Vorschriften narrativer Kontinuität die Kellertreppe hinunterpfeffert und in seinen kinematografischen zweiten Frühling aufbricht". Modugnos großer Hit "Volare" wurde zwischen 1958 und heute über 100 Mal in Filmen und Serienepisoden verwendet, doch TUTTO È MUSICA blieb leider Modugnos einziger Film als Autor-Produzent-Regisseur... (Tonino Valerii, der offiziell als Co-Drehbuchautor und Regieassistent genannt wird, wurde von Modugno tatsächlich als Regisseur angeheuert und dürfte für einen großen Teil der Regie verantwortlich zeichnen – Modugno dürfte trotzdem der Haupt-"auteur" des Films sein).
Es beginnt mit einer Autofahrt durch das süditalienische Apulien und durch das Dorf, aus dem Modugno stammt. Bilder eines Dorfes, das staubtrocken in der Sommerhitze daliegt, wunderschön, aber eigentlich nicht im engeren Sinne touristisch attraktiv: wenn man die Autos wegnimmt, hätte man hier auch Szenen eines Italowesterns drehen können. Ein Off-Kommentator (Modugno selbst?) präsentiert uns mit einem starken Dialekt und anfang in einem merkwürdigen Sprechgesang den Ort als Geburtsort Modugnos vorstellt, der als kleiner Junge schon gerne sang und Akkordeon spielte, damit dann aber irgendwann den Dorfbewohnern auch etwas auf die Nerven ging, so dass er eben sein Glück in Rom versuchte (hier der Vorspann des Films) So geht es auch nach Rom, wo Modugno (als er selbst) uns in einem Tonstudio empfängt, kurz die Tür zum Aufnahmeraum aufmacht, wo gerade "Volare" gespielt wird und dann erklärt, dass nicht nur das hier, sondern dass im Grunde alles Musik sei: Straßengeräusche, Lärm im Büro und in der Fabrik. Danach gibt es ein wenig von dieser Musik zu sehen und hören, weil sich der Film dann auf die Straßen und in die Fabriken und Werkstätten Roms begibt. Geräuschvolle Alltagsimpressionen werden in einer rhythmisch-musikalischen Montage aneinander gereiht. Hier ist ein Ausschnitt davon zu sehen, aber tatsächlich dauert das ganze mehrere Minuten, und ist damit viel "zu lange" für etwas, was man in einem "normalen" Schlagerfilm erwarten würde: wer einen Modugno-Hit nach dem anderen haben wollte, der kriegt hier erst mal etwas, was man wohl als eine Art römische Musique-concrète-Stadtsinfonie bezeichnen könnte, die Dziga Vertovs ČELOVEK S KINOAPPARATOM wesentlich näher steht als einem Popmusik-Clip.
Da das mehrere Minuten geht und eine ziemlich große Tour ist, durch die uns der Stadtführer Domenico führt, ist er danach auch etwas müde, legt sich auf eine Bank, schläft ein – und träumt von seinem eigenen Hit "Volare". Der Text des Lieds dient dabei als wörtliches Drehbuch für den Traum: blaue Farbe fließt über die Leinwand, Herbstlaub und Ballons fliegen durch die Luft, und dann erhebt sich Domenico in die Lüfte und beginnt zu fliegen! Ganz hoch, in den Himmel, bis er schließlich im Weltall ist und die Erdkugel von weitem sieht. Dann kommt er auf die Erde zurück und beginnt, durch Rom zu fliegen, die Arme freudig ausgestreckt wie ein Hohepriester der guten Laune. Wenn der Film vorher schon interessant war, dann war dies spätestens der Moment, bei dem ich mich vollkommen verliebt habe. Wer einen Eindruck davon haben möchte (auf der großen Leinwand sieht das noch mal wuchtiger aus), kann diesen Ausschnitt hier sehen. 1963 erhob sich ein anderer Leinwand-Held in einem anderen, auch etwas experimentellen italienischen Film in die Lüfte, nämlich der Protagonist von OTTO E MEZZO, als er zu Filmbeginn einem lästigen Stau entkommen möchte. Fellinis Film hatte seine Premiere sechs Monate vor Modugnos, es wäre also durchaus im Rahmen des Möglichen, dass die Idee bei Fellini entliehen wurde, und dann auf ganz eigensinnige Weise umgesetzt wurde. Zu weiteren Fellini-Querbezügen gleich mehr.


Nach dem Fliegen kehren wir wieder auf den Boden zurück, und zwar zu einer Straßenwahrsagerin und ihrem Begleittrompeter, die nach einem Streit mit einem Kunden von der Polizei weggejagt werden. Deshalb tun die beiden, die offenbar nicht nur Geschäfts-, sondern auch Ehepartner sind, das nahe liegendste: sie fahren an den Strand und machen ein Picknick. Die Tischmanieren, die sie dabei an den Tag legen, sind ein wenig besser als die von Jed in LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST (das ist auch schwer zu unterbieten), aber fein ist etwas anderes: da wird hemmungslos reingebissen, gekleckert, Ölsardinen werden mit den Fingern aus der Dose geholt und öltriefend in den Mund gesteckt. Dazu läuft (aus dem tragbaren Radio der beiden) ein Lied von Modugno, in dem hemmungslos schmalzig die Liebe zweier wesentlich jüngerer Personen und deren wunderbare körperliche Vorzüge (schöne Augen, schöne Lippen etc.) besungen wird. Ein Kontrastprogramm der Superlative, der natürlich zum Lachen anregt, aber zumindest für mich war es ein zärtliches Lachen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass die beiden etwas älteren Liebenden bloß gestellt werden sollten, sondern der Kontrast zwischen idealisierter Liebe und Alltagsliebe: die Wahrsagerin und der Trompeter haben sich lieb, sind schon lange zusammen und brauchen sich nicht mehr voreinander zu genieren. Das ist irgendwie auch rührend. Beim darauffolgenden Verdauungsschläfchen wird allerdings deutlich, dass in den Träumen des Trompeters für idealisierte Erotik immer noch Platz ist: schöne Strandnixen tauchen plötzlich vor seinen Augen auf und halten am Strand eine verführerische Tanz-Show ab. Da kommt plötzlich ein junger, athletischer Mann auf und nimmt dem Trompeter die Strandschönheiten weg – aber Moment: nein! Ein Jumpcut reicht, um den jungen Mann durch ihn selbst zu ersetzen – doch dann wacht er auf. Aus lauter Wut, dass es nur ein Traum war, isst er seine Trompete auf (sic!). Bei dieser Episode von TUTTO È MUSICA kam mir intuitiv der Begriff "fellinesk" in den Sinn, doch Fellinis erster wirklich "fellinisker" Film war OTTO E MEZZO aus dem gleichen Jahr. Modugno und seine Co-Autoren konnten also zu dem Zeitpunkt noch nicht besonders viele "fellineske" Filme gesehen haben. Das bekräftigt aber nur weiter, wie eigensinnig und unglaublich TUTTO È MUSICA ist.
Wer denkt, dass TUTTO È MUSICA jetzt allgemein zur fellinesken Komödie wird, hat sich gründlich geirrt. Jetzt geht es nämlich in eine Taverne, wo eine bereits stark betrunkene Männerrunde sexistische Witze zum Besten gibt, die man, je nach Neigung, für nur mäßig witzig oder aber völlig widerwärtig halten kann. Domenico Modugno (wie wir gleich sehen werden: als eigene Figur, nicht als er selbst) sitzt dabei und sieht betrübt aus. Gehen ihm die anderen auf die Nerven? Vielleicht. Die Runde löst sich auf, und Modugnos Trinkerfigur beginnt durch die nächtlichen Gassen Roms zu torkeln und stimmt dabei ein zünftiges Trinkerlied an. Das Lied verwandelt sich nach und nach in ein Liebeslied – bis wir schließlich merken, dass der Trinker hier eine Tote besingt, nämlich seine kürzlich verstorbene Geliebte. Kenner von Modugnos Liedgut (also wahrscheinlich tatsächlich viele zeitgenössische Zuschauer in Italien) werden das wahrscheinlich frühzeitig erkannt haben, aber für die meisten Terza-Visione-Besucher dürfte das ein echter Schock gewesen sein. Der traurige Trinker torkelt weg, und dann erscheint ein eleganter Mann im Frack (wieder Modugno), der ebenfalls durch das nächtliche Rom spazieren geht, im Off von dem Lied "Vecchio frac" begleitet, und sich schließlich (off-screen) in den Tiber stürzt. Sein Hut und sein Frack treiben in der aufgehenden Sonne auf dem Fluss... Nach dem emotionalen Zusammenbruch in der Trinkerepisode schien das wie eine logische Fortführung.
Wer erwartet, dass es jetzt wieder fröhlicher werden müsste, hatte Recht, aber nur für sehr kurze Zeit. In der nächsten Episode ist ein weißes Pferd die Hauptfigur. Es lebt bei einer Pferderennbahn, aber es ist kein Rennpferd, sondern "nur" ein Arbeitstier zum Transportieren von Gerätschaften. Das passt dem Pferd keinesfalls und deshalb bricht er eines Morgens aus, um sich mit einem echten Rennpferd einen Wettkampf zu liefern. Wer das für banal hält, hat den Film natürlich nicht gesehen: wieder in Verbindung mit einem Lied von Modugno inszeniert TUTTO È MUSICA dieses Wettrennen als ganz großes Moment der Befreiung, als Emanzipation eines "Underdogs" (eines "Underhorses" sozusagen) von seiner festgelegten Rolle. Doch das dauert nicht lange, denn als ihm Hürden aufgestellt werden, um ihn zu stoppen, verletzt sich das Tier. Der Besitzer will ihn, sehr schweren Herzens, an einen Schlachthof verkaufen, doch ein Käufer schaltet sich dazwischen, bietet einen (scheinbar) extrem guten Preis an und verspricht, das Pferd nicht schlachten zu lassen. Stattdessen führt er nach dem Kauf das Pferd weg – und verkauft es kurz darauf für das Doppelte des Preises. Der scheinbar gutmütige Pferdeliebhaber war also "nur" ein Geschäftsmann, und man könnte das Tier durchaus als kapitalistisch Ausgebeuteten, als Wesen, das schamlos verdinglicht wird. Was darauf folgt, lässt einen dann allerdings bereuen, dass das Pferd nicht "rasch" zum Schlachthof geführt wurde. Denn der neue Käufer bringt es zu einer Mine, und dort dient unser unglücklicher Held als "blindes Minenpferd": mit zugebundenen Augen muss es tagaus, tagein schwere Lasten durch die Bergschächte ziehen, während Modugno das ganze mit einer herzzerreissenden Ballade begleitet. Nach Jahren Arbeit ist das Pferd, wie wir von Modugnos Gesang erfahren, komplett erblindet, und auch ansonsten gesundheitlich komplett ruiniert. Blind und hinkend kann es draußen einen letzten Galopp auf dem Feld machen, bevor es von einem Minenarbeiter mit einem Kopfschuss getötet wird.
Herzzerreissender wurde es beim diesjährigen Terza Visione höchstens noch am nächsten Tag beim "lacrima movie" L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA. Die Pferde-Episode von TUTTO È MUSICA ist tatsächlich ein knallhartes Melodrama und nimmt keine Gefangenen. Bemerkenswert erscheint mir, dass während der ganzen Episode, soweit ich mich erinnern kann, kein einziges Mal ein menschliches Gesicht zu sehen war: wir sehen immer nur die Beine, oder Rückenansichten, oder verdunkelte Gesichter in der Mine. Dadurch wird natürlich die Identifikation mit dem Pferd gesteigert, die Hilflosigkeit seiner Situation, in der er von feindlichen Figuren umgeben ist, noch verstärkt. Wird hier die Mechanik von Kapitalismus vielleicht noch verdeutlicht: das Opfer ist ein Individuum, der Täter ist ein (gesichtsloses) System?
Die nachfolgende Episode "verdoppelt" auf gewisse Weise die Pferde-Episode. Sie fängt an als etwas, das wie später Neorealismus aussieht, etwas, das aus Viscontis LA TERRA TREMA und Rossellinis STROMBOLI bekannt ist: in einer etwas archaischen Küstengegend brechen einige Fischer zu ihrem Tageswerk auf. Das ist auch ganz in der neorealistischen Tradition semidokumentarisch gefilmt, ganz offensichtlich handelt es sich nicht um Schauspieler, sondern um echte Fischer. Und es sind echte Apulier. Die 35mm-Kopie des Films aus der Cineteca Nazionale hatte keine festen Untertitel, es mussten welche extra für das Festival angefertigt werden. Trotz der Unterstützung durch italienische Muttersprachler das meiste von dem, was die Fischer auf ihrem Boot einander zuschrieen, nicht übersetzt werden – eine Nutzung von Dialekt, neorealistischer als die Neorealisten. Im Unterschied zu den neorealistischen Fischerszenen kommen hier keine Netze, sondern Harpunen zum Einsatz: das Ziel ist der Schwertfisch. Auf dem Meer wechselt der Film seine Perspektive. Modugnos begleitendes Lied handelt von zwei verliebten Schwertfischen, deren Liebe gewaltsam auseinandergerissen wird, als einer der beiden von Fischern getötet wird, worauf der andere sich umbringt, indem es sich an den Strand spülen lässt. Während Modugno singt, jagen also die Fischer den Schwertfisch und erlegen es. Nachdem sie wieder ans Ufer zurückgekehrt sind, geht das Lied zu Ende und der andere Schwertfisch wird angespült. Während man bei der Pferde-Episode am Ende deutlich sehen konnte, dass das eben erschossene Pferd atmete, also lebte (was der emotionalen Wirkung freilich keinen Abbruch tat), wird hier tatsächlich on screen ein Tier getötet, über ein Jahrzehnt, bevor das in italienischen Kannibalenfilmen zu sehen war. Das ist höchst unerfreulich und unangenehm anzusehen. Es gilt aber gewissermaßen die Regel: je größer und individueller das Tier, umso unangenehmer ist eine Jagd anzusehen (100 kleinere Fische im Netz bei Visconti oder Rossellini waren natürlich auch getötete Tiere). Innerhalb der Filmwelt von TUTTO È MUSICA ist die Episode genau so angelegt wie die Geschichte mit dem Pferd: mit dem Lied Modugnos reflektiert der Film ganz genau, was hier eigentlich passiert und stellt sich emotional auf die Seite des gejagten Fisches (wobei hier die Fischer trotzdem nicht als Bösewichte dargestellt werden, sondern eben als einfache Arbeiter, die ihre Arbeit tun). Einige Zuschauer sahen in dieser Episode einen frühen Mondo-Film innerhalb des Films, aber da ich mich mit diesem Genre so gut wie gar nicht auskenne (abgesehen von meiner Begegnung mit SVEZIA INFERNO E PARADISO letztes Jahr), kann ich dazu nichts weiter sagen.
Um fischähnliche Wesen geht es am Rande in der nächsten Episode, die einige Zuschauer sehr gefürchtet haben, weil hier das berühmt-berüchtigte Komikerduo Franco & Ciccio auftrat. Die ersten Bilder scheinen harmlos. Wir befinden uns wieder an einer Küste. Ciccio erwacht in seinem Zelt, steht auf, und beginnt sich auf einem Camping-Gaskocher ein Ei zu braten. Ein Hund fängt an zu bellen. Schnitt auf eine naheliegende Hundehütte. Aus der Hütte kommt nicht ein Hund gekrochen, sondern Franco – angekettet mit Hundehalsband, bellt er weiter und benimmt sich wie ein Hund. Ciccio schreit ihn an und plötzlich wird deutlich, dass Franco nicht etwa ein Hund im Menschenkörper ist, sondern Ciccios Sklave. Nach avantgardistischen Städtemontagen, einem musikalischen Menschenflug durch Rom, verzweifelten Selbstmorden, surrealistischen Situationen, brutal getöteten Pferden und Fischen sollte es natürlich nicht mehr überraschen, in diesem Film, der eigentlich ein populärer Schlagerfilm von 1963 sein "soll", auch noch ein sadomasochistisches Szenario zu sehen – zumal zwischen zwei Männern (oder nicht ganz? Aber dazu gleich mehr!). Sklavenähnlich angekettete und unterworfene Menschen im italienischen Kino dürften viele mit Pasolinis SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA in Verbindung setzen (natürlich ist der Kontext dort ein komplett anderer): das war allerdings 12 Jahre später und von einem Filmemacher inszeniert, der nicht als populärer Schlagersänger, sondern als furchtloser intellektueller Provokateur bekannt war.
Jedenfalls: in vielen Auftritten agierten Franco und Ciccio als gleichberechtigte Figuren, hier ist klar, welcher der beiden der dominante ist. Ab und zu lässt Ciccio seinen Sklaven Franco auch von der Kette, zum Beispiel, wenn es darum geht, alten Schrott als seltene etruskische Antiquitäten an deutsche Touristen zu verkaufen. Das sind natürlich Wanderer: sie singen ein fetziges Lied, das in Deutschland 25 Jahre früher bestimmt gut zum Ambiente gepasst hätte, marschieren stolzen Schrittes, wie sie es 22 Jahre vorher getan hätten, und der Anführer der Gruppe ist ganz in Schwarz gekleidet und erinnert nicht von ungefähr an Mitglieder einer gewissen deutschen paramilitärischen Organisation der Vergangenheit. Trotzdem: ein ideales Opfer für die Händel von Ciccio und Franco. Franco, dessen Figur in diesem Auftritt mit besonders wenig Intelligenz ausgestattet ist, stellt sich bei einem Geschäft mit einem deutschen Touristen ziemlich blöd an und verliert dabei einen Teil des Haushaltsgelds der beiden. Währenddessen erklärt der Anführer der deutschen Gruppe seinen Wanderern die Geschichte einer Sirene, die Männer durch ihren Gesang dazu bringt, sich die Küstenklippen runterzustürzen. Ciccio stellt sich dazu, korrigiert einige Details, und versucht dann erfolglos, dem Mann eine "antike etrsukische Vase" zu verkaufen, was ihm nicht gelingt. Nächtens wird der deutsche Touristenführer von einer Sirenenstimme geweckt, er geht zum Strand und erblickt dort eine Sirene – doch im letzten Moment hält ihn Ciccio zurück mit der Warnung, dass es nur eine Illusion sei. Der Deutsche ist erschüttert, will die Sirene unbedingt wieder sehen, und zwar um jeden Preis. Das wiederum passt Ciccio ganz gut in den Kram, der 50.000 Lire, davon einen Vorschuss von 20.000 verlangt ("Warum diese 20.000?" – "Das ist eine Vorschrift!" – "Ah, gut."). Nach Konsultation einer Wahrsagerin kann es wieder los gehen. Nachts ruft die Sirene, aber als der Deutsche zu ihr rudert, erblickt er... Franco, der als Sirene gekleidet ist. Der Deutsche ist empört, nimmt aber Franco trotzdem mit, um ihn zur Polizei zu bringen – so sagt er zumindest. Schnitt. Später, am helllichten Tag (wie viel später, ist unklar), sammelt Ciccio Muscheln am Strand, als er Sirenenstimmen hinter einer Düne hört. Dort angekommen, erblickt er Franco, wieder als Sirene, der im Gegensatz zu vorher mit einer echten Frauenstimme singt, und neben ihm (oder ihr?) liegen drei kleine Sirenenkinder im Sand. Was als hartes Sadomaso-Beziehungsdrama anfing, hat sich durch ein bisschen Slapstick durchgearbeitet und endet schließlich, mit einem überraschenden kleinen Gender-Switch, im Bereich der Fantasy – oder des völlig Absurden, je nach dem, wie man es sehen möchte. Was hat das eigentlich noch mit dem Rest des Films zu tun? Na ja, Domenico hat es doch am Anfang des Films schon erklärt: tutto è musica! Der entfesselte Wahnsinn von TUTTO È MUSICA sollte hier tatsächlich seinen Gipfelpunkt finden. Hier gibt es die Episode in drei Teilen (erster, zweiter, dritter) zu sehen, ohne Untertitel, aber auch ohne sie "versteht" man bestimmt da eine oder andere.


Mehrmals wurde bei Einführungen dazu ermutigt, das italienische (Genre)kino durchaus auch als sehr engmaschige und komplizierte Geschichte personeller Verflechtungen zu sehen. TUTTO È MUSICA war tatsächlich nicht die erste Zusammenarbeit zwischen Franco & Ciccio und Domenico Modugno. Der Schlagersänger spielte auch in anderen Filmen der Zeit als Darsteller mit und traf auf Franco Franchi und Ciccio Ingrassia schon 1960 in der Komödie APPUNTAMENTO A ISCHIA von Mario Mattoli (einer der ersten Kino-Auftritte der beiden Komiker), später in L'ONORATA SOCIETÀ von Riccardo Pazzaglia und in Vittorio De Sicas All-Star-Film IL GIUDIZIO UNIVERSALE (womit retrospektiv wieder eine personelle Querverbindung zum Neorealismus da wäre), bevor er sie als Autor und Regisseur in seinem eigenen Film begrüsste. 1968 trafen Franco, Ciccio und Domenico wieder aufeinander im Episodenfilm CAPRICCIO ALL'ITALIANA, in der Episode "Che cosa sono le nuvole?", die von Pier Paolo Pasolini geschrieben und inszeniert wurde.
Aber zurück zu TUTTO È MUSICA. Die folgende Episode demonstriert nicht nur, was für ein toller Schauspieler Domenico Modugno eigentlich war, sondern hat auch eine formelle Besonderheit: alle Darsteller sprechen in einem apulischen Dialekt (das wohl zur Sprachfamilie des Neapolitanischen gehört). Ich verstehe ein wenig Italienisch, vorausgesetzt, es wird deutlich artikuliert und "hochitalienisch" ausgesprochen, aber was in der Knastepisode von TUTTO È MUSICA gesprochen wird, hätte ich kontextlos nicht als "Italienisch" erkannt, und ich habe die Vermutung, dass norditalienische Kinozuschauer, zum Beispiel in Mailand, einige Mühe gehabt haben dürften, diese Episode zu verstehen. Das ist keine Nebenfigur, die für eine Minute mal mit süditalienischem Einschlag spricht (wie der eine Portier in Bavas LA RAGAZZA CHE SAPEVA TROPPO), sondern eine komplette Episode. Möglicherweise eine spezielle "Insider-Episode" für eine spezifische Sprachgruppe der Zuschauerschaft? Diese Episode war für die Erstellung der Untertitel wohl jedenfalls wieder eine große Herausforderung, die dann relativ lückenlos gemeistert wurde.
Jedenfalls die Knastepisode: in einem apulischen Gefängnis im 19. Jahrhundert treffen sich zwei Männer, die sich bereits "draußen" kannten. Ich weiß nicht mehr im Detail, wie die einzelnen Schritte eskalieren, aber schlussendlich bringt der eine den anderen um, weil dieser der Liebhaber seiner Frau war – oder so ähnlich. Großes Kino ist hier vor allem, dass beide Männer von Domenico Modugno gespielt werden und vermutlich wäre ich nicht der einzige im Saal gewesen, dem das vielleicht entgangen wäre, wenn das in der Einführung nicht explizit erwähnt worden wäre. Sicher, Schminke, Licht und die Tatsache, dass beide Männer selten gemeinsam im Bild zu sehen sind... aber trotzdem. Davon abgesehen ist die Episode wunderschön und sehr atmosphärisch fotografiert, in einer relativ geräumigen, aber doch zappendusteren Gefängniszelle. Eine kurze, schnelle und sehr intensive Rachegeschichte, die schließlich mit vergossenem Blut endet.
In der letzten Episode wird es schließlich noch mal sehr gefühlvoll. Wir befinden uns auf einem abgelegenen Landgut, die britische Touristen (Papa, Mama und ein kleiner Sohn) als Urlaubshaus genutzt haben. Jetzt wird noch der letzte Tee im Garten getrunken, und die beiden Erwachsenen nehmen von dem Hausmeister des Guts Abschied. Den kleinen, etwa zehnjährigen Sohn, interessiert das nicht, denn er will die etwa gleichalterige junge Tochter des Hausmeisters wieder sehen – nur noch ein letztes Mal. Und so reisst er aus, sucht das junge Mädchen, das er auch im Haus findet. Es dürfte in diesem Moment bereits angefangen haben zu regnen, und beide rennen zu einer geschützten Stelle im Park, wo sie sich küssen, sich ihre Liebe gestehen und er ihr verspricht, dass er eines Tages zurückkehren wird. Schließlich muss er zu seinen Eltern zurück, steigt in das Auto, das losfährt. Das junge Mädchen rennt im strömenden Regen hinterher, während er durch das Rückfenster winkt. Es ist herrlich, es ist fast zu viel des Guten. Ein guter künstlicher Regen (und der hier ist künstlich) ist immer extrem fotogen. Verliebte Leute, die durch den Regen rennen, sind natürlich noch fotogener. Wenn noch Modugno im Hintergrund lautstark "Piove" anstimmt, und es auch noch um Kinder geht, dessen trauriges Schicksal es ist, noch nicht über ihr eigenes Leben bestimmen zu dürfen, dann fügt sich das zu ganz großen Gefühlen zusammen. Nach einer wilden, aufrüttelnden, schockierenden, urkomischen, deprimierenden, brettharten, absurden und euphorischen Kino-Achterbahn der Gefühle entlässt TUTTO È MUSICA die Zuschauer nun mit einer bittersüßen Note in die Nacht...

Knapp eine Stunde Pause bis zum nächsten Film – gerade genug, um das alles ein klein bisschen verdauen zu können.

Wer die Einführung zu dem Film von Christoph Draxtra und Roberto Curti hören möchte, kann das wieder in dem Podcast zum Festival vom Bahnhofskino machen, zu hören ab Minute 10:50 (das dauert etwa eine Viertelstunde).


23.00 Uhr

LIBERI ARMATI PERICOLOSI ("Bewaffnet und gefährlich")
Regie: Romolo Guerrieri
Italien 1976
97 Minuten
Die junge Lea (Eleonora Giorgi) warnt den Kommissar (Tomás Milián), dass ihr Freund Luis (Max Delys), Joe (Benjamin Lev) und Mario aka "der Blonde" (Stefano Patrizi) einen Überfall auf eine Tankstelle planen. Dort hinterlassen die drei jungen Männer ein Blutbad. In einer ständig fortschreitenden Eskalationsschraube zieht die Bande in Mailand, den Vorstädten und dem umgebenden Land eine Blutspur.


Junge Menschen auf der Flucht, verfolgt von einem eigentlich verständnisvollen Polizisten, der leider nichts anderes tun kann, als seine Arbeit zu erledigen: das gab es heute auch in IL SOLE NELLA PELLE und insofern schloss LIBERI ARMATI PERICOLOSI für diesen Tag einen Kreis. Doch statt zärtlicher Liebe gab es blinde Zerstörungswut und entfesselte Mordlust.
LIBERI ARMATI PERICOLOSI ist ein tieftrauriger, deprimierender, fatalistischer und bedrückender Film geworden, ein echter Herunterzieher (das Titellied, das während des Films leitmotivisch in instrumentalen Varianten wiederholt wird, trägt viel zur Melancholie bei – eine Version hier). Der Juvenile Delinquent wurde in den 1950er Jahren, etwa mit James Dean, zum glamourösen Sexsymbol, doch gab es bei aller Rebellion auch immer den Notausgang einer Rückkehr in die Gesellschaft (siehe gerade das Ende von REBEL WITHOUT A CAUSE). 20 Jahre, eine gescheiterte 68er-Bewegung und (in Europa) ein Dutzend terroristischer Anschläge später ist von dem Glamour nicht mehr viel übrig geblieben, kein Notausgang mehr, nur Zerstörungswut und Gewalt in einer unaufhaltsamen Eskalationslogik.
Das Trio aus Mario, Joe und Luis, alle Söhne gutbürgerlicher, wohlhabender Familien, hat eine sehr klare Rollenverteilung, die sich im Laufe des Films nicht wirklich ändert. Joe ist sicherlich der lauteste und aufbrausendste der drei: die Lust an Zerstörung und Mord steht ihm geradezu ins Gesicht geschrieben, er hat sichtlich große Freude daran, in der Gegend herum zu ballern und ständig hat er einen dummen Spruch auf den Lippen und vergleicht das Trio und ihre Situationen mit diversen Filmen (von PER UN PUGNO DI DOLLARI bis THE GREAT ESCAPE). Doch schnell wird deutlich, dass er die Psyche eines nicht besonders gut entwickelten Fünfjährigen hat und sich überhaupt wie ein großes Kind benimmt. Der äußerlich meist ruhige, fast etwas melancholische Professorensohn Mario mit seinem fast schon engelhaften Gesicht ist der eigentliche Urheber der Eskalation, der zentrale Gewalttäter der Bande: er erschießt zunächst kaltblütig den Tankwart und läutet damit die Eskalation der ganzen Geschichte ein. Im weiteren Verlauf des Films wird er ein über ein halbes Dutzend weiterer Menschen, manchmal in Gefechten, oft aber auch völlig ohne Not kaltblütig ermorden. Joe redet ständig erregt davon, Leute zu erschießen – Mario schweigt und schießt, sichtlich ohne Freude, ohne einen Kick davon zu bekommen. Das ist vielleicht sogar noch erschreckender als wenn er offensichtlich sadistisch wäre: es ist für ihn so banal wie freudlos, und genau so werden seine Morde inszeniert.
Luis ist der passive Dritte im Bunde. Bis zum Ende tötet er niemanden, sondern bleibt, meist hinter dem Autolenkrad, schweigender Zeuge von Marios und Joes Massakern. Doch ohne ihn würde nichts gehen. Mehr als Joes Dauerfeuer an Sprüchen ist es Luis' Passivität, die Mario ermöglicht, immer weiter zu machen. Nach dem Überfall auf die Tankstelle will Mario eine Bank überfallen (wo er dann einen weiteren Menschen tötet), und kurz vorher bietet er Luis an, aus der Sache auszusteigen und einfach wegzufahren. Als Mario und Joe nach dem mörderischen Banküberfall zurückkehren, sitzt Luis immer noch hinter dem Lenkrad und fährt sie dann auch willig weg.
Der Fluchtfahrer ist ja spätestens seit den 1970er Jahren zu einem eigenen Sub-Typus des Actionhelden geworden: Walter Hill hat ihm in THE DRIVER einen eigenen Film gegeben (später Nicolas Winding Refn in DRIVE), mit THE TRANSPORTER hat er gar ein eigenes Franchise bekommen. Eine fast mythologisch überhöhte Figur, die gleichzeitig "innen" und "draußen" ist, involviert in Verbrechen ohne daran direkt teilzunehmen, ein Outlaw mit eigenem Ehrencodex, gewißermaßen ein mit Sünden beladener Engel (zumindest scheinbar ein Wesen aus dem Jenseits). Luis in LIBERI ARMATI PERICOLOSI kann extrem gut Auto fahren und ist daher der ideale Fluchtfahrer. In einer wilden Verfolgungsjagd mit zwei Polizeiautos (dem einzigen etwas leichteren Moment im ganzen Film) geht er voll und ganz in seinem Element auf – und genau in diesem Moment erhält er von Mario einen bewundernden, anerkennenden Blick, der besagt "Bravo. Du gehörst zu uns!". Luis' Freundin, Lea, die an dieser Stelle mit im Auto sitzt, dürfte dieser Blick nicht entgangen sein.
LIBERI ARMATI PERICOLOSI beginnt damit, dass Lea das Trio an den Polizeikommissar (Tomás Milián) verrät, ihm den Plan des Überfalls auf die Tankstelle darlegt – ihm aber gleichwohl zusteckt, dass die Bande nur zwei Spielzeugpistolen aus Plastik hat (ob sie lügt oder nicht, bleibt dem Zuschauer selbst überlassen). Weniger als um Mario und Joe geht es ihr natürlich darum, Luis zu "retten". In der zweiten Hälfte des Films wird Lea von der Bande auf Drängen Marios mehr oder weniger entführt. Zunächst versucht sie noch Luis "auf den richtigen Weg" zurück zu bringen, scheitert aber daran. LIBERI ARMATI PERICOLOSI ist auch deshalb so deprimierend, weil er am Rande auch ein Film über eine junge Liebe ist, die ob der unvereinbaren Charaktere der Liebenden zerbricht. Nach einem besonders bestialischen Mord Marios verfällt sie in schreiende Hysterie, während Luis ungerührt bereits zum nächsten Auto läuft, um es zu startklar zu machen. Als Mario einen fliehenden Autobesitzer in den Rücken schießen will, hält sie ihn davon ab, während Luis passiv zuschaut. Nur als Mario Lea befiehlt, sich auszuziehen und sich als Ablenkungsmanöver unter den Blicken eines Polizeihubschraubers auf offenem Feld küssend und fummelnd auf sie legt, zeigt Luis echte Betroffenheit. Er wollte sie aus der ganzen Sache raushalten. Um ihre "Unschuld" macht er sich mehr Sorgen als um die Menschen, die Mario tötet. Hier löst sie sich auch langsam von ihm und macht dann später auch mit ihm "Schluss": Er sei der kränkste der drei.
Zu keinem Moment gibt es eine schlüssige Erklärung dafür, warum die drei jungen Männer auf Mordtour gehen, und zweifellos gehört das zu den Stärken des Films (und dürfte dafür sorgen, dass er in Deutschland auch in den nächsten Jahrzehnten nicht vom Index runterkommt – aber in letzter Zeit geschehen ja Wunder). Die Gewalt bricht motivationslos und "überfordernd" auf den Zuschauer ein. Klar, da ist natürlich das männerbündische Element, das Eskalationen fördert, aber als alleinige Erklärung reicht das nicht aus. An einer Stelle sagt ein befreundeter junger Mann zu Mario, dass diejenigen, die keinen hoch bekommen, gerne Befehle geben und tatsächlich scheint Marios Frustration darüber, dass Luis eine nette, schöne Freundin (und eben Bettgenossin) wie Lea hat, und er offenbar nicht, geradezu greifbar zu sein. Aber auch das kann keine alleinige Erklärung sein. In einer relativ langen Dialogszene hält der Kommissar den versammelten Eltern der drei Gewalttäter eine Art "Moralpredigt", in denen er ihnen vorwirft, nicht genug mit ihren Kindern geredet bzw. ihnen nicht zugehört zu haben. Geld verdienen – oder sich um die Kinder kümmern: da könne man nicht beides tun, antwortet einer der Väter und wirft dem Kommissar gleich noch vor, weltfremd zu sein. Wer so denkt, sollte wahrscheinlich wirklich besser nicht mit Kindern reden (oder überhaupt welche haben). Insofern hat der Kommissar da sowohl recht wie auch unrecht. Mehr als eine "Moralpredigt" bricht in diesem Moment vielleicht die Frustration des Kommissars heraus, dass er nur Symptome gegebenenfalls mit Gewalt beseitigen kann. Fast wünscht man sich, dass der Kommissar seinen Beruf in einer besseren Welt ausüben könnte, oder vielleicht besser Sozialarbeiter geworden wäre. (Diese Szene trägt meiner Meinung nach deutlich die Handschrift des Drehbuchautors Fernando Di Leo: in seinem selbstgeschriebenen MILANO CALIBRO 9 gibt es einen ähnlichen Schlagaustausch über die Ursachen von Verbrechen zwischen dem quasifaschistischen Law-and-Order-Kommissar Frank Wolff und seinem Untergebenen Luigi Pistilli, der soziale Ungleichheit, kapitalistische Ausbeutung und Rassismus als Ursachen von Verbrechen ansieht).
Miliáns Rolle als Kommissar ist sehr bodenständig. Er war gerade in einer Phase, in der er gerne mit Perücken, wilden Hüten, Verkleidungen in extravaganten Rollen spielte und musste von Regisseur Romolo Guerrieri mit viel schmeichelnden Worten zur Rolle des namenlosen Kommissars überzeugt werden. Milián gab es bei diesem Terza Visione auch in einer sehr extremen Rolle (in LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST) zu sehen, aber in LIBERI ARMATI PERICOLOSI kann man ihn ebenfalls nur bewundern. So unscheinbar seine Rolle auch sein mag: es ist bemerkenswert, wie viel Melancholie und Fassungslosigkeit Milián nur mit seinen Augen ausdrücken kann...
Ganz und gar nicht unscheinbar ist Stefano Patrizi als Mario "il biondo". Ohne ihn könnte ich mir diesen Film gar nicht vorstellen. Mit seinem engelhaften Äußeren, das zwischen den brutalen Gewaltausbrüchen immer Ruhe, sanfte Melancholie und sogar etwas Trauriges ausstrahlt, reißt er den ganzen Film an sich. Manchmal scheint es so klar auf der Hand zu liegen, dass er in einer anderen Welt ein netter Mensch sein könnte. Die eliminatorische Zerstörungswut, die immer wieder eruptiv aus ihm ausbricht, bleibt bis zum Ende sein Geheimnis. Am Ende richten sich die zwei übrig gebliebenen Verbrecher selbst, und der Polizist kann nur noch fassungslos und traurig vor sich hin blicken.


Der Film wurde sehr fachkundig und gewitzt von Christoph Huber eingeführt. Zu hören wieder im Podcast von Bahnhofskino, ab Minute 26:20.


Sonntag, 29. Juli

13.00 Uhr

LE MASSAGGIATRICI ("Mit Damenbedienung")
Regie: Lucio Fulci
Italien / Frankreich 1962
85 Minuten (Deutsche Fassung)
Die Mailänder Bauherren Parodi (Ernesto Calindri) und Manzini (Luigi Pavese) fahren nach Rom, um dort den Auftrag zum Bau eines Wohnheims zum Schutze der Jugend zu ergattern, der von einer christdemokratischen Sittenwächter-Organisation ausgeschrieben wird. Mit deren Präsidenten Paolini (Louis Seigner) und Sekretär Bellini (Philippe Noiret) werden Betragshöhen und "Prozente" verhandelt. Zur Zerstreuung wollen Parodi und Paolini gleichermaßen "Masseurinnen" besuchen. Die in Parodis Hotelzimmer verirrte "Masseurin" Marisa (Sylva Koscina) wird von Bellini entdeckt und muss fortan die "Ehefrau" des Bauherren spielen, die zufällig Haupteigentümerin des Bauunternehmens ist. Sittenwächter Paolini ahnt gar nicht, dass Parodis äußerst hübsche "Ehefrau" die "Masseurin" ist, die er die ganze Zeit erfolglos zu erreichen versucht. Richtig würzig wird die ganze Situation, als Parodis echte Ehefrau spontan in Rom auftaucht...


Lucio Fulci ist fast schon der heilige Schutzpatron des Terza-Visione-Festivals: mit jeweils einem Film war er bislang als einziger Regisseur bei allen fünf Ausgaben immer vertreten. Trotzdem war LE MASSAGGIATRICI für viele Zuschauer die vielleicht größte und schönste Überraschung beim diesjährigen Terza Visione. Udo Rotenberg vom Filmblog "L'amore in città" erklärte auf gewisse Weise in seiner Einführung vorab, woran das wohl lag: der Western LE COLT CANTARONO LA MORTE E FU... IL TEMPO DI MASSACRO ("Django – Sein Gesangbuch war der Colt") von 1966 gilt im cinephilen Bewusstsein gemeinhin als "erster" "echter" Fulci-Film – war aber tatsächlich schon sein 17. Film als Regisseur. Die Filme, die er vorher gedreht hatte, waren größtenteils Komödien, die in der Tradition der populären italienischen Filmkomödie der 1950er Jahre standen (über diese sprach Udo sehr kenntnisreich und ausführlich), eng verbunden unter anderem mit dem Namen Totò. Der vielen als "Godfather of Gore" geläufige Filmemacher begann seine Kinokarriere in den 1950er Jahren als Autor und Regieassistent bei mehreren Komödien mit Totò. In seinem ersten abendfüllenden Film als Regisseur, I LADRI von 1959, spielte der berühmte Komiker auch die Hauptrolle. Bis zu seinem sogenannten "ersten" Film 1966 drehte Fulci weitere Komödien sowie Schlagerfilme, mit unter anderem Adriano Celentano sowie oft dem berüchtigten Komiker-Duo Franco & Ciccio in den Hauptrollen. Mit der Frühphase von Fulcis Regiewerk könnte man einen kompletten viertätigen Ableger des Terza Visione gut füllen.
LE MASSAGGIATRICI ist Fulcis sechster Film. Ein früher Film, vielleicht nur eine "Fingerübung" oder nur "routiniertes Handwerk", das möglicherweise nur als filmhistorischer Einblick interessant ist – so oder ähnlich haben einige von uns vielleicht gedacht und die Erwartungen nicht zu hoch veranschlagt. Denkst du! Zu sehen war eine wunderbare, herrlich witzige, teils erstaunlich gewagte Komödie mit einem perfektem Timing, viel Tempo, großartigen Einfällen und liebenswürdigen Charakteren, von A bis Z mit großem Schwung inszeniert. Ein kleines Meisterwerk. "Ein Trivialfilm-Juwel" in der Tat, wie es das Programmheft ankündigte.
Am Rande des Trottoirs auf und ab zu gehen... das war gestern! Die modernen "Masseurinnen" gabeln lieber ihre Kunden mit einem eigenen Auto auf, so zum Beispiel Milena (Valeria Fabrizzi) und Iris (Cristina Gaioni – die uns bei diesem Festival schon als Marietta in NELLA CITTÀ L'INFERNO begegnete). Durch Iris' große Naivität wird ihnen allerdings das Auto von zwei Kunden geklaut, und deshalb kaufen sich die zwei mit Marisa (Sylva Koscina) lieber eine Wohnung und betreiben dort ihr Studio für "Massagen und ästhetische Therapien".
LE MASSAGGIATRICI ist ein Film, der die Synonyme, die benutzt werden, um Unschönes oder gesellschaftlich Verstoßenes zu kaschieren, bis zum Extremen ausspielt – bis die Lachmuskeln krachen! Das eine denken – und nach dem anderen greifen. Das eine "A" nennen – und dabei B meinen. Alles ist Verwechslung in diesem Film, und jede Verwechslung führt gnadenlos zu großen Lachsalven und der nächsten verwechslungsanfälligen Situation. Das fängt mit Parodis Termin bei den "Masseurinnen" an: die Adresse, zu der er gefahren ist, ist richtig. Doch leider hat er sich auf der Etage in der Tür geirrt und landet bei einer... Masseurin, die ihren Ehemann, einen etwas weltfremden, Klassiker-zitierenden Linguistik-Professor (wunderbar: Nino Taranto) die Türe öffnen lässt. Parodi, der von diesem männlichen Empfang ganz verwundert ist, lässt sich auch von den weiteren Ausführungen des Professors nicht wirklich beruhigen: ja, spezielle Massagen, da sei der Herr richtig; nein, er sei nicht der Portier, sondern der Ehemann; ja, seine Frau arbeite mit seiner vollsten Zustimmung, er habe sie sogar ermutigt, und wenn er eine Tochter hätte, würde er ihr zu dem gleichen Beruf ermuntern; sei ja eine tolle Arbeit: zuhause, nicht zu ermüdend, ganz gutes Geld. Der Kunde, der vor Parodi da war, erscheint schließlich gehbereit, und der Bauunternehmer macht große Augen, als er einen Bischof erblickt, der gerade die oberen Knöpfe seiner Soutane zuknöpft. Das Behandlungszimmer selbst erstaunt Parodi noch mehr, mit diesem äußerst medizinisch aussehenden Bild eines menschlichen Körpers an der Wand und der schmalen, brettharten Liege, auf der die Behandlung stattfinden soll. Off-screen, während der Professor einen Nachhilfeschüler verabschiedet, kommt es schließlich zum großen Eklat zwischen Parodi und der Masseurin, aufgrund der unterschiedlichen Vorstellungen von "Massage"/Massage. Parodi wird hochkant aus der Wohnung geworfen, und nach einem regen Gespräch zwischen den beiden Ehepartnern geht der Professor schließlich zur anderen Seite des Gangs rüber, um den "Masseurinnen", die das Massage-Geschäft seiner Frau in Verruf bringen, ordentlich mal die Meinung zu geigen. Der geneigte Zuschauer, der sich in dem Moment immer noch vor lauter Lachen den Bauch halten muss, könnte vielleicht verpassen, wie gut LE MASSAGGIATRICI nicht nur geschrieben, sondern auch inszeniert ist. Ein Kommen und Gehen von handelnden Personen, die der nächsten die Klinke in die Hand geben: viele Szenen des Films sind so aufgebaut und fügen sich so oft fast nahtlos in einen stetigen Fluss. Präzise wie ein Uhrwerk, dabei aber ganz und gar nicht mechanisch. Mit einem flotten Tempo, dabei aber nie hektisch.


Der Professor geht also rüber und wird von der liebreizenden Iris empfangen – so liebreizend (sprich: leicht bekleidet), dass er ganz rasch seinen strengen Ton verliert. Für geschäftliche Verhandlungen sei der Advokat zuständig, so Iris, und schickt den Professor in den Salon. Von Akademiker zu Akademiker... da könne man bestimmt vernünftig verhandeln. Doch da steht der Professor nun vor der liebreizenden und sehr leicht bekleideten Milena, die von ihren Kolleginnen "der Advokat" genannt wird, weil sie Jura studiert hat. Dass eine studierte Frau mit Abschluss in einer als männlich geltenden Domäne bessere Karriereaussichten hat, wenn sie als "Masseurin" arbeitet, sagt viel über das Frauenbild der Gesellschaft aus, in der das so ist (der Film bleibt aber auch hier sehr implizit). Tatsächlich kann Milena ihr Studium auch gut als "Masseurin" anwenden, denn als der Professor ihr etwas vage androht, die Autoritäten zu rufen, kann sie ihm genau um die Ohren hauen, nach welchen Paragrafen und Absätzen welcher Gesetze ihre Tätigkeit eben nicht illegal ist (später wird sie einen Polizisten, der ohne Durchsuchungsbefehl das "Massage-Studio" betreten hat, ebenso gnadenlos zusammenfalten). Ende der Diskussion – und es klingelt sowieso (Sittenwächter Paolini steht an der Tür, um sein "Massagetermin" mit Milena wahrzunehmen, die zu diesem Zeitpunkt im Hotelzimmer aber gerade mit Parodis Ehefrau verwechselt wird). Da Milena den Gast empfangen muss, gibt sie Iris die Instruktion, sich in der Zwischenzeit um den Professor zu kümmern. Doch oh weh... da kommt es wieder zu einem Missverständnis! Iris, die sich gut um den Kunden kümmern möchte, schenkt ihm erst mal ein paar Gläser Cognac zur Entspannung ein, und als Milena wieder auftaucht, ist der Professor schon ganz blau – und nun aber tatsächlich in der Laune, sich eine "Massage" geben zu lassen. Doch das macht 30.000 Lire, Barzahlung, keine Ratenzahlung möglich! Da geht der Professor nun torkelnd fort, um seiner Frau, der Masseurin, mitzuteilen, wie unverschämt teuer doch so eine "Massage" sei...


Jetzt, wo ich das so ausführlich geschrieben habe, bewundere ich noch mehr, wie unglaublich gut LE MASSAGGIATRICI geschrieben, gespielt und inszeniert ist. Das eine führt natürlich zum nächsten, alles gleitet leicht vor sich hin, und das ganze ist von herzlichen Lachern gesäumt. Natürlich arbeitet der Film im Grunde auf relativ simple und geradlinige Weise seine Set-Pieces ab: Prolog – kurz in den Hotelzimmern der beiden Bauherren – längere Szene in den beiden Appartements – kurz im Hotel – die Verhandlungen der zwei Bauunternehmer, der "Ehefrau" und der zwei Sittenwächter in deren Büros mit erfolgreichem Vertragsabschluss – anschließend das "überkreuzte" Mittagessen, bei dem Bellini, Parodi und seine "Ehefrau"/Marisa/"Bellinis Ehefrau" sowie Manzini und "seine Ehefrau"/"Parodis Schwester"/Parodis Ehefrau in einem Restaurant essen und beide Gruppen nach einigen Ausweichmanövern Parodis doch zur großen Peinlichkeit des letzteren zusammentreffen – dann wieder im "Massage"-Studio – dann die Manöver, um die Leiche des leider im Kleiderschrank des "Massagezimmers" an Herzinsuffizienz dahingeschiedenen Präsidenten Paolini an zwei Nachtwächtern vorbei wieder an seinen Schreibtisch zu bugsieren...
Vier Drehbuchautoren waren gemäß Credits an LE MASSAGGIATRICI beteiligt. Oreste Biancoli schrieb schon seit den 1930er Jahren Drehbücher für Genrefilme: Melodramen, Komödien, Abenteuerfilme, Peplums. Seine berühmtesten Credits beinhalten eine Beteiligung als Autor an De Sicas LADRI DI BICICLETTE und an Julien Duviviers DON CAMILLO. Italo De Tuddo schrieb in den 1950er Jahren ebenfalls für das populäre Kino und verfasste unter anderem Drehbücher für mehrere Totò-Komödien (bei einer in Zusammenarbeit mit Fulci). Antoinette Pellevant hat gemäß IMDb nur fünf Credits als Autorin. Vittorio Metz ist hingegen wieder berühmter: ein vielseitiger Komödienautor für Theater, Varieté, Fernsehen und Kino, der oft für Alberto Sordi und Totò geschrieben hat. Bei letzterem kreuzten sich schon Mitte der 1950er Jahre die Wege mit Fulci. LE MASSAGGIATRICI war die erste von fünf Regiearbeiten Fulcis, an deren Drehbuch Metz mitschrieb (die IMDb hat ihn bei LE MASSAGGIATRICI allerdings falsch, nämlich als "Vittorio De Tuddo" gelistet, was viele weitere Quellen irrigerweise kopieren – worauf Udo bei einem Gespräch vor dem Film hinwies, sonst hätte ich wohl hier irgendetwas von einem unbekannten "Vittorio De Tuddo" geschrieben, obwohl sein Name in den Credits klar zu lesen ist). Man könnte vielleicht sagen, dass Vittorio Metz für den frühen Fulci der enge Drehbuchmitarbeiter war, der Dardano Sacchetti für seine mittelspäte Phase (1977-1984) war.
Auch die Darsteller sind durch die Bank weg alle großartig. Ernesto Calindri als Parodi, der am Anfang selbstsicher die Zeitung aufschlägt, um die "Börsenberichte" zu lesen (also: die "Massage"-Anzeigen) und später von einer peinlichen Situation zur nächsten vorsichtig, meist mit entglittenen Gesichtszügen lavieren muss. Der große französische Schauspieler Louis Seigner hat eine wunderbare Rolle als doppelzüngiger Moralapostel und sorgt dafür, dass man dem Cipriano Paolini trotz seiner Schwächen doch irgendwie sympathisch gewogen bleibt – Sylva Koscina als Marisa ist nun tatsächlich zum Dahinschmelzen und sorgt immer wieder für Lacher, wie sie sich vor Paolini, Parodi und Bellini ganz und gar nicht wie eine steife Unternehmergattin benimmt, sondern im Restaurant gutgelaunt einfach mal jeden Gang mit extraviel Mayonnaise bestellt. Philippe Noiret (hier noch bevor er richtig berühmt wurde) hielt LE MASSAGGIATRICI für den schlimmsten Film seiner Karriere und beweist, dass man Künstler ihre Werke meistens nicht selbst beurteilen lassen sollte: er ist natürlich ganz großartig als öliger, sich leicht unterwürfig gebender Sekretär, ein waschechter Heuchler (mit päpstlichem Dispens für den mageren Freitag und zugleich der ungezügelten Lust, sich von Marisa zusätzliche "Prozente" in Form einer "Massage" auszahlen zu lassen), mit kleinen tick-artigen Augenzwinkern, wenn er irritiert ist – und der schließlich als ganz geschickter Logistiker mit großer Autorität aufblüht, als es darum geht, die Leiche seines Chefs durch die halbe Stadt zu kutschieren und in sein Büro zurückzubringen. Nino Taranto als exzentrischer Professor habe ich schon erwähnt. Und nicht zuletzt noch die ultimative Salzprise in dieser schmackhaften Suppe: der Gastauftritt von Franco Franchi und Ciccio Ingrassia, die gemeinsam über ein Dutzend Filme Fulcis mit ihrer Präsenz veredelten (langsam aber sicher werde ich zu einem echten Fan der beiden).


LE MASSAGGIATRICI wird Kenner von Fulcis Filmen ab 1969 mit seinem herzlichen, lockeren, lebensbejahenden Ton überraschen: man verlässt den Kinosaal danach wie nach einer schönen Massage oder "Massage" – entspannt, gutgelaunt, fröhlich, mit einem optimistischen Blick auf die Welt und vielen schönen, angenehmen Gedanken. Sicherlich ist der Film auch ein bisschen frivol, ein bisschen gewagt und auch leicht satirisch im Unterton. Da gibt es diesen Moment, als der Präsident Paolini bei der Verhandlung mit Manzini, Parodi und deren "Ehefrau" riesige Augen im Angesicht ihrer schönen Beine macht, danach sehr penetrant darauf drängt, mit ihr als Haupteigentümerin im Privaten zu verhandeln, sie in Zweisamkeit stürmisch hofiert – aber da er abgesehen von einem kleinen Küsschen nicht wirklich zu seinem Ziel kommt, ruft er danach in einem lustvoll angeregten Zustand den "Massagesalon" an, um sich nach dem Verbleib von Marisa zu erkundigen und sofort einen Termin mit ihr klar zu machen. Das ist schon "dezent", aber doch für aufmerksame Zuschauer sehr eindeutig inszeniert. Natürlich gibt es satirische Untertöne gegen selbsternannte moralische Würdenträger, die von sich behaupten, dass sie immer nur an die Jugend denken – und das tatsächlich auf eine andere Weise tun, als sie es sagen. Selbstverständlich geht es, um jetzt ausnahmsweise in einem Satz Klartext zu sprechen, um Prostitution, um den verklemmten und heuchlerischen Umgang damit, um Korruption bei Bauprojekten, um illegale Parteispenden und um die unerträgliche Heuchelei selbsternannter Moralapostel. Aber das drängt sich keineswegs vordergründig auf, noch wird es gar an irgendeiner Stelle gar didaktisch. Diese Elemente schwingen mit und können "mitgenommen" werden. In erster Linie ist und bleibt LE MASSAGGIATRICI eine milde und leichtfüßige Komödie, die gegenüber den einzelnen Figuren recht versöhnlich bleibt und auch keine umfassende Systemkritik formuliert. Der Ton erinnerte mich etwas an LE BELLISSIME GAMBE DI SABRINA von Camillo Mastrocinque (für den Fulci auch einmal als Autor arbeitete) und der dieses Jahr beim Hofbauer-Kongress lief. (Fulcis spätere erotische Komödie bzw. schwarze Politsatire NONOSTANTE LE APPARENZE... E PURCHÈ LA NAZIONE NON LO SAPPIA... ALL'ONOREVOLE PIACCIONO LE DONNE von 1972, allen Slapstick-Einlagen zum Trotz, ist völlig anders im Ton, wird im letzten Drittel gar so grausig, dass einem fassungslos die Kinnlade herunterklappt und endet mit einer niederschmetternd bitteren, fatalistischen Note. Fulcis Erotikkomödie LA PRETORA von 1976 mit Edwige Fenech in einer Doppelrolle ist weniger hart als ALL'ONOREVOLE PIACCIONO LE DONNE, aber dennoch auch sehr fatalistisch in der Darstellung niederträchtiger Intrigen und mit einem zutiefst deprimierenden unhappy happy ending ausgestattet. Beide sind schon ganz andere Kaliber.)
Ich habe letztes Jahr angefangen, Lucio Fulci überhaupt richtig zu entdecken. LE MASSAGGIATRICI hat mir und wahrscheinlich vielen anderen Zuschauern beim Festival nun noch mal eine vollkommen neue Seite seines Schaffens offenbart und meine Bewunderung für den leider oft als Zombie- und Splatter-Opa belächelten Filmemacher noch mal gesteigert. Es gibt noch sehr viel zu entdecken!


16.15 Uhr

IL TERRORE DEI MARI ("Die Abenteuer der Totenkpfpiraten")
Regie: Domenico Paolella
Italien / Frankreich 1961
102 Minuten (Deutsche Fassung)
Venezuela im 17. Jahrhundert: französische Siedler werden auf Kommando des intriganten Polizeichefs massakriert. Zwei überlebende Brüder schwören Rache und werden Piraten.
In seiner einführenden Videobotschaft erklärte der Filmwissenschaftler Dario Stefanoni, dass IL TERRORE DEI MARI zu einer Reihe von Piratenfilmen gehörte, die "unabhängig" von den großen römischen Studios produziert wurden, nachdem der kleine Produzent Fortunato Misiano (?) Dino de Laurentis ein großes Schiff abgekauft hatte und es unter großen Mühen von Rom zum Garda-See hatte transportieren lassen. Auf dem immergleichen Schiff wurde dann am immergleichen Küstenstreifen des Garda-Sees eine ganze Serie von Piratenfilmen gedreht.
Ein bisschen enttäuschend war es dann schon, dass die Einführung Stefanonis das wahrscheinlich spannendste in diesem Filmblock bleiben sollte. So "unabhängig" IL TERRORE DEI MARI auch produziert wurde, so sehr fühlte er sich ein bisschen nach beliebiger Dutzendware an. Der Film ist größtenteils in meinem Gedächtnis verblasst und ich habe nur die vage Erinnerung, mich gepflegt gelangweilt zu haben. Interessant fand ich die Tatsache, dass der Hauptdarsteller, der ältere Bruder, der Held des Films, von einem Schauspieler gespielt wurde, der wie Ende 40 aussah. Tatsächlich war der Amerikaner Don Megowan zur Premiere des Films gerade mal 38 Jahre alt, aber trotzdem sprühte er nicht einen Hauch von Charisma oder Charme aus, den diese Rolle eigentlich hätte verlangen müssen (ich denke hier zum Beispiel an Brett Halsey als Cellini in IL MAGNIFICO AVVENTURIERO letztes Jahr).
Der Darsteller des jüngeren Bruders hätte wohl besser in diese Rolle gepasst: seine Figur drohte während des Films, zum Verräter zu werden. Mir schien das merkwürdig forciert – und dann doch relativ inkonsequent, weil das, wenn ich mich richtig erinnere, dann für eine gute Zeit wieder völlig ignoriert wurde. Ehrlich gesagt weiß ich überhaupt nicht mehr, ob der kleine Bruder den großen Bruder wirklich verrät oder doch nicht, weil mir das dann doch nicht interessant genug erschien. Stattdessen wurde wahnsinnig viel expositorischer Aufwand betrieben, um ein paar Komparsen dazu zu bringen, sich an einem Strand etwas zu kabbeln – was wiederum eher behäbig aussah.
Ich möchte aber jetzt nicht groß rumnörgeln und einfach nur bei dem Bild bleiben, den ich im Gedächtnis behalten habe. Beim Endkampf zwischen dem älteren Bruder und (ich glaube) dem Polizeichef geraten die beiden Kämpfer außerhalb des Sichtfelds, werden von einer Reihe Fässer oder etwas ähnlichem verdeckt. Die Kamera verharrt dann still, während wir den Kampf nur noch erahnen können. Plötzlich schießt die Hand des Unterlegenen in einem Sterbekrampf hoch und sinkt dann langsam wieder nieder...

Abendessen. Voller Verwunderung musste ich feststellen, dass es in Frankfurter Gaststätten offenbar ganz normal sein kann, kein Bier auf der Karte zu haben – sondern nur Apfelwein...


20.00 Uhr

L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA ("Der letzte Schnee des Frühlings")
Regie: Raimondo Del Balzo
Italien 1973
94 Minuten
Der Witwer Roberto (Bekim Fehmiu) ist als Anwalt äußerst erfolgreich, scheitert aber als alleinerziehender Vater kläglich: er holt seinen Sohn Luca (Renato Cestiè) nur zu den Ferien aus dem Internat, hat selbst dann keine Zeit für ihn und verschweigt ihm seine Beziehung mit Veronica (Agostina Belli). Ein Urlaub am Meer zu dritt schafft keine Abhilfe – und ein späterer, zweisamer Vater-Sohn-Skiurlaub wird jäh unterbrochen, als bei Luca nach einem Zusammenbruch Leukämie diagnostiziert wird.



Auf wenige Filme war ich dieses Jahr so gespannt wie auf L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA, denn von dem Melodrama-Subgenre des "lacrima movie" hatte ich noch nie zuvor gehört. Sogenannte Tränenfilme – im Programmheft und in der Einführung auch umschrieben mit Begriffen wie "hartes Melodrama", "sentimentales Rührstück" und gar "childploitation" – waren im Italien der 1970er so erfolgreich, dass man rückblickend geradezu von Blockbustern sprechen könnte. Wie Christoph in einer Einführung erklärte, wurden die "lacrima movies" in Italien als Familienevents behandelt und offenbar gingen tatsächlich zahllose Eltern zusammen mit ihren Kindern in Nachmittagsvorstellungen, um Filme zu schauen, in denen Kinder oder Teenager qualvoll an Krankheiten sterben.* Die bleiernen Jahre Italiens wurden hier nicht mit Rasiermessern zerschlitzt, mit Maschinenpistolen niedergemäht, mit Colts weggeballert, von Kannibalen gefressen, von üppigen Busen zerquetscht oder von vier Fäusten K.O. geschlagen, sondern mit reinigenden Tränen weggespült. Die Tränenfilme brachten allerdings nicht nur italienische Zuschauer zum Weinen, denn einige von ihnen gehörten zu den erfolgreichsten Exportschlagern der italienischen Filmindustrie und übten ihre sentimentalen Anschläge auch auf deutsche, britische, peruanische, brasilianische, argentinische, japanische und polnische Tränendrüsen aus. 
Ich selbst hätte spontan geraten, dass die "lacrima movies" die italienische Reaktion auf LOVE STORY waren, aber natürlich blickte das italienische Kino in den 1970er Jahren bereits auf eine lange Tradition des Melodramas zurück. Christoph nannte eindeutig Luigi Comencinis INCOMPRESO von 1966 als Vorbild. Mit dem enormen Erfolg von L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA wurden die Tränenfilme zu einem eigenen Subgenre. Raimondo Del Balzo drehte in seiner relativ überschaubaren Filmografie noch weitere "lacrima movies" (und zwischendurch einen Rape-and-Revenge-Film), sein LE PRIME FOGLIE D'AUTUNNO von 1988 gilt gemäß dem italienischen Wikipedia-Eintrag als einer der letzten Filme dieses Subgenres. Hier schloß sich sozusagen auch ein Kreis vom letzten Schnee des Frühlings zu den ersten Blättern des Herbsts.
Del Balzo stemmte das Subgenre allerdings keineswegs alleine, im Gegenteil: viele wesentlich bekanntere Regisseure haben auch einen "lacrima movie" in ihrer Filmografie. Ruggero Deodato zum Beispiel hat L'ULTIMO SAPORE DELL'ARIA gedreht, in dem ein ausgerissener Teenager für eine Schwimmer-Meisterschaft trainiert, aber von einem Gehirntumor heimgesucht wird (ein übrigens sehr sehenswerter Film, auch wenn ich ihn leider gekürzt, im falschen Bildformat, in scheußlicher Bildqualität und einer nicht gerade stilsicheren englischen Synchronisation gesehen habe). Sergio Martino drehte 1974 LA BELLISSIMA ESTATE, Luigi Cozzi ließ in seinem DEDICATO A UNA STELLA 1976 auch eine Leukämieerkrankung zuschlagen. Michele Massimo Tarantini, sonst eher auf commedie sexy abonniert, drehte 1978 einen Film mit dem schönen Titel STRINGIMI FORTE PAPÀ (wörtlich "Umarme mich fest, Papa"). Einen "lacrima movie" zu drehen war also nicht viel außergewöhnlicher, als einen Giallo, einen Poliziesco oder eine Erotikkomödie zu drehen. Im Zweifelsfall war der Tränenfilm in Italien und im Ausland sogar erfolgreicher als der Giallo. Heute ist davon fast nichts übrig geblieben. Das Melodrama im Allgemeinen hat es bei Liebhabern von "Genrefilmen" (wie man diese auch definieren mag) eh nicht so leicht, und beim "lacrima movie" kann man sicherlich ohne Bedenken von einem unterschlagenen Subgenre sprechen. CANNIBAL HOLOCAUST und I CORPI PRESENTANO TRACCE DI VIOLENZA CARNALE ("Torso") werden wahrscheinlich noch mindestens 50 Special-Editions erleben, bevor jemand L'ULTIMO SAPORE DELL'ARIA und LA BELLISSIMA ESTATE als DVD veröffentlichen wird. Umso besser, dass es das Terza Visione gibt!
Jetzt zum Film, der sich tatsächlich als eine weitere große Überraschung des Festivals entpuppen sollte. Der meisterhaft inszenierte L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA war, kaum zu glauben, Raimondo Del Balzos erster Film als Regisseur. Im Kern handelt er von einer gestörten Sohn-Vater-Beziehung, doch diese ist zunächst überhaupt nicht sichtbar, weil auch der Vater abwesend ist. Im Prolog, der chronologisch nach dem Filmende spielt, sehen wir Roberto um seinen toten Sohn trauern und die Platte auflegen, die ihm Luca geschenkt hat (sein letztes Geschenk), aber danach verschwindet er erst einmal aus dem Film. Luca, der ein Internat besucht, weil sich der Witwer Roberto als viel beschäftigter Anwalt nicht um ihn kümmern kann (bzw. will), wartet zu Beginn der Sommerferien darauf, dass Papa ihn abholt und nach Hause fährt. Stattdessen kommt der Onkel, der Bruder von Lucas verstorbener Mutter. Zuhause angekommen muss Luca auch schon zu Bett gehen, bevor Roberto zurück kommt, und steht am nächsten Morgen auf, wenn Roberto schon wieder auf Arbeit ist. Als Luca zusammen mit seiner besten Freundin Stefanella spontan den Vater im Gerichtsgebäude aufsucht, wimmelt der ihn auch schnell wieder ab. Knapp 25 Minuten Film vergehen, bevor Luca seinen Vater endlich mal für längere Zeit sieht und spricht.
Luca muss viel Zeit alleine verbringen. L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA ist voll von Szenen, in denen Renato Cestiè alleine durch das Haus läuft, am Strand spaziert, ein kleines Motorboot fährt oder sich alte 8mm-Familienfilme anschaut, um seine verstorbene Mutter wieder "lebendig" zu sehen. Letzteres ist nicht nur ein sehr schöner Moment, sondern gibt Luca auch ein Rätsel: nachdem die Bilder seiner Mutter durchgelaufen sind, folgen nach einigen Momenten unbelichteten Films Aufnahmen einer anderen Frau. Es handelt sich um die neue Freundin Robertos, Veronica – aber die Beziehung hat er seinem Sohn bislang komplett verschwiegen. Luca und Veronica sind, zunächst ohne es zu wissen, Leidensgenossen: auch Veronica wird von Roberto ständig versetzt, weil es auf Arbeit dann doch noch länger gedauert hat. Er ist ein Workaholic, wahrscheinlich aber auch jemand, der seine Arbeit als Schutzschild vor Emotionen und Verantwortlichkeiten nutzt. Irgendwie kann ich mir Roberto gut als einen der Väter vorstellen, die in LIBERI ARMATI PERICOLOSI vor dem Kommissar sitzen und sich rechtfertigen, dass man eben nur das eine (Arbeit) oder das andere (sich um das Kind kümmern) kann. Und wenn Luca nicht an Leukämie gestorben wäre, hätte er zehn Jahre später vielleicht zu einem Gewalttäter wie Mario oder Joe werden können (auch wenn Perugia nicht Mailand ist).
Die Krankheit Lucas platzt also keineswegs in ein Familienidyll hinein, sondern in eine äußerst komplizierte Beziehungskonstellation. Sie ist deshalb so kompliziert, weil Roberto sie kompliziert macht. Er gibt weder seiner Freundin noch seinem Sohn das Gefühl, für sie da zu sein. Wenige Minuten, bevor er mit Luca zu einem Strandurlaub aufbricht, teilt er ihm lakonisch mit, dass eine Freundin mitfährt. Auf eine gewisse Weise halte ich es für naheliegend, Lucas Krankheit durchaus als Symbol zu sehen, als drastische Zuspitzung und körperliche Manifestation der latenten Konflikte, unter denen er zu leiden hat. Die mangelnde Zuwendung und die falsche Art, mit der ihn sein Vater behandelt, haben ihn krank gemacht. Das "Signal" sieht Roberto erst, als es kein Zurück mehr gibt. In den letzten Minuten des Films spricht Luca einige Sätze aus dem Off, und sagt unter anderem, dass er auf gewisse Weise glücklicher in seiner Erkrankung war als vorher, weil er nun endlich mit seinem Vater zusammen war.
L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA ist ziemlich bemerkenswert aufgebaut, weil er in der ersten Stunde keinerlei Attacken auf die Tränendrüsen des Zuschauers ausübt, und an manchen Stellen sogar regelrecht heiter wirkt. Besonders die Momente, die Luca mit seiner besten Freundin Stefanella verbringt, sind außerordentlich vergnügt**. Sie fernsehen zusammen (wobei er sich mit seinem Wunsch in der Wahl des Programms durchsetzen kann – zu hören ist ein Actionfilm mit Autoverfolgung), spazieren durch die Stadt, kaufen sich an einem Automaten Zigaretten (scheitern aber daran, sich Feuer geben zu lassen) oder schauen sich die Nackthefte an, die Stefanella bei ihren Eltern geklaut hat. Zwischendurch erzählt sie ein bisschen aus dem Nähkästchen von den Problemen ihrer Eltern, dass die Mutter regelmäßig Besuch von einem "Onkel" bekommt, aber auch hervorragende Tortelloni mit Ricotta kocht. Überhaupt isst Stefanella für ihr Leben gerne, verputzt zwischendurch auch mal eine ganze Büchse Thunfisch aus Lucas Kühlschrank oder kreiert sehr außergewöhnliche Sandwiches: mit Marmelade, dann Käse (damit es nicht zu süß wird), dann noch mal Marmelade (damit es nicht zu sehr nach Käse schmeckt), das ganze gekrönt mit einem Topping aus Sardellenpaste. Sie ist dann auch die einzige, die normal mit Luca redet, als dieser schon sterbend im Krankenbett liegt. Ungeniert fragt sie ihn, was denn diese Schläuche in seiner Nase seien und teilt ihm mit, dass sein letzter Schulaufsatz gut benotet wurde, aber wahrscheinlich nur aus Mitleid, weil er krank ist. Natürlich hat sie trotzdem sehr genau verstanden, was da passiert: als sie wieder draußen auf dem Krankenhausflur steht, beginnt sie zu weinen.
Toll ist auch das Miteinander zwischen Luca und Veronica. Zunächst ist Luca absolut nicht gut auf sie zu sprechen, weil sie ohne Ankündigung einfach zum Strandurlaub mit seinem Vater mitgenommen wird. Sie wiederum fühlt sich äußerst unwohl, weil sie nicht auf diese Weise mit Luca Bekanntschaft machen wollte. Nach einem Angebot ihrerseits, doch Freunde zu werden, ignoriert Luca sie zunächst und entscheidet sich dann anders. Er legt ihr eine aufgesammelte Muschel als Geschenk in ihre Handtasche: das löst dann auch alle Probleme und im nächsten Bild springen beide quietschvergnügt durch ein strahlendes Sonnenblumenfeld. In knapp weiteren zehn Minuten wird klar, dass Veronica eigentlich ein viel besserer Elternteil ist als Roberto, weil sie Luca zuhört, sich auf ihn einlässt, sich Zeit für ihn nimmt (während Roberto auf einen "wichtigen" Anruf aus dem Büro wartet). Der Junge zeigt ihr im Vertrauen dann auch sein spezielles Versteck, das er an einem fremden Ort immer aufsucht, in diesem Fall ein Tunnelsystem am Strand. Dort findet sie Luca dann auch, als er in einem Anfall von Bockigkeit ausbüchst (nachdem er Veronica und seinen Vater bei einem leidenschaftlichen Kuss beobachtet hat).
In den letzten 20 Minuten brechen schließlich sämtliche Dämme. Einem kleinen Kind dabei zuzusehen, wie es an einer unheilbaren Krankheit regelrecht eingeht und qualvoll stirbt, ist natürlich an sich eine geballte Ladung Emotion. Da können selbst die härtesten Morde, Folterungen oder Vergewaltigungen in Gialli, Polizieschi oder Kannibalenfilmen nicht mithalten. Im Kino habe ich mit den Tränen gekämpft und hatte danach für gut eine halbe Stunde noch einen Kloß im Hals davon behalten. Zuhause, bei der Neusichtung auf DVD, den Film bereits kennend, sind dann wirklich Tränen geflossen. L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA kann man zweifelsohne als perfid manipulativen und auf Überwältigung setzenden Exploitationfilm sehen – aber die "Manipulation" funktioniert eben.
Zum Gelingen von L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA trägt nicht zuletzt Renato Cestiè als Luca bei. Natürlich ist da zunächst einfach ein süßer, kleiner, blonder Junge mit großen Augen. Tatsächlich kann Cestiè so gut schauspielern, dass aus einem kitschigen Kulleraugen-Junge ein echter Charakter wird und der Film lässt ihm dann auch genug Platz dafür. Luca guckt eben nicht nur süß oder manchmal traurig rein, sondern reagiert manchmal auch etwas bockig, oder luchst seinem Onkel gewieft Geld ab, indem er ihm eine für Papa gedachte Krawatte "schenkt", oder redet mit Stefanella über die Brüste ihrer Mutter (im Vergleich zu jenen im Nacktheftchen). Zwischendurch geht er an die Hausbar seines Vaters und gönnt sich einen ordentlichen Schluck aus der Wodkaflasche oder kauft sich zusammen mit Stefanella eine Packung Zigaretten. Hinter dem süßen Gesicht ist auch ein Junge, der es "faustdick" hinter den Ohren hat (also relativ gesehen). Ein "normaler" Junge eben, den man als Zuschauer zu lieben lernt, weil der Film ihn aufrichtig liebt und ernst nimmt. 
Und wie so oft im italienischen Film ist es eben auch die Musik. Franco Micalizzi hat den passenden Score komponiert mit einem Stück, das die Emotionen des Films noch mal bündelt und verstärkt (aber auch so schön anzuhören ist – siehe hier). 

* Ein Kommentator auf IMDb schreibt, als Kind mit der Sichtung von L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA gar traumatisiert worden zu sein. Nicht uninteressant finde ich den Aspekt, dass zumindest die beiden "lacrima movies", die ich bisher kenne, erwachsene Themen auf erwachsene Weise behandeln: elterliche Vernachlässigung, Heuchelei, Ehebruch, schwer gestörte Familienbeziehungen. Da wurde damals bestimmt manch einer Familiengruppe im Zuschauerraum auf unangenehme Weise der Spiegel vorgehalten.

** Sehr schockierend (ich glaube beim ersten Mal ist mir das vielleicht beim Mitlesen der Untertitel entgangen) ist allerdings Lucas Äußerung gegenüber Stefanella, dass sein Vater ihm eine schöne Krawatte und eine Schallplatte gekauft habe. Wir haben kurz vorher ja schließlich gesehen, dass Luca derjenige ist, der diese Geschenke für seinen Papa kauft. Er kompensiert die mangelnde Zuwendung seines Vaters gleich doppelt: indem er Geschenke kauft und dann erzählt, dass sein Vater ihm Sachen schenkt.


Einen schönen Text zur letzten Szene des Films, die nachts in einem Vergnügungspark spielt, hat Lukas Foerster auf seinem Blog geschrieben.

Del Balzos Film war auf eine gewisse Weise der härteste des diesjährigen Festivals, zumindest aber der emotional intensivste und herausforderndste. So wie ich in Gesprächen kurz darauf mitbekommen habe, war ich nicht der einzige, den der Film ganz schön mitgenommen hat. Die etwas längere Pause zwischen L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA und PROFONDO ROSSO war dann tatsächlich auch vonnöten, um den dicken Kloß im Hals "verdauen" zu können.


22.30 Uhr
PROFONDO ROSSO ("Rosso – Die Farbe des Todes")
Regie: Dario Argento
Italien 1975
126 Minuten
Der Jazzpianist Marc (David Hemmings) untersucht zusammen mit der Journalistin Gianna (Daria Nicolodi) den Mord an seiner Nachbarin und löst durch seine Untersuchungen bald weitere Morde aus.






Dies war nun meine dritte Sichtung von PROFONDO ROSSO und sicherlich die schönste: diesen Film im Kino sehen, auf 35mm, von einer wunderschönen, knackig frisch wirkenden Kopie – das kann ich auf meiner to-do-Liste hiermit abhaken. Auf eine gewisse Weise fand ich den Film dieses Mal wesentlich verwirrender und komplizierter als bei meinen letzten zwei Sichtungen, als hätte ich mich im Angesicht der großen Leinwand nun komplett "verloren", aber vielleicht war das auch auf meine mittlerweile einsetzende Tagesmüdigkeit gekoppelt mit einer allgemeinen Müdigkeit nach vier Tagen Festival zurückzuführen.
Einige Dinge sind mir trotzdem besonders klar deutlich geworden. Mehr als je zuvor habe ich gemerkt, wie großartig die Screwballkomödien-Momente des Films sind. Argento wird ja bisweilen vorgeworfen, ein kalter Formalist zu sein, aber er hat eben auch eine sehr humorvolle, menschliche und verspielte Seite (die ich kürzlich in seinem Vorgängerfilm QUATTRO MOSCHE DI VELLUTO GRIGIO auch sehr deutlich "entdeckt" habe). 
Das lockere Zusammenspiel zwischen Hemmings und Nicolodi, die ausgedehnten Szenen, in denen sich die beiden witzige Dialoge wie in einer echten Screwballkomödie zuspielen, in denen Marc sich zum Affen macht, als er beim Armdrücken gegen sie verliert, in denen beide nachts in ihrem baufälligen Auto (ach... dieses Auto!) sitzen und darüber reden, welche der Mini-Schnapsflaschen aus ihrer Kollektion sie jetzt vernichten werden... um nichts auf der Welt möchte ich diese Momente missen! Sie sind gleichermaßen das Herz des Films und das Element, das ihm eine Seele gibt. Wenn Gianna gegen Ende des Films von einem Mordverdächtigen schwer verletzt wird, dann passiert das nicht mit der Beiläufigkeit, mit der in Gialli ab und zu Figuren getroffen werden. Das ist ein Moment, bei dem ich am liebsten laut "NEIN!" schreien möchte und das Gefühl bekomme, auch zu sterben, wenn sie stirbt (sie tut es zum Glück nicht). Als Marc – zeitgleich mit den Zuschauern – mitbekommt, dass ihr ein Messer im Bauch steckt, zu ihr eilt, sie festhält und das Gesicht streichelt, ist das stärker als jegliche verbale Liebeserklärung. Der logische "Ableger" von PROFONDO ROSSO wäre kein weiterer Giallo, sondern tatsächlich eine zärtliche, verspielte Liebeskomödie. (Oder vielleicht auch ein melancholischer Buddy-Movie mit Elementen eines Trinker-Melodramas, wenn aus der Beziehung zwischen Marc und Carlo ein eigener Film würde – wenn Marc dann eine weibliche Figur wäre, was er auf gewisse Weise schon ist, dann wäre das wieder ein Liebesfilm, diesmal mit eher tragischem als mit komischem Schwerpunkt).
In einem Filmforum bezeichnete jemand einmal die italienische Langfassung des Films unverständlicherweise als "Laberfassung". In der Export-Version für die USA fehlten über 20 Minuten Film (tatsächlich von Argento selbst geschnitten), darunter viele der eben angesprochenen Szenen mit Hemmings und Nicolodi. Ich habe diese Fassung zwar nicht gesehen, kann mir aber gut vorstellen, dass der Film dadurch wirklich kälter wirkt. Möglicherweise hat gerade das dazu beigetragen, dass Argento vielen als kalter Formalist gilt (selbst INFERNO, der gemeinhin als sein extremster, abstraktester Film gilt, hat viele Spuren eines verspielten, leicht absurden, tiefschwarzen Humors). Dabei beginnt PROFONDO ROSSO mit einem Plädoyer gegen kalten Formalismus, indem zunächst der Vorspann auf eine ziemlich verspielte Weise unterbrochen wird. Dann erklärt Marc einigen Musikern, die gerade eine Jazznummer gespielt haben, dass sie sehr gut, ja sogar zu gut, zu sauber gespielt haben, dass so etwas "dreckiger" rüberkommen sollte.
Mehr als vieles andere hat mich bei dieser Sichtung eine Szene beeindruckt, die mir vorher nicht als "Höhepunkt" aufgefallen war, nämlich Marcs lange Durchsuchung der großen Villa. Hier wird auf gewisse Weise der ganze Film noch mal symbolhaft verdichtet: ein Mann auf der Suche nach dem großen unbekannten Faktor. Besonders die Musik mit ihrer harten Basslinie packt und lässt nicht mehr los... also eigentlich tut sie es doch: sie setzt zwischendurch einfach aus, als Marc auf eine Glasscherbe tritt und setzt wieder ein, als er ein Fenster öffnet. Präzise und doch spielerisch. Abstrakt und doch sehr sinnlich. Eine puzzleartige Montage – und dann doch dieser feine, weiße Staub, der Marcs schwarzes Hemd zunehmend bedeckt; er, der mit einer Glasscherbe das versteckte Mauerbild frei kratzt und sich zwischendurch in den Finger schneidet. Das ganze endet schließlich damit, dass Marc etwas erblickt, aber nicht erkennt. Schaut, aber sieht nicht. Unvollständige Bilder zeigen nur einen kleinen Ausschnitt. Wer ein Bild beschneidet, wird es nicht verstehen können. Als würde PROFONDO ROSSO hier seine eigene Editionsgeschichte voller Schnitte im Inhalt wie auch im Format vorwegnehmen. Nun... an diesem 29. Juli war er in seiner vollen, anbetungswürdigen Pracht zu sehen, zu bewundern, zu genießen!




Ein großes Dankeschön an die Organisatoren des Festivals! Besonders natürlich an Andreas Beilharz und Christoph Draxtra für das großartige Programm. Und an alle Helfer, die es braucht, um eine solch schöne Veranstaltung zu stemmen. Nächstes Jahr wird es bestimmt wieder großartig, ich freue mich schon jetzt!



Persönliches Ranking:

Außer Konkurrenz:
TUTTO È MUSICA
PROFONDO ROSSO

Meisterhaft:
IL SOLE NELLA PELLE
LE MASSAGGIATRICI

Großartig:
DANCE MUSIC
L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA

Herausragend:
NELLA CITTÀ L'INFERNO
LOVEMAKER

Bockig – Eigensinnig – Liebenswert:
ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA
LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST

Sehr gut:
LIBERI ARMATI PERICOLOSI

Gut:
ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA
SICARIO 77, VIVO O MORTO

Geht so:
IL TERRORE DEI MARI

Mittwoch, 5. September 2018

Tutto è film: Bericht vom 5. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms (Teil 1)


Es war einmal das italienische Kino...
(m)ein Sommermärchen

Frankfurt am Main
37°C
35mm



Donnerstag, 26. Juli

18.30 Uhr


LOVEMAKER
Regie: Ugo Liberatore
Italien / Bundesrepublik Deutschland 1969
96 Minuten
München 1969: Die Studentin Christiane (Doris Kunstmann), ihr Freund Klaus (Roger Fritz), Helga (Christiane Krüger) und deren Freund gehen eines Nachts auf eine Baustelle und verprügeln einen italienischen Gastarbeiter. Der italienische Ingenieur und Bauleiter Giorgio (Antonio Sabato) wird Zeuge des Vorfalls, beendet ihn und wird es den Deutschen nach und nach heimzahlen: indem er erst Helga, später Christiane verführt.
LOVEMAKER erlebte am 26. Juli 2018 im Kino des Frankfurter Filmmuseums seine verspätete Deutschland-Premiere. Obwohl er von Artur Brauners CCC Film koproduziert wurde, kam der Film 1969 nicht in die deutschen Kinos. Brauner soll den fertigen Film gehasst, ihn als "antideutsch" bezeichnet haben und verbannte ihn in den Giftschrank. Wenn man LOVEMAKER heute sieht, kann man nur allzu gut verstehen, warum er nicht in Deutschland gezeigt wurde, und kann nur vermuten, dass er auch heutzutage (bzw. ausgerechnet heutzutage) immer noch keinen regulären Start bekäme. Liberatore hat hier nicht weniger als eine gnaden- und schonungslose Studie über deutschen Rassismus und Heuchelei vorgelegt. Die brillante Klarheit, mit der Liberatore und sein Co-Autor Fulvio Gicca Palli die subtilen Mechanismen von Rassismus offenbart, ist absolut verblüffend, und LOVEMAKER nur wenige Tage nach der großen Özil-Kontroverse zu sehen, passte wie die Faust auf's Auge.
Es ist 1969, aber unter der Oberfläche des "swingenden München" (so das Programmheft) sieht es hässlich aus. Die schick gekleideten, bürgerlichen Studenten fahren nächtens durch München und versuchen zu raten, ob die Helmfarbe der Gastarbeiter auf der Baustelle ihre Nationalität markiert. Der erste, den sie danach fragen, antwortet das, was sich jeder vernünftige Mensch denken könnte (natürlich hat die Helmfarbe damit nichts zu tun!), wird von Christiane bedrängt, bis sie ihm aus heiterem Himmel und völlig zu unrecht vorwirft, sie sexuell zu belästigen, woraufhin die beiden Männer der Studentenbande zum Prügeln hinzukommen. Die Fantasie des sexuell aggressiven Südländers – sie wird im Laufe des Films wie ein Bumerang auf Christiane und Helga zurückkommen.
Giorgio, den das Studentenquartett auf der Baustelle trifft, ist ein "komplizierterer" Gastarbeiter, weil er Ingenieur und Bauleiter ist, Akademiker, gutbürgerlich mit Haus, Frau und Kind in Rom – als Deutscher stünde in der sozialen Hierarchie weit höher als die Studenten. Zwischen ihm und den Deutschen beginnt, wie Festivaldirektor und Kurator Christoph Draxtra im Programmtext wunderschön schreibt, ein "morbide-neurotischer Tanz ambivalenter Gefühle". DoP Dario di Palma (der auch Giulio Questis LA MORTE HA FATTO L'UOVO und ARCANA fotografierte und außerdem für Lina Wertmüller, Ettore Scola, Federico Fellini und Michelangelo Antonioni gearbeitet hat) hält diesen "Tanz" oft wortwörtlich fest, indem er die Kamera um zwei Figuren kreisen lässt. Den ersten Walzer, wenn man so will, bestreiten Giogrio und Helga, die beide rasch eine Affäre beginnen, obwohl sie mit ihrem Freund bereits verlobt ist. Die Männer wissen nichts davon, nur Christiane beobachtet stark (ekel)erregt dieses Treiben. Und zwar fast wörtlich: als Helga heiratet, schaut Giorgio mal spontan vorbei; als der Bräutigam irgendwelche Koffer in einem Nebenraum packen geht, gönnt sich Giorgio mit Helga "die erste Nacht" auf dem Hochzeitsbett, während Christiane sich auf die Terrasse zurückzieht. Der Ausdruck glückseliger Befriedigung, den sie dann auf Helgas Gesicht sieht: bringt das Christiane schließlich zum Umfallen?
Christiane, die bis dahin den "mangia-spaghetti" mit sichtlich obsessiver Abscheu aufmerksam beobachtete, beginnt ihrerseits eine Affäre mit Giorgio. Der aufmerksame Zuschauer hat natürlich gemerkt, dass Giorgio den beiden deutschen Frauen nicht primär wegen seines schönen Lächelns gefällt, sondern weil er offenbar extrem gut im Bett ist... also zumindest im Vergleich mit jenen beiden Deutschen, die als lascher Maßstab herhalten können: Klaus und der andere Student neigen zu ausgiebigem Bierkonsum, was ihrer Potenz ziemlich abträglich ist. In einer peinlich langen Szene zu Beginn des Films sehen wir, wie sie im Vollrausch zu brüderlichen Umarmungen und komatösem Schlaf neigen, während ihre Freundinnen nach Sex gieren – bei diesen beiden Schlappschwänzen kann dann auch ein von den beiden Frauen etwas ungelenk eingefädelter Partnertausch-Versuch nicht weiter helfen. Jedenfalls wird Christiane, die vorher die "mangia-spaghetti" verabscheute, eben einem solchen sexuell hörig. Giorgio will sie zu einer "guten italienischen Hausfrau" degradieren, zwingt sie, bei ihm einzuziehen und ihrem ganzen Umfeld das auch mitzuteilen. Christiane wehrt sich – sie möchte nicht, dass man mitbekommt, wie sie mit einem ... "verheirateten Mann" ins Bett geht. Natürlich meint sie damit eigentlich einen "mangia-spaghetti" und Giorgio weiß es natürlich auch und im Grunde weiß sie, dass er es weiß. Das ist wie mit Özil und dem ominösen Bild: 99 % der Leute, die ihm das Foto mit dem türkischen Potentaten vorgeworfen haben, kümmern sich im Grunde einen Dreck um Menschenrechte in der Türkei und hatten kurz vorher ja auch überhaupt keine Probleme damit, eine Veranstaltung abzufeiern, deren Gastgeberland hungerstreikende politische Häftlinge, die aus fremden Staaten (der Ukraine) verschleppt wurden, in sowjetisch anmutenden Knästen vor sich hin darben lässt. Liberatore hatte diese Heuchelei schon 1969 in seinem Film in äußerst treffende Bilder gepackt.
Da wir eben bei Bildern sind: eines spielt in LOVEMAKER auch eine wichtige Rolle. Das Bild von Giorgios Ehefrau und dem gemeinsamen Kind, das vergrößert auf Posterformat über seinem Bett hängt – das gleiche Bett, in das er seine deutschen Affären zum Sex einlädt und in das schließlich auch Christiane landet, nackt und gedemütigt, während Giorgios Frau und Kind vom Wandposter belustigt auf sie herabblicken. Wie viele im Film ist auch dieser ein krasser, äußerst direkter Moment. Manche Zuschauer mögen das vielleicht gar vulgär nennen, aber immer wieder fühlte ich mich an die späteren Filme Paul Verhoevens erinnert (gerade darin, wie Sex als komplexes soziales Macht- und Unterwerfungsmittel präsentiert wird). Ähnlich komplex wie Verhoeven ist auch Liberatores Weigerung, seine Figuren einfach zu machen: so unsympathisch Christiane auch ist, so sehr macht sie die Kamera immer wieder zum visuellen Mittelpunkt des Films, harrt in einer ausgedehnten Szene, als sie alleine etwas gelangweilt durch Giorgios Wohnung bummelt, sehr lange mit ihr. So sehr man mit Giorgio auch prinzipiell sympathisiert darin, wie er der Herrenmenschenattitüde der deutschen Studenten einen Dämpfer verpasst, so selbstgefällig ist er letztlich in seinem Verhalten gegenüber Christiane; so persönlich und egoistisch bleibt seine "Rache".
Auf besondere Weise interessant ist LOVEMAKER auch, weil er ein italienischer Film ist, in dem deutsche Figuren in italienischer Sprache italienische Figuren rassistisch beschimpfen, wobei das ganze von Songs begleitet wird, die auf Deutsch im Original gesungen werden: ein janusköpfiges Verfremdungselement, wobei letzteres wahrscheinlich gerade in italienischen Kinos äußerst befremdlich gewirkt haben muss. Die instrumentale Titelmelodie hingegen, komponiert von Armando Trovajoli, müsste wahrscheinlich in die Top 5 der "Most ass-kicking bass lines in Italian cinema" aufgenommen werden.
Den visuellen Höhepunkt des "Tanzes" bildet eine ganz merkwürdige, fast surreale Szene, etwa in der Mitte des Films (schätze ich): Klaus und der andere Student sind in einer schlagenden Studentenverbindung und nehmen an einer Mensur teil, zu der Klaus tatsächlich Giorgio eingeladen hat (vielleicht nur, um zu sehen, ob der Italiener sich traut, wirklich zu kommen). Was folgt, sehen wir wahrscheinlich leicht verfremdet durch Giorgios Augen. Die Szenerie, die Fechthalle eines Verbindungshauses, wirkt fast retrofuturistisch, mit zahlreichen Männern in bizarr-archaischen Kampfanzügen, die nach einem mysteriösen Regelwerk in Zweierkämpfen gegeneinander antreten (wieder die Kamera, die um Personen-Duos kreist) – wobei es scheint, dass sie weniger kämpfen, als vielmehr wie aufgezogene Automaten hin- und her zucken. Nach Ende des Rituals sind die Männer dann mächtig stolz darauf, zerschnittene Gesichter zu haben – und dann kommt ein italienischer Ingenieur in einem eleganten, cremefarbenen Mantel vorbei und eröffnet ihnen, dass er das ganze für ein völlig groteskes Gladiatorenspektakel hält. Artur Brauner soll von dieser Szene wohl ganz besonders entrüstet gewesen sein.
Ugo Liberatore war mir bislang unbekannt, allerdings kein Terza-Visione-Neuling: sein Südsee-Aussteigermelodrama BORA BORA lief 2015 beim 2. Terza Visione. So ungalant das Bild der Deutschen in LOVEMAKER ist, so sehr schien es Liberatore in seinen Forschungen zu Rassismus, Geschlechterbeziehungen und moderner Heuchelei auch um Universelleres zu gehen. Ich empfehle Oliver Nödings und Silvia Szymanskis Besprechung des Films als Lektüre.
Was zwei der Hauptdarsteller, nämlich Doris Kunstmann und Roger Fritz, zu LOVEMAKER zu sagen haben, hörten die Zuschauer der Deutschlandpremiere im anschließenden Q & A mit den beiden. Zu sehen ist das Gespräch hier auf dem youtube-Channel des Deutschen Filmmuseums.


22.00 Uhr

ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA
Regie: Riccardo Freda (Nachdrehs: Filippo Walter Ratti)
Italien / Spanien 1972
91 Minuten
Vier junge Hippie-Urlauber, Jane (Camille Keaton – sechs Jahre vor DAY OF THE WOMAN), Bill, Joe und Fred suchen in einer stürmischen Nacht eine Villa auf. Dessen Hausherr, Lord Alexander (Luigi Pistilli), organisiert zusammen mit seiner Ehefrau und einigen Gästen gerade eine Schwarze Messe. Als die Urlauber da reinplatzen, geraten die Satanisten in Panik und massakrieren sich gegenseitig. Bei ihrer anschließenden panischen Flucht werden die vier jungen Leute nach und nach von schrecklichen Visionen und Ereignissen heimgesucht...



ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA ist ein allseitig verstoßener Film, auf gewisse Weise ein film maudit: Regisseur Riccardo Freda selbst hasste ihn so sehr, dass er nicht nur seinen Namen aus den Credits entfernen ließ, sondern ihn in seinen Memoiren komplett unterschlug, so der italienische Filmhistoriker und Freda-Biograph Roberto Curti in seiner Einführung. Der Film lief nur in seinen beiden Produktionsländern und galt offenbar als nicht "exportfähig". 2004, nach einer Projektion im Rahmen einer Retrospektive beim Filmfestival Venedig, wurde er vom Publikum ausgebuht. Das Terza Visione ermöglichte nun nicht nur die Deutschlandpremiere des Films, sondern bot auch einen idealen Rahmen, ihn lieb zu gewinnen – auch, wenn er sich wahrhaftig mit Händen und Füßen dagegen wehrt. Es ist durchaus möglich, dass ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA ein gescheitertes Meisterwerk der unfreiwilligen (?) Dekonstruktion ist: ein grand film malade im Sinne François Truffauts, mit einer ganz eigensinnigen, morbiden Poesie und einer großen Schönheit.
"Auszug aus den Geheimarchiven der Polizei einer europäischen Hauptstadt" – es fängt schon mal dem Titel an, der eher einen politischen Thriller in Form eines "police procedurals" suggeriert, und nicht einen dekonstruierten Horrorfilm, der mit zunehmender Laufzeit bis zur Grenze der Selbstzerstörung in alle möglichen Richtungen aus dem Leim geht. Da ist natürlich die Geschichte des reichen Industriellensohns Bill, der eine leicht ödipal gefärbte Beziehung zu seiner Mutter hat, sie auch mal heimlich beim Baden mit ihrem Liebhaber beobachtet, ihr gerne Halsketten schenkt und wohl hauptsächlich deshalb auf der Urlaubstour gerne mit Jane schlafen möchte, um seinem Muttikomplex ein Ventil zu bieten. Die Szenen mit Bill und seiner Mutter sehen wir in Rückblenden, die urplötzlich in den ersten zehn Minuten des Films einbrechen. Seine Mutter hat die Kette abgelehnt, weil Bill sie bei einer Trödlerin gekauft hat, die eine gruselige Geschichte zu dem Schmuckstück erzählt hat. Vielsagend, dass Bill die Halskette, die seine Mutter abgelehnt hat, nun Jane schenkt, die während der Schenkung dann auch eine irritierende Vision von Bill mit entsetzlich entstelltem, blauem Gesicht bekommt, was erst etwa eine Stunde später wieder eine Rolle spielen wird. Verfluchte Kette, ödipale Lust, schreckliche Zukunftsvisionen – und da sind noch weit und breit keine Satanisten (und kein Luigi Pistilli) in Sicht.
Das erste Drittel lässt zudem auch vermuten, dass ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA eine spielerische Kapitalismus-Groteske sein könnte: die jungen Leute schließen untereinander Wetten ab, deren Schulden nie wirklich beglichen werden können, weil der Verlierer, immer wieder Bill, seine Schulden mit einem Reisescheck bezahlt: eine virtuelle (jenseitige?) Währung, deren Wert in der Wildnis gleich Null ist... vor allem, wenn ein Tankwart sich in der späteren Nacht weigert, den jungen Leuten das Auto vollzutanken, weil sie nicht bar zahlen können, und sich an dieser Stelle ein kleiner Abgrund auftut zwischen den letztlich bürgerlichen Hippies und dem bodenständigen ländlichen Kleinselbständigen. Diese Szene wird geradezu qualvoll lange ausgedehnt, aber dieses Spiel mit dem "virtuellen" Geld wird dann auch relativ rasch wieder fallen gelassen – wieder ein scheinbarer roter Faden, der ins Nichts läuft.
Dann folgt der Part in der Villa, wo die jungen Leute mit dem leeren Auto ankommen. Hier taucht dann auch der unvergleichlich großartige Luigi Pistilli auf, der als Lord Alexander die jungen Leute geradezu drohend ermahnt, dass in seinem Hause Gastfreundschaft heilig sei und sie deshalb gefälligst hier zu bleiben hätten! Und Luigi Pistilli im Dunkeln als Silhouette ist nunmal extrem beunruhigend (und auf großer Leinwand ganz großartig zu betrachten).
In den Villenszenen ist es besonders auffällig, wie in ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA dösige Exposition, Absurdes und morbide Poesie sich die Klinke in die Hand geben. Den Männern aus der Hippie-Clique dabei zusehen, wie sie sich in recht banalen Dialogen am Essenstisch der Villenbediensteten unterhalten, verlangt einiges Sitzfleisch. Parallel ist Jane in ein herrschaftliches Zimmer gebracht worden und von der Hausherrin bei einem warmen Bad sich selbst überlassen worden. Die Großnichte des großen Buster Keaton braucht im Grunde sowieso während des Films nicht viel zu tun, weil ihr etwas melancholisches Gesicht mit den traurigen Augen (das liegt wohl in der Familie?) stets etwas Träumerisch-Jenseitiges ausstrahlt. Immer wieder wird sie isoliert gezeigt, wenn die Männer der Urlaubspartie zusammen gezeigt werden. Immer wieder schwelgt die Kamera mit ihr in leiser Melancholie. Wenn sie dann im leicht flatternden (und ja: leicht durchsichtigen) weißen Nachthemd der bizarren Orgelmusik der schwarzen Messe folgt, in dem sie durch dunkle Gänge mit wehenden Vorhängen läuft (gleitet?), wähnt man sich beinahe wohlig in einem klassischen Gothic-Horror-Film wieder zu finden. Wäre diese merkwürdige Melodie nicht, die eine der Teilnehmerinnen der schwarzen Messe in Dauerschleife auf der Orgel spielt, eine Melodie, die ein stetes emotionales Crescendo ohne Auflösung beschreibt, bei der man das Gefühl hat, sie könnte jederzeit plötzlich in eine Fats-Waller-Jazznummer umschlagen: irgendwie kontrapunktisch zu den Bildern der schwarzen Messe und doch so unglaublich passend (die Credits gehen hier an den großen Stelvio Cipriani).
Nun... Jane überrascht die Teilnehmer der schwarzen Messe, wird als menschliches Opfer gefangen genommen (und leistet in einem tranceartigen Zustand erstaunlich wenig Widerstand dagegen), dann suchen sie die Jungs. Im letzten Moment kann Bill Lady Alexander daran hindern, ein Messer in Jane zu stoßen, tötet sie im Gerangel jedoch aus Versehen. So etwas ist natürlich ein Stimmungskiller, aber das, was danach passiert, rechtfertigt es keineswegs. Die Satanisten verfallen in einen Blutrausch und massakrieren sich gegenseitig: blutige Bauch- und Kopfschüsse, Enthauptungen, hochkant aufgespaltene Gesichter, Verbrennungen. Das ist in vielerlei Hinsicht verwirrend. Erstens macht diese Szene auf brutale Weise tabula rasa: da sind keine weiteren Satanisten mehr, mit dem man den Film noch bestreiten könnte – ein potentieller roter Faden, der wieder ins Leere läuft. Des weiteren wirkt diese bizarr-groteske Szene wie ein furioser Showdown, bietet in anderthalb Minuten so viele Splattereffekte wie manche Gialli in 90, ist aber etwa in der Hälfte des Films angesiedelt: das heißt, eigentlich fängt der Film erst dann wirklich an. Und drittens ist Luigi Pistilli, nachdem er etwa zwanzig Minuten da war, davon vielleicht mit höchstens fünf Minuten Screentime, einfach weg. Zunächst scheinbar, dann aber auch wirklich: die schwarze Messe spielt im restlichen Film dann im Prinzip auch keine Rolle mehr, abgesehen von den letzten zehn Minuten, wo die Bilder als Erinnerung oder Vision Janes wieder auftauchen – dann allerdings als eine Art derangierter Clip voller kleiner Wiederholungsloops: der mit dem Schwert hochkant gespaltene Kopf wird dann gleich vier Mal gezeigt (der Credit für die Splatter-Effekte geht an Carlo Rambaldi, der für den Effekt der Hunde-Vivisektion in Lucio Fulcis UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA gerichtlich vorgeladen wurde und uns beim diesjährigen Terza Visione noch mal bei PROFONDO ROSSO begegnen sollte). 
ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA endet schließlich, nein, er endet nicht... – er bricht einfach ab, nachdem Paul Müller (bekannt und geliebt aus diversen Filmen Jess Francos) als Arzt den kompletten Film ohne jegliche Vorwarnung in einem etwa anderthalbminütigen delirierenden Monolog voller komplizierter Schachtelsätze durcherklärt und damit eigentlich wieder mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. Fine. Ende. Keine Credits, aber dafür mit Schwarzbild das zärtliche Lied vom Beginn, mit seinem Text, der immer wieder Süßliches und Makabres zusammenbringt ("Ein Mann lacht fröhlich, den Mund schon voller Erde / Eine Frau tanzt, durchsetzt von Würmern – so ist das Leben!"). Aufreizend provokant, fast schon radikal, den Film einfach so abzubrechen.
ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA ist ein schwieriger und doch wunderschöner Film: langsam, leicht sediert, antiklimaktisch, mit einigen peniblen Expositionsdialogen, die von völlig irrwitzigen Absurditäten gefolgt werden und dabei durchsetzt von wunderschönen, unvergesslichen Bildern. In vielen Szenen ist der Meisterregisseur sehr klar zu erkennen, und zu sehen ist eine Poesie, die mit jener des klassischen Gothic Horrors nur äußerliche Chiffren teilt und eher in Richtung dessen verweist, was Dario Argento und Lucio Fulci nicht ganz ein Jahrzehnt später in INFERNO und L'ALDILÀ machten: eine Poesie des Akausalen, des Irrationalen, jenseits der Genre-Konventionen, mit einem Horror, der sich vor allem als Zusammenbruch jeglicher Ratio offenbart und eine komplett eigene, filmische Logik entwickelt (die sich für "Logik-Anschlüsse" auch gar nicht interessiert). ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA kann mit "Erklärungen" kaum erschlossen werden, weshalb der Endmonolog auch merkwürdig daneben erscheint, aber (das hat eine zweite Sichtung für mich ergeben) er hat eine ganz eigene, atmosphärische und assoziative Kohärenz. Ja, ein störrischer Film, aber auch ein schöner Film – der nun hoffentlich beim Terza Visione endlich mehr Liebe bekommen hat.


Freitag, 27. Juli

12.30 Uhr

SICARIO 77, VIVO O MORTO ("Sicario 77 – Tot oder lebendig")
Regie: Mino Guerrini
Italien / Spanien 1966
98 Minuten
Der britische Geheimagent/Söldner Lester (Rod Dana) soll die Machenschaften des dubiosen George King aufdecken. Auftragsmorde, schöne Agentinnen, Nazis mit Welteroberungsfantasien und peitschende Nebenbösewichte in schwarzem Leder sorgen dabei stets für Bewegung.
Der Erfolg der James-Bond-Filme löste in Kontinentaleuropa eine Welle an Nachahmern aus, die wir heute als "Eurospy" kennen. James Bond blieb jedoch nicht der einzige Bezugspunkt. 1965 ging THE IPCRESS FILE, trotz großer personeller Überschneidungen mit den 007-Filmen, einen ganz eigenen Weg, erzählte seine Agentengeschichte in außergewöhnlichen Bildern mit gekippten Perspektiven, asymmetrischer Kadrage, kompletten Szenen, die durch im Vordergrund hervorragende Gegenstände gefilmt wurden. Furies Film, in seinem Szenario wesentlich nüchterner als die James-Bond-Filme, in seiner Bildästhetik aber bedeutend spektakulärer und verblüffender, machte wohl bei italienischen Filmemachern einen großen Eindruck. SICARIO 77, VIVO O MORTO ist einer der Agentenfilme, der versuchte, in die Fußstapfen von THE IPCRESS FILE zu treten.
Vorab: die gezeigte Kopie war die schlechteste des ganzen Festivals, ihr früherer Glanz war bereits in einem ermatteten Rotstich verglüht. Das nahm dem Film wahrscheinlich viel von seinem Potential, denn von vielen der spektakulär gefilmten Szenen erhielt man als Zuschauer nur eine vage Ahnung. Die Schwächen von SICARIO 77, VIVO O MORTO traten dadurch leider gefühlt deutlicher hervor. Die IPCRESS-Ästhetik, die sich im ursprünglichen Film mit zunehmender Laufzeit immer mehr in delierierende Gefilde radikalisierte, ließ in Guerrinis Film ab der Mitte spürbar nach: zumindest wurden nach meinem Empfinden die exzentrisch gefilmten Szenen, mit Gegenständen und Gesichtern, die im Bildvordergrund hervorragen, immer weniger. Dafür folgten immer mehr Drehbuch-Kapriolen, die allmählich etwas ermüdend wurden. Es half auch nicht, dass die Hauptfigur weder besonders charismatisch noch sonderlich sympathisch wirkte und mit dem großartigen Michael Caine nur die Hornbrille teilte, diese aber gegen Ende dann auch immer seltener trug – als würde sich der Film auch hier (zu seinen eigenen Ungunsten) von seiner Vorlage entfernen.
SICARIO 77, VIVO O MORTO hatte aber auch wirklich Pech, dass ich THE IPCRESS FILE gerade mal vier Tage zuvor zum ersten Mal gesehen hatte. Es bleibt aber trotzdem alles Jammern auf gehobenem Niveau. Die Eröffnungscredits machen mit dem harten Elektrogitarren-Titelstück Giorgio Zinzis noch einmal deutlich, warum die Italiener die Könige der Filmmusik sind. Die Eröffnungsszene, bei der ein furchterregend aussehender Blonder einen Pfandladen betritt, in seinem Violinenkoffer (vor Blicken durch den aufgeklappten Deckel geschützt) eine Maschinenpistole zusammenbaut, den Ladeninhaber erschießt, aus einer Schublade eine einzelne Banknote nimmt und dann kurz vor dem Gehen den heruntergefallenen Kopf einer Papstfigur wieder auf den Torso setzt, während die ganze Zeit im Hintergrund der Kommentar zu einem laufenden Boxkampf zu hören ist, ist Gold wert – ein matching cut von den Beinen des Killers zu den Beinen des Schiedsrichters führt uns dann zu ebendiesem dem Boxkampf. Da wir gerade eh von dieser Person reden: der blonde, fast albinoartige Killer ist, obwohl er glaube ich kein einziges Wort spricht (oder gerade deshalb) für mich die größte Figur dieses Films. Mit seinem Äußeren und seinem extrem intensiven Blick erinnerte er (ist es Enrico Manera? ich kann leider den Schauspieler nicht zuordnen) mich etwas an Frank Doubleday und seinen beinahe wortlosen Auftritten in John Carpenters Filmen. Leider verschwindet die Figur recht schnell wieder aus dem Film, dafür gibt es dann als etwas weniger raffinierten Ersatz einen Handlanger, der ganz in schwarzem Leder gekleidet ist und als Waffe eine lange Peitsche nutzt, deren Spitze mit einem scharfen Haken ausgestattet ist.
Auch einzelne Action-Szenen sind echte Hingucker. Der Kampf zwischen Lester und dem blonden Killer in einem Badezimmer, bei dem ein Duschvorhang, das ein- und ausgeschaltete Deckenlicht und eine störende Leiche auf dem Boden in Aktion treten... Der Kampf im Inneren einer Seilbahn am Hafen von Barcelona, dem eine Fußverfolgungsjagd durch den Hafen der Stadt folgt... Auch in der Action gibt es einen allmählichen Sieg des Groben über das Raffinierte. Beim Showdown lässt unser Agenten-/Söldnerheld Lester schließlich alle Hemmungen fallen, betritt einfach das Anwesen, wo sich die restlichen Böswatze versammelt haben und macht dann die meisten von ihnen mit einer Panzerfaust platt.


16.00 Uhr

LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST ("Die rote Sonne der Rache")
Regie: Sergio Corbucci
Italien / Spanien / Bundesrepublik Deutschland 1972
97 Minuten (Deutsche Fassung)
Der Bandit Jed (Tomás Milián), vom gnadenlosen Sheriff Franciscus (Telly Savalas) gesucht, trifft auf die frischgebackene Waise Sonny (Susan George). Die drängt sich wider Jeds Willen als "partner in crime" auf. Bald machen die beiden den Westen mit Überfällen unsicher, den fanatischen Sheriff auf ihrer Spur.



Die bekanntesten Regisseure, abgesehen von Dario Argento und Mario Bava, waren beim diesjährigen Terza Visione mit ungeliebt-missverstandenen Filmen (Riccardo Freda) oder Filmen aus unterbeleuchteten Karrierephasen (Lucio Fulci, dazu später mehr) oder mit unbekannten "Randwerken" ihres berühmtesten Genres vertreten – wie Sergio Corbucci. Was dafür sorgte, dass selbst das "Vertraute" für schöne Überraschungen sorgen konnte.
LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST neigt ein bisschen zum exzentrischen Western, weil er fast aus allen Nähten platzt: er ist gleichzeitig derbe Prollsploitation, morbid-sadomasochistische Screwballkomödie, Stockholm-Syndrom-Drama, herzzerreissender Liebesfilm, eskalierendes Ehemelodrama, schenkelklopfender Slapstickfilm, Bonnie-and-Clyde-Ripoff und melancholische Meditation über die Tragik des Lebens. Corbuccis Film ist wie seine Hauptfigur Jed: er ist launisch, springt unruhig von der einen Episode zur nächsten und macht, worauf er gerade Lust hat (und gefallen zu wollen gehört nicht zu diesen Lüsten).
Zunächst sei erwähnt, dass die Hauptfigur Jed wahrhaftig ein dreckig-räudiger Asozialer vor dem Herren ist (wobei die deutsche Synchronisation dem wohl noch mal ein Dutzend Schippen hinzugefügt hat): er ist wortwörtlich dreckig, fürchterlich vulgär, flucht die ganze Zeit, behandelt sämtliche Menschen in seiner Umgebung mit Verachtung und Arroganz und benimmt sich allgemein furchtbar arschig. Er ist ein Mörder, oder zumindest ein Dieb, der nicht zögern würde, sämtliche Reisende einer Postkutsche kaltblütig zu ermorden. Und als Sonny ihn für einige Zeit verfolgt hat mit dem Ziel, zu seiner Geschäftspartnerin zu werden, prügelt er sie vom Pferd herunter und vergewaltigt sie im Dreck: eines der schockierendsten und verstörendsten Momente des Festivals (die Ankündigung vor dem Film, dass die diesjährige Ausgabe des Terza Visione weniger hart und düster sein würde als letztes Jahr, war inhaltlich insgesamt richtig, fühlte sich aber für diesen Moment sehr lügengestraft an).
Dies lag in der ersten Hälfte des Films sicherlich auch daran, dass Sonny sich die unwürdige Behandlung gefallen lässt, Jed sogar mehr oder weniger offen anhimmelt, während er sie als nutzlose Hündin beschimpft. Das wird sich im Laufe des Films ändern. Zunächst wird sie ihn in einer besonders denkwürdigen Szene in einem Getreideschober fast erschießen, später das Leben retten, ihn zur Heirat überreden – und am Schluss des Films wird schließlich er wie ein treudoofer Hund hinter ihr her hinken.
Die dritte Hauptperson, Franciscus, beginnt zunächst als eine Art Karikatur des fanatischen Law-and-Order-Sheriffs. Doch auch das ist gar nicht so einfach: bei einer Schießerei mit Jed und Sonny wird er schwer verwundet und erblindet, was seine Suche nach den beiden allerdings nicht stoppt. Was für irgendwelche absurden Gadgets oder für schale Witze hätte genutzt werden können, wird eher zu einem weiteren Akzent im tragisch-melancholischen Unterton, der den ganzen Film durchzieht (der sich auch in Ennio Morricones wunderbarem Score – hier ein Ausschnitt – widerspiegelt): Franciscus, wortwörtlich von seinem leidenschaftlichen Hass auf den Kriminellen Jed geblendet, wird zu einer wahrhaftig tragischen Figur. Ein Mann, der die Welt nicht mehr sieht, und trotzdem rücksichtslos mit seinem Stock schlägt oder Handgranaten wirft. Telly Savalas, der zu Filmbeginn wie eine merkwürdige Fehlbesetzung wirkte, spielt allmählich ganz groß auf.
Eher ganz grob spielt Tomás Milián auf, dem Corbucci hier eine freie Bühne für allerlei Absurdes gewährte. Unvergesslich etwa der Moment, in dem er – möglicherweise ein Moment der Genre-Selbstironie? – einen Teller Spaghetti (sic! ja, im Wilden Westen) isst. Wobei nein... "essen" kann man das nicht nennen: mampft, zutscht, zerschmatzt, abschlabbert, dass da im direkten Vergleich selbst die wildesten Fressorgien von Bud Spencer und Terence Hill wie piekfein-gediegene Dîners wirken. Und schließlich dieser Moment, in der er von der Kuh absteigt, die er vor kurzem auf offenem Feld gefunden hat: da er durstig ist, legt er sich eben ungeniert unter die Kuh und fängt an, an deren Zitzen zu nuckeln. Zwischen zwei Schlücken lobt er die "Ausstattung" der Kuh und verflucht Sonnys Oberweite. Spätestens hier wird klar, dass LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST auf eine gewisse Weise wesentlich "schwieriger" ist als etwa DJANGO, IL MERCENARIO oder IL GRANDE SILENZIO und für Zuschauer, die ihre Westerns gerne elegisch haben, ein Unding ist.
Ich schrieb weiter oben, dass LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST auch ein eskalierendes Ehemelodrama und herzzerreissender Liebesfilm sei. Die Dynamik im letzten Drittel entsteht dadurch, dass Sonny die geschlossene Ehe ernst nehmen möchte und rasend eifersüchtig reagiert, nachdem Jed auf einer feinen Gesellschaft die Dame des Hauses anbaggert (die dummerweise die Ehefrau des Gutsbesitzers ist, der einige mit Jed befreundete Bauern bedrängt). Sonny möchte schließlich die Gesellschaft ausrauben, während Jed die äußerst willige, weil offensichtlich sexuell ausgehungerte Gutsbesitzerehefrau entführt, um sie irgendwo in einer stillen Ecke zu vernaschen. Da das Sonny nicht passt, verrät sie ihn kurzerhand, um ihn dann doch wieder im letzten Moment zu retten. Vielleicht konnte sie sich doch an die besten Momente mit ihrem Ehemann erinnern. Der geneigte Zuschauer kann es auf jeden Fall: wie beide sich kurz vor dem Schlafengehen ordentlich zoffen, schließlich aber sich hinlegen, in eine gemeinsame Decke kuscheln... und dann fängt das Liebespiel an. Es ist ein bisschen wie das vorangehende Spaghettiessen, bloß in zärtlicher: Gesicht an Gesicht werden Nase, Mund, Zungenspitze sanft angeknabbert, geleckt, geküsst. Zwischen allen Scheußlichkeiten, Härten, Albernheiten und Absurditäten ein himmlisch herzlicher Moment, der einfach nur zum Dahinschmelzen ist. Großartig!
Ich muss gestehen, dass ich bestimmt eine gute halbe Stunde gebraucht habe, um in den Film ein wenig reinzukommen. Danach war es noch keine große Liebe, sondern eher ein Staunen über die Unglaublichkeiten, die da präsentiert werden, über die paradoxen Gefühle, die aufeinander prallen. Aber je mehr ich über LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST nachdenke, umso mehr finde ich gefallen an seiner Exzentrik, die sich den gängigen Mustern des Genres und dem Stromlinienförmigen störrisch und bockig widersetzt. Ein feiner kleiner Bastard von einem Western. Die französische DVD des Films (unter dem Titel "Far West Story") werde ich mir wohl demnächst besorgen müssen.

Das märchenhafte, paradiesische Potential des Terza Visione kann sich wunderbar entfalten, wenn man beim gemeinsamen Abendessen einen Co-Zuschauer auf das DUELLE-Rivette-T-Shirt anspricht, das er vor einigen Monaten beim Hofbauer-Kongress trug – und man danach ganz entspannt am Main-Ufer bei einem Bier über Rivette fachsimpeln kann.

Nun folgte der Film, der die Wetterbedingungen, mit denen sich die Terza-Visione-Besucher in Frankfurt (und natürlich nicht nur sie) konfrontiert sahen, wunderbar zusammenfasste.


20.00 Uhr

NELLA CITTÀ L'INFERNO ("Die Hölle in der Stadt")
Regie: Renato Castellani
Italien / Frankreich 1959
105 Minuten (Director's Cut)
In einem Römer Frauengefängnis: das naive Landmädchen Lina (Giulietta Masina) wird unschuldig eingeliefert, nachdem ein Diebstahl ihres betrügerischen Verlobten ihr angehängt wurde. In der Zelle wird sie nolens volens von der fatalistischen Egle (Anna Magnani) unter die Fittiche genommen.



In ihrer wunderschönen Einführung zum Film, die harmonisch eine große Portion Humor mit detailreicher Analyse verband, "bedauerte" Annette Brauerhoch, Professorin für Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität Paderborn, dass NELLA CITTÀ L'INFERNO kein waschechter Frauenknastfilm sei, mit Catfights im Schlamm, lesbischen Anzüglichkeiten, viel nackter Haut und brutal-sadistischen Folterungen. Nein, "bedauern" ist natürlich zu viel gesagt, denn NELLA CITTÀ L'INFERNO ist so, wie er ist, natürlich ein toller Film, wie sie dann auch darlegte und wie sich dann auch auf der Leinwand zeigte.
Renato Castellani kommt ursprünglich vom Neorealismus. Seine Filmkarriere begann 1938 als Drehbuchautor, später führte er Regie – so unter anderem in seiner neorealistischen Trilogie der armen Leute aus SOTTO IL SOLE DI ROMA (1948), È PRIMAVERA... (1950) und DUE SOLDI DI SPERANZA (1952). Er gehörte sozusagen zur "zweiten Reihe" der Bewegung und war weniger bekannter als Namen wie Roberto Rossellini, Luchino Visconti oder Vittorio De Sica. In den 1950er Jahren wandte er sich dem Melodrama zu (und verlor, wenn ich mich richtig an die einleitenden Worte entsinne, dadurch recht schnell sein Renommee bei der Kritik). NELLA CITTÀ L'INFERNO bildet sozusagen die Verbindung zwischen Neorealismus, klassischem Melodrama und dem Frauenknastfilm (also dem mit viel nackter Haut und brutal-sadistischen Folterungen).
Das ist sehr interessant, aber was ihn ganz besonders macht, sind seine starken Schwarzweißbilder: es ist der dritte Cinemascope-Film des Tages, und der am schönsten inszenierte in diesem Format. Annette Brauerhoch sah es als dezidiert politisches Statement, als "Geschenk" an die dargestellten Frauen: sie, die Erniedrigten und Ausgestoßenen, erhalten das glamouröse Format, das in dieser Zeit vor allem Epen vorbehalten war. 
Cinemascope "öffnet" ja erst mal den Raum, lässt mehr Luft rein, aber NELLA CITTÀ L'INFERNO ist vor allem ein extrem beengtes Kammerspiel, mit Räumen, deren Handlungsradius wohl etwa fünf mal fünf Meter beträgt, manchmal nur drei mal drei Meter. Wie den Frauen so verweigert der Film auch den Zuschauern den Blick nach draußen. Den "freien" Himmel sieht man nur im Eingangsbild (ein Polizeiauto fährt zum Gefängnis), und auf einer Art Dachterrasse des Knasts. Klaustrophobie und Enge. Und doch welch großartiges Gefühl für den wenigen, begrenzten Raum und vor allem für die Personen in diesem Raum. Das Scope holt die Randfiguren wörtlich in das Bild rein: die jeweilige handelnde oder sprechende Frau füllt nur einen Teil der Leinwand aus und wird meist von vielen anderen Frauen umgeben, die zuhören, oder sich mit anderen unterhalten, oder schlafen. Statt zu schneiden wird eher die Kamera bewegt oder der Blick in die Tiefe gelenkt, auf Zellen, die auf der anderen Seite des Korridors liegen. Ein echtes Panorama der Insassinnen. Neben Egle, der abgebrühten Langzeitinsassin und Lina, dem unschuldig sitzenden Mädchen vom Land, gibt es noch die blutjunge Marietta, die sich in das verkehrte Spiegelbild eines Mannes draußen verliebt; "Moby Dick", die sich regelmäßig kleine Wortgefechte mit Egle liefert; die alte Gräfin, die nach eigenen Aussagen auch unschuldig einsitzt und im Umgang mit Neulingen offenbar nicht so naiv ist, wie sie tut; die schwarzhaarige Zigarettenschmugglerin, deren Namen mir gerade entfällt; die schweigsame jüdische Sara – und viele andere Frauen.
So panoramisch die Bilder, so panoramisch ist auch das Drehbuch. NELLA CITTÀ L'INFERNO lässt sich keineswegs nur auf das Duo Anna Magnani und Giulietta Masina reduzieren. Sicherlich ist die Inhaftierung Linas der Aufhänger des Films. Der lange, nächtliche zweisame Dialog zwischen Egle und Lina bei einem improvisierten Kaffee gehört zu den großen Höhepunkten des Films – besonders der Moment, wo die beiden nur vom flackernden Licht der brennenden Zeitung beleuchtet werden, mit dem sie das Wasser für den Kaffee erhitzen. Und doch geht es NELLA CITTÀ L'INFERNO auch um mehr. Nach und nach entsteht ein ganzer Subplot um Marietta. Diese ganz junge Frau hat die Gewohnheit, sich stundenlang im Badezimmer ihrer Gemeinschaftszelle einzusperren und schließlich fliegt auf, was sie da tut: mit einem kleinen Handspiegel guckt sie kopfüber durch die Lamellen der Fensterläden in die Freiheit, wo zu regelmäßigen Zeiten immer ein junger Mann an der gleichen Stelle steht: eine selbstgebastelte Camera Obscura, wie Annette Brauerhoch in ihrer Einführung so treffend feststellte. Ein handgemachtes Kino des Begehrens. Dieses führt später dann zu einer kleinen Episode, in der eine andere Insassin dieses Mittel nutzen will, um zu einem vereinbarten Zeitpunkt ihre Tochter draußen zu sehen. Dazu muss sie erst mal in die entsprechende Zelle geschmuggelt werden. Das ganz endet nach einem schreckhaften, aber unverletzten Sturz mit dem Bruch der Toilettenschüssel und des Wasserbeckens... Wie Marietta immer mehr Raum einnimmt im Film, tritt Lina nach und nach in den Hintergrund und verschwindet gar für einige Zeit aus dem Film, als sie schließlich entlassen wird. Sie kehrt dann wieder zurück, diesmal als wirkliche "Kriminelle" (als Prostituierte).
Es gehört zu den großen Stärken des Films, dass er sich eindeutig zu seinen vielen Protagonistinnen stellt und unterschwellig deutlich macht, dass wir es hier mit struktureller Gewalt gegen Frauen zu tun haben. Linas einziges Verbrechen bestand darin, so naiv zu sein, sich von einem Kriminellen um den Finger gewickelt lassen zu haben, der ihre Stellung als Dienstmädchen ausnutzte, um eine Villa auszurauben und sie dann als einfach auszumachende Schuldige sitzen zu lassen. Lina wiederum verfällt im Gefängnis in diesen Sozialdruck krimineller Logik, den Mund zu halten und das ganze auszusitzen, und gerät draußen dann wirklich auf die schiefe Spur. Ein Teufelskreis, den die Kinoversion (zu den Fassungen unten gleich mehr) auch "schließt", indem er mit den fast identischen Bildern eines zum Gefängnis fahrenden Polizeiwagens anfängt und aufhört.
Noch nicht ganz im Reinen bin ich mit der Figur der Egle bzw. mit der Darstellung Anna Magnanis. Egle ist, mit Verlaub, eine asoziale, arrogant-besserwisserische, fürchterlich selbstgefällige Egomanin, die offensichtlich nur tagsüber schläft, um nachts ihren schlafenden Co-Insassinnen im hektischen Wachzustand auf die Nerven zu gehen. Hinterhältig ist sie auch noch, wie sie immer wieder wahlweise Lina oder Marietta ins offene Messer laufen lässt und dann für dumm verkauft. Manchmal habe ich mich gefragt, warum ihre Zellengenossinnen sie so bewundern und mögen – und sie nicht irgendwann auf äußerst brutale Weise lynchen und das dann als "Unfall" tarnen (aber solcherlei gehört wohl eher in spätere Women-in-Prison-Filme). "Histrionisch" fiel als Stichwort in Annette Brauerhochs Einleitung, und tatsächlich forderte Magnani mit ihrer etwas überexaltierten Darstellung  meine Geduld bisweilen aufs Äußerste. Die wichtigsten Darstellerinnen in NELLA CITTÀ L'INFERNO sind alle weder sonderlich subtil oder zurückhaltend, aber Magnani legt immer noch eine Schippe drauf (manchmal zu viel, so meine Meinung). Aber vieles davon ist vielleicht auch mein Problem, und nicht das des Films. Im Verlauf wird deutlich, dass vieles von Egles Verhalten auch eine Schutzfassade ist, die dann auch zunehmend bröckelt.
Ich bekam im Vorfeld des Festivals den Film in der Kinofassung zu sehen, die etwa zehn Minuten kürzer ist als der in Frankfurt gezeigte "Director's Cut". Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich in der längeren Fassung tatsächlich keine Szene entdeckt habe, die in der Kinofassung ganz fehlte. Eher schien es mir, dass die eine oder andere Szene hier und da ein zusätzliches Detail von mehreren Sekunden hatte, die in der Kinofassung geschnitten waren. Sehr deutlich war nur, dass das Ende anders montiert war: die Kinofassung hörte kurz nach der Begegnung zwischen Marietta und Piero (dem "Spiegelmann", der über einen Hinweis einer entlassenen Insassin auf Marietta aufmerksam wird) auf und ließ kaum Zweifel daran, dass die beiden nach ihrer Entlassung heiraten werden. Allerdings wird hier auch ein Kreis geschlossen, der von den Figuren, die wir erlebt haben, wieder auf das große Ganze, die Gesellschaft lenkt: die letzten Bilder des Films zeigen, analog zum Beginn, ein Polizeiauto, das vor die Tore des Gefängnisses vorfährt.
Die Begegnung zwischen Marietta und Piero ist auch im Director's Cut drin, kommt allerdings früher. Stattdessen endet der Film damit, dass Lina zurückkehrt und durch ihr abgebrühtes, zynisches Verhalten, das sie von Egle "gelernt" hat, diese so in Rage versetzt, dass sie mit Gewalt in eine Einzelzelle weggeschleppt werden muss: eine Szene, die in der Kinofassung drin ist, aber später von Momenten mit einer wieder gut aufgelegten Egle gefolgt wird. Hier als Filmende wirkt das doch wesentlich drastischer. Das Ende der Kinofassung ist sicherlich kein strahlendes Happy End, aber doch versöhnlicher, etwas hoffnungsvoller. Der Director's Cut endet mit dem unheilvollen Nervenzusammenbruch einer Frau, die zu Beginn noch festen Boden unter den Füßen hatte, damit wesentlich pessimistischer und zugleich persönlicher: niemand kommt mehr rein, aber niemand kommt mehr raus. Egle scheint, wenn nicht in den Wahnsinn, so in totale Verzweiflung zu versinken.
Noch eine kleine Anmerkung zum Schluss: nebst dem handgemachten Kino des Begehrens gibt es auch ein traditionelles Kino mit 35mm-Vorführung im Film zu sehen, nämlich eine Kinovorstellung auf der Dachterrasse des Gefängnisses. Bevor die Vorführung anfängt, sagt eine der Insassinnen zu der anderen, dass da hoffentlich nicht so ein vulgärer italienischer Polizeifilm kommt. Im Rahmen des Terza Visione erschien das natürlich ganz witzig. Einen Genrefilm bekamen die inhaftierten Frauen aber doch noch zu sehen: nämlich einen Musikfilm bzw. Musicarello mit heißen Rock'n'Roll-Beats...



...so was Ähnliches gab es dann im Anschluss als letzten Film des Freitags!


22.45 Uhr

Vor dem Hauptfilm lief eine 35mm-Trailershow, die es wahrhaftig in sich hatte! Der Trailer von WHITE POP JESUS (Luigi Petrini, Italien 1980) versprach das absolut unfassbare Spektakel eines Gottessohnes, der Ende der 1970er Jahre mit Pornoschnurrbärtchen, Goldkettchen und dem Klamottenstil eines Vorstadtzuhälters auf die Erde zurückkehrt, um Horden von wahrscheinlich leicht zugedröhnten Discotänzern mithilfe von saftigen Beats in das Paradies zu führen. Ich glaube und hoffe, dass ich nicht der einzige im Saal war, der sich sehnlichst wünschte, diesen Film bei einer der nächsten Terza-Visione-Ausgaben zu sehen. Der Trailer ist hier zu bestaunen.
Bemerkenswert war auch eine Kinowerbung von Langnese, die wie der Trailer zu einer besonders spritzigen Sexkomödie an einem mediterranen Strand wirkte, und große Lust auf Sex und kindische Späße machte – und auch ein wenig auf Eis. Ich glaube, wenn statt der lustlosen Werbung, die immer mit einem schlecht geshoppten Standbild der verfügbaren Eissorten endet, so ein Clip während der Vorfilmblöcke käme, würde der Eisverkauf großer Kinoketten um etwa 7392 % steigen (aber vielleicht irre ich mich). Hier zu sehen.


DANCE MUSIC ("Breakdance Sensation 1984")
Regie: Vittorio De Sisti
Italien 1984
81 Minuten (Deutsche Fassung)
Eine junge italienische Tanztruppe möchte ganz groß hinaus, hat aber leider kaum Geld, um die eigene WG (mit einem zum Tanzsaal umfunktionierten Wohnzimmer) zu bezahlen – und erst recht keine Kohle, um einen Flug nach New York zu buchen, wo bald ein alles entscheidender Tanzwettbewerb stattfinden wird. Ein paar heiße Moves und kreative Fundraising-Methoden müssen Abhilfe schaffen!
Was für ein Fest! Die spritzige Sexkomödie am mediterranen Strand, die die Langnese-Werbung vorher versprochen hatte, gab es zwar nicht, dafür aber eine spritzige Tanzkomödie in einer ungenannten italienischen Großstadt und im winterlichen New York – und mit Essen wurde da auch... ähm... "gespielt".
DANCE MUSIC war höchstwahrscheinlich der in einem ganz wunderbaren Sinne naivste Film des Festivals: sie sind jung, sexy (aber pleite), sie wollen die besten Tänzer der Welt werden und sie müssen diesen verdammten Wettbewerb in New York gewinnen – und der Film zweifelt keine Sekunde daran, dass das die allerwichtigste Sache auf der Welt ist. Mit vollem Herzen ist er ganz bei seinen jungen Protagonisten, ihren Träumen und ihrem Lebensalltag, und mit dieser positiven Einstellung hat er auch die Herzen der Zuschauer erobern können (und natürlich mit seinen großartigen Tanzszenen und einigen herzerwärmenden 80er-Modesünden).
Der Film beginnt mit einer relativ langen und kunstvollen Plansequenz, in der die Kamera durch die WG der Protagonisten "spaziert" und sämtliche Hauptfiguren einführt, indem sie bei alltäglichen WG-Problemen gezeigt werden: einer blockiert das Bad zu lange, ein anderer, der mit dem Lebensmitteleinkauf betraut worden ist, hat nur Eis mitgebracht und alle necken sich ein bisschen, haben sich aber eigentlich total lieb. Dann wird auch schon getanzt in dem Wohnzimmer, das zu einem Tanzsaal umfunktioniert worden ist: komplett ausgeräumt, eine Wand mit deckenhohen Spiegeln, eine mit Postern der Vorbildfilme (FLASHDANCE, STAYING ALIVE), eine mit Reckleitern. Der Tanz: tatsächlich ein dynamisch gefilmter Rausch aus 80er-Jahre-Musik und bewegten Körpern. Das wird auch im Rest des Films so sein: die Tanzsequenzen mit der Gruppe sind zackig und auf den Punkt gefilmt, dass man am liebsten aufspringen und mittanzen möchte.
Wenn die Tänze das Rückgrat bilden, so sind es die vielen kleinen wunderbaren Einfälle und humoristischen Einlagen, die dem Film das Herz geben. Da ist etwa die ältere Vermieterin der WG, die etwas missgestimmt ist, weil die jungen Leute mit der Zahlung der Miete im Rückstand sind und alle Nachbarn sich oft über die laute Musik beschweren, die es aber sichtlich geniesst, nach einer Tanz-Session vorbeizukommen, die Bewohner an ihre Mieterpflichten zu erinnern und dabei die hübschen, jungen, verschwitzten und muskulösen Männer zu sehen. Genau diese kleine Schwäche macht sich die Gruppe auch zunutze: der teilblondierte* Hauptmieter bezirzt rasch die aufgebrachte Vermieterin, indem er sein T-Shirt auszieht, sich lasziv vor ihr am Reck hin und her schwingt und sich schließlich zum Essen einladen lässt, um diese Mietangelegenheiten in einem gemütlicheren Ambiente zu besprechen. Dort lässt unser Held nichts anbrennen: die Vermieterin, nun in einem tief dekolletierten und eng anliegenden Kleid angezogen, lässt er vor Lust schmachten**, schickt sie immer wieder unter Vorwänden in die Küche und schmeisst, sobald sie ihm den Rücken gekehrt hat, einen Dîner-Gang nach dem anderen aus dem Fenster, unter dem seine Mitbewohner mit ausgebreiteten Bettlaken die Gaben aufzufangen versuchen. Die Vermieterin wundert sich über den großen Hunger des jungen Mannes, während hinter ihrem Rücken Carpaccio, Lasagne und Chips in hohem Bogen aus dem Fenster fliegen. Natürlich wird nicht alles punktgenau aufgefangen und das sorgt für herzliche Lacher und ein kindliches Staunen über die besondere "Ästhetik fliegender Chips" (so sehr treffend ein Co-Zuschauer). Wem nicht spätestens hier das Herz vor Wonne und Freude zerschmilzt, kriegt am Badestrand das Langnese-Eis ins Ohr gesteckt!
Überhaupt sucht DANCE MUSIC nicht das ganz große Drama, sondern freut sich an den kleinen Dingen des Lebens. Die WG ist eigentlich keine WG, sondern wird "offiziell" nur von einem der sechs Studenten bewohnt und zum Teil von dessen Papa bezahlt. Als letzterer zu Besuch kommt, bricht zunächst Panik aus, denn natürlich soll der nicht erfahren, dass sein Sohn nicht ernsthaft (Medizin) studiert, fünf Freunde da einfach so untergebracht hat und die "seriöse" Studentenwohnung als Tanzstudio "missbraucht". Fast, aber nur fast, schaffen sie es, die Wohnung zu "tarnen" und sich als Lerngruppe zu auszugeben, doch oh weh! – Papa entdeckt den panisch weggeräumten Tanzkram im Bad. Das ganze würde in einem anderen Film zur großen Vater-Sohn-Auseinandersetzung werden, doch DANCE MUSIC ist da lockerer: von den enttarnten Spiegeln des Tanzsaals sichtlich inspiriert, probiert Papa zur Verwunderung aller Anwesenden gekonnt einige Steptanzschritte, die er in seiner Jugend gelernt hat. Das ganze endet damit, dass sich die beiden Generationen gegenseitig gutgelaunt "ihre" Tänze vorführen und den Stil des anderen in den eigenen integrieren – klassischer Stepptanz meets Breakdance***. Wie viel wunderbarer ist es, das zu sehen als so eine schnöde Vater-Sohn-Auseinandersetzung, zumal es da ja nichts zu diskutieren gibt: Papa sagt am Ende des Szene deutlich, dass der Sohn irgendwann seine Arztpraxis übernehmen wird und damit basta!
Sehr schön ist auch, wie sich unsere kleine WG-Gruppe in ein Kino schmuggelt (der junge teilblondierte Adonis lässt wieder seinen Charme spielen, diesmal mit der Ticket-Kontrolleurin), um einem "Mr. Robot" beim Tanzen zuzuschauen. Was da läuft, ist offenbar ein fiktiver New Yorker Breakdance-Undergroundfilm innerhalb des Films (das Bildformat in diesem Moment ganz authentisch 1.33:1), und man sieht ihn, den von unseren Helden angehimmelten Mr. Robot, wie er auf einem Pier mit der New Yorker Skyline im Sonnenuntergang als Hintergrund tanzt. Jeder "normale" Film würde sich nach einigen Bildern abwenden und mit der "Geschichte" weitermachen, aber nicht so DANCE MUSIC. Der Film-im-Film läuft, und läuft, gut über zwei, drei Minuten, bis nach einiger Zeit der Zuschauer in eine Art rauschhafte Trance im Angesicht dieser Bilder fallen muss. Schließlich wird doch geschnitten, und wir sehen dann die wippenden Füße unserer WG-Gruppe, selbst nun in Trance verfallen (einen unvollständigen Ausschnitt dieser Szene gibt es in den ersten drei Minuten dieses Clips zu sehen bzw. zu erahnen).
New York! Diesen filmischen Sehnsuchtsort wird unsere Gruppe schließlich aufsuchen. Zunächst herrschte zumindest bei mir Unklarheit, ob wir uns nicht schon längst in den USA befinden: sämtliche Figuren sprechen sich gegenseitig mit amerikanischen Namen an, die wie aus einer schlechten Soap geklaut klingen. Einige Außenansichten, vor einem Wohnhaus bzw. in einer Einkaufsgalerie, waren keineswegs als italienisch auszumachen, und wahrscheinlich lag das auch nicht an der deutschen Synchronisation. Nachdem schließlich dann doch das Geld für den Flug gen USA gebucht werden kann, macht einem DANCE MUSIC sehr deutlich, dass wir nun in New York sind. Da werden schöne Second-Unit-Shots der Stadt aneinander gereiht, dass es die reinste Freude ist. "Guck mal: wir sind in New York. Ist das nicht superknorke?" verkündet uns scheinbar der Film in diesen Momenten, wenn uns Wahrzeichen der Stadt und abgeranzte Nebenstraßen mit der gleichen naiven Freude gezeigt werden – als großer Fan von New York als Filmstadt konnte ich dem nicht widersprechen. Diese Stadt kennt der Cinephile aus William Friedkins und Sidney Lumets New-York-Filmen: abgefuckt, kalt, grau, hektisch, brodelnd. Hier laufen scheinbar nur ein Steinwurf entfernt zur gleichen Zeit SCARFACE und TABOO II. Statt uns die Truppe beim Trainieren zu zeigen (wir wissen doch, dass die Jungs und Mädchen gut sind), zeigt uns DANCE MUSIC dann auch lieber wieder ausgedehnte Szenen mit Mr. Robot und anderen Tänzern auf den Straßen New Yorks (unterbrochen von einem Moment, bei dem Mr. Robot ganz offensichtlich vor einer gemalten New-York-Kulisse auftritt, aber das passt schon: das "reale" und das "gebaute" New York hatte Jean-Pierre Melville schon 25 Jahre vorher in DEUX HOMMES DANS MANHATTAN zusammengebracht – also darf es De Sisti natürlich auch!). Das ganze kulminiert schließlich in einen Tanz am abendlichen Time Square. DANCE MUSIC – keine Stadtsinfonie, sondern ein Stadt-Breakdance! (wieder aus dem gleichen Clip wie oben einige approximative Impressionen).
Konfliktscheuheit gilt in unserer Ellenbogengesellschaft gemeinhin als Schwäche, aber es ist eine der großen Stärken von DANCE MUSIC, dass in seiner Welt keine Probleme existieren, die man nicht einfach in Wohlgefallen und Tanz auflösen könnte. Mieterprobleme? Einfach ein bisschen oben ohne am Reck abhängen! Sich anbahnende Konflikte mit Papa? Wegtanzen! Keine Kohle für die Subway? Einfach kurz zu Mr. Robot, es ihm sagen und in seinen Spendentopf greifen (er wird es schon verstehen)! Aber ganz großes Kino ist schließlich, wie der Film mit der Nebenfigur Michael (Italiener, aber natürlich englisch ausgesprochen) umgeht: ein fürchterlich schmieriger Yuppie, der hartnäckig eine unserer tapferen Tänzerinnen auf ihrer Arbeit in einer Einkaufgalerie anbaggert und schon nach kurzer Zeit wie ein hartnäckiger Stalker mit hohem Creep-Faktor wirkt. Eines Abends lässt sie sich doch auf ein Abendessen mit ihm ein, mit dem Hintergedanken, von ihm Geld für die New-York-Reise zu bekommen. Doch das Szenario geht fürchterlich schief, weil sie sich urplötzlich in ihn verliebt: eigentlich war Michael die ganze Zeit ein total dufter Typ. In einem Giallo hätte man ihn am Anfang sofort als Haupttatverdächtigen ausgemacht. Als er am Schluss die wackeren Tänzer in New York besucht, bekommt er wunderschöne zwei Sekunden geschenkt, in denen er herzallerliebst lächeln und Winke-Winke machen darf. Alles wird gut in der Welt von DANCE MUSIC!
Am Ende des Films schließlich der Wettbewerb: jeder, aber wirklich jeder andere Film hätte die Frage, ob unsere wackere Tanztruppe den Hauptpreis gewonnen hat, zu einem fünfminütigen Spannungsbogen aufgebaut. Doch hier einfach nur ein paar Sekunden Dialog zwischen der Truppe und einem Jurymitglied: 
– "Haben wir gewonnen?"
– "Na was habt ihr denn gedacht: natürlich!"
Wie töricht, wer daran nur eine Sekunde gezweifelt hat!

Nette Trivia: DANCE MUSIC ist wohl einer der Filme mit den meisten Kopien im Bestand des Deutschen Filminstituts, mit weit über einem Dutzend Stück. Unsere lieben Terza-Visione-Kuratoren haben für die Zuschauer exklusiv die beste ausgesucht.

* Teilblondiert: weil nur die eine Seite seiner Frisur blondiert ist. Es gibt in der Truppe noch einen anderen Mann mit blondierten Haaren, der – so ein Co-Zuschauer sehr treffend im Anschluss – wie André Agassi in seiner Vokuhila-Phase aussah. Die 80er-Jahre-Mode-Todessünden, die DANCE MUSIC überhaupt anzubieten hat, sind so oder so unglaublich und könnten Stoff für ganze Abhandlungen bieten. Stichwort: rotes Ensemble mit einer drüber geworfenen, weißen Flocati-Stola.
** Trotz vieler kleiner Schmierhäppchen, und obwohl Vittorio De Sisti in den 1970er Jahren ein Spezialist für commedie sexy war, bleibt DANCE MUSIC größtenteils sexfrei... natürlich bis auf eine fetzige Aufwärm-Montage, bei der unsere wackeren Tänzer (Männlein mit Weiblein, Männlein mit Männlein, Weiblein mit Weiblein, ganz ohne Unterschied) sich gegenseitig die Beine greifen, um sich dann, angelehnt am Reck, hemmungslos zu rammeln – ähm... dehnen. Nach dem lasziven Verspeisen der gebratenen Keule in VIIMNE RELIIKVIA hiermit meine zweitliebste Sexersatzszene dieses Jahres.
*** Wir haben es nicht im engeren Sinne mit "Breakdance" zu tun: der Film wurde in Deutschland mit einem Breakdance-Titel versehen, um auf dem damaligen Breakdance-Hype mit zu schwimmen. Ich kenne mich mit Tanzstilen nicht aus, es wird wohl eine Mischung aus Disco, Breakdance-Elementen und eigenen kreativen Moves sein. Ist ja egal: sie tanzen und es sieht meist sehr gut aus.

Lukas Förster schrieb über DANCE MUSIC im Rahmen eines Textes zu "Off-Filmfestivals" (der ganze Text, hier zu finden, ist super, und wunderschön dieser Satz: "Jede Projektion ein Akt der Zärtlichkeit").


Mit viel Zärtlichkeit (und auch einigen Härten und Tränen) geht es in Kürze auch im zweiten Teil meines Terza-Visione-Berichts weiter.

Hier geht es zum zweiten Teil des Terza-Visione-Berichts.