Montag, 21. Dezember 2020

Chicago - Weltstadt in Flegeljahren

"Dies ist die schönste Stadt der Welt: ein technischer Traum in Aluminium, Glas, Stahl, Zement und künstlichen Sonnen, fremdartig wie ein anderer Stern."
Heinrich Hauser: Feldwege nach Chicago, 1931

WELTSTADT IN FLEGELJAHREN, auch CHICAGO - WELTSTADT IN FLEGELJAHREN
Deutschland 1931
Regie: Heinrich Hauser

In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre existierte das Genre der "Großstadtsymphonien". Bekanntester Vertreter und Namensgeber des Genres war Walter (ursprünglich Walther) Ruttmanns BERLIN: DIE SINFONIE DER GROSSTADT, aber als erster Vertreter gilt gemeinhin RIEN QUE LES HEURES, den der gebürtige Brasilianer Alberto Cavalcanti 1926 in Paris drehte. Ein weiterer prominenter Vertreter war DER MANN MIT DER KAMERA von Dsiga Wertow (ursprünglich David, dann Denis Kaufman), der allerdings nicht in einer einzigen, sondern in drei oder vier Städten Russlands und der Ukraine entstand. Wertows mittlerer Bruder und Kameramann (bis sie sich verkrachten) Michail Kaufman realisierte 1927 zusammen mit einem Ilja Kopalin MOSKAU, und Boris, der jüngste der Kaufman-Brüder, war als Kameramann von Jean Vigo mit À PROPOS DE NICE (APROPOS NIZZA) immerhin an so etwas wie einer Mini-Großstadtsymphonie beteiligt. Kaum eine andere Stadt wäre mehr als Schauplatz einer Großstadtsymphonie prädestiniert gewesen als New York, die Metropole der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, doch gerade dort wurde offenbar keine gedreht - es gab nur eine Reihe von kleineren Filmen, für die ich mir den Begriff Großstadt-Kammermusik ausgedacht habe.

Am Mississippi
Der deutsche Schriftsteller, Journalist und Abenteurer Heinrich Hauser ging jedoch nach Chicago, um dort seine Variante des Themas zu drehen, als Stummfilm - "wie es sich für eine Großstadtsymphonie gehört", ist man versucht zu sagen. Chicago war ein ausgezeichneter "Stellvertreter" für New York - war es doch damals (und noch lange danach, bis es vor ca. vier Jahrzehnten von Los Angeles überholt wurde) die zweitgrößte Stadt der USA. Und als ein Zentrum moderner Wolkenkratzer-Architektur, als Schauplatz wichtiger Entwicklungen in Jazz und Blues, und nicht zuletzt als Wirkungsstätte fast mythischer Gangsterkönige wie Al Capone besaß es genug Flair, um weit mehr zu sein als eine bloße Ansammlung von vielen Leuten. Tatsächlich hatte auch ein Ludwig Leher ebenfalls 1931 mit dem offenbar zweiteiligen EINE MODERNE RIESENSTADT einen in Chicago gedrehten Kulturfilm (wie man die damals vorherrschende Richtung im deutschen Dokumentarfilm nannte) vorgelegt. WELTSTADT IN FLEGELJAHREN ist aber eher das Gegenteil eines Kulturfilms (darauf werde ich weiter unten noch zurückkommen). Er ist auch vielleicht keine Großstadtsymphonie im ganz strengen Sinn, ich würde aber trotzdem nicht zögern, ihm dieses Prädikat zuzuerkennen. Die sowohl von Cavalcanti wie von Ruttmann in ihren Filmen verwendete Idee, einen prototypischen Tag in der porträtierten Stadt von frühmorgens bis in die Nacht hinein chronologisch abzuhandeln, fehlt hier komplett. Stattdessen lässt sich WELTSTADT IN FLEGELJAHREN grob in fünf thematisch definierte Akte einteilen (die sich bereits in der Zensurkarte vom 14. September 1931 wiederfinden).

Der Charakter der Uferlandschaft ändert sich ...
Der erste Akt spielt noch gar nicht in Chicago, sondern zeigt die Anreise auf dem Mississippi, und zwar stilecht in einem Schaufelraddampfer, wie man sie aus vielen im 19. Jahrhundert spielenden Filmen kennt, und wie sie offenbar vereinzelt auch um 1930 herum noch im Einsatz waren. Der Fluss strömt breit und träge dahin, und das dynamischste Element in diesem Abschnitt ist das sich drehende Schaufelrad. Der Film konzentriert sich aber nicht auf das Geschehen an Bord, sondern das am Ufer: Baumwollplantagen wechseln sich mit lichten Wäldern ab, fast durchweg schwarze Arbeiter werden bei verschiedenen landwirtschaftlichen Tätigkeiten gezeigt. Die Arbeit ist wahrscheinlich nicht leicht, aber das Tempo ist sehr gemächlich im Vergleich zu dem, was uns dann in der Metropole erwartet. Teilweise wird noch mit Zugpferden statt motorisiert gearbeitet. Am Ende des Abschnitts erreicht der Mississippidampfer sein Ziel, und die Skyline taucht auf. Genau betrachtet liegt Chicago natürlich überhaupt nicht am Mississippi, sondern ist nur durch den Illinois Waterway mit diesem verbunden, aber diese Feinheit fällt bei Hauser unter den Tisch.

... und plötzlich ist man da
Dann sind wir mitten in der Stadt, und der zweite Akt behandelt den Schwerpunkt Verkehr. Ein riesiges Bahnhofsareal, Züge und Dampflokomotiven. So wie man es aus vielen in New York gedrehten Filmen kennt, besitzt auch Chicago eine Hochbahn (Chicago Elevated), und natürlich ließ es sich Hauser nicht nehmen, aus dem fahrenden Zug heraus zu filmen - Gegenstücke aus New York findet man in Jay Leydas A BRONX MORNING aus demselben Jahr, oder später Carson Davidsons 3rd AVE. EL. Eine besondere Attraktion ist der Loop, eine kreisförmige Schleife der Hochbahn im gleichnamigen Stadtzentrum - Hauser findet dafür in einem Zwischentitel die schöne Bezeichnung "Saugpumpe des Verkehrs". Trotz des ausgebauten Streckennetzes der Hochbahn hatte damals der Autoverkehr fast schon beängstigende Ausmaße angenommen, und WELTSTADT IN FLEGELJAHREN findet auch dafür starke Bilder. In diesem zweiten Akt kommt der Film den klassischen Großstadtsymphonien am nächsten, und in einigen Szenen gerät Hauser sogar fast in die Gefilde der filmischen Avantgarde (ohne das Publikum damit irgendwie zu überfordern). Übermäßige Anstrengungen waren dafür nicht erforderlich. Da die Stadt ständig in Bewegung ist, musste es Hausers Kamera (die er selbst führte) nicht sein. Natürlich gibt es den einen oder anderen Schwenk, dazu die Fahrt in der Hochbahn, und zuvor auf dem Mississippi. Aber komplizierte Kamerafahrten, hektische Schnitte oder allzu ausgefallene Kamerapositionen findet man in WELTSTADT IN FLEGELJAHREN nicht.

Autos und Hochbahn
Im dritten Akt, der durch den wiederum sehr treffenden Zwischentitel "Im Labyrinth aus Glas und Steinen" eingeleitet wird, geht es um die (von Wolkenkratzern dominierte) Architektur und um die Arbeitswelt. Natürlich gibt es die obligatorischen Blicke von oben auf die menschlichen "Ameisen" am Boden, auch von unten steil nach oben, wie es zwei Jahre zuvor schon Robert Florey in seiner SKYSCRAPER SYMPHONY gemacht hatte. Es gibt Einblicke in das rationell durchorganisierte Arbeitsleben etwa in Großraumbüros und in Fabriken. Besonders eindrucksvoll sind die schwebenden Fließbänder in einer Traktorenfabrik. Außerhalb des Siedlungsgebiets sind riesige Schaufelbagger zu sehen, vergleichbar unseren Braunkohlebaggern, und im Zwischentitel werden sie als "die Saurier unserer Zeit" tituliert. Im Stadtgebiet werden permanent neue Wolkenkratzer hochgezogen, und wenn mal ein Gebäude abgerissen wird, dann wahrscheinlich nur, um ein noch höheres zu bauen. Am Ende des Abschnitts sind wir in den berühmt-berüchtigten Schlachthöfen von Chicago, die schon von Upton Sinclair literarisch verarbeitet wurden, und die Bert Brecht zu seinem auch 1931 erschienenen "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" inspirierten. Schaf- und Rinderherden werden in den Schlachthof getrieben - und kommen 40 Minuten später (wie uns ein Zwischentitel mitteilt) als Konservendosen wieder heraus. Das, was dazwischen passiert - also Bilder wie in Georges Franjus LE SANG DES BÊTES, die einem den Magen umdrehen - erspart Hauser freilich dem Zuseher.

1931 lagen die USA bekanntlich fest im Griff der Weltwirtschaftskrise, der Great Depression. WELTSTADT IN FLEGELJAHREN lässt sich über 40 Minuten Zeit, um darauf zu sprechern zu kommen, aber dann, im vierten Akt, geht er explizit und ausführlich darauf ein. Als Aufhänger für die Überleitung dazu dient der seinerzeit in Chicago und darüber hinaus sehr bekannte "Landstreicher-Arzt", Sozialreformer und Anarchist Ben Reitman. Hauser machte seine persönliche Bekanntschaft, und Reitman ist der einzige, der in WELTSTADT IN FLEGELJAHREN als Individuum vorgestellt wird. Die Bilder, mit denen Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Armut und Not dargestellt werden, sind unverblümt und drastisch - so etwas gab es in kaum irgendeinem zeitgenössischen Hollywoodfilm zu sehen. Freilich bestand der damalige amerikanische Film nicht nur aus der Traumfabrik - gerade während der Wirtschaftskrise gediehen unabhängige linke Filmkooperativen wie Film and Photo League, Nykino oder Frontier Films, die das Elend ebenfalls realistisch abbildeten. Freilich dürfte keiner dieser Filme Hauser als Vorbild gedient haben. Dafür wurden eher die Filme der Weltfilm ins Feld geführt, des dokumentarisch-propagandistischen Zweigs von Willi Münzenbergs KPD-nahem Filmimperium (der Spielfilmzweig war die Prometheus, die Werke wie MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK oder KUHLE WAMPE produzierte, wobei letzterer Film dann von Lazar Wechslers Praesens Film übernommen wurde). Gerade die schonungslose Darstellung der Armut wurde von den deutschen Kritikern sehr gelobt, wobei nicht selten ein gewisser Antiamerikanismus durchschien, mit dem Tenor "endlich zeigt mal jemand die Schattenseiten des angeblichen Wunderlands". Hauser selbst war eine solche Motivation jedoch fremd. Hier gibt es eine gewisse Parallele zu Luis Trenkers DER VERLORENE SOHN von 1934, der das Elend in New York ebenfalls drastischer zeigt als fast alle Hollywoodfilme seiner Zeit. Auch bei Trenker lässt sich kein eigentlicher Antiamerikanismus ausmachen, sondern in seinem Fall eher eine allgemeine Kritik des modernen, urbanen Kapitalismus als Kontrastfolie zu einer Verherrlichung des Naturmystizismus in den heimischen Bergen (den man aber auch etwas dubios finden kann). Bei Hauser stellt sich gelegentlich eine gewisse ironisierende Wirkung ein, wenn etwa offenbar arbeitslose Männer auf dem Rasen eines kleinen künstlichen Hügels herumlungern - und über ihnen thront das heroische Reiterstandbild des Bürgerkriegsgenerals und Politikers John Logan. Die meisten Bilder in diesem Abschnitt von WELTSTADT IN FLEGELJAHREN sind aber ganz ironiefrei einfach nur deprimierend und erschütternd. Neben heruntergekommenen Stadtvierteln gibt es in der Peripherie auch regelrechte Slums mit windschiefen Bretterbuden zwischen Müllbergen, und ein Zwischentitel besteht nur aus dem einzigen Wort "Wracks".

Brücken
Doch Hauser lässt seinen Film mit einer positiven Note ausklingen. Die letzten acht oder neun Minuten, also der kurze fünfte und letzte Akt, zeigt diejenigen, die (noch) nicht unter die Räder gekommen sind, bei ihren Freizeitaktivitäten. Ein Vergnügungspark mit Riesenrad, Achterbahn und weiteren Attraktionen, ein Park mit Ruderbooten auf einer Wasserfläche, ein völlig überfüllter Sandstrand am Michigansee, und dergleichen mehr. Der letzte Zwischentitel lautet "Die Akteure danken", und danach bilden fröhliche Kinder und Jugendliche, die direkt in die Kamera grinsen, die letzte Einstellung.

WELTSTADT IN FLEGELJAHREN hatte im Oktober 1931 in Berlin Premiere, und wie oben schon angedeutet, wurde er von der Filmfachpresse und etlichen Tageszeitungen sehr positiv rezensiert. Und doch ist er gescheitert. Das hing damit zusammen, dass Hauser und sein Produzent Hubert Schonger eine spezielle Form der Auswertung vorgesehen hatten. Der aus dem Schwäbischen stammende gelernte Ingenieur Schonger (1897-1978) hatte 1923 in Berlin die Naturfilm Hubert Schonger gegründet. Der Name war Programm. Schonger produzierte zunächst reihenweise Naturfilme, die damals als ein Teil des Kulturfilmsektors betrachtet wurden. Doch im Lauf der Zeit verbreiterte er sein Spektrum immer mehr, machte auch Spielfilme, vor allem viele Märchen- und sonstige Kinderfilme. Zeitweise hatte er auch seinen eigenen Verleih. In den 50er und 60er Jahren machte er viele Heimat- und Bergfilme, aber er produzierte auch junge Nachwuchsregisseure wie Peter Fleischmann, Klaus Lemke und Marran Gosov. Der Zufall wollte es, dass Heinrich Hauser und Hubert Schonger im Abstand von 23 Jahren, aber nur wenige Kilometer entfernt voneinander starben, der eine in Dießen und der andere in Inning, beides am Ammersee westlich von München gelegen.

1929 hatten die Degeto (Deutsche Gesellschaft für Ton und Bild), die mit der heutigen ARD-Tochter außer dem Namen kaum noch etwas verbindet, und die Gesellschaft Urania eine Arbeitsgemeinschaft gegründet mit dem Ziel, in Sonntagvormittags-Matineen in ausgewählten Berliner Kinos anspruchsvolle Kulturfilme vorzuführen - einer der vielen (und meist nur mäßig erfolgreichen) Versuche, dem "guten Film" zum Durchbruch zu verhelfen. Nach einer Vorab-Aufführung für die Presse hatte WELTSTADT IN FLEGELJAHREN nun am 4. Oktober 1931 seine Premiere in der ersten dieser Matineen, und vom 9. Oktober bis zum 12. November lief er im Programmkino "Kamera, Unter den Linden", dessen Träger, die Gesellschaft für den Guten Film, auch Mitglied der Degeto-Urania-Kooperation war. Danach hätte WELTSTADT IN FLEGELJAHREN eigentlich im Vorprogramm der regulären Kinos laufen sollen. Doch dafür war die Anerkennung als "Lehrfilm" notwendig. Nur mit diesem Prädikat nämlich waren die Kinobetreiber berechtigt, eine Ermäßigung der "Lustbarkeitssteuer" für die Vorführungen in Anspruch zu nehmen. Ohne Anerkennung als Lehrfilm waren die vom Publikum wenig geliebten Kulturfilme praktisch unverkäuflich. Und WELTSTADT IN FLEGELJAHREN wurde nun vom zuständigen offiziösem Gremium, der "Bildstelle des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht", wider Erwarten aus Schongers Sicht, und sehr zu dessen Verdruß, die Anerkennung verweigert. Außer seinem kurzen Einsatz in Berlin lief WELTSTADT IN FLEGELJAHREN auch in den Niederlanden (wie er dahin kam, weiß ich nicht) und verschwand dann für Jahrzehnte in Schongers Archiv.

Häusermeer
"[...] Bilder, die in keinem sinnvollen Zusammenhang zueinander stehen. Das wirre Durcheinander des Ganzen ist ein typisches Beispiel dafür, wie ein Lehrfilm nicht sein soll. Eine Anerkennung als Lehrfilm konnte überhaupt nicht erst in Erwägung gezogen werden. Der Ausschuss sah auch nicht die Möglichkeit, einen Weg für eine Verarbeitung des vorhandenen Bildmaterials zu einem den Anforderungen genügenden Bildstreifen aufzuzeigen." - so steht es in der Begründung der "Bildstelle", die nach ihrem Vorsitzendem auch Lampe-Ausschuss genannt wurde. Das zog Reaktionen nach sich. Das KPD-Blatt Rote Fahne beschwerte sich:
Der junge Schriftsteller Heinrich Hauser hat einen sehr anständigen Reportagefilm geschaffen: Weltstadt in Flegeljahren. Er zeigt deutlich die Klassengegensätze, die in der Riesenstadt Chicago besonders krass hervortreten. Er verschweigt nicht, dass es hinter den pompösen Wolkenkratzerkulissen tiefes Elend und Massenarbeitslosigkeit gibt. [...]
Das war der republikanisch-deutschen Behörde, die darüber zu bestimmen hat, ob ein Film als Lehrfilm gilt und Steuerermäßigung genießt, zuviel des Guten. [...]
Wir erkennen messerscharf, dass diese "Anforderungen" Lüge und Gehirnverkleisterung heißen, und dass deshalb der Film nicht [sein] darf… Lehre ist in der Amtssprache des kapitalistischen Staates der Fachausdruck für Verschweigen und Schwindeln. Und ein Film, der die Wahrheit zeigt, kann eben nicht "lehrhaft" sein.

(Rote Fahne, Berlin, Nr. 213, 23. November 1931. Beilage.)

Noch ausführlicher reagierte der Filmtheoretiker Rudolf Arnheim. In einem "Paukerfilme" betitelten Artikel feuerte er eine ganze Breitseite gegen den konventionellen Kulturfilm ab, bevor er sich dann Hauser zuwandte:
[...] Aber daneben blüht in alter Unfrische der Kulturfilm, wie er nicht sein soll. [...]
Diese Filme sind wie Fremdenführer für alte Engländerinnen. Das Kinopublikum liebt sie nicht. Es frisst sich durch sie hindurch wie durch einen Grützewall, um ins Schlaraffenland der Harry Piel und Lilian Harvey zu gelangen. Der Kinobesitzer kümmert sich in diesem Fall wenig um die Unlust seiner Kunden. Er spielt den Film im Vorprogramm, weil er dann weniger Lustbarkeitssteuer zu bezahlen hat. Diese Vergünstigung verschafft ihm ein pädagogisches Konsortium: der Lehrfilmausschuss des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht, [...]
Dieser Ausschuss hat ein gut Teil Schuld daran, dass die meisten Kulturfilme so langweilig ausfallen. […] Es genügt nicht, daß ein Kameramann eine Weltreise gemacht hat. Der schönste indische Tempel, das seltsamste Naturschauspiel bleibt grau und gleichgültig, wenn nicht ein Filmkünstler an der Arbeit ist, der Gefühl für fesselnde Einstellungen, für Bildpointen, für demonstrative Kameraführung, für lebendigen, eleganten Schnitt hat, Das sind keine ästhetischen Mätzchen, sondern diese Mittel dienen unmittelbar der Sache. Aber die Volksbildner mögen das nicht. Langeweile gehört für sie zur Würde des Unterrichts. Der warme Atem der Wirklichkeit beunruhigt sie. Und so fordern sie Filme, in der alles schön der Reihe nach heruntergedreht ist. [...]
Solche Methoden sind für Atlanten und Lehrbücher am Platze, aber mit diesen kann und soll der Film nicht konkurrieren. Die Herren Lehrer wollen ihn dazu zwingen. Sie fallen dem Künstler in den Arm. Er soll mit seiner Kamera umgehen wie der Landmesser mit dem Theodoliten. Ein Beamter mit Mützenschirm im Nacken. [...]
In der Schulstube soll Ruhe und Ordnung sein, auch wenn draußen Gewalt, Armut und Widersinn herrschen. [...]
Heinrich Hauser, der hochbegabte junge Wort- und Bildkünstler, hat es gewagt, seinen Chicago-Film, der ausgezeichnet ist und also die eben skizzierten Forderungen in keiner Weise erfüllt, [...] einzureichen. Das Papier vibriert. Den Herren zittert die Lippe. Der Film wird nicht nur abgelehnt, nein, er ist eine Zumutung, ein Tiefschlag in die edelsten Weichteile der Pädagogik. [...]
Hausers Film ist nicht sanft und nicht unverbindlich, sondern unhöflich und ganz klar in der Stellungnahme. [...]
Dieser Film [AMERIKA VON HEUTE eines gewissen Oberingenieur Dietrich W. Dreyer] hat den Lehrfilmschein erhalten. Der Hauserfilm nicht; denn er zeigt ein Stück Welt, und die Welt ist heute in einem Zustand, den die Pädagogen nicht gern lehrreich nennen.

(Rudolf Arnheim: Paukerfilme. In: Die Weltbühne, Berlin, XXVII. Jg. 5, 2. Februar 1932, S. 185ff.)

Blick nach oben ...

Heinrich Hauser, ein Schriftsteller in Unrast


Heinrich Hauser (1901-1955) war in erster Linie Schriftsteller, Fotograf und Journalist, er war aber auch, wie die FAZ am 29. 01. 2006 schrieb, "Matrose in Kiel, Wachmann in Hamburg, Freikorpssoldat in Weimar, Bergmann in Duisburg, Schafscherer, Koch und Schwimmlehrer in Sydney, Polizist auf den Philippinen, Autoschlosser in Chile. Er war Student und Schmuggler, See- und Ehemann, bevor er 1925 den Erfahrungsüberschuss ausschlachtete und anfing, Feuilletons über den "Organismus eines Lastkraftwagens" oder den "Gesang der Presslufthämmer" für die "Frankfurter Zeitung" zu schreiben und an seinem ersten, noch stark vom Expressionismus geprägten Jugendbeziehungsdrama "Das zwanzigste Jahr" zu arbeiten." Und das ist nur eine geraffte Übersicht über die diversen Jobs, die Hauser irgendwo in der Welt ausübte, um sich über Wasser zu halten, und um Stoff für seine Reportagen und Reisebeschreibungen zu finden. Politisch erscheint er im Rückblick widersprüchlich und schwer durchschaubar. 1918 erlebte er als Kadett der Marine die Novemberrevolution aus der Nähe mit, 1919 war er Mitglied eines Freikorps, das auf Anweisung von Reichspräsident Friedrich Ebert und seinem Wehrminister, dem "Bluthund" Gustav Noske, die Autorität der Weimarer Regierung in diversen Städten durchsetzte, wo sie vom Spartakusaufstand und ähnlichen Erhebungen der Arbeiter- und Soldatenräte gefährdet war. Als aber 1920 der Kapp-Putsch eben jene demokratische Weimarer Regierung beseitigen wollte, brachte ihm Hauser Sympathien entgegen - um dann 1925 als Journalist der linksliberalen Frankfurter Zeitung beizutreten, wo Geistesgrößen wie Siegfried Kracauer zu seinen Kollegen zählten. Hauser schrieb aber auch für diverse andere Blätter, darunter auch für die faschistoide Schwarze Front des NSDAP-Abtrünnigen Otto Strasser.

... und nach unten
1933 war er dann plötzlich (oder vielleicht auch nicht plötzlich) ein Anhänger des Nationalsozialismus, und er ließ gegen den Widerstand des S. Fischer Verlags eine Widmung an Hermann Göring in eines seiner Bücher setzen. Doch die Begeisterung für die Nazis schwand wieder. Von seinen insgesamt fünf Ehefrauen waren Nr. 2 und 3 jüdischer Herkunft, und er half ihnen bei der Flucht aus Deutschland. 1938 ging er selbst in die USA, kehrte aber für eine Reportage für ein amerikanisches Magazin nochmal nach Deutschland zurück, erlebte die Novemberpogrome mit, war angewidert und emigrierte 1939 endgültig in die USA, wo er seine letzten beiden Ehefrauen kennenlernte. 1945 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel "The German Talks Back", das einige Beachtung fand, und in dem er sich als Sprachrohr des "besseren Deutschland" positioniert. Ende 1948 kehrte er mit seiner fünften Frau nach Deutschland zurück und 1949 wurde er Chefredakteur des gerade gegründeten Stern, nahm aber schon nach vier Monaten wieder den Hut, weil er mit Henri Nannen nicht wirklich kompatibel war. Er trank und rauchte zuviel, und mit seiner Gesundheit ging es bergab. Er wollte sich auch von seiner letzten Frau trennen, nahm aber davon Abstand, als sie an Krebs erkrankte und er glaubte, dass sie bald sterben werde. Doch 1955 starb er selbst mit 53 Jahren, und seine Frau überlebte ihn um sechs Jahre. Wie auch immer das alles zusammenpasst - Hauser war jedenfalls ein "unbehauster" Abenteurer und Tausendsassa, der schon mit Jack London und Joseph Conrad verglichen wurde.

Vermutlich 1923 hatte Hauser die Bekanntschaft von F.W. Murnau gemacht, ich weiß aber nicht, ob der ihm irgendwas über das Filmemachen beibrachte. Heinrich Hauser machte zwischen 1928 und 1931 drei Filme, wobei beim ersten unklar ist, ob er überhaupt fertiggestellt und vorgeführt wurde (mehr darüber weiter unten). 1930 unternahm er im Auftrag einer Reederei eine Fahrt auf dem Segelschiff Pamir, in 110 Tagen von Hamburg nach Chile. Diese Fahrt protokolliert er gleich dreifach: Er fotografiert, er macht (wie bei WELTSTADT IN FLEGELJAHREN im Alleingang) Filmaufnahmen, und er führt ein Reisetagebuch. Der Reisebericht erscheint noch 1930 als Buch mit dem Titel "Die letzten Segelschiffe" und wird mehrfach neu aufgelegt, der korrespondierende Film von 1931 heißt WINDJAMMER UND JANMAATEN. DIE LETZTEN SEGELSCHIFFE. Er wird zunächst von Hauser selbst verliehen und kommt dann unter die Fittiche von Hubert Schonger. WELTSTADT IN FLEGELJAHREN entsteht nach demselben Modus: Hauser bereist allein mit einem Auto Teile der USA, fotografiert und filmt im Alleingang, und führt Reisetagebuch. Das Buch zum Film erscheint auch noch 1931 und heißt "Feldwege nach Chicago".

Mehrspurige Zugbrücke und Industrieszenen
Der filmische Nachlass von Schongerfilm, wie Hubert Schongers kleines Imperium nach dem Krieg hieß, kam 1984 in die Obhut des Bundesarchiv-Filmarchiv nach Koblenz, und damit auch der seit 1931 vor sich hin schlummernde WELTSTADT IN FLEGELJAHREN. In Koblenz wurde dann zunächst eine Restaurierung mit analoger Technik und eine Duplizierung auf Sicherheitsfilm in Angriff genommen. Die dadurch erstellte Fassung wurde im März 1995 in einer Veranstaltung im Berliner Arsenal-Kino erstmals vorgeführt, die von dem Filmhistoriker Jeanpaul Goergen betreut wurde. Goergen hat auch durch seine Recherchen die weitgehend vergessene Geschichte des Films wieder hervorgeholt und in einer kurzen Begleitpublikation zugänglich gemacht. Diese Fassung war dann alle paar Jahre mal hier und dort zu sehen, so 1998 im Münchner Filmmuseum, und 2003 auch erstmals in Chicago. 1998 wurde vom WDR auch eine experimentelle Fassung angefertigt, bei der vorgelesene Textpassagen aus "Feldwege nach Chicago" mit Geräuscheffekten kombiniert wurden, die dem nachempfunden waren, wie der Film hätte klingen können, wenn ein Originalton aufgenommen worden wäre. Zusätzlich wurden an originalen Kamerastandorten Hausers neue Aufnahmen (in Farbe) gedreht. Eine Kombination des Originalfilms mit den neuen Aufnahmen, mit der neuen Tonspur versehen, wurde im Dezember 1998 auf WDR 3 ausgestrahlt. Größere Breitenwirkung dürften diese Aktivitäten nicht entfaltet haben. Doch heuer ist WELTSTADT IN FLEGELJAHREN bei absolut Medien in Kooperation mit arte auf DVD und Blu-ray erschienen, nachdem er das volle Programm der digitalen Bildrestaurierung erfahren hatte. Diese Veröffentlichung hat zwei Tonspuren: Die gerade erwähnte vom WDR (freilich ohne die 1998 neu gedrehten Bilder), und eine vom Komponisten Andy Miles neu geschriebene jazzige Musik, die vom WDR Funkhausorchester eingespielt wurde, und die den Film sehr gut unterstützt. Mit den Texten aus "Feldwege nach Chicago" und den Geräuscheffekten wird aus WELTSTADT IN FLEGELJAHREN sozusagen ein Pseudotonfilm gemacht. Das ist keine schlechte Idee, und Hausers Texte fügen dem Film manch interessante Information hinzu, die man den Bildern allein nicht entnehmen könnte. Doch letztlich gefällt mir die nur mit Musik unterlegte Fassung besser, weil sie mehr filmischen Fluss erzeugt - nur hier hat sich bei mir das echte Feeling einer Großstadtsymphonie eingestellt. Der korrekte Titel des Films lautet WELTSTADT IN FLEGELJAHREN, mit dem Untertitel EIN BERICHT ÜBER CHICAGO, doch die aktuelle Veröffentlichung hat den Titel CHICAGO - WELTSTADT IN FLEGELJAHREN erhalten.


Heinrich Hauser in Irland


1932-33 drehte Robert Flaherty, der gelegentlich als "Vater des Dokumentarfilms" bezeichnet wird (was natürlich nur mit Einschränkungen zutrifft), auf Inishmore, der größten und westlichsten der Aran Islands vor der irischen Westküste, mit Unterstützung durch seine Frau Frances Material für einen semidokumentarischen Film. "Semi" deshalb, weil Flaherty, wie es seine Art war, inszenierend stark in das Geschehen eingriff - so bildete er aus nicht miteinader verwandten echten Inselbewohnern eine fiktive Filmfamilie. MAN OF ARAN erschien 1934 und wurde einer von Flahertys besten und erfolgreichsten Filmen. Als ich nun über Hauser zu recherchieren begann und in Wikipedia las, dass er 1928 einen Film mit dem Titel MAN OF ARAN gedreht hatte, hielt ich das zunächst für eine Ente. Ich sollte zumindest teilweise Recht behalten, denn den Film gibt es zwar, zumindest ein Fragment davon, aber der Titel ist sicher unzutreffend. Hauser hatte sich mit dem irischen Schriftsteller Liam O'Flaherty angefreundet, der 1896 auf Inishmore geboren wurde. O'Flaherty war übrigens ein Verwandter von John Ford, der 1935 seinen Roman "The Informer" verfilmte - Fords Mutter Barbara Feeney, geb. Curran, wurde ebenfalls auf Inishmore geboren. Zusammen reisten Hauser und O'Flaherty im Juni 1928 auf die Heimatinseln des Iren, um dort Material für einen Irland-Film zu drehen. Dieser sollte keineswegs nur auf Aran entstehen, sondern mindestens auch in Dublin, vielleicht auch anderswo, wurde gedreht oder sollte zumindest gedreht werden.

Kinder spielen auf der Straße, und ein General wacht über seine arbeitslosen Schäfchen ... oder?
Heute existiert noch ein Fragment der Aufnahmen von Aran mit einer Länge von 375 Metern. Als 1995 WELTSTADT IN FLEGELJAHREN seine Wiederauferstehung feiern konnte, war das Fragment noch nicht bekannt, doch Jeanpaul Goergen, der weiterhin in Schongers Nachlass recherchierte, konnte es dann im Bundesarchiv-Filmarchiv aufspüren und zuordnen und 1998 in einer weiteren Veranstaltung im Berliner Kino Arsenal der Öffentlichkeit präsentieren. Goergen hatte damals das Fragment, das keine Titelkarten aufweist, einfach ARAN genannt. Doch schon 1989 war in einem Artikel über Hauser im mehrbändigen Mammutwerk "Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933" dessen irische Filmunternehmung fälschlich mit Flahertys MAN OF ARAN in Verbindung gebracht worden, und nach der Entdeckung des Fragments wurde ihm von irgendwem der falsche Titel übergestülpt, der eigentlich keinen Sinn ergibt, weil es in dem Film eben nicht nur um die Aran-Inseln gehen sollte. Im März 1956 schrieb der Schriftsteller Hans Bütow in einem Artikel in der FAZ: "Sie [Hauser und O'Flaherty] haben auch zusammen einen herrlichen Film von Irland, seiner wilden und melancholischen Landschaft gemacht, von dem keine Kopie mehr existiert." Es ist unklar, wieviel damals gedreht wurde, und ob der Film jemals öffentlich aufgeführt wurde, aber zumindest Bütow scheint ihn gesehen zu haben. Hauser selbst berichtete im August 1928 in einem Artikel in der Frankfurter Zeitung über seine Dreharbeiten (wobei er "Aran" durchgehend falsch als "Arran" schreibt). Darin geht es zwar nur um die Inseln und nicht um weitere Drehorte, er schreibt aber, "daß wir auf die Arraninseln zu einem bestimmten Zweck gekommen sind: um Teile eines Irlandfilms hier aufzunehmen" - und bestätigt damit selbst, dass da noch mehr kommen sollte. Übrigens geht Hauser in diesem Text auch auf die verwendete Ausrüstung ein. Im Gegensatz zu seinen nächsten beiden Filmen hatte er hier zwei Kameras dabei, eine große und schwere, die nur mit Stativ benutzt werden konnte, und eine kleine, leichte, die auch als Handkamera taugte. Und dann polemisiert er etwas gegen die seiner Meinung nach zu klobige Filmtechnik:
[...] Ich will die Menschen so filmen, daß sie nichts davon wissen, daß sie sich unbeobachtet fühlen, ebenso wie wilde Tiere. Das alles ist Jagd, und der Apparat für diese Jagd müßte wie ein Gewehr gebaut sein, ein Ding, das man an die Backe zieht und abschießt. [...]
Die Kamera des Berufsoperateurs ist ein schweres und schwerfälliges Instrument [...]
Da sind die kleinen Apparate, die man in den Händen halten kann [...] viel besser, sie sind einem Gewehr ähnlicher. [...]
Und warum gibt es nicht ein Federwerk, das wirklich lautlos läuft, ohne das Geräusch einer alten Weckuhr, das nicht nur wilde, sondern selbst ganz zahme Tiere und Menschen in die Flucht treibt.

Armenviertel und regelrechte Slums
Wenn Hauser in den 60er Jahren noch gelebt und Filme gemacht hätte, wäre er vielleicht ein Vertreter des Cinéma vérité oder des Direct Cinema geworden. Es gab übrigens einen Vorläufer der Filmkamera, der tatsächlich wie ein Gewehr aussah, nämlich das fotografische Gewehr des Étienne-Jules Marey.

Wracks
Vor einigen Monaten veranstaltete die Abteilung für Filmstudien der New York University ein Online-Symposion, in dem es um frühe deutsche Naturfilme ging, und darin kamen auch Schonger und Hauser vor, und das Fragment von Aran wurde komplett gezeigt. Hier bei Vimeo gibt es ein gut einstündiges Video davon, und das Fragment von Aran wurde auch als eigenes Video ausgekoppelt. Goergen präferierte 1998 eine Abspielgeschwindigkeit von 18 Bildern pro Sekunde (fps), was bei der Länge von 375 Metern eine Dauer von 18 Minuten ergibt. Hier dauert das Video 13:47 Minuten, was auf eine Abspielgeschwindigkeit von 24 fps hindeutet. Der eingeblendete Timecode ist natürlich ärgerlich, die Fassung im Bundesarchiv-Filmarchiv ist aber frei davon. Die vier Filmhistoriker, die diese Veranstaltung gestalteten, haben sich hier für DIE ARAN-INSELN als Titel entschieden.
Vergnügungspark
Die Akteure danken

Mittwoch, 18. November 2020

Von einem Kinoträumer, von jungen und alten Männern, Bäumen und Hunden

 Sam Firstenberg

Ich habe mich dieses Jahr in Sam Firstenbergs Filme verliebt. Dabei fing alles sehr banal an. "Hast du Lust, Stories from the Trenches zu rezensieren?" wurde ich im März gefragt... Oder mit vollem Titel: Stories from the Trenches: Adventures in Making High Octane Hollywood Movies with Cannon Veteran Sam Firstenberg... Ja klar, warum nicht? Ich kannte bislang aber keinen einzigen Film von Sam Firstenberg: nicht AMERICAN NINJA, nicht AMERICAN NINJA 2, nicht BREAKIN' 2: ELECTRIC BOOGALOO. Ein Cannon-Regisseur, soweit ich wusste eher ein routinierter Handwerker als ein wirklich eigensinniger Auteur (wie zum Beispiel jemand à la Michael Winner). Ein fast 800-seitiges Buch zu rezensieren, ohne einen einzigen der besprochenen Filme zu kennen, ist aber ein wenig blöd, deshalb habe ich mir, bevor ich mit der Lektüre begann, ein "Firstenberg-Starter-Kit" aus eben den drei oben genannten Filmen zusammengestellt und in wenigen Tagen geschaut... Aus wenigen "Pflichtsichtungen" heraus entstand vor lauter Begeisterung die umfangreichste, ambitionierteste und obsessivste Regisseur-Retrospektive seit meinen John-Carpenter- und Jacques-Rivette-Werkschauen in den Jahren 2016/2017. Filmografisch etwas unvollständiger als bei Carpenter und Rivette (einige wenige Filme konnte ich mangels Verfügbarkeit nicht schauen), aber zugleich auch wesentlich tiefer in die Materie eingetaucht durch die parallele Lektüre von Stories from the Trenches. Film und Kontext eben!


Das Buch ist fantastisch und ich kann es jedem Filmeliebhaber nur wärmstens empfehlen. Nach dem klassischen Hitchcock-Truffaut-Rezept ist es als Interview-Sammlung konzipiert (ergänzt mit Anektoden Firstenbergs, zahlreichen Bildern, Abbildungen von Filmplakaten, Storyboards und Zeitungsausschnitten u.v.m.). Jeder abendfüllende Film Firstenbergs wird in mehreren Interviews besprochen. Firstenberg selbst wird zu jedem Film befragt. Hinzu kommen Interviews mit an den jeweiligen Filmen beteiligten Personen: Darsteller, Kameramänner, Stunt-Koordinatoren, Cutter, Drehbuchautoren, Produzenten etc. Mit fast der Hälfte des Umfangs bilden die Filme, die Firstenberg direkt bei Menahem Golans und Yoram Globus' Cannon drehte, den Kern des Buchs. Doch auch die "Ränder" von Firstenbergs Karriere sind faszinierend. Neben einer Geschichte des Filmemachens bei Cannon bietet Stories from the Trenches auch viele kleine Einblicke in die Filmindustrien Israels, Südafrikas, der Philippinen, Indonesiens, Indiens und Bulgariens (Länder und Filmindustrien, in denen Firstenberg gearbeitet hat): Globalisierung des Films, erzählt anhand einer Regisseurkarriere. Stories from the Trenches handelt von US-amerikanischem Genrekino, das außerhalb des etablierten Hollywoods produziert wird: der Band bietet viele Einblicke in die Herstellung mittel- und niedrigbudgetierter Filme, in die kreativen Möglichkeiten eines solchen Kinos, aber auch in seine unzähligen logistischen Begrenzungen. Zu guter letzt, um es auch ganz naiv zu sagen: Stories from the Trenches erzählt auch von der Magie von Filmen.


Und Firstenberg? Seine Filme haben mich begeistert durch ihre unverstellte Freude, durch ihre "Naivität" (damit meine ich die unverstellte Begeisterung für die Essenzen ihrer Genres: Bewegung, Rhythmus, Atmosphäre und oft auch einfach Spaß an Unfug), durch ihre Menschlichkeit in einem oft zynischen, abgebrühten Genre. Firstenberg wiederholt im Verlauf des Buchs immer wieder, dass er "nur" ein "Auftragsregisseur" sei. Dass er Filme "nur" nach der "Formel" des jeweiligen Genres mache und dass er kein "Rebell" sei. Er wiederholt sogar mehrmals im Verlauf des Buchs "seine" "Formel" für den Actionfilm: maximal 90 Minuten Laufzeit; eine große Actionszene am Anfang, in der Mitte und am Ende; mehrere kleinere Actionszenen zwischendrin; jede Actionszene soll eine eigene Geschichte mit Anfang, Mittelteil und Schluss erzählen. Formel, das kommt bei Firstenberg nicht von Formular, sondern von Zauberformel. An einer anderen Stelle im Buch fügt er seiner Formel hinzu: "Action is action, but if you don't care about the people in the scene, you don't care about the action as well." Sam Firstenberg = Genrekino nach Formel + Charaktere + punktgenau Inszenierung? AMERICAN NINJA funktioniert vielleicht auch nur, weil Michael Dudikoff (kein im "klassischen" Sinne "guter" Schauspieler, aber eine charismatische Präsenz mit einer leicht verträumten Note) seinen Joe Armstrong als träumenden Außenseiter und nicht als Drauhauf-Typen präsentiert? Weil der großartige Steve James als Curtis Jackson diesen Träumer mit seiner Streetsmart-Präsenz erdet?

Ebenso wenig wie Menschen sind Orte bei Firstenberg austauschbar. Es ist bewundernswert, wie Firstenberg den Raum einfängt, in dem gehandelt, gekämpft, getanzt, getötet und gestorben wird: der Kampf auf dem Hochhausdach vor einem breiten Stadtpanorama am Ende von REVENGE OF THE NINJA, die karibisch-entspannte Urlaubsatmosphäre von AMERICAN NINJA 2: THE CONFRONTATION, die archaischen, verregneten Sümpfe von Louisiana als Kulisse der brachialen Kämpfe in AVENGING FORCE...


Meine Firstenberg-Favoriten sind (sehr unspektakulär) seine für Cannon gedrehten Filme: REVENGE OF THE NINJA, NINJA III: THE DOMINATION, BREAKIN' 2: ELECTRIC BOOGALOO, AMERICAN NINJA, AMERICAN NINJA 2: THE CONFRONTATION, AVENGING FORCE. Filme mit zwar nicht großen, aber doch vernünftigen Bugdets und verhältnismäßig wenig Eingriffen und Einmischungen seitens des Studios bzw. der Produktionschefs. Stories from the Trenches erzählt anhand von Firstenbergs Karriere auch vom Niedergang eines bestimmten Typen von Genre-Kino, für das Cannon stand. Die 1990er Jahre verzweigten auf gewisse Weise das Genre-Kino und besonders das Actionkino: entweder in Richtung des Blockbusters, oder in Richtung der niedrig-budgetierten Videotheken-Produktion. Firstenberg stieg nie in Hollywood-Blockbuster-Ehren auf. Seine Filme aus den 1990er Jahren haben nicht mehr die materiellen und finanziellen Ressourcen, die Cannon bot und man sieht es ihnen auch an. Die Firstenberg-Brillanz kommt eher in kleinen Momenten, in einzelnen Szenen, in manchen Figuren zum Tragen als in der Gesamtheit des Films.


Selbstverständlich haben mich nicht alle gesichteten Werke Firstenbergs (bislang 18 abendfüllende Spielfilme, 2 Kurzfilme, 3 TV-Serien-Episoden) vollkommen begeistert. Ich glaube, der einzige Film, der mich fast rundum angeödet hat, ist BLOOD WARRIORS (1993), sein indonesisch koproduziertes Remake von THE THIRD MAN bzw. besser gesagt seine Action-Neubearbeitung von Motiven aus Carol Reeds Klassiker. Wobei eben nur "fast rundum": die Idee, eine Verfolgungsjagd auf ein typisch südostasiatisches Baugerüst aus Bambus zu filmen, ist schon sehr nett (wenn auch leider lasch inszeniert); einige der Straßenimpressionen aus den Außenbezirken Jakartas sind sehr bemerkenswert, weil sie einen tropisch-exotischen Touch mit quasi-apokalyptischer Großstadt-Moloch-Atmosphäre verbinden (wieder so ein unvergesslicher Firstenberg-Ort). Der Dreh wird in Stories from the Trenches als logistischer Alptraum beschrieben. Auch sein Tierhorrorfilm SPIDERS II: BREEDING GROUND ist stellenweise besonders aufgrund der absolut bestialischen Digitaleffekte schmerzhaft anzuschauen. Doch auch hier gibt es wieder einige tolle Schauspieler, die den Tag retten, besonders die großartige und charismatische (und leider tragisch früh verstorbene) Stephanie Niznik.


Trotzdem: die Post-Cannon-Ära Firstenbergs hat neben einigen schönen Einzelmomenten in insgesamt schwächeren Werken trotzdem auch einige sehr bemerkenswerte Filme hervorgebracht, die seine Fähigkeiten auch außerhalb des engeren Genrebereichs Action und außerhalb des Systems Cannon unterstreichen: RIVERBEND (1989), ein komplett unabhängig finanzierter Film, der Elemente des Vietnamheimkehrerfilms und Westerns, der Blaxploitation und des engagierten Antirassismus-Dramas, des Belagerungs-Actionfilms und des Melodrama auf nicht immer konzise, aber doch sehr faszinierende Weise verbindet; MOTEL BLUE (1997), ein atmosphärisch unglaublich dicht gefilmter Neo-Noir bzw. Erotikthriller um eine junge Musteragentin, die nach und nach Gefallen findet am Lebensstil ihres Ermittlungsobjekts, einer femme fatale mit einem bewegten Liebesleben und einigen dubiosen Bekanntschaften; THE ALTERNATE (2000), eine Art Low-Budget-Ripoff von DIE HARD, der die Vorlage noch näher an ihre Western-Ursprünge bringt, mit Eric Roberts als einsamer Held, der in einem großen Luxushotel den Tag und den Präsidenten vor Terroristen retten muss; und Firstenbergs bizarrer und exzentrischer (bislang) letzter Film, THE INTERPLANETARY SURPLUS MALE AND AMAZON WOMEN FROM OUTER SPACE (2003), eine auf Video unter Quasi-Amateurfilm-Bedingungen gedrehte Sexkomödie um einen sexbesessenen Universitätsprofessor, der von Alien-Amazonen entführt wird, um als Samenspender-Sklave gehalten zu werden. Meiner Meinung nach Filme, die das Portfolio von Firstenbergs bekannteren und kanonisierteren (cannonisierteren?) Werken gut ergänzen. Filme, die ich gerne hier demnächst besprechen möchte.

Aber vorher noch etwas Kleines aus Firstenbergs Prä-Cannon-Phase – oder besser gesagt, zwei Kurzfilme.




Zwei frühe Kurzfilme Firstenbergs



THE TREE WAS HAPPY

USA 197[2?]

Regie: Shmulik Firstenberg

Erzähler: Dorian Boyle



Ein kleiner Junge spielt alleine in der Natur und geht immer wieder zum gleichen Baum, klettert darauf herum und legt sogar ein kleines Blumenbeet an dessen Fuß an (bzw. an deren Fuß: der Erzähler des Films bezeichnet den Baum mit "she"). Der Baum wiederum, so erfahren wir vom Erzähler, liebt den Jungen genauso, wie der Junge den Baum liebt.

Doch der Junge wird mit der Zeit älter, besucht den Baum seltener, und interessiert sich auch für das andere Geschlecht seiner eigenen Spezies. Der Junge (bzw. jetzt: der junge Mann) und der Baum können offenbar miteinander kommunizieren: der Baum fordert den Jungen dazu auf, doch auf ihn zu klettern. Dafür sei er doch zu alt, und er möchte lieber Geld haben. Nein, Geld habe der Baum nicht, aber der Junge könne doch die Äpfel nehmen und sie in der Stadt verkaufen. Was der junge Mann tut... und der Baum war glücklich ("And the tree was happy" – ein wiederkehrender Satz des Films).

Wieder etwas älter möchte der nun erwachsene Mann (richtig respektabel mit Aktentasche) ein Haus bauen, und sicher nicht auf dem Baum klettern, wie dieser wieder vorschlägt. Nein, ein Haus könne er nicht geben, aber der Junge ("the boy", wie der Baum ihn bis zum Ende nennt) könne doch seine Äste benutzen, um ein Haus zu bauen. Daraufhin sägt der Junge dem Baum die Äste ab (das markerschütternde Sägegeräusch könnte an dieser Stelle aus einem Horrorfilm entstammen)... und der Baum war glücklich.

Noch mal älter kommt der nun ältere Mann wieder beim Baum vorbei, und möchte ein Boot haben, um wegzusegeln. Nein, ein Boot habe der Baum nicht, aber der Junge könne doch einfach seinen Stamm abschneiden, um ein Boot daraus zu machen. Gesagt, getan... und der Baum war glücklich – aber doch nicht wirklich, wie der Erzähler nun zum ersten Mal ergänzt.

Als nunmehr alter Mann, der einen Stock zum Gehen braucht, besucht der Junge noch mal seinen Baum, der nur noch als Stumpf übrig geblieben ist. Wunschlos und ohne Worte setzt er sich auf den Baumstumpf... und der Baum war glücklich.


THE TREE WAS HAPPY ist einer von Shmulik Firstenbergs ersten Filmen (Sam nannte er sich erst später auf Vorschlag Menahem Golans für die Filmcredits um; in Stories from the Trenches nennen ihn allerdings auch viele nicht-israelische Interviewte Shmulik; in einem gewissen sozialen Kanal nutzt Firstenberg beide Vornamen). Er verließ Anfang der 1970er Jahre Israel in Richtung USA, um dort Film zu studieren und Filme zu machen. Die erste Station war ein Filmstudium am Columbia College in Hollywood, wo er nach eigenen, widersprüchlichen Angaben entweder drei oder vier Kurzfilme inszenierte: der erste fertiggestellte Film war THE TREE WAS HAPPY, ein weiterer hatte den Titel THE SAND CASTLE.


THE TREE WAS HAPPY ist eine Verfilmung von Shel Silversteins Kurzgeschichte "The Giving Tree": diese gehört in den USA mittlerweile zu den berühmtesten und meistverkauften Kurzgeschichten für Kinder, aber auch zu den kontroversesten. Die Geschichte des glücklich gebenden Baums hat zahlreiche Interpretationen hervorgerufen: sie kann als Geschichte christlicher Nächstenliebe gelesen werden, als ökologische Parabel, als Darstellung einer komplizierten Eltern-Kinder-Beziehung, aber auch als Geschichte einer toxischen, ausbeuterischen oder sadomasochistischen Beziehung, bei dem sich ein egoistischer Narzisst (der Junge) und ein Masochist (der Baum) gegenüberstehen.


Eine Liebesgeschichte zwischen einem kleinen Jungen und einem Baum, die mit fortgeschrittenem Alter zunehmend zerstörerisch wird


Ich selber, der nur Firstenbergs Film gesehen und die Vorlage nicht gelesen hat, neige zu letzterem: der Baum gibt sich selbst mit einer zunehmend masochistischen Inbrunst komplett in der Beziehung zum Jungen auf, gibt sich quasi einer Täuschung hin und muss gegen Ende auch einsehen, dass er doch nicht so glücklich ist. Wie bereits erwähnt: die Absägung seiner Äste wird mit einfachen Mitteln inszeniert (eigentlich nur eine Nahaufnahme mit Säge und dem entsprechenden, sehr lauten Geräusch), wirkt aber trotzdem unglaublich drastisch. Eine sehr finstere Geschichte, wenn man sie aus der Perspektive des Baums (bzw. der Natur) näher betrachtet.

Aus der Perspektive des Jungen (bzw. der Menschheit) könnte man eine Art Geschichte verlorener Kindheitsunschuld sehen, eines Menschen, der aus kindlicher Unbekümmertheit langsam in eine materialistische Kultur (bzw. kapitalistische Kultur, in der der Erfolg des einen von der Ausbeutung des anderen abhängt) hineinwächst. Aus dem unschuldigen Jungen wird ein gefühlskalter, materialistischer Erwachsener.

Am Ende sind beide Figuren "gebrochen" – und das letzte "And the tree was happy" wirkt fast zynisch, wie eine Art verbalisierte Rache: der Junge hat sein ganzes Leben lang den Baum ausgenommen, aber schlussendlich ist er nunmehr nur noch ein alter, gehbehinderter Mann. Man kann den Schluss alternativ auch als ernüchtert, aber trotzdem versöhnlich sehen.


Über die Beteiligten an THE TREE WAS HAPPY jenseits des Regisseurs ist kaum etwas zu finden. In Stories from the Trenches wird der Film nur an wenigen Stellen kurz erwähnt. Firstenberg beschreibt den Prozess des Filmemachens an der Universität als sehr kollaborativ: Studenten helfen sich bei ihren jeweiligen Filmen gegenseitig aus – so ist anzunehmen, dass Kommilitonen und Bekannte von Kommilitonen an der Entstehung von THE TREE WAS HAPPY beteiligt waren. Firstenberg erwähnt Yossi Peso, ein anderer israelischer Filmstudent, der am Columbia College offenbar für die Materialen (Kameras, Linsen etc.) verantwortlich war, aber ob dieser am Film beteiligt war, geht aus Firstenbergs Ausführungen nicht wirklich eindeutig hervor. Dorian Boyle, der Erzähler, der meiner Meinung nach eine sehr schöne Erzähler- und Sprecherstimme hat, dürfte auch aus dem Umfeld des Columbia College sein, ebenso die in den End-Credits genannten Darsteller Elia, Dan und Sol.


THE TREE WAS HAPPY ist in ganzer Länge in Sam Firstenbergs persönlichem YouTube-Channel zu sehen. Die Qualität ist leider ziemlich grausig: es sieht ein bisschen wie die Videokopie einer Videokopie aus, wobei die zu Grunde liegende 16mm-Kopie offensichtlich stark blaustichig war. In der Beschreibung des YouTube-Videos findet sich auch das Entstehungsdatum 1972, das ich allerdings nirgendwo mit einer anderen Quelle abgleichen kann, weil sich sonst nichts über diesen Film finden lässt.

Als mittlerweile gewachsener Firstenberg-Fan gehört THE TREE WAS HAPPY sicherlich nicht zu meinen persönlichen Highlights seiner Filmografie (eine Zweitsichtung hat daran nichts wesentlich geändert). Es ist trotzdem ein sehenswerter, früher Film und aufgrund der bescheidenen Qualität der verfügbaren Kopie würde ich ein definitives Urteil sowieso erst einmal aufschieben.




SIMPATYA BISHVIEL KELEV ("For the Sake of the Dog")

Israel 1979

Regie: Shmulik Firstenberg

Darsteller: Pesach Guttmark (Aaron Beckler)



Aaron Beckler, dessen komplette Familie im Vernichtungslager Auschwitz ermordet wurde und der selbst als Anti-Nazi-Partisan die Kriegsgefangenenlager, als Jude die Vernichtungslager und als Kommunist die Gefängnisse der Polen (ob die Vorkriegszeit oder die stalinistische Ära gemeint ist, bleibt klar) überlebt hat, lebt in einem Arbeiterviertel Tel Avivs alleine in einer bescheidenen Wohnung. Nun, nicht ganz alleine, denn sein kleiner Hund, Tina, lebt mit ihm. 

Wie jeden Tag seit nunmehr acht Jahren geht Herr Beckler mit Tina am Strand spazieren. Doch heute bekommt er von einem Polizisten einen Strafzettel, weil (wohl seit kurzem) Hunde am Strand nicht mehr erlaubt sind. Herr Beckler will den Strafzettel ignorieren, weil er schon so lange mit Tina am Strand spazieren geht, weil der Strand doch allen gehöre und überhaupt sei das doch nicht Sowjetrussland. Die Warnungen eines Bekannten, dass er bei Nichtzahlung Probleme mit der Polizei bekommen könnte, schlägt er in den Wind. Doch tatsächlich steht eines Morgens eine Polizistin vor seiner Tür, die ihn zur Polizeistation bittet.

Dort wird er gebeten, die Summe des Strafzettels einfach zu begleichen, ihm wird sogar eine Stundung des Betrags vorgeschlagen, doch Herr Beckler weigert sich aus Prinzip weiter, den Strafzettel zu bezahlen. Also muss er für sechs Tage ins Gefängnis. Doch hier kommt das weitere Problem: Hunde dürfen auch nicht ins Gefängnis, und die kleine Tina, die er auf die Polizeistation mitgenommen hat, soll er abgeben. Doch auch da weigert sich Herr Beckler: wenn der Hund nicht mit ins Gefängnis darf, dann geht er auch nicht ins Gefängnis! Auch hier finden die Polizisten schließlich eine unbürokratische Lösung: der Hund wird in die Obhut der Polizistin übergeben, die Herr Beckler abgeholt hat. Und Herr Beckler darf vorher die Wohnung der Polizistin, also den provisorischen Schlafplatz Tinas für die nächste Woche, inspizieren: trotz anfänglicher Skepsis und einigen ausführlichen Instruktionen an die Adresse der Polizistin bezüglich Ernährung und täglichen Geschäften gibt er sich zufrieden, zumal die jüngeren Geschwister der Polizistin gute Spielgefährten für den Hund sein werden. Jetzt kann Herr Beckler also ins Gefängnis.

In der Polizeistation, wo er bis zum Transfer in die Vollzugsanstalt festgehalten wird, kommt er zu einigen "Halbstarken" in die Zelle. Die latent bedrohliche Situation löst sich auf, als einer der jungen Männer, der in einem Strandcafé arbeitet, Herrn Beckler als den Spaziergänger mit dem kleinen Hund wieder erkennt. Als seine Zellengenossen erfahren, warum Herr Beckler "sitzt", bieten sie ihm – ganz offensichtlich aus spontaner Sympathie – an, für ihn den Strafzettel zu bezahlen. Wenig später folgt der Transfer ins Gefängnis und dort erfahren wir, dass Herr Beckler sich geweigert hat, die Quittung für die Zahlung des Strafzettels zu unterschreiben. Im Gefängnis geschieht im Prinzip das gleiche: die Zellengenossen des alten Mannes finden es furchtbar, dass ein solch alter und offensichtlich trauriger und einsamer Mann wegen einer Nichtigkeit einsitzt und wollen ihn mit der Summe des Strafzettels freikaufen. Der Gefängnisdirektor ist offensichtlich sehr unbürokratisch: er lädt Beckler vor, erklärt ihn für entlassen und als dieser sich weigert, irgendetwas zu unterschreiben, erklärt er ihm, dass eine Unterschrift in diesem Fall nicht nötig sei.

Also findet sich Herr Beckler unfreiwillig wieder draußen. Er holt seine Tina ab – und geht mit ihr am Strand spazieren. Wie beide zusammen gen Sonnenuntergang marschieren, erklärt er ihr, dass er sich natürlich geweigert hat, den Strafzettel zu bezahlen, dass aber ganz viele sympathische Menschen mit ihr, Tina, dem Hund, Mitleid gehabt und deshalb geholfen haben...


In den 1970er Jahren alternierte Firstenberg zwischen Studium, einem Kameramann-Job bei einem lokalen Fernsehsender in Los Angeles sowie diversen Assistentenjobs im Umfeld von Menahem Golan (damals noch nicht Cannon-Chef), den Firstenberg 1973 bei einer Silvesterparty kennen lernte und der ihn zunächst als Assistent für alle möglichen Dinge beschäftigte (als Maler von hebräischsprachigen Schildern bei LEPKE oder auch als persönlicher Bote und Aushilfsfahrer für Shelley Winters), später dann auch als Regieassistent. In dieser Zeit kam Firstenberg immer wieder nach Israel, sei es als Assistent bei US-israelischen Koproduktionen Menahem Golans, bei rein israelischen und hebräischsprachigen Produktionen oder bei Location-Shootings (Firstenberg war Assistent Director für die israelische Crew bei William Friedkins SORCERER). Während eines solchen längeren Aufenthalts in Israel entstand SIMPATYA BISHVIEL KELEV.


Herr Beckler geht täglich mit seinem Hund Tina spazieren, ist ansonsten aber ein einsamer Mensch
Für seine Weigerung, einen Strafzettel zu bezahlen, kommt er ins Gefängnis: die Zellengenossen sind Verkörperungen des Mottos "harte Schale, weicher Kern"


Sam Firstenberg ist heute vor allem für seine Actionfilme bei Cannon berühmt, doch in den 1970er Jahren plante er noch, ein "director of social issue stories" zu werden. Vorbild für SIMPATYA BISHVIEL KELEV war nach Firstenbergs eigenen Angaben der italienische Neorealismus, besonders De Sicas LADRI DI BICICLETTE, aber auch die populären Komödien von Boaz Davidson, die meist in ärmeren Milieus angesiedelt waren. Durch die Verbindung zwischen einem alten Mann und einem Hund kommt dem Kenner des italienischen Neorealismus natürlich auch UMBERTO D in den Sinn, doch das war wahrscheinlich eher ein Zufall. Als Co-Autor des Films wird Yigal Lev genannt. Lev war Journalist in Jaffa und schrieb in dieser Zeit jeden Freitag eine ganzseitige Geschichte über Nachrichten aus dem Alltagsleben der Stadt – eine Kolumne, die Firstenberg mit großer Begeisterung verfolgte. Die Geschichte des alten Mannes, der die Geldstrafe für seinen Hund nicht bezahlen möchte und dafür ins Gefängnis kommt, war eine von Levs Geschichten, die Firstenberg dann für seinen Film adaptierte (Lev arbeitete am Film nicht aktiv mit).

SIMPATYA BISHVIEL KELEV wurde privat von Firstenberg und Omri Maron finanziert. Maron arbeitete in den 1970er Jahren in Israel als Location-Manager für internationale Produktionen, außerdem verband ihn eine persönliche Freundschaft mit Firstenberg. Der Film wurde auf günstig eingekaufte 16mm-"short ends" von Wochenschauen gedreht. Die Crew wurde aus Firstenbergs und Marons professionellen Kontakten in der israelischen Filmindustrie sowie aus persönlichen Kontakten rekrutiert und arbeitete größtenteils ehrenamtlich. Teile des Films wurden zum Beispiel im Haus der Grossmutter von Marons Ehefrau gedreht. Gedreht wurde nicht kontinuierlich, sondern an Wochenenden über mehrere Monate hinweg (ein Prozedere, das Firstenberg auch für seinen ersten abendfüllenden Film ONE MORE CHANCE nutzen würde). Firstenberg bekam gemäß seiner eigenen Angaben auch die Unterstützung der örtlichen Behörden und konnte nicht nur echte Polizeiwagen nutzen, sondern auch im Inneren eines Gefängnisses drehen.


Aus privater Hand finanziert war SIMPATYA BISHVIEL KELEV auch gar nicht als kommerzielles Projekt gedacht, sondern als "Visitenkarte" für Firstenberg, der damit potentiellen Interessenten für andere Filmprojekte seine Fähigkeiten als Regisseur präsentierte. Gemäß Omri Maron (der im Buch Stories From the Trenches auch interviewt wird) hat das nur sehr bedingt funktioniert, weil Firstenberg nach Fertigstellung des Films keine Zeit hatte, sich um den Vertrieb des Films zu kümmern, weil sein Terminplan als Assistent zu dieser Zeit einfach zu voll war. Auf jeden Fall dürfte der Film 1980 beim Filmex (der Los Angeles International Film Exposition) gezeigt worden sein (im Buch ist jedenfalls eine Teilnahmeurkunde des Films abgebildet).


Die Atmosphäre von SIMPATYA BISHVIEL KELEV ist heiter, leicht und eher humorvoll, trotz der ernsten und teils auch finsteren Untertöne: es geht schließlich um einen Holocaust-Überlebenden und Überlebenden diverser Formen politischer Gewalt, der sich vereinsamt und verbittert von seinen Mitmenschen entfremdet hat und eigentlich nur noch mit seinem Hund richtig kommuniziert. Eine Wandlung macht Herr Beckler eigentlich auch nicht durch: am Ende des Films würde er wahrscheinlich diesen ganzen Prozess noch mal durchmachen. Aber seine Figur funktioniert auf mehreren Ebenen: als historisch und soziologisch verankerter Charakter (ein entfremdeter Holocaust-Überlebender) und auch als, wenn man so will, Genre-Figur, sprich als störrisch-sturer alter Mann, der alles an sich abprallen lässt. Der Film funktioniert als beides: als (neo-)neorealistisches Drama und als leise Komödie mit leicht absurden Einsprengeln. Der Darsteller Pesach Guttmark (auch zu finden mit der Schreibweise Pesah Gutmark) spielt den Herrn Beckler vorzüglich. Guttmark war ein Film- und Theaterschauspieler, den Firstenberg persönlich von einem früheren Dreh in Israel kannte. Guttmark war kein Star, sondern relativ unbekannt, und genau deshalb hat ihn Firstenberg auch gecastet: ein Nicht-Star für die Rolle eines "kleinen Mannes".


Bei der Erstsichtung fand ich SIMPATYA BISHVIEL KELEV ganz interessant, wenn auch nicht wirklich begeisternd. Die Zweitsichtung hat ihn mir allerdings noch mal viel näher gebracht. Vor allem hat mich jetzt begeistert, wie "übervoll" dieser scheinbar extrem "simple" Film mit Charakteren, Gesichtern und kleinen Mini-Nebengeschichten ist, die seiner einfachen Geschichte eine dichte Textur verleihen: am Strand etwa die sporttreibenden älteren Herrschaften; die dominospielenden alten Männer im Café; die beobachtenden Nachbarn bei der Verhaftung Becklers; die größere Familie der Polizistin mit (wahrscheinlich) der Mutter und (wahrscheinlich) den jüngeren Geschwistern; dazwischen immer wieder kleine Straßen-, Nebenstraßen- und Hinterhof-Impressionen. Manchmal längere Bilder, manchmal nur kleine Montage-Einschübe. In Stories from the Trenches hebt Firstenberg den Film vor allem als Zeitdokument der "dreckigen" 1970er Jahre hervor: als Alltagsportrait von Tel Aviv vor der Gentrifizierung.


SIMPATYA BISHVIEL KELEV ist als "For the Sake of a Dog" in Sam Firstenbergs persönlichem YouTube-Channel zu sehen. Die Qualität ist eher suboptimal (wenn auch nicht ganz so schlecht wie bei THE TREE WAS HAPPY), die 16mm-Kopie, die als Quelle zugrunde lag, scheint einen leichten Braunstich zu haben.