Sonntag, 3. Juli 2016

Pinguine in der Bronx

FIVE CORNERS (dt. PINGUINE IN DER BRONX)
Großbritannien/USA 1987
Regie: Tony Bill
Darsteller: Jodie Foster (Linda), Tim Robbins (Harry), John Turturro (Heinz), Todd Graff (James), Rodney Harvey (Castro), Daniel Jenkins (Willie), Elizabeth Berridge (Melanie), Cathryn de Prume (Brita), Carl Capotorto (Sal), John Seitz (Inspector Sullivan), Gregory Rozakis (Mazola), Kathleen Chalfant (Harrys Mutter), Rose Gregorio (Heinz' Mutter), Eriq La Salle (Samuel Kemp)

Many thanks to the Penguins in this film. They were treated most respectfully and no harm ever came to them in their work. (aus den Credits)

Pinguine in der Bronx
Ein Mathematiklehrer hat einen Stapel Prüfungsarbeiten vor sich, die er reihenweise mit dem Stempel "Durchgefallen" versieht. Nach getaner Arbeit packt er seine Sachen zusammen und geht mit seiner Aktentasche forschen Schritts durch die Straßen der Bronx. Ein Pfeil schwirrt heran und trifft ihn in den Rücken. Der Lehrer bricht zusammen und haucht sein Leben aus. Das ist der - gelinde gesagt - ungewöhnliche Auftakt von FIVE CORNERS.

Ein Lehrer wird zur Strecke gebracht
Five Corners ist eine Ecke in Van Nest, das wiederum ein Viertel in der New Yorker Bronx ist. Es ist ein kleinbürgerliches Viertel - man kennt sich gegenseitig, und man geht (meistens jedenfalls) respektvoll miteinander um. Hier tragen sich an zwei Tagen im Herbst 1964 einige bemerkenswerte Dinge zu. - Zunächst also der Mord an dem Lehrer. Die Polizei in Person von Inspector "Bigfoot" Sullivan und seinem Partner Mazola vom 33. Revier steht vor einem Rätsel. Die Bronx war ja mal Indianergebiet, bevor hier die ersten holländischen Siedler auftauchten. Sollte es hier etwa noch Indianer geben? Aber nein, die Idee ist zu abwegig und wird verworfen. Doch wer war es dann?

Linda und James
Noch eine Nachricht macht die Runde: Heinz ist wieder da. Der allseits bekannte und unbeliebte Psychopath Heinz Sabantino war einige Zeit im Gefängnis, weil er versucht hatte, Linda zu vergewaltigen, eine Verkäuferin in der Zoohandlung ihres Vaters. Lindas Freund James hatte damals versucht, sie zu beschützen, doch er war Heinz hoffnunglos unterlegen und trug aus der Begegnung eine steife Hüfte davon. (In den üblichen Quellen wird er "Jamie" genannt, aber wenn ich nichts überhört habe, fällt diese Koseform des Namens im Film kein einziges Mal, und in den Credits am Ende steht auch "James" und nicht "Jamie".) Gestoppt wurde Heinz erst durch Harry, damals ein rustikaler Schläger. Er zog Heinz mit dem Bierkrug einen Scheitel, und damit war die Angelegenheit beendet. - Nun ist Heinz also wieder da, und er wohnt wieder bei seiner alleinstehenden Mutter, die in hellen Momenten schrullig und in weniger hellen Momenten nicht mehr ganz dicht ist. Linda befürchtet - zu Recht, wie sich bald zeigt -, dass Heinz sein unvollendetes Werk fortsetzen und sich erneut an sie heranmachen wird. James ist wie damals bereit, sie zu verteidigen, doch Linda fürchtet um seine Gesundheit und gibt ihm deshalb kurzerhand den Laufpass, um ihn aus der Schusslinie zu nehmen, was er aber keinesfalls akzeptieren will. Linda sucht aber lieber erneut Hilfe bei Harry, doch der hat sich radikal geändert. Nachdem sein Vater, ein Polizist, im Dienst erschossen wurde, hat Harry unter dem Einfluss der Reden von Martin Luther King der Gewalt abgeschworen. Mehr noch, er hat sich der Bürgerrechtsbewegung angeschlossen und will in wenigen Tagen nach Mississippi fahren, um dabei mitzuhelfen, Schwarze als Wähler zu registrieren, gegen den erheblichen Widerstand der weißen Bevölkerung und der lokalen Behörden. So vertröstet er Linda nur und meint, dass schon nichts passieren wird.

Harry, Buddha und Heinz - unverhofftes Wiedersehen
Um seine Mitwirkung an der Kampagne in Mississippi zu sichern, fährt Harry nach Harlem und trifft sich mit zwei schwarzen Aktivisten. Mit dem einen ist er schon befreundet, doch der Wortführer, Samuel Kemp, ist ein kühler Intellektueller, der den "reichen Harvard-Schnösel" sehr herablassend behandelt. Kemp (ein fiktiver Charakter) hat schon mit dem radikalen Stokely Carmichael (der in seiner Jugend in Van Nest lebte) zusammengearbeitet, und dass er mit seiner Brille äußerlich an Malcolm X erinnert, ist vielleicht auch kein Zufall. Harry hat es also schwer, akzeptiert zu werden, doch als er klarstellt, dass er weder reich noch Harvard-Absolvent ist, und als er die Gründe für seine Wandlung darlegt, taut Kemp etwas auf - vielleicht gibt es doch eine Basis zur Zusammenarbeit. Harrys Mutter wäre aber das Gegenteil lieber, denn sie hat Angst um ihren Sohn, den sie nicht auch noch verlieren will, nachdem sie schon Witwe ist. Gerade kam nämlich im Fernsehen die Nachricht, dass in Mississippi die Leichen von drei wochenlang vermissten jungen Bürgerrechtsaktivisten, einem Schwarzen und zwei Weißen, aufgefunden wurden. Wie sich bald erwies, wurden sie von Mitgliedern des Ku-Klux-Klans unter tatkräftiger Mithilfe der örtlichen Polizei ermordet. Es handelt sich um jenen realen Mordfall, der auch Alan Parkers MISSISSIPPI BURNING zugrunde liegt.

Heinz Sabantino ...
Parallel zur Haupthandlung um Linda, Heinz, Harry und James gibt es in FIVE CORNERS einen zweiten Handlungsstrang, der sich nur sporadisch mit dem ersten überkreuzt. Sal kurvt in seinem roten Cabrio durch Van Nest, seine Verlobte Melanie und deren Freundin Brita auf dem Rücksitz. Die beiden aufgebrezelten Mädels werfen ständig Pillen ein und schnüffeln Klebstoff, so dass Sal, eigentlich kein Kind von Traurigkeit, schließlich gewaltig genervt davon ist, dass die beiden pausenlos zugedröhnt sind. So lädt er sie kurzerhand auf der Straße bei den beiden schrägen Teenagern Castro und Willie ab, denen er noch fünf Dollar dafür zahlt, dass sie ihm die beiden vorübergehend abnehmen. Am nächsten Morgen wachen Melanie und Brita nackt in einer ihnen fremden Wohnung auf, ohne sich an viel zu erinnern, doch sie nehmen es sportlich, und schon werden sie wieder von Castro und Willie aufgegabelt. Die beiden haben schulfrei, weil gerade ihr Lehrer ermordet wurde, wie sie erzählen. Die vier ziehen also zusammen durch die Gegend und erkunden dabei den Fahrstuhlschacht eines Wohnhauses. Zu einer Arie aus der Oper Lakmé von Léo Delibes (gesungen von Joan Sutherland in einer Aufnahme von 1967) entwickelt sich in dieser sehr schönen Szene fast so etwas wie ein vertikales Fahrstuhl-Ballett, und am Ende erinnert es etwas an die Fahrstuhlszene in John Carpenters DARK STAR. Aber ebenso wie bei Carpenter geht es auch hier gut aus. Sal ist inzwischen auf der Suche nach den für ihn verschollenen Mädels, und er will sogar die Polizei einschalten, wird aber abgewimmelt. Schließlich findet er die vier in einer Bowlinghalle. Nach einem veritablen Krach mit Melanie, der nicht entgangen ist, dass sie für fünf Dollar sozusagen verkauft wurde, versöhnen sich die beiden wieder.

... und seine Mutter
Die Haupthandlung nimmt Fahrt auf, als Heinz spät abends bei Linda anruft und sie zu einem mitternächtlichen Rendezvous am Brunnen, einem großen Bassin mit Wasserfontänen, auffordert. Er will ihr dort ein Geschenk überreichen. Linda lehnt natürlich ab, doch Heinz droht unverblümt, James etwas anzutun, so dass sie nun doch zusagt. Bevor sie sich auf den Weg macht, will sie Harry anrufen, damit er auch zum Brunnen kommt, doch sie erreicht nur seine Mutter, weil Harry noch nicht von seinem Treffen in Harlem zurück ist. So trifft sie sich also mit sehr mulmigem Gefühl allein mit Heinz. Und der packt sein Geschenk aus - zwei Pinguine, die er im Zoo der Bronx geklaut hat. Linda findet die im Bassin planschenden Vögel für einen Moment sehr süß, doch schnell ist sie wieder in der Realität. Sie eröffnet Heinz, dass sie das Geschenk nicht annehmen kann, weil die Pinguine wieder in den Zoo müssen, sonst würden sie nicht lange überleben. Und nun erweist sich Heinz als wahrer Psychopath. Weil Linda sein Geschenk abgelehnt hat, schlägt er einen der Pinguine mit einem Knüppel zu Brei. Linda ist in einer Mischung aus Ekel, Wut und Angst zur Salzsäule erstarrt. Und Heinz fragt, ob sie denn nun wenigstens den anderen Pinguin annehmen will. Natürlich will sie. Als Heinz zum Dank für das "Geschenk" einen Kuss und dann noch einen fordert, zieht sie nun ihm mit dem Knüppel eins über die Rübe und flieht mit dem verbliebenen Pinguin. Heinz ist vorerst zu benommen, um ihr zu folgen.

Melanie, Brita und Sal kurven durch Van Nest
Linda lädt den Pinguin vorübergehend bei James ab und will dann mit der U-Bahn zu ihrer Tante fahren, weil sie sich in ihrer Wohnung nicht sicher vor Heinz fühlt. James begleitet sie zur U-Bahn-Station, doch Heinz hat sich inzwischen wieder aufgerappelt, und die beiden laufen ihm genau in die Arme. Er schlägt Linda K.O. und entführt sie, während James durch das Sperrgitter abgehängt wird. Unterdessen wurde der zurückgekehrte Harry von seiner Mutter verspätet über Lindas Anruf informiert. Mit seinem Bernhardiner "Buddha" macht er sich auf den Weg zum Brunnen, kommt aber zu spät und schaltet deshalb die Polizei ein. Weil sein Vater einst Inspector Sullivan das Leben gerettet hat, wird er nicht abgewimmelt, sondern ernst genommen, und Sullivan, Mazola und Harry entdecken am Brunnen den zermatschten Pinguin. Vorübergehend taucht die Frage auf, ob es in der Bronx womöglich auch noch Eskimos gibt, doch bald herrscht Klarheit, denn James erscheint auch auf dem Polizeirevier und meldet die Entführung. Neben den üblichen polizeilichen Maßnahmen wird jetzt auch Buddha als Spürhund eingesetzt, und tatsächlich findet er Heinz und Linda recht schnell, aber das geht erst mal schlecht für Mazola aus. Heinz bringt die bewusstlose Linda in seine Wohnung, wo er eine Art Aussprache (wenn man das so nennen will) mit seiner Mutter hat, die ziemlich bizarr endet. Am Schluss sind Linda, Heinz, Harry und James auf dem flachen Dach des Nebenhauses versammelt, das inzwischen von der Polizei umstellt ist. Die nach wie vor weggetretene Linda liegt direkt am Rand und droht bei einer falschen Bewegung in den Tod zu stürzen, James ist mit seiner steifen Hüfte Heinz noch hoffnungsloser unterlegen als beim ersten Mal, und Harry steht sich mit seiner Gewaltlosigkeit selbst im Weg. So kommt es auf dem Dach zu einem recht ungewöhnlichen Showdown. Und am Ende schwirrt wieder ein Pfeil durch die Luft ...

Samuel Kemp, rechts Malcolm X im März 1964 - Ähnlichkeit vermutlich beabsichtigt
(rechtes Teilbild: Public Domain, Quelle: Wikipedia)
In den ersten Minuten der Szene mit Sal, Melanie und Brita im roten Cabrio scheint sich FIVE CORNERS in die Richtung eines knallbunten Nostalgiefilms à la AMERICAN GRAFFITI zu entwickeln, doch dieser Eindruck verflüchtigt sich schnell. FIVE CORNERS ist etwas anderes - er ist vielschichtiger und tiefgründiger. Dass es sich um keinen solchen Nostalgiefilm handelt, sieht oder vielmehr hört man auch am Soundtrack. Zeitgenössische Pop- oder Rocksongs sind nämlich nur spärlich vorhanden. Im Vor- und Abspann ertönt jeweils "In My Life" von den Beatles, in Harrys Zimmer spielt ein Radio oder Plattenspieler kurz "The Times They Are A-Changin'" von Bob Dylan, und in der besagten ersten Cabrio-Szene kommen zwei oder drei Songs aus dem Autoradio - und das war es dann schon fast. Stattdessen schrieb James Newton Howard, damals noch ziemlich am Anfang seiner erfolgreichen Laufbahn als Filmkomponist, einen atmosphärisch stimmigen Score, der gerade auch die düsteren und dramatischen Aspekte der Geschichte betont.

Harrys Mutter, rechts die Eltern des Mordopfers Andrew Goodman im Fernsehen
Neben den Protagonisten der beiden Handlungsstränge gibt es noch eine Reihe von Nebenfiguren, die teilweise recht skurril und durchweg positiv gezeichnet werden, wie die beiden alten jüdischen Lebensmittelhändler Murray und George (offensichtlich ein Brüderpaar). Tatsächlich sind Heinz und der schnell dahingeschiedene Mathelehrer die einzigen wirklich negativen Figuren im Film. Trotz oder vielleicht gerade wegen bestehender kultureller Unterschiede geht man, wie schon erwähnt, respektvoll miteinander um. Familiennamen wie Kompelski (Linda), Fitzgerald (Harry) und Sabantino (Heinz) sind dezente Hinweise auf jüdische/osteuropäische, irische und italienische Herkunft vieler Einwohner des Viertels. Die Eigenschaft, ein kultureller Schmelztiegel zu sein, die ja New York insgesamt nachgesagt wird, gilt offenbar auch im Kleinen für Van Nest. (Wie Heinz zu seinem für Italiener ebenso wie für Amerikaner ungewöhnlichen Vornamen kam, wird übrigens nicht erörtert.) Gelegentlich wird die räumliche Nähe der Geschehnisse in FIVE CORNERS durch die Kameraarbeit betont, wenn von einem Schauplatz oder einer Personengruppe des einen Handlungsstrangs durch einen nur kleinen Schwenk zum anderen Strang übergeleitet wird, ohne dass sich die Handlungsfäden wirklich überkreuzen (was, wie auch schon erwähnt, nur sporadisch geschieht). Durch all diese Figuren und Stilmittel verdichtet sich FIVE CORNERS auch zu einem humanistisch und liebevoll gezeichneten Portrait eines kleinen Viertels in einer großen Stadt. Damit steht der Film in einer Tradition, die (mindestens) bis zu René Clairs UNTER DEN DÄCHERN VON PARIS zurückreicht. Hauptverantwortlich dafür war Drehbuchautor John Patrick Shanley, der in Van Nest aufgewachsen ist und Kindheits- und Jugenderinnerungen in sein Script einfließen ließ. Shanley bekam 1988 einen Oscar für sein Drehbuch zu MOONSTRUCK mit Cher und Nicolas Cage, und vor einigen Jahren ging er unter die Regisseure, indem er sein eigenes preisgekröntes Bühnenstück Doubt erfolgreich mit Meryl Streep und Philip Seymour Hoffman verfilmte.

Murray und George in ihrem Lebensmittelladen
Nicht nur Heinz sorgt dafür, dass FIVE CORNERS nicht im Idyll versandet, auch die Verankerung des Films im politischen Zeitgeschehen des Jahres 1964 ist dafür verantwortlich. Die Konfrontation zwischen Bürgerrechtlern und reaktionären Rednecks in den Südstaaten spielt eine wichtige Rolle, auch wenn sie sozusagen nur indirekt präsentiert wird. Ganz am Anfang, noch vor dem Mord am Lehrer, sieht man kurz Harry, wie er im Fernsehen einen (echten, nicht nachgestellten) Auftritt von Martin Luther King ansieht, später im Film verfolgt seine Mutter einen (ebenfalls authentischen) Bericht über die Auffindung der drei Leichen in Mississippi. Darin sind auch die Eltern des Mordopfers Andrew Goodman zu sehen, die die Freunde und Gleichgesinnten ihres Sohns auffordern, sich nicht einschüchtern zu lassen, sondern ihr Engagement fortzusetzen. Dazu kommt Harrys Gespräch in Harlem über seine Mitwirkung und die ablehnende Reaktion seiner Mutter darauf. FIVE CORNERS arbeitet hier also mit sparsamen Mitteln ein ernstes Thema heraus, anders als etwa MISSISSIPPI BURNING, der die Atmosphäre der Konfrontation in den Südstaaten mit martialischen Breitseiten heraufbeschwört (oder auch ziemlich verfehlt, wie Jonathan Rosenbaum in einem heftigen, aber gut begründeten Verriss schrieb). Den Gegenpol zu Harrys politischem Engagement, für das Heinz nur ein kurzfristiger Störfaktor ist, bildet der Präsidentschaftswahlkampf des ultra-konservativen Barry Goldwater, der im Film auch kurz und dezent angerissen wird. (Die Verantwortlichen für die dt. Untertitel auf meiner DVD waren auf dem zeitgeschichtlichen Terrain nicht besonders firm. Sie machten aus Stokely einen Stopley Carmichael, und aus der Politik von Goldwater wurde eine Coldwater-Politik. Schluss mit den Warmduschern, oder was hatten diese Leute da im Sinn? Es finden sich noch mehr Klöpse, so wurde aus der Fordham University, die Harry besucht hat, eine Fortim University.)

Melanie (links), Brita und Willie beim Bowling
Es steckt also viel drin in diesem kleinen Film. Aber wieso eigentlich "kleiner Film"? Immerhin spielen ja Jodie Foster, Tim Robbins und John Turturro die Hauptrollen. Doch von denen war damals nur Foster ein Star, spätestens seit 1976, als sie in BUGSY MALONE, TAXI DRIVER und THE LITTLE GIRL WHO LIVES DOWN THE LANE gleich drei prägnante Rollen hatte. Tim Robbins dagegen hatte zwar unmittelbar vor FIVE CORNERS schon in HOWARD THE DUCK und TOP GUN mitgespielt, aber seine großen Erfolge wie ERIK THE VIKING, JACOB'S LADDER, BOB ROBERTS und THE PLAYER kamen erst danach. Und auch John Turturro hatte schon einige mittelgroße Rollen gespielt, aber sein endgültiger Durchbruch, vor allem mit MILLER'S CROSSING und BARTON FINK von den Coen-Brüdern, erfolgte erst nach FIVE CORNERS. Tony Bill und der für das Casting zuständige Doug Aibel hatten also ein gutes Händchen, und zwar nicht nur, was die zukünftigen Star-Qualitäten ihrer Darsteller betraf, sondern auch in Bezug auf ihre schauspielerischen Fähigkeiten. Sie sind nämlich alle famos in ihren Rollen. Das gilt auch für Todd Graff, der als der etwas zappelige, aber sehr mutige James keineswegs hinter seine heute bekannteren Kollegen zurückfällt. Auch die Chemie untereinander stimmt, und so ergibt sich eine sehr erfreuliche Ensemble-Leistung. Wenn man aber einen herausgreifen müsste, dann wohl Turturro, denn sein Heinz ist eine Schau. Mit flackerndem Blick und gelegentlich linkischen Bewegungen, wirkt er doch nie lächerlich, und am Ende hat man fast noch Mitleid mit dem Monster.

Nächtliches Rendezvous am Brunnen (mit Pinguin im Sack)
FIVE CORNERS ist durch und durch amerikanisch, und doch ist es offiziell ein britischer Film, denn produziert wurde er von George Harrisons HandMade Films. Diese Firma entstand aus der Not heraus, aber nicht Harrisons Not, sondern die der Monty Pythons. Die steckten gerade in der Produktion von LIFE OF BRIAN, da las irgendjemand bei der EMI, die den Film eigentlich produzieren sollte, das Drehbuch, bekam einen gehörigen Schreck, und der Konzern zog sich aus der Finanzierung zurück. Der ganze Film stand nun auf der Kippe, da sprang der Ex-Beatle und Monty-Python-Fan Harrison ein. Mit seinem damaligen Finanzberater und Geschäftspartner Denis O'Brien gründete er HandMade Films, und die Firma produzierte in den darauffolgenden zehn Jahren nicht nur LIFE OF BRIAN, sondern eine ganze Reihe von meist hochkarätigen britischen Filmen (etliche davon mit Bob Hoskins und/oder Maggie Smith in Hauptrollen). FIVE CORNERS ist einer der wenigen "Ausflüge" von HandMade Films über den großen Teich, und Harrison und O'Brien sind denn auch die Executive Producers (also die mit der dicken Geldbörse) des Films. Nach ungefähr einem Jahrzehnt verlor Harrison das Interesse am Filmgeschäft, außerdem verkrachte er sich mit O'Brien, und so stellte HandMade Films vorübergehend die Tätigkeit ein und wurde dann an die kanadische Paragon Entertainment Corporation verkauft. Deren Logo ziert nun (zumindest auf meiner DVD) den Vorspann von FIVE CORNERS, ohne dass diese Firma etwas mit der Entstehung des Films zu tun gehabt hätte.

Bigfoot Sullivan - nomen est omen
Der 1940 in San Diego geborene Tony Bill war und ist (in dieser zeitlichen Reihenfolge und teilweise überlappend) Schauspieler (z.B. in ICE STATION ZEBRA und SHAMPOO), Produzent (zusammen mit zwei Kollegen Oscar für THE STING als bester Film) und Regisseur. FIVE CORNERS ist sein dritter Kinofilm als Regisseur. Es folgten noch einige mehr, aber seit Mitte der 90er Jahre hat er fast nur noch für das Fernsehen gearbeitet.

Heinz hat eine Aussprache mit seiner Mutter
Die Mischung eines schwerwiegenden Themas wie den Morden an den Bürgerrechtlern mit so skurrilen bis bizarren Figuren und Ereignissen wie in FIVE CORNERS ist vielleicht nicht jedermanns Sache, ich finde sie aber überaus gelungen. FIVE CORNERS ist ein sehr sympathischer und kurzweiliger Film! In Deutschland ist er auf zwei verschiedenen DVDs erschienen, in den USA gibt es ihn auch auf Blu-ray.

Finale auf dem Dach

Montag, 20. Juni 2016

Ein toter Soldat und ein toter Radfahrer – Tony Scotts frühe Filme

ONE OF THE MISSING
UK 1969
Regie: Tony Scott
Darsteller: Stephen Edwards (James Clavering)


Im August 1863, im Süden Georgias, während des amerikanischen Bürgerkriegs: der Soldat James Clavering wird zur Aufklärung in Feindesgebiet geschickt. Dort versteckt er sich in einer Häuserruine und beobachtet eine feindliche Einheit, die sich gerade zum Aufbruch bereit macht. Deren Artillerie verschießt kurz vor dem Weiterziehen eine überflüssige Kanonenladung und der Schuss trifft ausgerechnet die Ruine, in der sich James versteckt hat. Der Aufklärungssoldat wird unter einem Haufen Trümmer vergraben. Als er wieder aufwacht, kann er sich unter dem Geröll kaum bewegen – schlimmer: sein eigenes Gewehr, ebenfalls begraben unter Trümmern, ist direkt auf ihn gerichtet. In dem Versuch, sich aus dem Schutt zu befreien, ohne dabei das Gewehr zum Abschuss zu bringen, verliert James nach und nach den Verstand...

James Clavering in Aufklärungsmission. Ein feindlicher Kanonenschuss bringt
ihn in eine missliche Lage. (Der Soldat im Vordergrund oben rechts wird
übrigens von Ridley Scott gespielt)
1969 war der 25-jährige angehende Maler Anthony Scott ein Absolvent des Sunderland Colleges und belegte am Leeds College of Art einen Malerei-Lehrgang. In dieser Zeit trat der Künstler an den BFI Production Board heran, um sein erstes Filmprojekt, eine Adaption der Kurzgeschichte „One Of The Missing“ von Ambrose Bierce, zu finanzieren. Das British Film Institute vergab schon seit Anfang der 1950er Jahre Zuschüsse an junge Regisseure und genehmigte Scott 750 £ (die Summe wurde später auf 1100 £ erhöht) für seinen ersten Film ONE OF THE MISSING.

Scott fungierte als Regisseur, Produzent, Autor, Kameramann und Cutter. Seine Schauspieler waren allesamt Laien, die meisten von ihnen, inklusive Hauptdarsteller Stephen Edwards, Kommilitonen Scotts am Leeds College of Art. Auch Scotts älterer Bruder Ridley wirkte als Darsteller (als einer der gegnerischen Soldaten) mit. In dessen Debütfilm BOY AND BICYCLE, gedreht 1961/62, veröffentlicht 1965, hatte Tony selbst wiederum die Hauptrolle gespielt.
ONE OF THE MISSING wurde an der Filmabteilung des Leeds College fertig gestellt und erlebte seine Premiere im Januar 1969 am National Film Theatre in London. Der nicht einmal 30 Minuten lange Film wurde zu einem kleinen Hit: er gastierte auf 19 Filmfestivals und räumte dort auch zahlreiche Preise ab. Ein 35mm-Blowup (der Film wurde auf 16mm gedreht) kam schließlich in die britischen Kinos.

James gerät zunehmend in Panik
Ein britischer Kunststudent dreht einen im Amerikanischen Bürgerkrieg angesiedelten Film – und nannte einen Ungarn als größte Inspirationsquelle! Es scheint merkwürdig, dass Tony Scott, bekannt als Blockbuster-Regisseur von Hollywood-Actionfilmen, in Interviews in den späten 1960er Jahren ausgerechnet Jancsó Miklos als Vorbild nannte. Die Ähnlichkeiten liegen aber auf der Hand: in ONE OF THE MISSING wie in vielen Jancsó-Filmen laufen uniformierte Männer durch eine leere und merkwürdig abstrakte Landschaft, die zwar historisch datiert ist, aber auch völlig von Zeit und Ort enthoben zu sein scheint. Mit viel Vorstellungskraft kann man ONE OF THE MISSING als Western sehen, doch die Verortung der Situation im Amerikanischen Bürgerkrieg spielt im Grunde keine Rolle – genauso wie es auch bei Jancsó zwischen dem Post-1848-Ungarn, dem antiken Griechenland und Russland während des Bürgerkriegs nur sehr graduelle Unterschiede gibt. Jancsós SZEGÉNYLEGÉNYEK („The Round-Up“ / „Die Hoffnungslosen“), in dem Gefangene in der ungarischen Steppe nach 1848 systematisch schikaniert, gefoltert und getötet werden, lief tatsächlich im November 1966 in den britischen Kinos. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass Scott ihn in dieser Zeit sah. Neben der abstrahierten Handlung teilt ONE OF THE MISSING eine Besonderheit mit SZEGÉNYLEGÉNYEK: die zirpenden Vögel als Soundkulisse.

„Narrative frustrates me. I would like to move away from it to create an inner continuity of mood, to use costume and landscape the way Jancso does.“ Hier liegt nach Ignatiy Vishnevetsky, dessen großartigen und zutiefst leidenschaftlichen Artikel „Smearing the Senses: Tony Scott, Action Painter“ ich schon in anderen Artikeln bei Whoknows Presents zitierte, auch trotz der äußerlichen Unterschiede die Gemeinsamkeiten Jancsós und Scotts: die Abstrahierung der Handlung durch halluzinatorische Bilder – was Scott, so Vishnevetsky, in den viel geschmähten Filmen seiner späten „abstrakt-impressionistischen“ Phase erreichte (ENEMY OF THE STATE, SPY GAME, MAN ON FIRE, DOMINO, DÉJÀ VU, THE TAKING OF PELHAM 1 2 3). Und vielleicht tatsächlich gegen Ende von ONE OF THE MISSING.

James verliert schließlich den Verstand – und stirbt.
Die Unterschiede liegen bei ONE OF THE MISSING trotzdem noch etwas deutlicher auf der Hand: hier gibt es keine kunstvoll choreografierten, „tanzenden“ Plansequenzen wie bei Jancsó, sondern eher viele kurze Tableaus, ab und zu kleine Schwenks und langsame Zoom-Ins und Zoom-Outs. Abgesehen von einigen Wortfetzen im Hintergrund hat ONE OF THE MISSING keine Dialoge. Musik, in Form elektronisch verfremdeter Akkorde, gibt es nur bei den kurzen Träumen bzw. Visionen des Soldaten. Das Sound-Design des Films ist nichtsdestotrotz bemerkenswert. Erwähnt wurde bereits das Vogelgezwitscher in den Eingangsszenen, als James Clavering durch den Wald schleicht: das wirkt durch die Waldkulisse weniger befremdlich als in Jancsós SZEGÉNYLEGÉNYEK (wo das Vogelgezwitscher besonders irritierend ist, weil: wo soll es denn Waldvögel in der nackten Steppe geben), aber dennoch extrem stilisiert. Als der Soldat unter den Trümmern begraben wird, kommt das entnervende Geräusch summender Fliegen hinzu: die Idylle der singenden Vögel war eine illusorische Idylle, jetzt übernehmen die Fliegen (die für Verfall stehen). Als der Soldat zunehmend verzweifelt und den Verstand verliert, kommt sein eigenes Stöhnen, schließlich sein Schreien hinzu.

Mit dem zunehmenden Wahnsinn löst sich ONE OF THE MISSING nach und nach auf. Zunehmend schnelle Schnittfrequenz und die verzweifelt „suchenden“ Point-of-View-Shots münden schließlich darin, dass sich die Kamera, den Soldaten im Visier, wild um die eigene Achse dreht. Die Bildauflösungen des späten, „abstrakt-impressionistischen“ Scotts, etwa in MAN ON FIRE und besonders in DOMINO, sind also wenn man will schon in ONE OF THE MISSING angelegt.


LOVING MEMORY
UK 1971
Regie: Tony Scott
Darsteller: Rosamund Greenwood (die alte Frau), Roy Evans (Ambrose), David Pugh (der junge tote Mann)



In LOVING MEMORY von 1971 ist ein anderer, späterer Film Scotts auch thematisch bereits vorweggenommen, aber dazu gleich mehr...

Ein tödlicher Unfall leitet eine außergewöhnliche Begegnung ein...
Ein junger Mann, der offensichtlich einen Botenjob hat, schwingt sich mit seiner Fracht (einer Packung Eier) auf‘s Fahrrad und radelt beschwingt los. Auf der Landstraße gerät er jedoch in einen Unfall, wird von einem Auto überfahren und ist sofort tot. Die Insassen des Autos (ein altes Paar) steigen aus, begutachten nicht sonderlich schockiert, aber dennoch etwas traurig den toten Radfahrer und verfrachten seinen Leichnam ins Auto. Ambrose und die alte Frau, deren Namen wir nicht erfahren, leben auf einem abgeschiedenen Landhaus. Er arbeitet tagsüber irgendetwas in einer Mine (offensichtlich als Ein-Mann-Unternehmen) und sie kümmert sich um den Haushalt – und nun auch um den neuen „Gast“. Den toten Radfahrer platziert sie nämlich auf einen Sessel in der Dachkammer.

Hier beginnt nun die rührend-traurige Beziehung zwischen dem toten Radfahrer und der alten Frau. Sie kann den jungen Mann von Anfang an gut leiden, denn er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit James! James ist ein Verwandter der älteren Dame (ob älterer Bruder, jüngerer Bruder oder gar Sohn, bleibt unklar) und sie lässt es sich nicht nehmen, ihrem „Gast“ vieles von James zu erzählen. Wie er in den Krieg zog (welcher Weltkrieg wird nicht klar: LOVING MEMORY spielt nicht in einer eindeutig bestimmbaren Zeit) und sein Flugzeug abgeschossen wurde – den Propeller des abgeschossenen Flugzeugs nahm der Kriegsversehrte dann mit nach Hause und hing ihn an der Decke der Dachkammer auf. Dann wurde James krank und starb schließlich. Die alte Dame sagt nicht sterben, sondern: „He slept for a long time before Ambrose took him up the hill.“ James lag also möglicherweise mehrere Tage tot im Haus, bevor er von Ambrose auf einem Hügel in der Nähe begraben wurde (offensichtlich ohne jegliche vorangehende Meldung an die Behörden).

Die alte Frau kümmert sich auf rührende Weise um ihren Gast:
wäscht ihn, trinkt mit ihm Tee, sieht sich mit ihm alte Fotoalben an...
Traurig – aber kein Grund, die Laune des neuen „Gasts“ zu vermiesen. Liebevoll bringt sie ihm jeden Morgen eine Tasse Tee (die er, seinem Zustand verschuldet, nicht austrinken kann – und deshalb sammeln sich zu seinen Füßen immer mehr unberührte Teetassen). Die alte Dame kramt auch Fotoalben von James hervor, der offenbar ein guter Hobby-Fotograf war und erzählt dem toten Radfahrer Geschichten zu den Bildern. Gleich zu Beginn leiht sie dem toten jungen Mann auch James‘ Kleidung aus, da seine ja wegen des Unfalls dreckig und zerrissen ist. Seine Brille ist zersprungen, und deshalb bekommt er James‘ Brille ausgeliehen. Die alte Frau ist von der Ähnlichkeit ihres „Gastes“ zu James so sehr hingerissen, dass sie ihm später auch James‘ Armeeuniform ausleiht. Schließlich scheint die alte Frau etwas verwirrt zu werden und beginnt irgendwann, ihren neuen Gast „James“ zu nennen. Doch die Stunde hat geschlagen, in der Ambrose den toten Radfahrer „up the hill“ bringt. Die alte Frau versucht zwar, den Flugzeugpropeller an der Decke so zu manipulieren, dass Ambrose davon, wenn er den jungen Mann abholt, erschlagen wird, aber das klappt nicht so wirklich. Und so wird denn auch der tote Radfahrer in einem Wäldchen auf einem naheliegenden Hügel neben James begraben...

...währenddessen arbeitet Ambrose tagsüber in einer Mine
– und bereitet nach der Arbeit den Sarg für den Hausgast vor.
Vielleicht eines vorweg: so unfassbar düster-morbide und latent pervers LOVING MEMORY auch klingen mag – er ist es nicht. Scott gelingt das kleine Wunder, diese heikle Geschichte überaus würdig, pietätsvoll und ohne jegliche Vulgarität als melancholische, platonische Romanze zu inszenieren. LOVING MEMORY, gedreht in den Moorlandschaften der nordenglischen Grafschaft Yorkshire, war der erste Film von Scott Free Films, der gemeinsamen Produktionsgesellschaft der Gebrüder Ridley und Tony Scott, die noch heute existiert. In Teilen wurde der Film von Memorial Enterprises des britischen Schauspielers Albert Finney finanziert, der kurz zuvor auch Lindsay Andersons IF.... produziert hatte. Albert Finney hatte tatsächlich ONE OF THE MISSING gesehen und sich entschieden, Scotts zweiten Film zu produzieren. Den größten Teil der Finanzierung (der Film kostete 12.000 £) übernahm jedoch das British Film Institute mit etwa 8.000 £. Davon kam das meiste aus dem Vivian Leigh Award – ein Spendentopf zur Unterstützung junger Filmemacher, den der BFI bei einer Galavorstellung von GONE WITH THE WIND zu Ehren der kürzlich verstorbenen Vivian Leigh gesammelt hatte.

LOVING MEMORY hatte wie Scotts erster Film seine Premiere am National Film Theatre in London und wurde darauf in die Kritikerwochen des Cannes-Festivals 1971 aufgenommen. Bei Filmfestivals lief er mit gutem Erfolg, kam in Großbritannien jedoch nicht in die Kinos. Die nekrophile Thematik des Films galt den hiesigen Verleihen wohl als zu heikel. Des weiteren war LOVING MEMORY mit seiner Laufzeit von 52 Minuten schwer vermarktbar: zu lang für einen Kurzfilm und zu kurz für einen „richtigen“ abendfüllenden Langfilm. Mit Ausnahme der englisch-sprachigen Episode L‘AUTEUR DE BELTRAFFIO (in der Rosamund Greenwood auch mitspielte) für die französisch-britische TV-Serie NOUVELLES DE HENRY JAMES im Jahr 1976 wandte sich Tony Scott für lange Zeit vom narrativen Film ab und drehte Werbespots für Scott Free Films. Sein nächster Kinofilm (und erster „abendfüllender“ Film), THE HUNGER mit David Bowie, Catherine Deneuve und Susan Sarandon, kam erst 1983 heraus – zugleich seine Eintrittskarte für Hollywood.

Der Arbeitstitel von LOVING MEMORY lautete EARLY ONE MORNING, und im Gegensatz zu ONE OF THE MISSING wirkte nun eine professionelle Filmcrew mit. Gefilmt wurde auf 35mm. Scott selbst übernahm wieder einen Teil der Fotografie, doch der überwiegende Teil wurde von Chris Menges gefilmt, der Ken Loachs KES fotografiert hatte und später in Großbritannien wie auch in Hollywood zum begehrten DoP wurde. Die Bilder von LOVING MEMORY sind schwelgerisch, nostalgisch, teilweise etwas überbelichtet, mit eher schwachen Kontrasten – sicherlich einer der Gründe dafür, weshalb der Film praktisch keinerlei Gedanken zulässt, dass man einem Horrorfilm oder etwas wirklich Bedrohlichem zuschaut. Nachdem der „Gast“ in dem Sessel in der Dachkammer installiert wurde, gibt es auch nur noch selten harte Schnitte, sondern fast nur noch Überblendungen, die eine Szene in die nächste sanft fließen lassen.

James' Geist beherrscht das Haus und die Gedanken der alten Dame.
LOVING MEMORY hat überhaupt keine extradiegetische Musik. Nur zwischendurch legt die alte Frau eine Schallplatte mit dem Standard „Button Up Your Overcoat“ – ein beschwingt heiteres Lied, das atmosphärisch ganz im Kontrast zur traurig-melancholischen Atmosphäre des Films steht (besonders am Ende, als es dann einen Teil der Beerdigung begleitet). LOVING MEMORY hat im Grunde auch keine richtigen Dialoge: die alte Frau spricht lediglich lange Monologe, auf die der tote Radler naturgemäß nichts antworten kann. Die Monologe gehen teils auch bei Szenenwechsel einfach weiter und bilden so etwas wie einen roten Faden, eine Art Voice-Over. So umfassend die Kommunikationsbereitschaft der alten Dame gegenüber ihrem toten „Gast“, so wortkarg ist sie gegenüber Ambrose (der selbst während des ganzen Films nicht ein Wort sagt). Verstehen sich die beiden auch so ohne Worte gut? Oder lauern da tiefe Abgründe (wie ihr – man muss es ja im Grunde so nennen – Mordanschlag auf ihn am Ende des Films vermuten lässt)?

Irgendwie scheint es für die meisten Leute, die über den Film schreiben, völlig klar zu sein, dass die alte Dame und Ambrose Geschwister sind – ich sehe dafür im Film selbst keine konkreten Hinweise (sollte ich eine kleine Nuance in den Monologen bzw. in den Untertiteln verpasst haben, bitte ich das Folgende zu ignorieren oder zumindest nicht auf die Goldwaage zu legen). Auf Anhieb wäre es meiner Meinung nach tatsächlich naheliegend, die alte Frau und Ambrose als Ehegatten zu sehen – und James, von dem sie erzählt, als ihr verstorbener Sohn. Über direkte Verwandtschaftsverhältnisse spricht die alte Frau nur in Bezug auf „mom“ und „dad“, die sie kurz erwähnt, und die James auch kannte – aber keine Hinweise, dass es auch Ambroses und James‘ Eltern waren. So bleibt der einzige, aber nicht film-immanente Hinweis das Exposé, das Scott dem BFI Production Board mit dem Finanzierungsantrag vorlegte, und in dem es heißt, dass James der ältere Bruder von Ambrose und „Jessica“ (so der Name der Frau im Entwurf) gewesen sei. Das im Film wirklich festzumachen, scheint mir fast unmöglich, zumal LOVING MEMORY von jeglicher Zeit enthoben zu sein scheint. Die Handlung könnte in den späten 1930er ebenso angesiedelt sein wie in den späten 1950er Jahren. James‘ Geist, von dem die alte Frau geradezu beseelt ist, bleibt zeitlos: seine Fotografien sind irgendwie alt – aber wie alt? Der junge Mann, der James einmal war – wie alt wäre er in der Jetztzeit der Filmhandlung? Zeit ist in LOVING MEMORY, ebenso wie die verwandtschaftlichen Beziehungen der Figuren, relativ und auch dehnbar, teils aufgehoben. Dazu trägt auch bei, dass alles im Film zirkular zu verlaufen scheint: ein Kreislauf aus Tod, kurzzeitige Wiederauferstehung und Beerdigung. Manche Bilder und kleine Handlungen werden immer wieder reimhaft wiederholt: Ambrose, der eine Pendeluhr im Wohnzimmer aufzieht, die alte Frau, die eine alte Platte auflegt oder verträumt aus dem Fenster schaut, und natürlich ihre vielen „Gespräche“ mit dem Radler in der Dachkammer.

Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen einer alten Frau und einem toten jungen Mann...
Ein eher dem Arthouse zuzurechnender Film über eine verwirrte alte Frau, die mit einer Leiche spricht: das würden wohl wenige von Tony Scott erwarten, der in den 1980er, 1990er und 2000er Jahren adrenalinpumpende Hollywood-Actionfilme drehte. Oder doch...? LOVING MEMORY ist auch eine nekrophile Romanze über eine alte Frau, die von einer unerotischen, aber zumindest schwesterlichen oder mütterlichen Liebe zu einem toten jungen Mann ergriffen wird und durch die Schaffung einer besonderen Situation dessen Tod zu überwinden versucht. 35 Jahre später drehte Tony Scott eine weitere nekrophile Romanze, diesmal über einen Mann, der sich in eine tote Frau verliebt (hier allerdings durchaus in einem erotischen Sinne) und anschließend alle menschenmöglichen und technologischen Mittel aufwendet, um ihren Tod zu überwinden: DÉJÀ VU.

...variiert in DÉJÀ VU:
Doug verliebt sich in die tote Claire am Autopsietisch, entwickelt eine
Obsession für ihre Bilder und rettet sie schließlich mit einer High-Tech-Kamera.
DÉJÀ VU von 2006 gehört zur Reihe der oft stark geschmähten Scott-Filme aus seiner späten, „abstrakt-impressionistischen“ Phase. Er wurde gescholten als völlig misslungene Aufarbeitung nationaler US-Traumata (9/11, Katrina, teils der Anschlag von Oklahoma City von 1995), als Zeitreisefilm mit lächerlich vielen Logiklöchern, als vulgäre Ausbeutung der Folgen von Katrina – am Ende distanzierte sich Scott selbst teilweise von dem Film, indem er seine Inszenierung als „mediocre“ bezeichnete. Dennoch: mit DÉJÀ VU drehte Scott tatsächlich seinen VERTIGO (der deutsche Untertitel des Hitchcock-Films „Aus dem Reich der Toten“ würde zu Scotts Film sogar noch besser passen als das schnöde „Wettlauf gegen die Zeit“ – den Vergleich ziehe ich übrigens nicht als erster, siehe hier und hier). Im Kontext von Scotts eigenem Werk wirkt DÉJÀ VU aber tatsächlich wie eine Variation von LOVING MEMORY – mit Explosionen, Zeitreisemaschinen, Verfolgungsjagden in doppelten Zeitebenen und einem kleinen Gender-Switch (Denzel Washington statt Rosamund Greenwood sowie Paula Patton statt David Pugh). Die wichtigste Änderung dürfte die sein, dass der Tod am Ende überwunden werden kann, und das nicht nur unbedingt, weil Doug eine etwas dynamischere Figur ist als die fatalistische alte Frau, sondern weil er ein anderes Medium als sie nutzt, um seine geliebte Person zu erreichen. Sie hatte nur die mündliche Erzählung, er hat hingegen eine komplexe Vergangenheitsüberwachsungsapparatur, die nicht umsonst ein wenig an eine Kinokamera erinnert (diese Analogien, auch zum voyeuristischen Aspekt des Filmens, sind in DÉJÀ VU nicht besonders subtil oder gar versteckt inszeniert – wurden aber wohl trotzdem von vielen übersehen, die nur die „Logiklöcher“ des Zeitreiseszenarios in ihre Strichliste eintrugen). Die alte englische Frau kann tatsächlich nur einen toten Körper mit einer Erzählung über und vielen Erinnerungen an einen anderen toten Mann zu beleben versuchen. Doug hingegen rettet seine geliebte Claire tatsächlich mit einer Kinokamera: aus dem toten Körper wird ein Bild der Frau aus der (parallelen?) Vergangenheit und aus dem Bild später wieder ein lebender Mensch... DÉJÀ VU ist daher nicht nur ein „Remake“, ein Sequel, eine auteuristische Variation, sondern eben auch die Vollendung von LOVING MEMORY.

LOVING MEMORY ist als Hauptfilm zusammen mit ONE OF THE MISSING und Ridley Scotts BOY AND BICYCLE als Bonusfilme auf einer wunderschönen DVD-Blu-ray-Dual-Edition des British Film Institutes erschienen. Bild und Ton sind zumindest auf der DVD exzellent (die Blu-ray kann ich nicht beurteilen), aber trotzdem nicht zur Sterilität kaputt restauriert. Als Beigabe gibt es ein Booklet mit zwei Essays (über die frühen Filme von Tony und Ridley Scott sowie über deren Arbeitsbeziehung zum British Film Institute), aus denen ich einige Infos zu den Produktionsumständen entnommen habe. Das Büchlein wird mit einem Artikel aus dem Magazin „Time Out“ von 1970 mit einigen O-Tönen von Tony Scott sowie je einem Faksimile von Scotts Exposé zu LOVING MEMORY und einer Seite aus dem Drehbuch von BOY AND BICYCLE ergänzt.
DÉJÀ VU ist in vielen DVD-Editionen erhältlich. Egal welche Edition: ein Double-Feature mit LOVING MEMORY wird von mir wärmstens empfohlen!

Sonntag, 12. Juni 2016

Randnotiz: Antisozialistischer Realismus, oder: Der erste Hottentotte im Weißen Haus

Keine Angst: Der Titel ist nicht als Provokation gegen den politischen Korrektheitsfimmel gedacht, oder gar als Beleidigung des amtierenden US-Präsidenten. Er wirft aber ein etwas schlechtes Licht auf einen seiner Amtsvorgänger.

Doch machen wir zunächst einen Abstecher in die Sowjetunion der 30er bis 50er Jahre. Da war in diesem Zeitraum (und in abgeschwächter Form auch noch danach) der sogenannte Sozialistische Realismus die staatlich verordnete Doktrin, die alle Künste (einschließlich des Films) durchdrang. Gefordert wurde eine "einfache", für die gesamte Bevölkerung verständliche Kunst mit positiven Identifikationsfiguren, die durch ihre Vorbildfunktion einen Beitrag zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft leiste. Zur Veranschaulichung hier ein Auszug aus den 1934 verabschiedeten Statuten des Schriftstellerverbands (zitiert nach Wikipedia):
Der sozialistische Realismus als Hauptmethode der sowjetischen künstlerischen Literatur und Literaturkritik, fordert vom Künstler wahrheitsgetreue, historisch konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung. Wahrheitstreue und historische Konkretheit der künstlerischen Darstellung müssen mit den Aufgaben der ideologischen Umformung und Erziehung der Werktätigen im Geiste des Sozialismus abgestimmt werden.
Offiziell eingeführt wurde der Sozialistische Realismus 1932, doch abgezeichnet hatte sich das schon etwas länger. So konstatierte schon 1927 das Sekretariat des Zentralkomitees: "Das Kino bleibt hinter den ernsthaften Bedürfnissen der Massen zurück, popularisiert nicht ausreichend die Losungen der Partei und der Sowjetmacht und bildet die neue Lebensordnung nur schwach ab.". Und als im März 1928 die erste Parteikonferenz zu Kinofragen stattfand, hieß es in der dort beschlossenen Resolution:
Die Kunst in den Händen des Proletariats besitzt sehr reiche Mittel, um die Gefühle, Stimmungen und Gedanken der Massen in Besitz zu nehmen, um den zurückgebliebensten Schichten der Werktätigen, besonders auf dem Dorf, die Perspektiven und Aufgaben des sozialistischen Aufbaus verständlich zu machen, um sehr überzeugend die entstehenden und sich entwickelnden sozialistischen Elemente in den gesellschaftlichen Beziehungen, in der Lebensweise, in der Psyche der menschlichen Persönlichkeit zu zeigen, um ein sehr scharfes Mittel des Proletariats im Kampf gegen feindliche, sich widersetzende Kräfte des Alten zu sein.
Zwar hieß es darin auch noch:
In den Fragen der künstlerischen Form kann die Partei keinerlei besondere Unterstützung der einen oder anderen Strömung, Richtung oder Gruppierung leisten. Sie lässt den Wettbewerb zwischen den verschiedenen formal-künstlerischen Richtungen und die Möglichkeit zum Experiment zu [...].
Doch das wurde dahingehend eingeschränkt, dass "das Kino eine Form, die den Millionen verständlich ist", haben solle.

Hochrangige Politiker wie Boris Schumjazki und etwas später Andrej Schdanow kritisierten Sergej Eisenstein, Wsewolod Pudowkin, Alexander Dowschenko, Lew Kuleschow, Grigori Kosinzew und Leonid Trauberg, Dsiga Wertow und weitere Vertreter der weltweit bewunderten sowjetischen Montage-Schule, sowie in der bildenden Kunst die Vertreter von Konstruktivismus und verwandten Strömungen, weil ihre Kunst für die breite Masse zu kompliziert, ja völlig unverständlich sei und somit keinen angemessenen Beitrag zum Aufbau der Gesellschaft leiste. In Literatur und Musik gab es analoge Tendenzen. Zusammengefasst wurden die Vorwürfe unter dem Schlagwort des Formalismus. Ein Künstler, der weiterhin dem Formalismus frönte, war zunehmend supekt, schließlich "bourgeois", ja sogar "reaktionär" oder "konterrevolutionär". Gewünscht waren dagegen heroische Filme wie TSCHAPAJEW (1934) und Komödien (gerne mit Musik). "Die siegende Klasse will freudig lachen", war ein Wahlspruch von Schumjazki, von 1930 bis zu seinem jähen Sturz im Januar 1938 der oberste sowjetische Filmfunktionär.

Bezeichnend auch dieses Zitat des hochrangigen Kulturfunktionärs Georgi Antonowitsch Donderow:
Formalistische Kunst ist reaktionär, weil sie verzerrt und hässlich ist, weil sie unser schönes Land, unsere freudigen und lächelnden Menschen und unseren materiellen Fortschritt nicht verherrlicht. Kunst, die unser schönes Land nicht verherrlicht, in geradlinigen einfachen Formen, die jeder versteht, erzeugt Unzufriedenheit. Sie ist deshalb im Gegensatz zur Partei, und diejenigen, die sie fördern, sind Feinde.
Doch halt - Kommando zurück! Soeben habe ich nämlich massiv geschummelt. Das letzte Zitat stammt überhaupt nicht von dem (fiktiven) Georgi A. Donderow, sondern vom (real existiert habenden) George A. Dondero, seines Zeichens republikanischer Abgeordneter für Michigan im Repräsentantenhaus, und damals (1947-49 und 1953-55) auch Vorsitzender des Committee on Public Works. Und das Zitat lautet auch etwas anders, nämlich so:
Moderne Kunst ist kommunistisch, weil sie verzerrt und hässlich ist, weil sie unser schönes Land, unsere freudigen und lächelnden Menschen und unseren materiellen Fortschritt nicht verherrlicht. Kunst, die unser schönes Land nicht verherrlicht, in geradlinigen einfachen Formen, die jeder versteht, erzeugt Unzufriedenheit. Sie ist deshalb im Gegensatz zu unserer Regierung, und diejenigen, die sie fördern, sind Feinde.
Um dem möglicherweise aufkommenden Verdacht einer tendenziösen Übersetzung zu begegnen, hier der Originalwortlaut:
Modern art is Communistic because it is distorted and ugly, because it does not glorify our beautiful country, our cheerful and smiling people, our material progress. Art which does not glorify our beautiful country in plain simple terms that everyone can understand breeds dissatisfaction. It is therefore opposed to our government and those who promote [in einer anderen Quelle steht create statt promote] it are our enemies.
Huch! Die strukturelle Gleichheit der Gedanken von Dondero und seinen sowjetischen Kollegen wie Schdanow ließ mich spontan den Begriff Antisozialistischer Realismus für Donderos Wunschvorstellungen (für die er eine Goldmedaille des International Fine Arts Council erhielt - kein Witz!) erfinden. Ob Dondero wohl die Ironie in dieser Äquivalenz erkannte? Eher nicht. Er wurde tatsächlich einmal darauf angesprochen, von einer Kunstkritikerin der New York Herald Tribune. Darüber geriet er so in Rage, dass er dafür sorgte, dass die Kritikerin von ihrer Zeitung gefeuert wurde.

Dondero war nicht der einzige seiner Couleur. Besonders deutlich zeigte sich das 1946/47, als der Kalte Krieg gerade entbrannte. Damals hatte das amerikanische Außenministerium eine bemerkenswerte Idee: Es sollte eine Ausstellung moderner amerikanischer Kunst zusammengestellt und auf Tournee ins Ausland geschickt werden. Der Zweck war ein doppelter: Das unter europäischen Intellektuellen verbreitete Vorurteil, die USA seien eine kulturelle Wüste, sollte widerlegt werden. Vor allem aber war die Ausstellung - zweitens - als Waffe im Kalten Krieg gedacht: Die Überlegenheit einer freien Entfaltung künstlerischer Kreativität - gerade im Vergleich zu den stereotypen Werken des sowjetischen Sozialistischen Realismus - sollte demonstriert werden. Und damit natürlich die Überlegenheit der westlichen Lebensweise überhaupt. Zu diesem Zweck wurden vom Außenministerium 117 Gemälde und Grafiken führender Vertreter der modernen US-Kunst angekauft. Nach der Premiere in New York im Oktober 1946 wurde die Ausstellung mit dem Titel Advancing American Art in zwei Hälften geteilt und auf Reisen geschickt. Der eine Teil gastierte zunächst in Paris und sollte dann durch Osteuropa touren, kam aber nur noch bis Prag. Der andere Teil, der die Karibik und Lateinamerika bereisen sollte, sah nur Kuba und Haiti, schaffte es aber nicht mehr bis Venezuela.

Denn der Schuss ging nach hinten los. Sogleich nach Beginn der Ausstellung meldete sich das amerikanische "gesunde Volksempfinden" zu Wort. Diese Kunst sei unamerikanisch und subversiv, glaubten viele Medien ihren Lesern mitteilen zu müssen, vor allem aber: Dieses merkwürdige Zeug, das sich frecherweise "Kunst" nennt, ist in Wirklichkeit natürlich überhaupt keine Kunst. Und viele Politiker sprangen auf diesen Zug auf. "I am just a dumb American who pays taxes for this kind of trash", beschwerte sich etwa ein Kongressabgeordneter. Und kein Geringerer als Präsident Truman fühlte sich auf einer Pressekonferenz zu folgender Erklärung bemüßigt: "Wenn das Kunst ist, dann bin ich ein Hottentotte" (If that's art, then I'm a Hottentot!).

Nun denn, so sei es. Da haben wir ihn also, den ersten Hottentotten im Weißen Haus.

Das Außenministerium zog die Notbremse und brach die Wanderausstellung ab. Die 117 Werke, die sich ja im Eigentum des Ministeriums befanden, wurden daraufhin an diverse Universitäten bzw. damit assoziierte Museen und andere öffentliche Einrichtungen verschleudert - es gab Preisnachlässe bis zu 95%. Beispielsweise ging ein Gemälde von Georgia O'Keeffe für rund 50 Dollar über den Ladentisch. - Vor einigen Jahren stemmten mehrere amerikanische Museen gemeinsam die Aufgabe, die glücklose Ausstellung wieder aufleben zu lassen. Immerhin 107 der 117 Werke wurden ausfindig gemacht und ausgestellt, nur von zehn fand sich keine Spur mehr (sie befinden sich wohl in Privatbesitz). Mindestens zwei Bücher (dieses und jenes) sowie der Katalog der neu aufgelegten Ausstellung berichten über dieses bemerkenswerte Kapitel amerikanischer Kulturpolitik.

Die Angelegenheit hatte noch ein lang andauerndes und einigermaßen bizarres Nachspiel. Denn das Außenministerium fand seine Idee nach wie vor gut und wollte daran festhalten. Aber offen ging das nun nicht mehr. Wen betraut man staatlicherseits mit einer geheimzuhaltenden Operation? Einen Geheimdienst natürlich. Und so wurde doch tatsächlich die CIA damit beauftragt, moderne amerikanische Kunst (und vor allem die besonders umstrittene Richtung des Abstrakten Expressionismus) zu fördern und zu protegieren. Und anders als bei den Contras in Nicaragua, afrikanischen und lateinamerikanischen Diktatoren und dubiosen Drogenbaronen durften hier auch die Geförderten nicht erfahren, aus welchen geheimen Kassen das Geld stammte, das ihnen zufloss. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ach ja, bevor ich es vergesse: Verkauft mir jemand ein Gemälde von Georgia O'Keeffe für 50 Dollar? Notfalls würde ich den Betrag auch verdoppeln ...

Donnerstag, 26. Mai 2016

Das Messer an Eisensteins Gurgel

Sergej M. Eisenstein in Hollywood

Preisfrage: Was verbindet Josef von Sternbergs AN AMERICAN TRAGEDY und Luis Trenkers DER KAISER VON KALIFORNIEN? Ganz einfach: Beide Filme wurden nicht von Sergej Eisenstein inszeniert.

Was zunächst idiotisch klingt, ergibt Sinn, wenn man weiß, dass Eisenstein 1930, als er bei der Paramount unter Vertrag stand, zu beiden Stoffen ein fertiges Drehbuch ablieferte, das aber jeweils vom Studio abgelehnt wurde. Letztlich drehte Eisenstein überhaupt keinen Hollywoodfilm - und das war nur einer der Tiefschläge, die er während und nach der langen Reise einstecken musste, die ihn von 1929 bis 1932 durch verschiedene europäische Länder, die USA und Mexiko führte.

Das im Titel angesprochene Messer an der Kehle kann mit etwas Fantasie als Sinnbild dafür dienen, auch wenn es sich in Wirklichkeit nur um eine harmlose Szene handelt. Es geht dabei um zwei Fotos, die zeigen, wie sich Eisenstein auf einem Balkon oder einer Dachterrasse eines Wolkenkratzers in New York einer Nassrasur unterzieht. Die beiden Bilder können bei oberflächlicher Betrachtung auch viel positiver interpretiert werden, und tatsächlich ist genau das auch geschehen. Im Begleitbuch zur DVD-Box Unseen Cinema. Early American Avant-Garde Film 1894-1941, die ich hier schon gelegentlich erwähnt habe, ist eines der beiden Fotos abgedruckt (das Büchlein ist nicht in der DVD-Box enthalten, sondern kann separat erworben werden). Und da steht unter dem mit "ca. 1930" datierten Bild Folgendes in der Bildunterschrift:
Sergei Mikhailovich must have been feeling on top of the world when Bourke-White snapped this picture.
Doch da wurde nicht sorgfältig genug recherchiert. Eisenstein kam am 12. Mai 1930 mit dem Schiff aus Europa in New York an, und Anfang Juni fuhr er nach Kalifornien ab, wo er dann bis zu seiner Weiterreise nach Mexiko blieb. In einem der beiden Bilder (nämlich dem, das auch im Booklet enthalten ist) ist im Hintergrund das fertige Empire State Building zu sehen. Wenn man dessen Baufortschritt nachvollzieht, erkennt man, dass die Aufnahme nicht im Mai/Juni 1930 entstanden sein kann. Tatsächlich entstanden die beiden Fotos im April 1932, als Eisenstein und seine beiden Begleiter nach dem erzwungenen Abbruch der Dreharbeiten in Mexiko nochmals nach New York kamen, um das Schiff nach Bremen zu nehmen. Die Umstände sind weitgehend überliefert. Die Fotografin Margaret Bourke-White hatte nach Eisensteins erster Ankunft in New York den Kontakt mit ihm gesucht, um Empfehlungsschreiben für eine bevorstehende Reportage-Reise in die Sowjetunion einzuholen. Bourke-White ist vor allem als Fotoreporterin in die Geschichte eingegangen, aber sie betätigte sich auch als Portraitfotografin, und zu diesem Zweck hatte sie seit 1930 ein Atelier im 61. Stock des Chrysler Building, das für kurze Zeit das höchste und dann (nach dem Bau des Empire State Building) für Jahrzehnte das zweithöchste Gebäude der Welt war. Und dort stattete Eisenstein der Fotografin, die ihre sowjetische Reise erfolgreich hinter sich gebracht hatte, bei seiner Rückreise noch einen Besuch ab. Bourke-White schenkte Eisenstein ein Exemplar ihres Fotobuches Eyes on Russia mit den Bildern aus der Sowjetunion mit einer originellen Widmung: "To Sergei Eisenstein, the only man to be shaved in my studio, 800 feet above the sidewalk - the highest shave to be received by any living man." Die Widmung trägt das Datum 7. April 1932, und zwischen dem 1. (Eisensteins Ankunft in New York) und dem 7. April muss somit die Rasur stattgefunden haben.

Man weiß nicht, warum sich Eisenstein ausgerechnet in so luftiger Höhe rasieren ließ (und der Name des Barbiers im weißen Kittel ist im Dunkel der Geschichte entschwunden), und Bourke-White machte die Fotos wahrscheinlich ohne besonderen Zweck - jedenfalls wurden sie anscheinend nicht zeitnah veröffentlicht. Ganz gewiss jedoch war Eisenstein damals nicht on top of the world - ganz im Gegenteil. Allerdings war ihm auch noch nicht die ganze Tragweite seiner Niederlage bekannt. Denn der Schriftsteller Upton Sinclair, der mit seiner Frau und einigen reichen Freunden Eisensteins mexikanisches Abenteuer finanziert und dann für beendet erklärt hat, hatte versprochen, das bis zum Abbruch der Arbeit gedrehte, äußerst umfangreiche Material unverzüglich nach Moskau zu schicken, damit es Eisenstein dort gemäß seinen eigenen Vorstellungen schneiden konnte. Und in New York war Eisenstein noch zuversichtlich, dass das auch so geschehen würde. Erst zuhause erfuhr er, dass Sinclair sein Versprechen brechen und das komplette Material einbehalten würde, was Eisenstein an den Rand des Nervenzusammenbruchs, wenn nicht gar an den Rand des Selbstmords brachte. Eisenstein sah sein mexikanisches Rohmaterial nie wieder.

Doch wie kam es überhaupt zu dieser langen Reise? Offizieller Zweck der Fahrt, die Eisenstein mit seinem Co-Autor und Co-Regisseur Grigori Alexandrow und seinem Kameramann Eduard Tissé unternahm, war es, sich über die Technik des Tonfilms zu unterrichten. Aber Eisenstein ging es mehr darum, möglichst viele interessante Leute kennenzulernen, und mindestens einen größeren Film im Ausland zu drehen - am besten in Hollywood. - Als Eisenstein 1922 am Moskauer Proletkult-Theater vom Bühnenbildner zum Regisseur befördert wurde, durfte er auch in einem Workshop Nachwuchskräfte unterrichten, und Grigori Alexandrow (1903-83) war einer seiner ersten Schüler. Schnell avancierte er vom Musterschüler zum Assistenten des Meisters. Bei allen Eisenstein-Filmen von STREIK bis zum unvollendeten ¡QUE VIVA MEXICO! schrieb Alexandrow mit am Drehbuch, war Regieassistent oder sogar als Co-Regisseur gelistet (obwohl Eisenstein natürlich immer die erste Geige spielte) und übernahm gelegentlich auch kleinere Rollen als Schauspieler. Durch die Fährnisse der langen Reise genervt, kühlte sein Verhältnis zu Eisenstein ab, und nach der Rückkehr nabelte er sich ab und wurde erfolgreicher Regisseur eigener Filme. Grischa, wie er von Freunden genannt wurde, verfügte über Charme und blendendes Aussehen. Oksana Bulgakowas Eisenstein-Biografie schildert ihn in seiner frühen Phase mit Eisenstein so: "Grischa hatte Erfolg bei allen - Frauen, Greisen, Kindern, Milizionären und später auch Millionären, war jedoch kein erotischer Abenteurer, auch kein erotischer Doppelgänger seines Lehrers [Eisenstein]. Er lebte streng monogam mit seiner Frau Olga Iwanowa aus der Proletkult-Truppe und war Eisenstein total ergeben." - Eisensteins erster Spielfilm STREIK war eine Coproduktion des Proletkult mit dem staatlichen Filmstudio Goskino. Während Eisenstein und Alexandrow abgesehen von der kurzen Extravaganz GLUMOWS TAGEBUCH von 1923 noch keine filmische Erfahrung hatten, war der aus Lettland stammende Eduard Tissé (1897-1961) ein bereits erfahrener Kameramann, der bei Goskino unter Vertrag stand und zu STREIK abgeordnet wurde - so kam er mit Eisenstein in Berührung. Auch sein Verhältnis zu Eisenstein litt etwas unter der Reise, aber die Arbeitsgemeinschaft blieb bestehen - außer bei GLUMOWS TAGEBUCH und IWAN DER SCHRECKLICHE stand Tissé bei sämtlichen Eisenstein-Filmen hinter der Kamera.

Am 19. August 1929 machte sich das Trio auf den Weg und kam zwei Tage später in Berlin an, wo man Visa für die USA beantragen konnte, was damals in Moskau nicht möglich war. Eisenstein hatte bereits eine Einladung von United Artists in der Tasche. Mary Pickford und Douglas Fairbanks, die beiden Mitgründer von United Artists (neben Chaplin und Griffith), reisten im Juli 1926 nach Moskau, um dem Wunderkind, das scheinbar aus dem Nichts kam und PANZERKREUZER POTEMKIN inszeniert hatte, ihre Aufwartung zu machen, und sprachen dabei das Angebot zu einer Zusammenarbeit aus. Der aus Russland stammende Produzent Joseph M. Schenck, damals Präsident von United Artists, kam im August 1928 nach Moskau, um mit Eisenstein zu verhandeln. Doch letztlich wurde nichts daraus. Das Trio hatte es überhaupt nicht eilig, in die USA zu kommen. Von Berlin aus machte Eisenstein allein oder mit den beiden Kollegen kürzere und längere Abstecher in die Schweiz, nach Belgien, Holland, England und Frankreich. Überall traf er interessante und berühmte Persönlichkeiten, hielt Vorträge, sah aktuelle europäische und amerikanische Filme. In Berlin besuchte Eisenstein auch mit Begeisterung Schwulen- und Transvestitenbars, mit Valeska Gert, die er schon aus Moskau kannte, als Begleiterin. Weil das Geld knapp war, versuchte das Trio, schon in der deutschen oder französischen Filmindustrie an Aufträge heranzukommen, aber außer den in der Schweiz bzw. Frankreich für unabhängige Produzenten gedrehten Filmen FRAUENNOT - FRAUENGLÜCK und ROMANCE SENTIMENTALE kam nichts dabei heraus. So gingen Monate ins Land, und mittlerweile gab es den Börsencrash am "Schwarzen Freitag", dem 25. Oktober 1929. In Verbindung mit den hohen Kosten für die Umstellung auf den Tonfilm mussten die Hollywood-Studios den Gürtel enger schnallen, und Joe Schenck schrieb Eisenstein, dass die Einladung von UA nicht mehr gültig war.

Die ersten Monate 1930 verbrachte die Reisegruppe vorwiegend in Frankreich. Die Reise schien ein kompletter Fehlschlag zu werden, was die Produktion eines größeren Films betrifft, da kam die (vorläufige) Rettung in Person von Jesse L. Lasky, dem Mitgründer von Paramount. Lasky war im April 1930 in Paris und bat Eisenstein zu sich. Schnell war man sich einig, und nachdem Eisenstein die Zustimmung seiner Vorgesetzten in Moskau eingeholt hatte, unterschrieb er noch in Paris am 30. April einen Vertrag mit der Paramount, der ihm freie Stoffwahl zusicherte. Sollte Eisenstein aber nicht innerhalb eines Vierteljahres ernsthaft mit den Arbeiten begonnen haben, würde das Vertragsverhältnis enden. Am 6. Mai, fast ein Drei­vier­tel­jahr nach Beginn der Reise, stachen Eisenstein, Tissé und Lasky in See (Alexandrow kam etwas später nach), und eine knappe Woche später waren sie in New York. Damals war Eisenstein tatsächlich on top of the world - er war von den Eindrücken ziemlich überwältigt.

Es wäre eine gute Idee gewesen, sich zügig für einen Stoff zu entscheiden und dann sofort mit der Arbeit am Drehbuch zu beginnen, doch wieder ließ sich Eisenstein Zeit. Schon auf der Fahrt nach Los Angeles legte er Zwischenstopps mit Empfängen und Besichtigungen ein und brauchte zehn Tage bis Kalifornien. Und dort fuhr er herum und sah sich die Gegend an, traf sich mit Regie-Kollegen, Schauspielern und allen möglichen Leuten, ließ sich mit Walt Disney und Mickey Mouse ablichten, machte Strandspaziergänge mit Salka Viertel, spielte regelmäßig Tennis mit Chaplin, und vertrödelte so wertvolle Zeit. Das Trio bekam jetzt von Paramount zusammen 900 Dollar pro Woche, nach damaliger Kaufkraft ein durchaus üppiges Gehalt, das bei Beginn der Dreharbeiten noch deutlich anwachsen würde, und sie mieteten ein Haus in Beverly Hills im spanischen Stil samt Köchin. Im Vergleich zu den Monaten in Europa und zum Alltag in der Sowjetunion war das Leben jetzt luxuriös. Paramount machte viel Publicity um Eisenstein, es gab aber auch eine negative Pressekampagne, die ein gewisser Major Frank Pease entfachte. Dieser sah in Eisenstein die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung am Werk, die nun auch Hollywood unterwandern wolle, und forderte Eisensteins unverzügliche Ausweisung. (Eisensteins Vater war ein zum orthodoxen Christentum konvertierter Jude deutscher Herkunft, und die jüdische Herkunft der meisten Hollywood-Moguln spielte in der Kampagne auch eine Rolle - offener Antisemitismus war damals in den USA salonfähig.) "Was haben Sie vor, wollen sie den amerikanischen Film in eine kommunistische Jauchegrube verwandeln?", fragte Pease etwa am 28. Juni im Motion Picture Herald, und er bezeichnete Eisenstein darin als "halsabschneiderischen roten Hund". 1930 hatten solche Leute wie Pease noch nicht soviel Einfluss wie zu McCarthys Zeiten 15 bis 20 Jahre später, doch er schaffte es, dass sich das Fish Committee, der Vorläufer des HUAC, mit Eisenstein befasste, wo nun ein Lieutenant Colonel Leroy F. Smith weiter Stimmung gegen die rote Gefahr auf dem Regiestuhl machte. Paramount sah sich unter Druck gesetzt.

Unterdessen überlegte Eisenstein, welchen Stoff er denn nun verfilmen sollte. Verschiedene Ideen, die er selbst hatte, oder die von Paramount an ihn herangetragen wurden, verwarf er schnell wieder. Schließlich entschied er sich zunächst für einen Stoff um ein futuristisches Hochhaus aus Glas. Die Idee dazu hatte er schon 1926, als er sich in Berlin mit Fritz Lang und Thea von Harbou über METROPOLIS unterhielt, und seitdem hatte das Thema in seinem Geist noch einige Metamorphosen durchgemacht. Doch dann kam er mit dem Drehbuch nicht recht voran, und Paramount war von dem avantgardistischen Stoff (mit vermutlich geringem kommerziellem Potential) auch nicht wirklich begeistert. So gab Eisenstein schließlich auch diese Idee auf. Stattdessen entschied er sich für den 1925 erschienenen Roman Gold des Schweizer Schriftstellers Blaise Cendrars. Eisensteins englischer Freund Ivor Montagu, den er in der Schweiz kennengelernt hatte, und der jetzt auch in Hollywood war, hatte zu dieser Wahl gedrängt. Es handelt sich um die Geschichte des Schweizer Abenteurers und Geschäftsmannes Johann August Sut(t)er, der als John Augustus Sutter riesige Ländereien im damals mexikanischen Kalifornien erwarb, und der in der Raserei des Goldrausches von 1848 alles verlor und als verarmter Mann starb. Es ist dies der Stoff, den Luis Trenker 1935/36 als DER KAISER VON KALIFORNIEN verfilmte, wobei sich auch Trenker auf den Roman von Cendrars stützte. Könnte Trenker von den vorangegangenen Bemühungen Eisensteins gewusst haben? Ich weiß es nicht, aber möglich wäre es schon. Trenkers vorheriger Film DER VERLORENE SOHN von 1934 wurde von der deutschen Dependance der Universal hergestellt, und die Dreharbeiten fanden zum Teil in New York statt. Produziert wurde der Film von Paul Kohner, damals noch kein unabhängiger Künstleragent, sondern bei der Universal angestellter Produzent. Und Eisenstein hatte Kohner schon 1929 in Berlin getroffen, und auch 1930 in Hollywood hatten sie Kontakt. Kohner vermittelte Eisenstein eine Einladung bei seinem Chef und Mentor, dem Universal-Patriarchen Carl Laemmle. (Laemmle wollte gleich einen Film mit Eisenstein machen, bis man ihm diskret mitteilte, dass er schon bei Paramount unter Vertrag war.) Kohner oder sonst irgendwer könnte also Trenker von Eisensteins vergeblicher Arbeit erzählt haben - aber vielleicht ist Trenker auch ganz allein auf diesen Stoff gekommen.

Nachdem die Entscheidung gefallen war, wurde das Drehbuch nun recht schnell erstellt, nach einem schematisierten Arbeitsablauf wie am Fließband, bei dem sich Eisenstein, Alexandrow und Montagu (der von Paramount als persönlicher Drehbuchassistent für Eisenstein angeheuert wurde) die Aufgaben teilten, mit Unterstützung durch Bürokräfte von Paramount. Anfang September 1930 war das Script fertig. Paramount ließ die Kosten für die Produktion durchrechnen, kam auf drei Millionen Dollar - und lehnte das Drehbuch "aus ökonomischen Gründen" ab. Laut Eisenstein stand dahinter ein interner Machtkampf im Studio zwischen Jesse Lasky und Ben P. Schulberg, dem Produktionsleiter von Paramount. In der Sichtweise Eisensteins war Schulberg (der Vater des Schriftstellers und Drehbuchautors Budd Schulberg) eine Krämerseele, während Lasky auch die Kunst im Film sah und bereit war, Risiken einzugehen. Lasky fuhr an die Ostküste, um vom Paramount-Chef Adolph Zukor ein Machtwort zugunsten von Eisenstein einzuholen, aber vergebens - es blieb bei der Ablehnung. Nun schlug Lasky als neuen Stoff Theodore Dreisers sozialkritischen Roman An American Tragedy vor (an dem Paramount schon seit Jahren die Verfilmungsrechte besaß), und Eisenstein war schnell einverstanden, ja sogar begeistert von dem Stoff. Es geht darin um einen armen, aber ehrgeizigen jungen Mann mit einer ebenso armen Freundin. Er lernt eine schöne reiche Tochter aus gutem Haus kennen, verliebt sich in sie, und sie wollen heiraten. Doch die alte Freundin ist schwanger, so dass eine einfache Trennung nicht mehr in Frage kommt. Er will sie deshalb bei einem Bootsausflug an einem einsamen See ertränken. Im letzten Moment schreckt er vor dem Mord zurück, doch sie fällt ohne sein Zutun ins Wasser und ertrinkt. Nun wäre der Weg zum Platz an der Sonne eigentlich frei. Doch er hat bei den Vorbereitungen zum geplanten Mord zu viele verräterische Indizien hinterlassen. Er wird verhaftet, zum Tod verurteilt und hingerichtet.

Wieder schrieben Eisenstein, Alexandrow und Montagu nach demselben Fließbandprinzip wie zuvor recht zügig ein Drehbuch. Schulberg hätte gerne einen straighten, plot-getriebenen Film bekommen, mehr oder weniger einen Krimi. Doch Eisenstein und seinen Mitstreitern ging es mehr um moralische Fragen von Schuld und Sühne, fast ein bisschen Dostojewski. Und die sozialkritische Tendenz von Dreisers Roman wurde im Drehbuch noch zugespitzt, zum Verdruss von Paramount. Denn die Untersuchung des Fish Committee war gerade im Gang, und das Studio wollte einen politisch unverfänglichen Film, und nicht einen, den Eisensteins Feinde als kommunistisch verunglimpfen konnten. Auch formal plante Eisenstein Anspruchsvolles: Der Film sollte mithilfe eines inneren Monologs in das Unterbewusste des tragischen Helden vorstoßen, wobei alternierend Bild und Ton die Psyche ausloten sollten.

Am 5. Oktober wurde das fertige Script abgeliefert. Nach außen hin zeigten sich sowohl Schulberg als auch Lasky zufrieden. Doch es wurde eine externe Stellungnahme von David Selznick erbeten, und der bescheinigte dem Drehbuch zugleich höchste künstlerische Qualität und völlige kommerzielle Chancenlosigkeit. Was das in Hollywood bedeutet, ist klar, zudem bestand nach wie vor der gegen Eisenstein gerichtete politische und publizistische Druck. Am 23. Oktober, als Eisenstein und seine Freunde mit Lasky gerade in New York waren, um mögliche Drehorte zu besichtigen, wurde ihm eröffnet, dass auch dieses Drehbuch abgelehnt wird - diesmal, weil es angeblich zu lang sei -, und dass sein Vertrag gelöst wird. Der Vertrag vom 30. April sah eigentlich vor, dass der Film innerhalb eines halben Jahres abgedreht sein sollte. Dieses halbe Jahr war nun fast abgelaufen, und es war noch überhaupt nicht mit Dreharbeiten begonnen worden. Auf Bitte von Lasky erklärte Eisenstein öffentlich, dass der Vertrag im gegenseitigen Einvernehmen gelöst wurde. Dafür versprach Lasky, dass in einiger Zeit, vielleicht in einem Jahr, wenn der politische Wirbel vorbei war, der Vertrag erneuert würde. Eisenstein, der in Lasky immer einen Gentleman sah, glaubte das. Doch vorerst spendierte Paramount dem Trio nur noch die Rückfahrkarten über Hawaii und Japan in die Sowjetunion, und ließ die Presse schon die bevorstehende Abreise verkünden.

Dreisers Roman ließ die Paramount 1931 von ihrem bewährten Hausregisseur Josef von Sternberg verfilmen. Eisenstein schätzte übrigens Sternberg sehr. Er hatte ihn schon 1929 in Berlin getroffen, als er dort DER BLAUE ENGEL drehte. In einer offenbar schlecht gelaunten Stunde schrieb Eisenstein in einem Brief, dass in Hollywood alle außer Lubitsch und Sternberg Idioten seien. Es gibt auch Publicityfotos, die Paramount von Eisenstein mit Sternberg und Marlene Dietrich anfertigen ließ. Doch während Eisenstein und die Seinen die Sozialkritik im Roman noch verstärkten, machten Sternberg und sein Drehbuchautor Samuel Hoffenstein das Gegenteil - sie entschärften den Stoff zu einem individuellen Melodram ohne politische Implikationen. Theodore Dreiser war darüber so erzürnt, dass er Paramount verklagte, um die Veröffentlichung des Films zu verhindern, doch er verlor den Prozess. 1951 erschien das Remake von George Stevens unter dem Titel A PLACE IN THE SUN, mit Montgomery Clift, Liz Taylor und Shelley Winters. Diese Version ist heute viel bekannter als die von Sternberg.

Eisenstein war sicher zu blauäugig gewesen, was Hollywood und seine Mechanismen betraf, und nun war er deprimiert. Aber er wollte noch nicht aufgeben. Statt über den Pazifik nach Hause zu schippern, bemühte er sich erneut um einen Filmauftrag. Für die anderen Hollywoodstudios war er mehr oder weniger verbrannt, aber schließlich gelang es ihm, die Finanziers um Upton Sinclair von dem Mexiko-Film zu überzeugen (die Idee dazu hatte Eisenstein von dem mexikanischen Maler Diego Rivera, den er schon 1927 in Moskau kennengelernt hatte und in Hollywood wieder traf). Am 24. November wurde der Vertrag unterzeichnet, und am 5. Januar 1931 überquerte das Trio die amerikanische Grenze in Richtung Süden. (Ivor Montagu wurde von Eisenstein auch dazu eingeladen, aber der fuhr lieber heim nach England.) Was in den folgenden 14 Monaten in Mexiko alles passierte, wäre Stoff für einen ganzen Artikel (oder für einen Film, wie sich Peter Greenaway dachte), aber ich will hier nicht weiter darauf eingehen.

Durch die Kosten der Umstellung der riesigen Kinokette der Paramount auf den Tonfilm und die Auswirkungen der Wirtschaftskrise geriet das Studio immer mehr in finanzielle Schieflage, und 1933 war es bankrott. Zwar konnte der Konzern saniert werden, aber die eigentliche Macht lag nun bei Bankiers und Anwälten. Und Jesse Lasky, der Mitgründer der Firma, wurde schon 1932 gefeuert. Alle Zusagen einer erneuten Zusammenarbeit, die er Eisenstein mündlich gegeben hatte, waren damit hinfällig (falls sie überhaupt je ernst gemeint waren). Doch auch wenn es bei der Paramount anders gekommen wäre, hätte das Eisenstein wenig genützt. Weil er wiederholte Aufforderungen zur Rückkehr ignoriert hatte, bis ihm von Sinclair der Hahn abgedreht wurde, galt er in der Heimat bereits als Deserteur, und nach der letztendlichen Heimkehr sah er sich heftiger Kritik und Schikanen ausgesetzt. Seit Mitte der 30er Jahre wurden auch immer mehr seiner Freunde und Wegbegleiter abgeholt und nach Schauprozessen oder auch schnell und heimlich erschossen. Ihm selbst hätte das auch widerfahren können, er stand bereits auf einer entsprechenden Liste der Geheimpolizei NKWD. Zwar sah er auch wieder gute Zeiten - nach ALEXANDER NEWSKI und dem ersten Teil von IWAN DER SCHRECKLICHE gehörte er wieder zu Stalins Lieblingen (und sein Intimfeind Boris Schumjazki fiel selbst der Säuberung zum Opfer und wurde erschossen). Doch nach der Rückkehr von der langen Reise hat Eisenstein die Sowjetunion nie mehr verlassen.