Montag, 15. August 2016

Ein Tropfen Blut, um geliebt zu sterben

UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO
Spanien / Frankreich 1973
Regie: Eloy de la Iglesia
Darsteller: Sue Lyon (Ana), Christopher Mitchum (David), Jean Sorel (Victor)




Eine liebevoll mordende Krankenschwester, skrupellose Ärzte und entfesselte Verbrecher

Die internationalen Titel dieses bemerkenswerten Films deuten alles mögliche an: SciFi-Thriller („Murder in a Blue World“), Horror („La clinique des horreurs“, „Le bal du vaudou“, „Satansbrut“), sleazige Soft-Erotik („I vizi morbosi di una giovane infermiera“), B-Movie-Kubrick-Ripoff („Clockwork Terror“), manisches Melodrama („To Love, Perhaps to Die“), Rennfahrer-/Biker-Exploitation („Dead Angel – Einbahnstraße in den Tod“). Und irgendwie ist das alles nicht komplett falsch. Dennoch vermag wohl nur der so sperrige wie poetische Originaltitel wirklich diesen Film intuitiv zu erfassen: UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO, in etwa „Ein Tropfen Blut, um geliebt zu sterben“ (vielleicht auch „Ein Tropfen Blut, um liebend zu sterben“ oder „Ein Tropfen Blut, um beim Liebemachen zu sterben“ – meine Spanisch-Kenntnisse reichen für diese möglicherweise eh nur schwer übersetzbaren Feinheiten nicht aus)...

Victor und Ana
Ein ungenannter Ort, der vielleicht Spanien sein könnte oder auch nicht, in einer ungenannten Zeit, bei der es sich (aus der Sicht von 1973) vielleicht um eine mehr oder weniger ferne Zukunft handeln könnte. Es ist auf jeden Fall ein Ort voller Unsicherheit: ein Serienkiller tötet junge Männer, und Gangs terrorisieren gesetzestreue Bürger...
In diesem Klima erhält die Krankenschwester Ana von einem medizinischen Institut als erste Person außerhalb der Ärzteschaft einen Preis für besondere Verdienste. Am Abend feiert sie das mit ihrem Arbeitskollegen, dem Arzt Victor, der möglicherweise ihr Verlobter ist, oder nur ein „normaler“ Freund oder vielleicht zumindest ein Verehrer, der sich um ihre Zuneigung bemüht (der Film klärt das nicht wirklich abschließend – sicher ist nur, dass Ana und Victor kein einziges Mal Zärtlichkeiten austauschen). Er will sie angesichts des Preises ermuntern, doch noch in die „richtige“ Medizin einzusteigen. Sie möchte lieber einen unmittelbaren Kontakt mit ihren Patienten beibehalten und nicht mit ihnen Experimente treiben. Stichwort Experimente: Victor erzählt Ana stolz, dass er an einem Projekt beteiligt ist, bei dem Verbrecher dazu therapiert werden sollen, wieder gesellschaftsfähig zu werden.

Ein brutaler Überfall
Um was für Verbrecher es sich in etwa handelt, wird später deutlich gemacht: ein Elternpaar mit einem kleinen Sohn macht es sich gerade im Wohnzimmer vor dem Fernseher gemütlich, als eine vierköpfige Bande einbricht. Nachdem der Mann gedemütigt und geschlagen wurde, schnappt sich der Anführer die Frau, um sie im Schlafzimmer zu vergewaltigen. Zwei der anderen zerren den Mann dorthin, um auch ihn zu vergewaltigen. Der vierte bleibt zurück und zertrümmert mit seiner Bullenpeitsche wütend die modernistische Einrichtung unter dem erschrockenen Blick des Sohnes. Die gleiche Bande wird etwas später auf offener Straße ein Paar anhalten. Derjenige, der beim vorherigen Coup nicht vergewaltigte, sondern die Einrichtung zertrümmerte, zieht sich zurück und verweigert die weitere Teilnahme. Er wird später von den anderen verprügelt, ausgepeitscht und ausgestoßen liegen gelassen.

Ana verführt einen Konkurrenten der Auktion und ermordet ihn. Beim
Beseitigen der Leiche wird sie von ausgestoßenen Schläger David beobachtet
Ana unterdessen geht mit Victor zu einer Kunstauktion, wo sie ein vergrößertes Panel irgendeines US-amerikanischen Comics aus den 1930er Jahren für teures Geld kauft. Das gilt in der Welt von UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO offenbar als Kunst, zumindest aber als teure Ware, und Ana kann sich das gut leisten: ihres Berufs ungeachtet ist sie eine schwerreiche Frau, weil sie von betuchten Eltern ein Vermögen und eine riesige Villa geerbt hat. Dorthin lädt sie auch einen unterlegenen Mitbieter der Auktion ein, auf den sie ein Auge geworfen hat. Der junge Mann mit verkrüppeltem Bein (Folge einer schweren Kinderkranheit) arbeitet in einem langweiligen Bürojob und hat monatelang für die Auktion gespart. Eigentlich ist er also auf Ana böse, lässt sich aber nur zu gerne von der attraktiven Krankenschwester verführen. Als der junge Mann nach dem Sex glücklich einschläft, entnimmt Ana einer kleinen Schachtel, die Beethovens „Für Elise“ spielt, wenn sie geöffnet wird, ein Skalpell und sticht es ihrem Liebhaber ins Herz. Die Leiche entsorgt sie dann in den frühen Morgenstunden in einem Kanal. Dabei wird sie von David, dem verprügeltem und ausgestoßenen Gang-Mitglied, beobachtet. Von nun an wird er die Krankenschwester, die der gesuchte Serienmörder ist, nur noch selten aus den Augen lassen.

Eine Spezialtherapie für Gewaltverbrecher – die in Ana sichtlich Abscheu
hervorruft
Auf Einladung Victors nimmt Ana am nächsten Morgen an einer der experimentellen Therapiesitzungen teil, mit denen Gewaltverbrecher kuriert werden sollen – wie sich herausstellt eine besonders brachiale Form der Elektroschock-Behandlung. Die Schmerzensschreie des Patienten lassen alle Anwesenden völlig kalt, bis auf die erschrockene Ana. Um sich davon zu erholen, geht sie am Abend mit Grauhaarperücke und starkem Effekt-Makeup in einen etwas speziellen Club, wo sich ältere Damen der feinen Gesellschaft mit jungen Männern treffen können – sprich: reiche Frauen sich einen männlichen Prostituierten angeln. Ana hat einen Mann erwischt, der hauptberuflich als TV-Werbung-Darsteller für erotische, leopardenfarbene Männer-Unterwäsche wirbt und sich ein Zubrot verdienen möchte. Als dieser vorsichtig andeutet, dass er eigentlich lieber eine jüngere, und am besten blonde Frau „bedienen“ möchte, wird ihm dieser Wunsch erfüllt: Ana legt Perücke und Makeup ab und ein verführerisches Négligé an – dieser Wunsch des Werbedarstellers ist übrigens sein letzter, denn als er nach dem Sex glücklich einschläft, sticht Ana auch ihn mit einem Skalpell ab.

Ein ähnliches Spielchen gibt es am nächsten Abend. Diesmal geht Ana, in einer Männer-Verkleidung, die Marlene Dietrich vor Neid erblassen lassen würde, in einen queeren Club, in dem sich schwule Männer und lesbische Frauen treffen. Dort lächelt sie sich einen jungen Mann an, der offensichtlich von Selbstzweifeln und Unsicherheiten gequält ist und möglicherweise nur aus schüchterner Höflichkeit Anas Einladung annimmt. In der Villa der Krankenschwester tanzen dann die beiden in trauter Zweisamkeit – nicht ganz: David hat sich mittlerweile in die Villa eingeschlichen und beobachtet alles, was vor sich geht. Ana und der junge Mann tanzen jedenfalls, trinken dann etwas. Ana bietet ihm dann durch die Blume an, mit ihr zu schlafen. Das nimmt der junge Mann an: die letzte Entscheidung seines jungen Lebens, denn als er nach dem Sex einschläft, sticht Ana mit ihrem Skalpell wieder zu – unwissentlich vor den Augen Davids, der alles (und zwar mit offensichtlichem voyeuristischem Vergnügen) mit angeschaut hat. Die Leiche des jungen Mannes wird am nächsten Tag irgendwo in der Pampa gefunden, und die Polizei ist weiterhin ratlos.

Der angeberische Schauspieler und der schüchterne junge Mann:
zwei weitere Opfer Anas

Nur David weiß bescheid, schleicht sich am nächsten Tag vor Anas Villa herum und wird von dieser dann (diesmal verkleidet als Dienstmädchen) eingeladen. Nach einigem Rumknutschen lässt David die Bombe platzen: er wisse über ihre Morde bescheid und ihm persönlich sei es egal, ob man sie erwische oder nicht – er wolle nur viel Geld und würde sie dann in Ruhe lassen. Gesagt, getan. Ihre nächste Freizeit verbringt Ana hauptsächlich damit, David zu treffen, um ihm Geld zu übergeben. Der kauft sich davon kurz nach Weihnachten ein schönes Motorrad. Am Ausgang einer Kirche, in der er von Ana einen weiteren Umschlag erhalten hat, trifft David auf seine alten Gang-Kumpanen, die ihn mit ihrem Buggy verfolgen, fangen und verprügeln. Nachdem der Gang-Chef höchstpersönlich David seinen dornengespickten Handgelenkband zwischen die Beine gerammt hat, wird dieser halbtot liegen gelassen.

Der gelähmte David: Anas letztes Opfer
Es ist Sylvesterabend. Ana hat eine Schicht im Krankenhaus, beginnt sie aber erst, nachdem Victor ihr gezeigt hat, wie seine „Therapie“ gewirkt hat: durch einen Einwegspiegel in Form eines Fernsehbildschirms beobachten die beiden, wie drei „therapierte“ Verbrecher Sylvester feiern. In schönen Smokings gekleidet und von Butlern bedient (vielleicht auch Ex-Verbrecher?) reden sie gediegen über künftige Käufe, die sie tätigen wollen. Danach beginnt Ana ihre Schicht, und trifft auf David, der bewegungs- und sprechunfähig in einem der Patientenbetten liegt. Der hilflose Erpresser und die Serienkillerin – das kann kein gutes Ende nehmen. Ana schiebt David samt Bett ins spezielle „Therapiezimmer“. Dabei redet sie ihm viele zärtliche und beruhigende Worte zu. In Davids Augen zeigt sich dennoch Furcht, und schließlich Panik und Terror, als Ana ihn zu küssen beginnt. Als Victor wenig später in den Therapieraum tritt, ist David bereits tot. Mit blutbespritztem Gesicht bekommt Ana offenbar einen Nervenzusammenbruch und fällt David weinend auf die Brust. Während Victor völlig fassungslos erstarrt und Ana zusammengebrochen ist, tut sich im Hintergrund etwas. Die offiziell als therapiert deklarierten Ex-Verbrecher streiten sich. Zunächst wird dem einen Butler das Gesicht mit einer Flasche zerschmettert, dann dem anderen mit einem Tranchiermesser die Kehle aufgeschlitzt. Die Herren im Smoking gehen dann aufeinander los. Einige Flaschen- und Messerhiebe später torkeln die letzten beiden Überlebenden bluttriefend und agonierend gegen den Fernsehbildschirm. Das Freezeframe wird in pop-art-mäßigen Farben eingetaucht, der Fernsehbildschirm reisst in zwei Teile – ein Effekt, der auch in der Werbung für die leopardenfarbene Unterhose zur Geltung kam – und es erscheint das Wort „Fin“...



Kubrick-Ripoff oder de-la-Iglesia-Original?

1973 war ein hochgradig produktives Jahr für den baskischen Regisseur Eloy de la Iglesia: neben UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO kamen auch der Thriller NADIE OYÓ GRITAR und LA SEMANA DEL ASESINO heraus. Über letzteren, der nicht nur ein Slasher-Film ist, sondern auch eine bissige Satire über franquistische Gewalt, Konsum und Gentrifizierung und zugleich die poetische Utopie einer klassenübergreifenden homosexuellen Liebschaft ist, schrieb ich bereits hier. Die Klasse von LA SEMANA DEL ASESINO erreicht UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO nie. Er ist gar teils recht holprig und unelegant inszeniert – dennoch ist er faszinierender als alles, wofür er teils bis heute gehalten wird, namentlich hauptsächlich für einen reinen Kubrick-Ripoff und einen bedeutungslosen Euro-Trashfilm.

Zum offensichtlichsten Punkt: UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO spielt wie A CLOCKWORK ORANGE in einer dystopischen Zukunftsgesellschaft mit leicht futuristischen Sets (die allerdings nicht in allen Szenen wirklich zum Tragen kommen), in der gewalttätige Jugendgangs brave Bürger verprügeln und vergewaltigen und in der ebenjene Gewaltverbrecher mit experimentellen und grausamen Gehirnwäschemethoden zu guten Bürgern „kuriert“ werden. Die Taten der gewalttätigen Banden werden in beiden Filmen in einer frühen Szene offenbart, die etwa ähnlich aufgebaut ist (Einbruch, verbale Demütigung, Schläge, sexuelle Gewalt). In UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO wird die gutbürgerliche Familie gar daran gehindert, bei einem gemütlichen Familienabend A CLOCKWORK ORANGE im Fernsehen zu schauen: der Film wird gerade angekündigt – mit einer Einblendung eines Fotos von Stanley Kubrick – als die Bande reinstürmt (und genau dies erscheint ganz schön dissonant: A CLOCKWORK ORANGE gehört ganz gewiss nicht zu den Filmen, mit denen man einen „gemütlichen“ Fernsehabend verbringen kann, und schon gar nicht in der Familie mit einem etwa sechsjährigen Kind). Beide Filme enden damit, dass ein Ex-Verbrecher bewegungsunfähig in einem Krankenhaus liegt. In beiden Filmen stellt sich die Ärzteschaft in den Dienst der Politik.
Außerhalb von A CLOCKWORK ORANGE im engeren Sinne, aber noch mit dem Kubrick-Kontext verbunden, ist die Besetzung von Sue Lyon, die 1962 in Kubricks LOLITA die Titelrolle gespielt hatte. Das wäre an sich ein reiner Zufall, aber als Ana sich als alte Dame verkleidet, um in dem Frauenclub einen männlichen Prostituierten zu angeln, liest sie überdeutlich sichtbar Nabokovs Roman – womit klar wird, dass hier nicht irgendeine Schauspielerin, sondern Kubricks „Lolita“ die Hauptrolle spielt. Die Gemeinsamkeiten mit LOLITA werden in einem der wenigen ernsthaften Texte über UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO als sogar als wesentlich wichtiger für den Film als jene mit A CLOCKWORK ORANGE angesehen.
Mindestens zwei Mal erwähnt Ana, dass sie gerne Strauß-Walzer hört (was sie dann bei sich auflegt ist aber tatsächlich kein Strauß, sondern die Titelmusik des Films, die höchstens sehr assoziativ Strauß-ähnliche Züge hat) – eine kleine Anspielung auf 2001: A SPACE ODYSSEY, in dem Johann Strauss‘ Musik genutzt wird, oder auch auf die Komponisten-Besessenheit der Hauptfigur in A CLOCKWORK ORANGE?

Den vielen Verweisen und Ähnlichkeiten in meist eher kleinen Details zum Trotz unterscheidet sich UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO im Gesamt-Design wesentlich von A CLOCKWORK ORANGE und auch von Kubricks Filmen überhaupt.
Dies fängt mit dem eindeutig „weiblichen“ Fokus von de la Iglesias Film an. A CLOCKWORK ORANGE ist, wie tatsächlich alle Filme Kubricks, ein rein „männlicher“ Film über „männliche“ Obsessionen und mit rein „männlichen“ Perspektiven. UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO nimmt hingegen nicht direkt die Perspektive Anas ein, es gibt auch kein Figuren-Voice-Over, doch die Krankenschwester und Serienmörderin ist ganz klar der Ankerpunkt und die treibende Kraft des Films.
Alex in A CLOCKWORK ORANGE: nun eine leichte
Beute für skrupellose Oppositionelle und das Mitleid
des Zuschauers
Das hat wenig mit klassischer Figurenidentifikation zu tun: UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO bleibt größtenteils ein sehr distanzierter Film und hat oft eine unübersehbare Kälte. Die Distanz unterscheidet ihn wesentlich von A CLOCKWORK ORANGE, der Alex eindeutig als zentrale Identifikations- und Sympathiefigur positioniert und dabei den Zuschauer allzu gerne entweder durch seine bombastische Inszenierung oder durch Alex‘ kumpelhaft-drängendem Voice-Over geradezu eisern umarmt (teils fast erstickt). Dafür, dass Zuschauer Ana (oder eben David) sympathisch finden, tut UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO rein gar nichts. Einen erklärenden oder emotionalisierenden Voice-Over gibt es erst recht nicht – nur Bilder, die bisweilen sogar vielmehr rätselhaft anmuten. Trotzdem steckt gerade deshalb viel mehr Menschlichkeit in de la Iglesias Film: die Figuren agieren oft etwas absurd und unverständlich, andererseits auch erschreckend trivial, aber gerade dadurch sind sie erkennbare Figuren mit menschlichem Antlitz, die Fehlbarkeit demonstrieren und in wenigen Momenten sogar menschliche Wärme. A CLOCKWORK ORANGE macht seine Figuren (von wandelnden Konzepten auf zwei Beinen zu reden wäre aber wahrscheinlich adäquater) nur dann menschlich, wenn es ihm gerade passt: de la Iglesia akzepiert jegliche Figur als Mensch mit (meist sozial bedingten) Perspektiven und Perspektivbeschränkungen, während Kubrick (gewissermaßen extradiegetisch) seinen Alex genau so instrumentell behandelt wie (im Film selbst) der windige Innenminister oder die skrupellosen Oppositionellen, die er eben dafür verurteilt. Ein Film, der das Recht auf moralische Entscheidungsfreiheit verteidigt und sie dabei gleichzeitig dem Zuschauer abspricht?
Nicht zuletzt ist Kubricks A CLOCKWORK ORANGE eine dystopische Gedankenspielerei (jemand bezeichnete den Film im positiven Sinne als soziologisch-philosophische Vorlesung – man kann es auch negativ sehen), die nur über sich selbst etwas zu erzählen hat, dabei wenig Fragen offen lässt und dem Zuschauer recht unsanft seine Positionen aufdrückt. UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO hingegen ist ein Film, der im franquistischen Spanien Fragen über Klassengegensätze, sexuelle Identitäten und den alltäglichen Umgang mit (teils extremer) Gewalt stellt, darauf aber keine eindeutige Antworten weiß und dem Zuschauer daher auch keine Position aufdrücken kann: ein trotz seines Produktionslandes sehr demokratischer Film – wesentlich demokratischer und schlussendlich auch wesentlich interessanter, provokanter und mutiger als A CLOCKWORK ORANGE.
Was übrigens Kubrick über den Film seines spanischen Kollegen dachte (gemäß IMDb scheint UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO nicht in britischen Kinos gekommen zu sein, auch wenn paradoxerweise heute praktisch nur noch britische Fassungen des Films international verfügbar sind), darüber weiß ich nichts zu berichten. Wer natürlich die Geschichte weiterspinnen möchte: Jahre nach de la Iglesias LA SEMANA DEL ASESINO drehte Kubrick einen Film über einen nervlich schwer angespannten Mann, der in einem abgelegenen Haus den Plan hegt, seine gesamte Familie zu ermorden...

Der Serienmörder Marcos in LA SEMANA DEL ASESINO:
ein Wesens- und Seelenverwandter Anas?
Wesentlich größer als jegliche Kubrick-Bezüge sind die Gemeinsamkeiten mit de la Iglesias eigenem LA SEMANA DEL ASESINO. Hier wie dort inszeniert der Spanier latent und offen gewalttätige Gesellschaften, in denen Morde allzu leicht von der Hand gehen. Beide Filme sind auch intensive Portraits eines zwanghaften Mörders, die trotz der Unterschiede in Geschlecht, sozialer Klasse und Temperament doch Ähnlichkeiten haben (wobei Marcos' Portrait schlussendlich mehr als Anas Portrait überzeugt). Trotz des vagen Zukunftssettings herrschen auch in UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO markante Klassenunterschiede, die oft explizit (wenn auch weniger elegant und rein visuell) thematisiert werden: ältere Menschen mit kleinem Geldbeutel werden im Krankenhaus quasi zum Sterben ausgesetzt; unterprivilegierte Gewaltverbrecher werden in staatlich geförderten High-Tech-Laboren für medizinische Experimente ausgebeutet; gut betuchte Bürgerinnen und Bürger kaufen sich entweder offen oder versteckt die Körper jener, die sich für Geld hergeben müssen (so Ana mit ihren ersten beiden Opfern, die sie im weitesten Sinne mit Geld oder materiellen Gütern ködert). Die Lust der Privilegierten nach den Körpern der Unterprivilegierten: was in LA SEMANA DEL ASESINO noch unterschwellig war, wird hier schon manifester und beschäftigte de la Iglesia wohl noch in seinen urbanen Jugend-und Drogen-Dramen in den 1980er Jahren.


Eine queere Bar: utopischer Sehnsuchtsort im franquistischen Spanien

Ein netter Ort, um entspannt zu plaudern und zu feiern – und kostenlose
Cocktails gibt es auch!
Die Szenen um Anas drittes Opfer (zumindest das dritte im Film sichtbare) ist in vielerlei Hinsicht das Herzstück von UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO: die größte Provokation und zugleich das humanistische und politische Herzstück des Films. Eine queere Bar (sie ist für beide Geschlechter universell offen), zumal derartig nett und sympathisch dargestellt, ist so ziemlich das allerletzte, was man in einem spanischen Film aus der Franco-Ära erwarten würde – zumal dies auch im liberal-demokratischen Westen keine Selbstverständlichkeit war. Otto Premingers ADVISE & CONSENT hatte 1962 zum ersten Mal in einem Hollywood-Film eine (durchaus ambivalent gefilmte) Schwulenbar gezeigt. Sechs Jahre später filmte Robert Aldrich Szenen seines großartigen THE KILLING OF SISTER GEORGE on location im lesbischen „Gateways Club“ (für größere Kontroversen sorgte allerdings die Verführungsszene  gegen Ende des Films). Wenngleich die queere Bar in UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO viel stilisierter und bunter ist als der „Gateways Club“, so wird auch sie als lockerer, ausgelassener Treffpunkt zum Plaudern und Feiern gezeigt (und das auch mit offenbar kostenlosen Cocktails!) – wenn man etwas „einsam“ ist, wie der junge Mann, der Ana anspricht, weil er sich möglicherweise nicht traut, einen „richtigen“ Mann anzusprechen oder diese Frau in Cross-Dressing – nicht zu unrecht – wirklich verführerisch findet. Ohne jegliche Verruchtheit, ohne die entfernteste Andeutung, dass das ganze lächerlich sein könnte, inszeniert Eloy de la Iglesia in der queeren Bar ein Stück Normalität. Das fällt besonders in einem Film auf, in dem wirklich wenig „normal“ ist. Die queere Bar in UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO schafft einen Ort jenseits von Gewalt, von Ökonomisierung – und wahrscheinlich auch von Klassenunterschieden: vielleicht sind hier die Cocktails nicht umsonst umsonst. Ihr drittes Opfer (denn Ana wird den jungen Mann schließlich ja doch töten) verführt die Krankenschwester tatsächlich nur mit ihren Reizen und mit ihrer emotionalen Einfühlsamkeit, nicht mit Geld (wie den unglücklichen Werbedarsteller) oder materiellen Gütern (wie den kunstsammelnden Kleinangestellten).

Das passiert bei Ana in der Villa: sie und der junge Mann hören zusammen Musik, tanzen und trinken was. Als der junge Mann dann gehen will, schlägt sie ihm implizit vor, zu bleiben und mit ihr zu schlafen. Er hält das für ein Missverständnis: er dachte nämlich, dass sie lesbisch sei. Schließlich nimmt er das Angebot doch an: vielleicht könne sie ihm ja dabei helfen, sich zu ändern – implizit also: ihm seine homosexuellen Neigungen auszutreiben. Mit Bestimmtheit erwidert sie, dass sie keineswegs die Absicht habe, ihn zu ändern und dass überhaupt die Leute sich selbst sein sollten. Dieses implizite „Du bist schwul – und das ist auch gut so!“ ist ein kurzer Augenblick, der wesentlich ergreifender, menschlicher, direkter und auch wesentlich politischer ist als etwa die Zwischenrufe des Priesters über moralische Entscheidungsfreiheit in A CLOCKWORK ORANGE. Beim Sex behält Ana übrigens ihre Männerfrisur-Perücke auf – bleibt also doch in ihrer „Männerrolle“.

Einige Gesichter der Ana
Die Leute sollen so bleiben, wie sie selbst sind. Gerade allerdings bei Ana selbst fragt sich, wer „sie selbst“ denn eigentlich ist. Denn sie durchtrennt nicht nur die Hauptschlagadern ihrer Opfer, sondern auch klassische Vorstellungen von Identität. Das betrifft nicht nur ihre vielen Verkleidungen (als alte Dame, als homosexueller Mann, als Dienstmädchen). Ana übt einen klassischen „proletarischen“ und dazu auch „weiblichen“ Beruf aus, ist aber eine reiche Frau – möglicherweise sogar wesentlich betuchter als die meisten männlichen Ärztekollegen. In ihrem Beruf gilt Ana nicht nur als außergewöhnlich gut, sondern auch als besonders einfühlsam im Umgang mit den Patienten – wofür ihr Arbeitskollege Victor nur Verachtung übrig hat, weil für ihn Patienten nur Rohmaterial zum Experimentieren sind, die ihm von der Polizei zur zur Verfügung gestellt werden. Eine mitfühlende Humanistin also, wäre da nicht die Sache mit den Serienmorden! De la Iglesia macht auf ganzer Linie deutlich, dass Ana keine klassische Psychopathin ist, wenngleich sie ihre Morde minutiös plant und durchführt. Nach ihrem Verständnis „erlöst“ sie ihre Mordopfer in einem Moment höchster Glückseligkeit, nachdem sie in ihren Armen eingeschlafen sind – ein alter Patient bestätigt sie in ihrer Meinung, als er ihr mitteilt, in seinem ganzen Leben insgesamt nur wenige Stunden wirklich glücklich gewesen zu sein. Ein paar Stunden, das sei doch immerhin etwas, meint Ana. Nur spät merkt sie, dass ihre Morde keine Erlösung bedeuten, sondern eben Morde sind – und bricht dann auch zusammen. So ähnelt das Ende von UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO auch dem von LA SEMANA DEL ASESINO: ein mehrfacher Mörder findet doch sein Gewissen und „ergibt“ sich schlussendlich. In letzterem passiert – gar nichts. In ersterem bleibt nur der Tod der „therapierten“ Probanden als gesicherter Fakt.

UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO ist im Vergleich zu LA SEMANA DEL ASESINO sicherlich der schwächere Film. Er wirkt oft wie ein Stückwerk, in der Dramaturgie stark holperig, wenig organisch. Weder in den Details noch im Gesamt-Design erreicht er die konzise Präzision von de la Iglesias grandiosem Slasherfilm. Eine konzise Atmosphäre der existentiellen Verzweiflung fehlt diesem Film, weil Ana im Vergleich zum pessimistischen, meist deprimierten Marcos optimistisch und lebensfroh angelegt ist. Ein Gefühl des Grotesken und Absurden fehlt ihm ebenfalls, weil die Handlungsstränge zu disparat sind und der Film keine so konzisen Bilder findet wie etwa jene von Marcos, der die Leichen seiner Familienangehörigen in seinem Schlafzimmer anhäuft. Und die Verfolgungsjagd zwischen dem Buggy und dem Motorrad ist völlig frei von jeglicher Dynamik und so dermaßen uninteressant und in die Länge gezogen, dass es fast schon weh tut – de la Iglesia war definitiv kein Action-Regisseur! 
Doch das ist alles eher Jammern auf hohem Niveau. Einen derartig radikalen, provokanten, tabubrechenden Film im Spanien der ausgehenden Franco-Ära zu drehen (weder Francos Tod noch die Transición waren 1973 wirklich in greifbarer Nähe) brauchte eine Menge Mut. Zwischen den manchmal mühseligen Momenten tauchen außerdem immer wieder ganz große Filmaugenblicke auf. Die Szenen in der queeren Bar habe ich erwähnt. Der Tanz zwischen Ana in Cross-Dressing und dem jungen Mann im Wohnzimmer der Villa: die Kamera filmt sie zunächst – sehr merkwürdig distanziert – von oben und dreht sich dabei aber zunehmend schneller, und nach einem Schnitt fängt sie an, selbst um das Paar herum zu tanzen. Und schließlich dieser poetisch-morbide Moment: Ana hat gerade den Prostituierten ermordet, und in einem blutbesudelten weißen Nachthemd läuft sie wie in Trance durch den anliegenden Park, während Herbstblätter ihr entgegenwehen und die Titelmelodie ertönt. Schon nur für diese furchterregend poetischen Sekunden lohnt sich UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO.



Editionen und Versionen
UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO ist in Großbritannien auf DVD beim Label HB Films unter dem Titel „Murder in a Blue World“ erschienen. Die Qualität ist, sagen wir es einmal vorsichtig, als dürftig zu bezeichnen. Das Cover ist bis hin zu einem unscharfen Screenshot aus dem Film auf der Vorderseite in einem unansehnlichen Grau gehalten. Die DVD-Scheibe ist bis auf den Titel, die Zahl 18 (das ist dann wohl die bbfc-Freigabe) und die Angabe HB Films mit der Scheiben-Nummer ebenfalls nackt. Der Film selbst wird im Originalformat 2.35:1 präsentiert – na ja, also zumindest so ungefähr halbwegs: er ist nicht anamorph codiert und die Messung ergibt nur 2.30:1. Die Bildqualität ist eher mau: statt scharfer Bilder gibt es Gematschtes mit lästigen Nachzieheffekten. Und nicht zuletzt ist der Film nur in der englischen Synchro verfügbar (die bei den wichtigsten Figuren halbwegs erträglich ist, bei einigen Nebenfiguren zum Davonlaufen). Darauf, dass er wohl gekürzt ist, komme ich auch gleich noch zu sprechen.
Es gibt noch eine weitere britische Veröffentlichung von Hanzibar Films, die wohl möglicherweise die spanische Sprachversion enthalten soll, aber meine Hand würde ich dafür nicht ins Feuer legen. Und dann noch eine Edition von Pagan Films, die in der „Qualität“ der von HB Films ähnelt. Des weiteren gibt es eine amerikanische Veröffentlichung, die vielleicht, vielleicht aber auch nicht die spanische Sprachfassung enthält, mit 1.33:1 aber offenbar das komplett falsche Bildformat hat, oder zumindest ebenfalls nicht anamorph codiert ist (und möglicherweise noch stärker gekürzt wurde). Alles nicht so ideal. Der Ruf, ein Stück Kubrick-Ripoff-Euro-Trash zu sein, hat diesem Film wahrhaftig nicht gut getan.
Bezüglich der Laufzeit des Films gibt es auf IMDb widersprüchliche Angaben mit unterschiedlichen Zahlen für verschiedene Länder: so scheint es zwei verschiedene UK-Fassungen zu geben, einmal 98 Minuten, einmal 101 Minuten – letzteres mit dem Zusatz „cut“. In den USA dauert der Film 88 Minuten und in Spanien 100 Minuten. Die absolut längste Fassung ist also „cut“: wie und warum, weiß ich nicht. Gemäß dem obigen Link zur DVD-Edition von Pagan Films gab es in Großbritannien eine um 2 Minuten wegen Gewalt gekürzte Fassung, die zugleich einfache Dialogszenen enthält, die in der nicht-gewaltzensierten Fassung wiederum fehlen. Welche Fassung auf meiner HB-Films-DVD enthalten ist, könnte ich nicht mit Sicherheit sagen.
Diese Editionsprobleme gehen wohl also auf das Konto des BBFC, als der Film in Großbritannien auf VHS, später auf DVD veröffentlicht wurde. Ob der Film noch vorher mit spanischen Zensoren Probleme hatte und es möglicherweise einen verschollenen, originalen „de-la-Iglesia-Cut“ des Films gibt, wie wahrscheinlich bei LA SEMANA DEL ASESINO, kann ich nicht sagen. Da UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO nicht weniger explosiv und provokant ist, liegt das durchaus im Bereich des Möglichen.

Donnerstag, 4. August 2016

Close Up und BORDERLINE: Beziehungskisten in der Schweiz

BORDERLINE
Großbritannien/Schweiz 1930
Regie: Kenneth Macpherson
Darsteller: Paul Robeson (Pete), Eslanda Robeson (Adah), H.D. (= Hilda Doolittle, Astrid), Gavin Arthur (Thorne), Bryher (Chefin des Lokals), Charlotte Arthur (Bardame), Robert Herring (Pianist), Blanche Lewin (alte Frau)


1930 drehte der schottische Schriftsteller, Kritiker und Fotograf Kenneth Macpherson mit einer Handvoll Laiendarsteller, die durch gemeinsame künstlerische, weltanschauliche und sexuelle Interessen mit ihm und miteinander verbunden waren, sowie mit dem professionellen schwarzen Sänger und Schauspieler Paul Robeson und dessen Frau Eslanda in der Westschweiz einen 73-minütigen avantgardistischen Stummfilm. (In IMDb und engl. Wikipedia wird eine Länge von 63 min angegeben, aber die in Deutschland und England auf DVD erhältliche Fassung hat umgerechnet eine Kino-Laufzeit von 73 min.) Der Film hat gerade mal 1000£ gekostet - auch damals schon eine lächerliche Summe (dabei hätten sich die Macher durchaus mehr leisten können, denn eine der Beteiligten war die designierte Erbin eines sehr üppigen Vermögens). Als BORDERLINE in die Kinos kam, wurde er von den meisten Kritikern heftig verrissen, und er verschwand in der Versenkung, und Macpherson drehte keine Filme mehr. Doch Jahrzehnte später wurde der Film als ein Werk der Avantgarde wiederentdeckt, das mit wenig Handlung auf damals gewagte Art sexuelle und emotionale Konflikte entlang der sich überkreuzenden Grenzlinien "Hautfarbe" und "Geschlechterrollen" erforscht. Es ist kein Zufall, dass abgesehen von den Robesons fast alle Beteiligten homosexuell oder bisexuell waren.

Astrid
Ein kleiner namenloser Ort, irgendwo in den Bergen der französischsprachigen Schweiz, um 1930. In einem Gasthaus mit Fremdenzimmern logiert eine Ménage-à-trois aus ausländischen Gästen (wohl Engländer oder Amerikaner, aber das wird nicht weiter thematisiert), die durch die Ankunft eines weiteren Gasts am Anfang des Films zu einer Ménage-à-quatre wird. Das weiße Paar Astrid und Thorne ist miteinander verheiratet, doch Thorne hat sich von ihr getrennt, weil er eine Affäre mit der schwarzen (oder "farbigen" - sie ist recht hellhäutig) Adah hat, die eigentlich mit dem schwarzen Pete liiert (oder verheiratet?) ist, aber momentan getrennt von ihm lebt. Astrid ist vor Eifersucht halb wahnsinnig, aber auch bei Thorne, der gerade einen Streit mit Adah hatte, sind die Nerven gespannt. In dieser Situation erscheint nun auch Pete als Neuankömmling im Ort, der Adah zurückgewinnen will. Und er scheint Erfolg zu haben - Adah hat anscheinend genug von Thorne, und sie zeigt sich Petes Avancen nicht abgeneigt.

Thorne
Mit distanziertem, aber wohlwollendem Interesse beobachtet wird das Treiben der freizügigen ausländischen Gäste durch einige Nebenfiguren: Der burschikosen, androgynen Besitzerin oder Geschäftsführerin des Gasthauses, ihrer stets gut gelaunten Bardame und dem Pianisten, der die Gäste des Lokals unterhält. Die einheimischen Gäste dagegen begegnen den Fremden (vor allem den dunkelhäutigen) mit einem gewissen Missfallen, wenn auch vorerst noch ohne öffentliche Unmutsäußerungen. Nur eine alte Frau mit freundlichem Gesicht meint, wenn es nach ihr ginge, dann wären in diesem Land keine Neger erlaubt. (Um der politischen Korrektheit Genüge zu tun: Damals wurde das Wort "Negro" weit unbefangener verwendet als heute, nicht nur von Weißen, sondern auch von Schwarzen (einschl. Paul Robeson). In den Credits von BORDERLINE werden sogar Pete als "a negro" und Adah als "a negro woman" bezeichnet. Wenn ich das Wort aus der Äußerung der rassistischen Dame mit dem freundlichen Gesicht als "Neger" übersetze, heißt das natürlich nicht, dass ich diesen Begriff selbst verwenden würde.)


Nachdem ihm Adah abspenstig gemacht wurde, ist nun auch Thorne eifersüchtig und wütend. Er beschuldigt Astrid, dass sie es war, die Pete herbeigelockt hat, was Astrid auch ohne Umschweife zugibt. Ihr Plan war, dass Thorne zu ihr zurückkehrt, wenn er Adah erst einmal an Pete verloren hat. Doch wenn der erste Teil des Plans geklappt hat, so geht der zweite Teil gehörig in die Hose. Denn Thorne ist nun erst recht wütend auf Astrid. Als diese erkennt, dass Thorne nicht zu ihr zurückkommen, sondern sie endgültig verlassen wird, kommt es zum finalen Streit zwischen den beiden. Astrid fuchtelt mit einem Messer herum und verwundet Thorne leicht - und am Ende liegt sie tödlich verletzt am Boden. Anscheinend hat Thorne sie im Getümmel versehentlich getötet, doch so ganz klar ist das nicht, weil man den entscheidenden Moment nicht sieht - vielleicht hat er auch die Kontrolle verloren und selbst zugestochen. Doch die Polizei glaubt seiner Darstellung, und er wird nicht angeklagt. Nach Astrids Tod geht das Gerede unter den Einheimischen nun so richtig los, und Pete streckt einen, der ihn offenbar beleidigt hat, mit einem Kinnhaken zu Boden. Doch damit liefert er den Leuten nur einen bequemen Vorwand: Der Bürgermeister verfügt auf Beschluss des Stadtrats seine sofortige Ausweisung aus dem Ort. Die Chefin des Gasthauses bedauert das. "Was es noch schlimmer macht", meint sie resignierend zu Pete, "ist, dass sie glauben, im Recht zu sein. So sind wir eben." - "Ja, so sind wir", bestätigt Pete, und verwandelt damit eine Aussage über die Schweizer oder über alpine Kleinstädter in eine allgemein-(un)menschliche.

Adah
Noch einen Tiefschlag muss er hinnehmen: Adah fühlt sich mitschuldig an Astrids Tod, und um mit sich ins Reine zu kommen, verlässt sie Pete und reist ab. Sie verabschiedet sich nicht persönlich, sondern hinterlässt Pete nur einen Brief, so dass er nichts dagegen machen kann. Wenigstens verträgt er sich jetzt wieder mit Thorne, da nun keine Frau mehr zwischen ihnen steht. Am Ende steht Pete am Bahnhof und wartet auf seinen Zug, und Thorne sitzt grübelnd in einer Wiese und starrt ins Leere.

Pete
Von 1927 bis 1933 erschien die größtenteils englischsprachige Filmzeitschrift Close Up (ein kleiner Teil der Artikel war auf Französisch), die als eines der ersten europäischen Journale Film konsequent als eine Kunstform begriff. Die Zeitschrift erschien von Juli 1927 bis zum Dezember 1930 monatlich, dann bis Ende 1933 vierteljährlich, zusammen 54 Ausgaben in einer Auflage von 500 Stück. Gedruckt wurde Close Up zunächst in Dijon in Frankreich, dann ab September 1928 in London, doch konzipiert und redigiert wurde das Magazin in der Schweiz, und zwar von dem Trio Kenneth Macpherson, Bryher und H.D., die sich zusammen The Pool Group nannten. Die drei waren Herausgeber (wobei H.D. nicht im Impressum genannt wurde) und schrieben auch einen beträchtlichen Teil der Artikel. Daneben gab es feste Mitarbeiter, vor allem den Engländer Oswell Blakeston, der ab 1931 auch Mitherausgeber war. Die Zeitschrift unterhielt Korrespondentenbüros in Paris, London, Berlin, Hollywood und anderswo, zu den Korrespondenten zählte u.a. Marc Allégret, der zu jener Zeit auch seine ersten Filme als Regisseur drehte. Daneben gab es Beiträge von vielen Gastautoren - Schriftsteller wie (recht häufig) Dorothy Richardson, Gertrude Stein und André Gide, Psychologen und Psychoanalytiker wie Havelock Ellis, Barbara Low und Hanns Sachs (die Herausgeber hatten ein Faible für die Psychoanalyse, und H.D. ließ sich in den 30er Jahren von Sigmund Freud persönlich analysieren), und natürlich von progressiv bis avantgardistisch gesinnten Filmkritikern und Filmschaffenden aus aller Welt. So wurde etwa das Tonfilmmanifest, das Sergej Eisenstein, Grigori Alexandrow und Wsewolod Pudowkin im August 1928 in einer Leningrader Zeitschrift veröffentlicht hatten, in der Ausgabe vom Oktober 1928 in englischer Übersetzung nachgedruckt.

Die Bardame (links oben) und ihre Chefin
Damit sind wir bei einem der Schwerpunkte von Close Up: Das sowjetische Montage-Kino der 20er und frühen 30er Jahre wurde in der Zeitschrift ausgiebig gewürdigt, und insbesondere Eisenstein war einer der Helden der Herausgeber. Als sich Eisenstein 1929 längere Zeit in Berlin aufhielt, traf ihn Macpherson dort persönlich, und sie schlossen Freundschaft. Eisenstein veröffentlichte nach dem Tonfilmmanifest einige weitere Artikel in Close Up, etwa über Fragen zukünftiger Breitbildformate (im Jahr 1931!) oder über die staatliche Filmhochschule in Moskau, wo er nach seiner Rückkehr aus Mexiko selbst unterrichtete, und natürlich über seine sich im Lauf der Zeit weiterentwickelnde Montage-Theorie. Eisensteins Frau Pera Ataschewa war die Moskauer Korrespondentin von Close Up.

Der Pianist und sein Objekt der Begierde, an das Klavier geklemmt
Ein weiteres Idol der Pool Group war G.W. Pabst mit seinem der Neuen Sachlichkeit verpflichteten psychologischen Realismus. Bryher und Macpherson trafen Pabst erstmals im Oktober 1927, und der Regisseur war da schon seinerseits ein Fan von Close Up. Er fand es "so furchtbar funny" (Bryher in einem Brief), dass ausgerechnet Engländer so ein Magazin auf die Beine gestellt hatten. Pabst hatte auch mit GEHEIMNISSE EINER SEELE (1926) den ersten größeren Spielfilm vorgelegt, der explizit die Psychoanalyse thematisiert, und der oben erwähnte Hanns Sachs war Berater bei diesem Film. Eisenstein und Pabst, Montage und psychologische Durchdringung - zwischen diesen Polen bewegt sich auch BORDERLINE. Dazu weiter unten mehr. Kritisch ging man dagegen mit Hollywood um, wobei aber durchaus zwischen einzelnen Filmen bzw. Regisseuren differenziert wurde (so schätzte man King Vidor und insbesondere sein THE BIG PARADE), und noch kritischer mit dem zeitgenössischen britischen Film, der regelmäßig geschmäht wurde, so etwa von Robert Herring (dem Pianisten in BORDERLINE) in einem Artikel mit dem schön polemischen Titel Puritannia Rules the Slaves. Ein persönliches Anliegen war den Herausgebern der Kampf gegen die britischen Zensurbestimmungen.

Die alte Frau
Die aus Pennsylvania stammende Dichterin und Schriftstellerin Hilda Doolittle (1886-1961), die sich den Pen Name H.D. gab, gehörte in ihren jungen Jahren zur literarischen Bewegung der Imagisten (in den Credits von BORDERLINE wird sie "Helga Doorn" genannt, ein Name, den sie sonst meines Wissens nie benutzte). Schon während ihres Studiums in Pennsylvania lernte sie Ezra Pound kennen, der einer der Begründer des Imagismus war. Sie verliebte sich in ihn, und zeitweilig waren sie sogar miteinander verlobt. Ebenfalls noch in den USA hatte die bisexuelle H.D. ein Verhältnis mit der Dichterin Frances Gregg. Ezra Pound lebte seit 1909 in London, und 1911 folgten ihm H.D. und Gregg über den großen Teich. In London wurde sie von Pound schnell in die Literaturszene eingeführt, und sie begann, ihre Gedichte zu veröffentlichen. Nach dem Ende ihrer Beziehung mit Gregg hatte sie wechselnde Verhältnisse mit Männern und Frauen, und 1913 heiratete sie den englischen Dichter Richard Aldington, der ebenfalls den Imagisten zuzurechnen war. 1919 wurde ihre Tochter Frances Perdita als ihr einziges Kind geboren ("Frances" nach Frances Gregg, aber ihr Rufname war "Perdita", nach einer Shakespeare-Figur). Zu diesem Zeitpunkt hatten sie und Aldington, der durch seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg schwer erschüttert wurde, sich auseinandergelebt und getrennt. Sie blieben aber befreundet und ließen sich erst 1938 scheiden. Sowohl H.D als auch später Perdita machten ein Geheimnis aus der Identität von Perditas Vater. Das führte zu allerlei Spekulationen, "verdächtigt" wurden u.a. Aldington, Pound und D.H. Lawrence (mit dem sie befreundet war, aber, soweit man weiß, kein Verhältnis hatte). Erst 1983 enthüllte Perdita, dass es sich bei ihrem biologischen Vater um den schottischen Musikkritiker und Komponisten Cecil Gray handelte. 1918 lernte H.D. Bryher kennen, und sie wurden bald ein Paar und blieben es bis zu H.D.s Tod 1961. Es war aber eine offene Partnerschaft, und beide hatten gelegentlich noch weitere Partner, so hatte H.D. um 1927/28 ein Verhältnis mit Macpherson.

Einheimische
Nicht nur "H.D.", sondern auch "Bryher" war ein Pen Name, und seine Trägerin hieß ursprünglich Annie Winifred Ellerman (1894-1983). (In der IMDb ist sie gleich doppelt vorhanden, als "Winifred Ellerman" und als "Bryher MacPherson". Nicht nur die Verdoppelung ist unsinnig, sondern auch die letztere Schreibweise, denn der Name war einfach nur "Bryher" ohne "MacPherson", und nebenbei schreibt man Kenneth Macpherson auch ohne Binnenmajuskel.) Bryher war die Tochter des Schiffsmagnaten Sir John Ellerman, der zeitweilig als reichster oder zweitreichster Mann (nach dem König) Großbritanniens galt. Sie hatte also ein reiches Erbe in Aussicht und wurde schon zu Lebzeiten des Vaters finanziell üppig ausgestattet. Schon als Kind und Jugendliche war sie viel auf Reisen, was sie als Erwachsene fortsetzte. Bryher war lesbisch, und wie gesagt waren sie und H.D. seit spätestens 1919 ein Paar, und sie reisten fortan viel gemeinsam, wobei sie sich gelegentlich als Cousinen ausgaben, um keinen Anstoß zu erregen. 1920 nahm sie offiziell den Namen "Bryher" an, den sie von einer der Scilly-Inseln im Atlantik südwestlich von Cornwall entlehnte, wo es ihr auf einer Reise gut gefallen hatte. Um dem steifen Klima in England im Allgemeinen und ihrer in den Adelsstand versetzten Familie im Besonderen zu entgehen, verbrachte sie bis 1927 die meiste Zeit in Paris, wo sie zur großen anglo-amerikanischen Community gehörte, die man mit dem Namen Lost Generation belegt hat. Doch Paris ist nicht so weit von England entfernt, und auf Druck ihrer Eltern, die die gesellschaftlichen Konventionen gewahrt wissen wollten (anscheinend wurde sogar mit Enterbung gedroht), heiratete Bryher 1921 den bisexuellen amerikanischen Schriftsteller und Verleger Robert McAlmon, der ebenfalls zur Pariser Kolonie gehörte. Es war eine typische marriage of convenience, in der beide unter einem gesellschaftlich akzeptierten Deckmantel ihren sexuellen Neigungen nachgehen konnten. Zusammen gründeten sie in Paris den Verlag Contact Editions, der von McAlmon geleitet und von Bryher finanziert wurde, so dass man nicht auf Gewinne achten musste. Der Verlag veröffentlichte nicht nur Werke von H.D., Bryher und McAlmon selbst, sondern auch Bücher von Schriftstellern wie Hemingway, Gertrude Stein, William Carlos Williams, Ford Madox Ford und Djuna Barnes, die damit indirekt von Bryher subventioniert wurden. Einige Künstler unterstützte sie auch direkt finanziell, neben H.D. etwa die schrille Dadaistin Elsa von Freytag-Loringhoven.

Das tödliche Messer
1927 ließ sich Bryher scheiden, weil McAlmon zuviel trank (der Verlag existierte dann noch bis 1929), und ein Ersatz musste her. Der fand sich in Macpherson, der gerade der aktuelle Liebhaber von H.D. war, die er seit 1926 kannte. Kenneth Macpherson (1902 (nach einigen Quellen 1903)-1971) entstammte einer schottischen Künstlerfamilie, aber über sein Leben vor 1927 ist wenig bekannt. Der bisexuelle (aber wohl mehr den Männern zugeneigte) Macpherson hatte also eine Affäre mit H.D., die 1928 sogar von ihm schwanger war, sich aber zur Abtreibung entschloss, die in Berlin durchgeführt wurde (sie war schon nach der Geburt von Perdita fast gestorben). Geheiratet hat er aber nicht H.D., die ja ohnehin noch mit Aldington verheiratet war, sondern Bryher. Es war erneut eine marriage of convenience, die beiden Partnern die Gelegenheit bot, ungestört ihrem jeweiligen Privatleben nachzugehen. Doch während H.D. zuvor zu McAlmon wohl kein besonders enges Verhältnis hatte, entstand nun eine echte Ménage-à-trois. Die drei formierten sich zur Pool Group und riefen als deren wichtigste Aktivität Close Up ins Leben (daneben verlegten sie auch Bücher, vorwiegend eigene Werke und solche von Close Up-Mitarbeitern). Alle drei übersiedelten samt Perdita in die Schweiz und lebten und arbeiteten von 1927 bis 1931 in Territet am östlichen Ende des Genfer Sees, wo Bryher schon seit einigen Jahren ein Haus hatte. Daneben verbrachten sie aber weiterhin einen Teil ihrer Zeit in Paris, London oder Berlin. Alle drei kümmerten sich, sozusagen als erweitertes Elternpaar, um die Erziehung von Perdita, die keine Schule besuchte, sondern zuhause unterrichtet wurde. 1928 adoptierten Bryher und Macpherson das Kind, und aus Frances Perdita Aldington wurde Frances Perdita Macpherson. Die unorthodoxen Familienverhältnisse haben ihr offenbar nicht geschadet. Perdita Macpherson Schaffner (1919-2001), wie sie nach ihrer Heirat hieß, war im Zweiten Weltkrieg beim britischen Geheimdienst beschäftigt, zeitweise in Bletchley Park, wo die Chiffriermaschine Enigma entschlüsselt wurde. Nach dem Krieg ging sie in die USA, wo sie einen Literaturagenten heiratete und vier Kinder bekam. Sie betätigte sich als Essayistin und Philanthropin, die Theater und andere kulturelle Einrichtungen unterstützte.

Der Schauplatz
1931 zogen die vier von Territet in die eindrucksvoll modernistische Villa Kenwin (von KENneth und WINifred), die Bryher und Macpherson im Bauhaus-Stil von den Architekten Sándor (Alexander) Ferenczy und Hermann Henselmann errichten ließen. Kenwin liegt einige Kilometer nordwestlich von Territet in La Tour-de-Peilz, ebenfalls am Genfer See, zwischen Montreux und Vevey. Die große mehrstöckige Villa sollte nicht nur als Wohnort und als Zentrale von Close Up dienen, sondern auch als Studio für neue Filme von Macpherson - die dann aber wegen der schlechten Kritiken für BORDERLINE nie gedreht wurden. Heute gehört die Villa zum offiziellen Kulturerbe der Schweiz.

Villa Kenwin (aus KENWIN von Véronique Goël)
Wer bei diesem ganzen komplizierten Beziehungsgeflecht den Überblick verloren hat, dem hilft vielleicht diese Grafik weiter. - Um dieses Thema abzurunden: Gavin Arthur (1901-72), der Darsteller von Thorne, war der Enkel eines US-Präsidenten und Sohn eines reichen Unternehmers in Colorado. Nach seinem abgebrochenem Studium an der Columbia University betätigte er sich in einer Organisation, die der IRA nahestand (und wurde deshalb auch einmal verhaftet). Er lebte damals in New York, Irland und Frankreich, aber ich weiß nicht, wie er mit der Pool Group in Kontakt kam. In den 30er Jahren zog es ihn nach Kalifornien, wo er eine Kunst- und Literaturkommune gründete und ein Magazin herausgab. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem er in der Navy war, war das elterliche Vermögen offenbar aufgebraucht, denn neben seinen kulturellen Aktivitäten betätigte er sich auch als Zeitungsverkäufer und Goldsucher, noch später als Astrologe und als Sexologe (aus astrologischer Perspektive). Er war mit etlichen Vertretern der Beat Generation befreundet, darunter Allen Ginsberg, und war in der amerikanischen Schwulenbewegung aktiv, denn - Überraschung! - auch Gavin Arthur war bisexuell. Charlotte Arthur, die Barfrau in BORDERLINE, war von 1922 bis 1932 seine Frau (er war danach noch zweimal verheiratet), und sie hat 1930 auch einen zweiteiligen Artikel für Close Up geschrieben. - Robert Herring (1903-1975), der Pianist, war der Londoner Korrespondent und regelmäßiger Autor von Close Up. 1935 kaufte Bryher die Literaturzeitschrift Life and Letters Today, und Herring wurde für 15 Jahre ihr Chefredakteur. Die Zeitschrift war in gewissem Sinn ein Nachfolgeprojekt zu Close Up, und eine Reihe von Close Up-Autoren war auch hier wieder mit Artikeln oder literarischen Texten vertreten, darunter H.D., Macpherson und Eisenstein. Herring schrieb auch Gedichte und einen Roman, und auch er war homo- oder bisexuell. - Über Blanche Lewin, die alte Frau in BORDERLINE, konnte ich nichts Substanzielles herausfinden. Aber sie gehörte jedenfalls auch zum Dunstkreis der Pool Group und hatte schon in einem von Macphersons Kurzfilmen mitgespielt. Auf Paul und Eslanda Robeson komme ich weiter unten zu sprechen.


Mit der Ausgabe vom Dezember 1933 stellte Close Up das Erscheinen ein. H.D. schrieb nur in der Anfangszeit halbwegs regelmäßig Artikel, und in den 30er Jahren erschienen in Close Up überhaupt keine Beiträge mehr von ihr. Ihre Mitherausgeberschaft war ohnehin nur ideell, weil sie keinen Sinn für's Praktische hatte und psychisch labil war. Und Macpherson verlor nach dem ausbleibenden Erfolg mit BORDERLINE nicht nur die Lust, weitere Filme zu drehen, sondern langsam auch das Interesse am Film insgesamt. Sowohl seine eigenen Artikel als auch seine editorischen Aktivitäten gingen stark zurück, was zunächst dadurch kompensiert wurde, dass Oswell Blakeston, der fleißigste Schreiber der Zeitschrift, zum Mitherausgeber befördert wurde. Doch schließlich nabelte sich Macpherson ganz ab, er ging ab 1934 auf ausgiebige Reisen. Bryher und H.D. traf er nur noch selten, aber die Mitglieder der Patchwork-Familie und ihr großer Freundeskreis schrieben sich regelmäßig Briefe und blieben so in Kontakt. Anfang der 40er Jahre ließ sich Macpherson in New York nieder. Sein besonderes Interesse galt Harlem, sowohl in kultureller wie in sexueller Hinsicht. Er hatte damals aber auch eine Affäre mit der Kunstsammlerin und Mäzenin Peggy Guggenheim, bei der er auch längere Zeit wohnte. Hier kehrte Macpherson noch einmal zum Film zurück: Er produzierte (letztlich mit Guggenheims Geld) ab 1944 den surrealistischen DREAMS THAT MONEY CAN BY, den der aus Deutschland emigrierte Dadaist Hans Richter konzipierte und zusammen mit Kollegen wie Man Ray und Max Ernst inszenierte. Der Film nahm einige Zeit in Anspruch und erschien 1947. In diesem Jahr wurde die Zweckehe mit Bryher, die längst keinen Sinn mehr hatte, geschieden. Ebenfalls 1947 übersiedelte Macpherson nach Italien, und für den Rest seines Lebens wohnte er nacheinander auf Capri, in Rom und in der Toskana, wo er 1971 starb.


Bryher war es, die bei der Herausgabe von Close Up die meisten praktischen Dinge erledigte, sie hatte die nötige Energie und das Organisationstalent dazu (auch bei der Erziehung von Perdita schien sie den Ton angegeben zu haben). Doch auch sie orientierte sich um 1933 neu. Einerseits wollte sie eine Ausbildung als Psychoanalytikerin absolvieren (nachdem sie sich von Hanns Sachs selbst hatte analysieren lassen), was sie dann aber nicht konsequent durchzog. Andererseits wurde sie durch die politische Entwicklung in Deutschland zu neuen Prioritäten geführt. Bei ihren häufigen Besuchen in Berlin hatte sie selbst sehen können, wie die Nazis das Land veränderten. Schon in der Close Up vom Juni 1933 veröffentlichte sie unter dem Titel "What Shall You Do in the War?" einen Artikel über Deutschland, in dem es etwa im zweiten Absatz heißt: "Tortures are freely employed, both mental and physical. Hundreds have died or been killed, thousands are in prison, and thousands more are in exile." Und der Artikel endet mit einer Art von Aufruf: "The future is in our hands for every person influences another. The film societies and small experiments raised the general level of films considerably in five years. It is for you and me to decide whether we will help to raise respect for intellectual liberty in the same way, or whether we all plunge, in every kind and colour of uniform, towards a not to be imagined barbarism." Fortan investierte sie viel Geld und Energie darin, Juden und anderen Verfolgten die Flucht aus Deutschland zu ermöglichen, wobei Kenwin als Durchgangsstation diente. Sie hatte auch mehr denn je die Mittel dazu, denn im Juli 1933 starb ihr Vater. Zwar erbte den Löwenanteil des Vermögens, ca. 20 Mio. £, Bryhers jüngerer Bruder John, der die Schiffahrtslinien und sonstigen Geschäfte weiterführte. Auch John Ellerman jr. verwendete viel Geld darauf, Juden bei der Flucht aus Deutschland zu helfen, und nebenbei beschäftigte er sich als Gelehrter mit den Nagetieren. Doch Bryher erhielt aus dem Erbe auch noch üppige 900.000£, nach heutigem Wert ein zweistelliger Millionenbetrag.


Die Involvierung des Trios in Fragen der Psychologie und Psychoanalyse war tiefgehend und lang anhaltend. Schon in den frühen 20er Jahren waren Bryher und H.D. mit dem Psychologen und Sexualforscher Havelock Ellis auf Reisen, und nicht nur Bryher ließ sich von Hanns Sachs analysieren, sondern auch H.D.. Sachs gehörte zum engsten Kreis um Sigmund Freud, und er war einer der ersten, die die Psychoanalyse nicht nur rein medizinisch verstanden, sondern auf kulturelle Phänomene anwandten, insbesondere auf Literatur und dann auch auf den Film. Sachs und sein Kollege Karl Abraham, ebenfalls aus dem engen Kreis um Freud, waren die fachlichen Berater bei Pabsts GEHEIMNISSE EINER SEELE (Pabst und sein Produzent Hans Neumann wollten auch Freud als Berater, doch der lehnte kategorisch ab). Sachs' Theorien über Psychoanalyse und Film überzeugten auch Macpherson, und sie beeinflussten seine Art, wie er Eisensteins Montagetheorie verstand. Sachs emigrierte 1932 in die USA, ohne dass H.D.s Analyse schon abgeschlossen gewesen wäre. Deshalb setzte sie, mit einer Empfehlung von Sachs versehen, die Behandlung bei keinem Geringeren als Freud selbst in Wien fort.


Im Zweiten Weltkrieg lebten Bryher und H.D. zusammen in einer Wohnung in London. Ab 1946 wohnten sie nicht mehr zusammen, und die immer labile H.D. hatte in diesem Jahr einen Nervenzusammenbruch. Die beiden blieben aber auf einer loseren Ebene ein Paar, und Bryher sorgte weiterhin für H.D.s Lebensunterhalt und erledigte viele praktische Dinge, so dass sich H.D. ganz auf ihre Gedichte und sonstigen literarischen Aktivitäten konzentrieren konnte. Sie wohnte wieder in der Schweiz, und 1961 starb sie nach einem Schlaganfall in Zürich. Bryher schrieb in den 50er und 60er Jahren einige erfolgreiche historische Romane, die sie über die Avantgarde-Zirkel hinaus bekannt machten. Zeitweise wohnte sie auch wieder in Kenwin, und gestorben ist sie 1983 in Vevey, nicht weit von der Villa.


Ich habe es oben schon angedeutet: Vor BORDERLINE drehte die Pool Group schon drei Kurzfilme, nämlich WING BEAT (1927), FOOTHILLS (1928) und MONKEYS' MOON (1929), die alle in und um Territet entstanden. Die ersten beiden sind nur in Fragmenten erhalten, von letzterem wurde vor einigen Jahren eine Kopie wiederentdeckt. Die Arbeit an BORDERLINE begann im Mai 1929: Macpherson verfertigte das Drehbuch in Form eines umfangreichen kommentierten Storyboards mit fast 1000 Zeichnungen. Die Dreharbeiten in der Nähe von Territet begannen im März 1930, und sie dauerten keine zwei Wochen, denn es wurde kaum geprobt, und fast jede Einstellung wurde nur einmal gedreht. Macpherson war Regisseur und führte die Kamera (eine handliche 35mm-Kamera vom Typ Debrie Parvo L, die man sowohl kurbeln als auch elektrisch antreiben konnte), und sein Vater, der Maler John Macpherson, assistierte als Beleuchter. Den Schnitt besorgte das Pool-Trio gemeinsam, und im Juni war der Film fertig. Er wurde in ausgewählten Kinos und Filmclubs gezeigt, etwa in Berlin im Kino "Rote Mühle", und in Brüssel bei einem Filmkongress. Wie schon erwähnt, waren die meisten Kritiken ungnädig, und in England sogar ausgesprochen hämisch. BORDERLINE hätte 1931 auch in den USA gezeigt werden sollen, wurde aber bei der Einfuhr aus unbekannten Gründen vom Zoll konfisziert. Die häufigste Begründung für die schlechten Noten war, dass die Handlung "unklar" oder "obskur" und die Struktur "chaotisch" sei.


In der Tat ist die ohnehin knappe äußere Handlung auch recht elliptisch dargeboten, so dass man sich manches selbst zusammenreimen oder aus eher versteckten Details erschließen muss. So ist etwa ein im Lokal hängendes Plakat, das Reklame für die schweizerische Schifffahrtslinie auf dem Genfer See macht, der (wenn ich nichts übersehen habe) einzige Hinweis darauf, wo das Ganze ungefähr spielt. Aber auch im Beziehungsgeflecht der vier Hauptpersonen bleibt manches unklar und der Interpretation des Zuschauers überlassen. Denn die Beziehungen werden zum größten Teil nicht durch Dialoge oder gar erläuternde Texttafeln transportiert, sondern einerseits durch Gesten und Blicke, und andererseits durch symbolische Zwischenschnitte. Es wird viel geblickt in BORDERLINE, Blicke, die Begehren, Eifersucht oder Wut ausdrücken, aber wenig gehandelt und wenig geredet (in dem Sinn, dass es nur wenige Zwischentitel mit Dialogen gibt, die dann auch immer recht knapp ausfallen). Und zwischen den Einstellungen, die den Plot voranbringen, gibt es Bilder etwa von einer Katze auf der Straße, die sich aus einem Wasserglas einen Fisch angelt, von Bergen und einem ziemlich grandiosen Wasserfall, aber auch Großaufnahmen von den Körpern der Darsteller (und hier vor allem von Robesons Körper). Auch die Symbolik dieser Zwischenschnitte wird nicht auf dem Präsentierteller dargeboten, sondern bleibt offen für Interpretationen. Das Thema Homosexualität wird nicht offen angeschnitten, ist aber sehr wohl unterschwellig vorhanden. Der Pianist hat ein Foto von Pete an sein Klavier geklemmt, direkt neben den Noten, so dass er es jederzeit betrachten kann (womit wir wieder bei den Blicken sind). Und die Bardame und ihre Chefin wirken sehr vertraut miteinander, die eine krault der anderen auch mal das Haar - vielleicht sind sie mehr als nur Freundinnen. Andeutungen, Indizien ...

Zwischenschnitte
Das Schnitttempo von BORDERLINE ist über die gesamte Laufzeit gemessen nicht übermäßig hoch, er entspricht in dieser Hinsicht also keineswegs einem der Revolutionsfilme von Eisenstein oder Pudowkin. Doch an einzelnen Stellen, vor allem beim tödlichen Streit zwischen Astrid und Thorne, wird das Tempo stark angezogen. Es kommt hier zu regelrechten Ausbrüchen von Schnittgewittern, mit Einstellungen, die nur etwa vier bis sieben Frames lang sind und sich rasend schnell abwechseln, so dass ein stroboskopartiger Effekt entsteht. H.D. hat in einem Artikel über den Film von 1930 dafür den Ausdruck clatter montage geprägt. Ein derart hochfrequenter Schnitt kam auch bei Eisenstein selten vor, wenn überhaupt, wohl aber bei den französischen Impressionisten um Abel Gance (die natürlich auch auf dem Radar von Close Up waren).

Großaufnahmen von Körperteilen
Ein gemeinsames Interesse des Pool-Trios habe ich noch nicht erwähnt, nämlich die "Rassenfrage" (und damit kommen wir langsam zu Robeson). Alle drei (und auch Herring und andere Close Up-Autoren) interessierten sich für afroamerikanische und schwarzafrikanische Kultur und waren strikt gegen Rassismus eingestellt, auch gegen einen "wohlwollenden", paternalistischen Rassismus, wie er auch in vielen Hollywood-Filmen zum tragen kam. Ein besonderer Motor dieses Interesses war die Harlem Renaissance der 20er Jahre, in der urbane schwarze Intellektuelle und Schriftsteller wie W.E.B. Du Bois, Langston Hughes und Walter Francis White ebenso wie Blues- und Jazzmusiker wie Bessie Smith und Duke Ellington über die USA hinaus Strahlkraft entfalteten. Auch vom "schwarzen Paris" waren Macpherson, Bryher und H.D. beeindruckt, in dem Künstler wie Josephine Baker und Johnny Hudgins (die auch beide Bestandteil der Harlem Renaissance waren) reüssierten, ja geradezu Triumphe feierten (auch Eisenstein war davon ungemein beeindruckt, als er Anfang 1930 einige Wochen in Paris verbrachte, bevor er nach Hollywood aufbrach).

Astrids letzte Stunden
Die Close Up-Ausgabe vom August 1929 war ausschließlich der schwarzen Kultur, und insbesondere den Möglichkeiten des schwarzen Films, gewidmet. Das Trio war keineswegs frei von zeitgebundenen Klischees und Vorurteilen. Eslanda Robeson schrieb in ihrem Tagebuch, dass sie und Paul manchmal Tränen lachten über die naiven Vorstellungen von Macpherson und H.D. über die "Negroes" und dabei ihr Make-up ruinierten und sich neu schminken mussten. Aber das Interesse und Engagement war aufrichtig, und damit standen sie damals in Europa nicht allein da. So veröffentlichte etwa Nancy Cunard 1934 in London als Herausgeberin die eindrucksvolle, fast 900 Seiten starke Anthologie Negro, zu der ca. 150 Mitarbeiter (zwei Drittel Schwarze) beitrugen. Nancy Cunard (1896-1965) war sozusagen eine Kollegin von Bryher: Auch sie war die Erbin eines reichen Vermögens, das aus einer Reederei (der berühmten Cunard Line) stammte. Auch sie floh vor ihrer Familie nach Paris, wo sie alle maßgeblichen Künstler und Schriftsteller kannte und einen nicht gewinnorientierten Verlag gründete, und auch sie war stark antirassistisch und antifaschistisch eingestellt. Der Kreis ihrer Freunde und ihrer literarischen Schützlinge als Verlegerin überschnitt sich stark mit dem von Bryher, und (die heterosexuelle) Cunard und Bryher waren auch miteinander befreundet. Macpherson steuerte zur Anthologie Negro einen Artikel mit dem Titel "A Negro Film Union - Why Not?" bei.

Cover sowie Impressum und Inhaltsangabe der Ausgabe vom August 1929
1930 konnte Paul Robeson schon sehr ansehnliche Honorare verlangen, doch in BORDERLINE hat er offenbar - genau wie alle anderen Darsteller - umsonst mitgespielt. Man weiß nicht genau, wie er dazu überredet wurde. Paul Robeson (1898-1976) war von eindrucksvoller körperlicher Statur, und schon während seines Studiums an der Rutgers University betrieb er erfolgreich mehrere Sportarten, und er war sogar kurzzeitig Profi-Footballer. Nach Abschluss seines juristischen Examens an der Columbia University trat er in eine Anwaltskanzlei ein, doch als man ihm bedeutete, dass ihn nie ein weißer Klient als Rechtsvertreter akzeptieren würde, ließ er die Juristerei sein und wandte sich als Sänger und Schauspieler dem Showbusiness zu. (Man ist sich nicht ganz einig, ob seine überaus kräftige Singstimme ein Bass oder Bariton war - die ehrwürdige New York Times hat dieser Frage sogar einen tiefschürfenden Artikel gewidmet.) Seit 1923 stand er in New York auf der Bühne und wurde nun auch ein Bestandteil der Harlem Renaissance. Sein Durchbruch kam mit den Hauptrollen in zwei Stücken von Eugene O'Neill, und seine erste Filmrolle spielte Robeson in BODY AND SOUL (1925) von Oscar Micheaux, dem wichtigsten Produzenten und Regisseur des frühen afroamerikanischen Films (race films nannte man diesen Sektor damals). BORDERLINE war sein zweiter Film (wenn man die zusammengestückelte Obskurität CAMILLE des Cartoonisten Ralph Barton nicht mitzählt). Seit 1927 lebte und arbeitete Robeson vorwiegend in London, und er hatte in Sprechstücken ebenso wie in Musicals und mit Konzerten Erfolg. Zu seinen Markenzeichen zählten etwa die Rolle des Othello und seine Interpretation von "Ol' Man River" aus dem Musical "Show Boat".

Die Chefin raucht Zigarre
Von 1921 bis zu ihrem Tod war Robeson mit Eslanda (1895-1965) verheiratet. Sie hatte Chemie studiert und arbeitete in diesem Metier in einem Krankenhaus, und nach der Hochzeit wurde sie auch Pauls Managerin, zunächst nebenbei, und ab 1925 hauptberuflich. Robeson war ein Womanizer, und um 1930 herum übertrieb er es offenbar mit seinen Affären (u.a. mit seiner Bühnenpartnerin Peggy Ashcroft, seiner Desdemona in "Othello"). 1931 hatte Eslanda genug. Sie trennte sich von Paul, studierte in London nun auch noch Anthropologie, spielte nebenbei in drei Filmen mit und machte eine Forschungsreise nach Afrika (zu der später noch zwei weitere kamen), worüber sie ein Buch aus feministischer Sicht schrieb. Die zunächst geplante Scheidung wurde zwar schnell wieder abgesagt, aber die Ehe war nur noch eine Zweckgemeinschaft zur Erziehung ihres Sohnes Paul jr., sowie eine berufliche Gemeinschaft, denn Eslanda war nach wie vor Pauls Managerin. Die beiden engagierten sich auch gemeinsam in der Bürgerrechts- und Friedensbewegung, wobei Eslanda auch ihren feministischen Standpunkt einbrachte, und unabhängig von Paul verfolgte Eslanda eigene Projekte, so schrieb sie weitere Bücher. Pauls Filmkarriere begann eigentlich erst 1933 so richtig, als er in englischen und amerikanischen "weißen" Filmen wie THE EMPEROR JONES, SANDERS OF THE RIVER, SHOW BOAT, SONG OF FREEDOM und der zweiten Verfilmung von KING SOLOMON'S MINES Hauptrollen spielte.


Robeson war schon früh an der Bürgerrechtsfrage interessiert, und in England wurde er auch für den Sozialismus gewonnen. Er las einerseits Marx, Engels, Lenin und Stalin, aber andererseits unterstützte er ganz praktisch walisische Bergarbeiter, die unter miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen litten und zusätzlich gerade von einem schweren Grubenunglück heimgesucht wurden. Noch Jahrzehnte später hielt man im südwalisischen Bergbaugebiet Robeson ein ehrendes Andenken. 1934 besuchte er auf Einladung von Eisenstein, mit dem er sich befreundete, zum ersten Mal die Sowjetunion, wo er keinerlei Rassismus begegnete, was dazu führte, dass er lange - vielleicht allzu lange - dem Stalinismus völlig unkritisch gegenüberstand, als dessen Verbrechen längst bekannt waren. In den Zeiten des Roosevelt'schen New Deal und der kriegsbedingten Partnerschaft der USA und der UdSSR bescherte Robesons politische Einstellung ihm in der Heimat keine größeren Probleme, doch das änderte sich nach dem Krieg dramatisch. Er wurde nun als Kommunist scharf angegriffen, das FBI bespitzelte ihn nicht nur permanent, sondern behinderte auch aktiv seine Konzerte, und seine Schallplatten und Filme wurden mit einem Bann belegt. Als Höhepunkt der Hexenjagd wurde ihm 1950 vom Außenministerium der Reisepass entzogen, so dass er die USA nicht mehr verlassen durfte. Besonders perfide war, dass "patriotische" schwarze Sportler und Bürgerrechtler (die teilweise stark unter Druck gesetzt wurden) gegen den "Landesverräter" ausgespielt wurden. Internationale Proteste gegen den Entzug des Passes blieben ebenso erfolglos wie Robesons jahrelange Gerichtsprozesse dagegen. Erst nach einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA, die nicht ihn persönlich betraf, aber allgemeine Geltung hatte, bekam er 1958 wieder einen Pass. Er nutzte das, um, wie schon rund 30 Jahre zuvor, wieder nach London zu ziehen, wo das Klima ihm gegenüber weit freundlicher war. In den Ostblockstaaten, wohin er jetzt wieder reisen konnte, wurde er mit Ehrungen überhäuft. Von den zermürbenden Auseinandersetzungen und von Krankheiten geschwächt, beendete er 1963 seine Karriere und zog wieder in die USA, wo er 1976 in Philadelphia starb. Ich könnte noch viele interessante Dinge über diesen in mehrerlei Hinsicht faszinierenden Künstler erzählen, z.B. wie Eisenstein mit ihm in der Hauptrolle einen Film über die erfolgreiche Sklavenrevolution in Haiti drehen wollte. Aber der Artikel ist schon ziemlich lang - vielleicht ein andermal ...


BORDERLINE ist in Deutschland bei arte (in Zusammenarbeit mit absolut Medien) auf DVD erschienen, mit einem gelungenen Soundtrack des englischen Saxophonisten Courtney Pine. In England gibt es BORDERLINE auf einem 2-DVD-Set vom BFI, mit demselben Soundtrack und einem Booklet mit drei Essays. Auf der zweiten Scheibe befindet sich der Dokumentarfilm KENWIN (1996) von Véronique Goël, den ich allerdings ziemlich frustrierend finde. In den USA gibt es von Criterion die 4-DVD-Box Paul Robeson: Portraits of the Artist, die sechs Spielfilme von BODY AND SOUL über BORDERLINE bis THE PROUD VALLEY (1940) ebenso enthält wie Leo Hurwitz' und Paul Strands klassisches Doku-Drama NATIVE LAND (1942), in dem Robeson als Erzähler fungiert, dazu noch die Doku PAUL ROBESON: TRIBUTE TO AN ARTIST und weiteres Bonusmaterial. Wenn man bezüglich Robeson nicht kleckern, sondern klotzen will, dann ist man hier richtig. Daneben gibt es in den USA und in England noch weitere Boxen und Einzel-DVDs mit Robeson-Filmen, sowie die empfehlenswerte zweistündige Doku PAUL ROBESON - HERE I STAND.


Irgendwann gelangten die Verwertungsrechte an Close Up an die amerikanische Kongressbibliothek, die sie als Public Domain freigegeben hat. Und erfreulicherweise hat man sich die Mühe gemacht und sämtliche Ausgaben gescannt und in digitaler Form zur Verfügung gestellt. Man findet jetzt alle zehn Bände (von 1927 bis 1930 jeweils ein halbes Jahr und von 1931 bis 1933 jeweils ein Jahrgang) beispielsweise bei archive.org (hier verlinkt), wo man sowohl online stöbern als auch die Bände in verschiedenen Formaten komplett herunterladen kann. Und als ob das noch nicht genug wäre, kann man das 340-seitige Buch CLOSE UP 1927-1933: Cinema and Modernism, das ausführliche Kommentare der Herausgeber und einen informativen Anhang mit ausgewählten, thematisch geordneten Artikeln aus Close Up vereint, komplett als PDF herunterladen. Da bleiben für den geneigten Hobby-Forscher kaum noch Wünsche offen!

Das Ende