Sonntag, 2. Oktober 2016

Intergalaktischer Klassenkampf mit Schlangen, Lederfetischisten und Acid aus der Sprühdose

Ein Produkt des VEB Halluzinogene für Weltraum-Trips Zünrow (made in GDR)



IM STAUB DER STERNE
Deutsche Demokratische Republik 1976
Regie: Gottfried Kolditz
Darsteller: Jana Brejchová (Akala), Alfred Struwe (Suko), Ekkehard Schall (der Chef), Milan Beli (Ronk), Leon Niemczyk (Thob), Violeta Andrei (Rall), Sylvia Popovici (Illic), Regine Heintze (My)


Ein Raumschiff vom Planeten Cynro ist auf dem Weg zum Planeten Tem, der einen Hilferuf versendet hat. Bei der Landung kommt es aufgrund von Störungen (oder sind es Angriffe?) fast zum Absturz. Die Kosmonauten unter der Leitung von Akala werden auf Tem vom Sicherheitsbeauftragten Ronk empfangen, der seinen Gästen sehr resolut, fast schon grob, versichert, dass es keinen Hilferuf gegeben habe und dass sie wieder nach Cynro zurückfliegen sollten. Vor ihrem Abflug werden sie aber auf eine Abendparty eingeladen, auf der auch alle außer Navigator Suko erscheinen, der gemäß Protokoll im Raumschiff bleibt und es überwacht. Nach der Feier leiden die Cynroer bis auf Suko allesamt an Kopfschmerzen, Bewusstseinsstörungen, Gedächtnislücken und Ausbrüchen erratischen Verhaltens. Suko will sich den Planeten jetzt genauer ansehen, geht auf Entdeckungstour mit einem Minihelikopter und findet heraus, dass in unterirdischen Bergwerken Hunderte Zwangsarbeiter Kohle schippen: es sind die Turi, die Einheimischen Tems, die von den Besatzern (also den Personen, die die Cynro-Expedition empfangen haben) versklavt wurden. Suko wird bei seiner Entdeckungstour von den Sicherheitskräften Tems erwischt, gefangen genommen, anschließend befragt und gefoltert. Akala wird derweilen zum exzentrischen Chef von Tem gebeten, der sie mit Nachdruck bittet, zusammen mit ihrer Mannschaft Tem zu verlassen und ihr anschließend den mittlerweile gehirngewaschenen Suko zurückgibt. Auf dem Raumschiff erinnert ein Zufall die bewusstseinsgestörten Kosmonauten daran, dass sie eigentlich wegen eines Hilferufs hergekommen sind und dass dieser offenbar von den gefangenen Ureinwohnern des Planeten, den Zwangsarbeitern unter Tage, gesendet worden ist. Die Besucher aus Cynro sind sich unsicher, ob sie schleunigst verschwinden oder ob sie bleiben und den Turi (also den Ureinwohnern Tems) helfen sollten. Die Besatzer Tems sind sich unschlüssig, ob sie die unerwünschten Gäste ausweisen oder gefangen halten sollten. Beim Hin-und-Her kommt es zum Showdown. Die Mannschaft aus Cynro fliegt mit dem Raumschiff schließlich weg. Zurück bleiben Suko und Akala. Ersterer stirbt beim Absturz des Erkundungshelikopters und wird von den Turi würdevoll zu Grabe getragen. Akala bleibt, nachdem sie einem gefangenen Turi-Mädchen Mut zugesprochen hat, ratlos und einsam in der Wüstenlandschaft Tems zurück...

Klingt nicht gerade sehr spannend? Wem das etwas alles etwas trocken erscheint, sehe sich die folgenden Screenshots aus dem Film an:








Ein Science-Fiction-Film aus der DDR, einem Land, das im Gegensatz zur Sowjetunion oder auch zu Polen keine besonders ausgeprägte Science-Fiction-Tradition hatte... Nun, das alleine macht IM STAUB DER STERNE noch sicherlich nicht zu einem besonderen Film. Was ihn besonders macht, ist sein auffallender Hang zum Bizarren, zum Exzentrischen, zum Psychedelischen, zum Surrealistischen, zum blanken Irrsinn, der zwar nicht den kompletten Film durchherrscht, aber immer wieder in mehr oder weniger ausgedehnten Szenen hervorblitzt. Es sind eben diese Momente, die IM STAUB DER STERNE letztlich wahrhaftig faszinierend machen – ihm aber bislang auch einen sehr schweren Stand beschert haben. Es gibt im Internet nur wenige Texte, die ihn ernst nehmen. Wahlweise wird der Film als mieser Billig-Trash oder als lustiger Party-Biertrink-Trash mit ulkigen DDR-Akzenten bezeichnet. IM STAUB DER STERNE jegliches Camp-Potential abzusprechen dürfte ein Ding der Unmöglichkeit sein, und dass Cynro von allen Beteiligten ausgesprochen wird, als handle es sich um ein Dorf in Sachsen („Zünrow“) lässt sich auch nicht leugnen. Dennoch: Jim Morton, Betreiber des „East German Cinema Blog“ mit Sitz in San Francisco, lobt IM STAUB DER STERNE als ultimatives Beispiel dafür, dass experimentelles Filmemachen in der DDR auch im Rahmen des Mainstream- und Genre-Kinos möglich war.

In den ersten paar Minuten sieht IM STAUB DER STERNE tatsächlich so aus, wie man sich einen Science-Fiction-Film aus der DDR im allgemeinen so vorstellt: trotz eines Fast-Absturzes sehr mäßig actionreich oder zumindest holperig in der Actioninszenierung, mit Kostümen, die ein bisschen wie leicht umgenähte Trainingsanzüge einer osteuropäisch-sozialistischen Armee aussehen, mit Dekoren, die das Beste aus Mangelwirtschaft machen und mit einem fremden Planeten, der wie eine stillgelegte Salzmine im Osten Rumäniens aussieht (wahrscheinlich deshalb, weil der Film tatsächlich teilweise auf einer solchen gedreht wurde). Dass hier aber dennoch nicht alles mit „rechten“ bzw. „ostdeutsch-bieder-sozialistischen“ Dingen zugeht, wird klar, als die Kosmonauten nach ihrer Landung von einer Temerin begrüßt werden, die in ihrem Kleid wie eine Indianerin aussieht. Wird aus dem Film jetzt doch ein Western?

Bei dem Empfang durch den Sicherheitschef wird dann als erstes ein Tablett mit, nun ja, Mundsprays herumgereicht. Jeder sprüht sich etwas in den Mund. Thob, der Witzbold unter den Cynroer Kosmonauten, läuft rot an, verdreht die Augen und hustet so stark, dass zu befürchten ist, er würde gleich an einem Erstickungsanfall sterben. Ronk, der Temer Sicherheitschef, beruhigt die Anwesenden: „Blau ist süß, rot ein wenig scharf.“ Thob hatte einen roten Mundspray. Trotzdem: haben die sich eben gerade alle Drogen reingepfiffen?

Eine... Indianerin (?) begrüßt die Gäste aus Cynro,
doch statt Friedenspfeife gibt es Drogen aus der Sprühdose.

So richtig verneinen lässt sich die Frage wenige Minuten später nicht mehr, denn dann fängt die Party an. Leicht bekleidete Damen tanzen ekstatisch zu einer elektronischen Prog-Rock-Jazz-Fusion-Musik. Die Besucher aus Cynro haben sich mit ihren allerschicksten Party-Overalls aus knallrotem Leder aufgebretzelt und mischen sich unter den Einheimischen. Die Szene wird von mehreren Extremnahaufnahmen geschminkter Augen unterbrochen (die wohl den Temer Tänzerinnen gehören). Das Büffet mit den lokalen Köstlichkeiten – zu „trinken“ gibt es außerdem große Spray-Dosen, von hübschen Temerinnen auf Tabletts herumgereicht – hat eine recht interessante Deko: lebende Riesenschlagen, die nonchalant zwischen den Speisen umherkriechen. Offensichtlich ist es nicht verboten, mit der Deko zu spielen, denn einige Einheimische und auch eine Cynro-Kosmonautin tanzen später im Duett mit einer der Schlangen. Die Gäste aus Cynro bekommen dann sogar (unfreiwillig) ein Spezialprogramm: eine kleine ferngesteuerte Gehirnwäsche, die sich als strahlender Punkt auf ihrer Stirn sichtbar macht...

...und dafür sorgt, dass sie auf der Party nicht nur sehr viel Spaß haben, sondern danach so ziemlich alles wieder vergessen haben (vor allem, dass sie wegen eines Hilferufs gekommen waren) und sich etwas merkwürdig benehmen. Alle kommen recht betrunken zurück zum Raumschiff, wo sie ein stocknüchterner Suko tadelnd erwartet. Einige schlafen ein, Akala bleibt erstmal mit Kopfschmerzen wach und eine Crew-Frau geht nach dem Duschen in den Aufenthaltsraum, legt das Badetuch ab und beginnt, zur Radiomusik (Radio Tem sendet offenbar in Dauerschleife Prog-Rock-Jazz-Fusion-Mäßiges) nackt und in Trance zu tanzen. Das ist vielleicht der bemerkenswerteste Moment im ganzen Film: ein drogeninduzierter Nackttanz, wunderschön als Silhouette vor einer gelb beleuchteten Wand mit geometrischem Relief gefilmt.

Die Temer feiern wilde Parties mit Speis, Trank, Tanz, Drogen, Fetisch-Kleidung,
extravaganter Deko und telepathischen Spielchen.

Ein Nackttanz nach Ende der Feierlichkeiten 

Danach wird es wieder ein Tick ruhiger. Zeit, um ein bisschen Plot abzuarbeiten: Suko entdeckt die Zwangsarbeiter, wird erwischt, gefoltert, Akala wird als Kommandantin der Cynroer zum Chef gebeten. Hier nur ein kleiner Einschub: dass eine Frau Kommandantin einer Raumschiff-Expedition ist, wird hier nicht im geringsten thematisiert oder gar problematisiert, und zwar weder von den Mitgliedern der Mannschaft selbst (in der jede/r jede/n duzt und die Hierarchien zugegeben sehr flach sind), noch von den Besatzern Tems. Vielleicht das „unsichtbarste“ oder zumindest „unscheinbarste“ typische DDR-Element des Films?
Zurück: Wer also denkt, dass IM STAUB DER STERNE nun schon alles verpulvert hat, hat den Chef von Tem noch nicht kennen gelernt (er bleibt namenlos: man sieht ihn zwar mit einer Brosche in B-Form, doch vielleicht könnte das auch für „Boss“ stehen). Die Eingangstür zu seinem Empfangsraum wird von starken Männern in Lederstiefeln, Lederröckchen und Hemden mit offenen Maschen bewacht – als kämen sie gerade aus Londons extravagantester S&M-Fetisch-Boutique (und nicht aus der Kostümabteilung eines ostdeutschen Filmstudios). Im Eingang des Chef-Raums wird Akala von einer merkwürdigen Form der Installationskunst empfangen: Köpfe in Schaufenstern, die sich bewegen und sie dann auch grimmig anschauen. Dann folgt ein Spiegelkabinett und Akala stößt sich mehrmals an Glas, bevor sie dann den Salon findet, wo sich wieder lebende Deko (sprich: eine Schlange) tummelt. Der Chef ist nun auch da und empfängt Akala mit frisch in Blau eingesprühten Haaren (wir sahen ihn kurz vorher beim, ähm... „Friseurtermin“). Er schnappt sich die Schlange und spielt mit ihr. „Haben Sie keine Angst: sie ist giftig, aber sie gehorcht auf‘s Wort.“ – versichert er Akala. Na, da kann die Chefin der Cynro-Expedition aber beruhigt sein! Dann zeigt er ihr etwas anderes: eine komische Spielzeugkonsole mit vielen bunten Knöpfen. Er bedient sie, und schon tauchen im ganzen Spiegelkabinett leicht bekleidete Tänzerinnen auf. Ist das ein Projektionssystem, oder handelt es sich einfach nur um Tänzerinnen, die auf Knopfdruck erscheinen? Man weiß es nicht wirklich (wenngleich IM STAUB DER STERNE in plotreichen Sequenzen durchaus Expositionsdialog auffährt, so lässt er besonders die etwas irrsinnigeren Elemente ohne jegliche Erklärung – gut so!). Beim Druck bestimmter Knöpfe können die Tänzerinnen und die Musik offenbar schneller „abgespielt“ werden. Akala scheint davon nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Der Chef hat offensichtlich aber Vergnügen daran. Ja er scheint gar davon regelrecht sexuell erregt zu werden, und wie er schwer atmend die Knöpfe bedient sieht er auch ein bisschen so aus, als würde er zur Begrüßung mal eben vor seinem Gast masturbieren. Dann klinkt er sich wieder ein und erklärt Akala „Manchmal spiele ich damit viele Stunden lang“ – was die eben genannte Vermutung nicht gerade entkräftet. Da wir uns immer noch in einem Spiegelkabinett befinden, sind übrigens alle Bilder während der kompletten Szene permanent durch mehrfache Spiegelungen „zerbrochen“, so dass der Chef „normalen“ Dialog teilweise so bestreitet, als würde er nicht mit Akala, sondern mit seinem eigenen Spiegelbild sprechen – für eine so neurotische und offenbar auch schwer narzisstische Persönlichkeit wie ihn irgendwie passend. Später, im gleichen Spiegelkabinett, hat der Chef dann einen kleinen Anfall, dröhnt sich mit einem großen „Schluck“ aus einer Spraydose zu und vollführt dann eine Art Schamanentanz vor seinen eigenen Spiegelbildern und in Gesellschaft seiner lieben Giftschlangen. Am Schluss schließlich, als die Kosmonauten aus Cynro (bis auf zwei) fliehen, zerstört er in einem Wutanfall das Spiegelkabinett und starrt erschrocken in sein zerbrochenes Spiegelbild.

Merkwürdige Installationskunst, ein verwirrendes Spiegelkabinett,
wunderliche Haustiere und außergewöhnliche Hobbies: Akala lernt den exzentrischen Chef kennen

Wie gesagt: als rein narrativer Science-Fiction-Film ist IM STAUB DER STERNE kein überragender Wurf. Die Handlung ist nicht gerade besonders spannungs- oder überraschungsreich. Auf eine Geschichte von Imperialisten (Besatzer Tems), die Völker aus Entwicklungsländern (die versklavten Einwohner Tems) wirtschaftlich und kolonial unterdrücken und dann von einer revolutionären Avantgarde (die Kosmonauten aus Cynro) vertrieben werden, kann der Film aber auch nicht reduziert werden: dafür ist nicht nur die Inszenierung viel zu unkonventionell, sondern schlussendlich auch die Auflösung viel zu offen und zu pessimistisch. Am Ende ist der Status Quo auf Tem geblieben: nach der Beerdigung werden die Turi wahrscheinlich wieder Kohle schippen, der Chef der Besatzer wird sich weiterhin seiner Spielzeugkonsole erfreuen – nur Akala bleibt verwirrt und hilflos zurück.

Eine Kritik des Films beschrieb das so:
„Der Unterschied zwischen zwei historisch-sozialen Epochen müßte [...] für den Zuschauer in der Fabelführung, vor allem aber in den Haltungen der Figuren erlebbar gemacht werden; in der Begegnung von Persönlichkeiten unterschiedlicher historischer und sozialer Ordnungen, im Aufzeigen des Widerspruchs läge der Sinn der Geschichte, läge ihre besondere Spannung. Diese Spannung herzustellen, gelingt Gottfried Kolditz jedoch [...] kaum. Das Gleichnis [...] geht nicht auf.“

Was wie die völlig entgeisterte Reaktion eines provinziellen DDR-Filmkritikers klingt, der nachts mit seinem SED-Parteibuch unter dem Kopfkissen schläft (auf den ersten Blick las sich das so für mich auf der deutschen Wikipedia-Seite des Films), sind übrigens die Worte des Wuppertaler Science-Fiction-Schriftsteller Ronald M. Hahn. Das Gleichnis geht also nicht auf – aber wer braucht schon Gleichnisse, wenn es fetzige Nackttanzeinlagen auf LSD und Bösewichte mit blauen Haaren und Dracula-Capes gibt? Als „straighter“ Science-Fiction-Film wäre IM STAUB DER STERNE lediglich nur solide inszeniert, wahrscheinlich nach der Hälfte der Laufzeit schon etwas dröge – und würde wohl von mehr Zuschauern geschätzt und vor allem ernst genommen werden. Das selbe Schicksal ereilte später ja auch den wohl besten und vor allem bizarrsten und irrsinnigsten Teil von STAR WARS (RETURN OF THE JEDI). Mit 800.000 Zuschauern lief IM STAUB DER STERNE bei den ostdeutschen Zuschauern jedenfalls ganz gut (auf die heutige Bundesrepublik hochgerechnet wären das 3,75 Millionen Kinobesucher). Trotz seines Hangs zum Irrsinnigen blieb er trotz allem – ein Mainstream-Film für das breite Publikum.

Mit Gottfried Kolditz hatte IM STAUB DER STERNE tatsächlich einen der produktivsten Routiniers des Genre-Films in der DDR auf dem Regiestuhl sitzen. Kolditz begann in den 1950er Jahren als Schauspieler und Regisseur an verschiedenen Theatern, wechselte dann zur DEFA. Dort machte er sich rasch einen Namen als fähiger und dennoch durchaus experimentierfreudiger Regisseur von Märchen-Filmen und Musicals. Kolditz blieb Ende der 1960er Jahre weiterhin dem Genrefilm verpflichtet, nun als Spezialist für Science-Fiction und Westerns bzw. sogenannte „Indianerfilme“. Kurz vor dem Dreh eines neuen Indianerfilms starb der gebürtige Sachse 1982 mit nur 59 Jahren bei Drehvorbereitungen in Dubrovnik, IMDb meint alternativ Ljubljana – DER SCOUT wurde auf Grundlage von Kolditz' Drehbuch von Dshamjangijn Buntar und Konrad Petzold noch gedreht.
Jim Morton bezeichnet Kolditz als einen der besten Regisseure der DDR, als ein Filmemacher, der trotz der extremen Genre-Disparität zwischen seinen Filmen immer ein sehr gutes Gespür für Inszenierung, Farbdramaturgie und Musikuntermalung hatte. Bis auf die Westerns (bzw. „Indianerfilme“) enthalten gemäß Morton nicht nur die Musicals, sondern praktisch alle Kolditz-Filme eine Musical-Nummer oder zumindest ein musikalisches Intermezzo – so natürlich auch IM STAUB DER STERNE, wo es reichlich Musik bei der Party und beim Nackttanz gibt. Kolditz war in seiner Karriere mehrmals bei internationalen Filmprojekten beteiligt. Der Märchenfilm DIE GOLDENE JURTE von 1961, eine deutsch-mongolische Produktion, inszenierte Kolditz etwa in Co-Regie mit dem Mongolen Rawsha Dorshpalam, basierend auf einer Erzählung des mongolischen Autors Sengiin Erdene. Der Science-Fiction-Film SIGNALE – EIN WELTRAUMABENTEUER war eine deutsch-polnische Ko-Produktion, gefilmt auf 70mm in Polen mit einer deutsch-polnisch-sowjetisch-rumänischen Crew, ein Film, der wohl so etwas wie die osteuropäisch-sozialistische Antwort auf Kubricks 2001: A SPACE ODYSSEY sein sollte. Gemäß Morton ziehe SIGNALE gegenüber 2001 ganz klar den kürzeren im Bereich der Effekte und sei im direkten Vergleich zu IM STAUB DER STERNE weniger interessant, besteche aber mit einigen interessanten Szenen, so etwa ein verspieltes musikalisches Intermezzo in der Schwerelosigkeit. Seine Westerns drehte Kolditz hingegen größtenteils in Rumänien. Hier filmte Kolditz, nach seinem eigenen Drehbuch, auch IM STAUB DER STERNE, und zwar bei den Schlammvulkanen von Berca (beim englischen Wikipedia-Artikel finden sich einige Bilder, die nach der Sichtung des Films durchaus bekannt vorkommen) sowie in einer stillgelegten Salzmine in der Nähe. Die Innenszenen wurden in Babelsberg gedreht.

Ein anderer großer Routinier des ostdeutschen Films, der an IM STAUB DER STERNE mitwirkte, war der Komponist Karl-Ernst Sasse. Der gebürtige Bremer war von Haus aus klassisch ausgebildeter Komponist und Dirigent und arbeitete in der DDR parallel im „klassischen“ Musikmilieu – so als Chefdirigent des Sinfonieorchesters Halle (heute Staatskapelle Halle) – und in der ostdeutschen Filmindustrie. Als Leiter des DEFA-Sinfonieorchesters in Potsdam-Babelsberg war er mit der Einspielung von Filmkompositionen beauftragt, komponierte aber rasch auch eigene Filmmusik. Seine 40-jährige Karriere als Filmkomponist umfasst fast 200 Filme für Kino und Fernsehen, darunter den 1965 verbotenen KARLA, unzählige Indianerfilme, Literaturverfilmungen wie DIE WAHLVERWANDTSCHAFTEN und LOTTE IN WEIMAR, mehrere POLIZEIRUF-Episoden bis hin zu – nach der deutschen Einheit – Rosa von Praunheims Hirschfeld-Biopic DER EINSTEIN DES SEX sowie mehrere Neukompositionen für Stummfilme (DER GOLEM, DER MÜDE TOD, DER LETZTE MANN, ASPHALT). Jim Morton betont auf seinem Blog, wie unglaublich vielfältig Sasse (nicht nur bei Kolditz-Filmen) war, dass er sich mühelos zwischen Jazz, Rock, Klassischem und Elektronisch-Avantgardistischem bewegte. Für IM STAUB DER STERNE hat er neben dem gediegenen Titellied für Gitarre und Frauenchor eine Musik komponiert, die sich wie bereits erwähnt im Grenzbereich zwischen Prog-Rock und Jazz-Fusion bewegt, mit einigen abstrakten, elektronischen Elementen – eine fetzige, mitreissende und stimmige Musik. Sasse und Kolditz verband bis zum Tod des letzteren eine lange Zusammenarbeit. Sasse dirigierte die Musik zu Kolditz‘ Musicals DIE SCHÖNE LURETTE, REVUE UM MITTERNACHT sowie GELIEBTE WEISSE MAUS. Später komponierte er die Musik zu Kolditz‘ Westerns BRENNENDE ZELTE IN DEN SCHWARZEN BERGEN und ULZANA (und für den von Kolditz geschriebenen DER SCOUT) sowie zu all seinen drei Science-Fiction-Filmen, neben dem hier besprochenen auch den bereits erwähnten SIGNALE – ABENTEUER IM WELTRAUM sowie DAS DING IM SCHLOSS.

Weder für den Produktionsdesigner Gerhard Helwig, noch für den Kameramann Peter Süring, noch für die Kostümdesignerin Katrin Johnsen, die drei Personen, die hinter der Kamera nebst Kolditz und Sasse wohl den größten Beitrag zum Gelingen von IM STAUB DER STERNE geleistet haben, finde ich in den jeweiligen Werkslisten viel Bekanntes. Süring und Johnsen arbeiteten mit Kolditz noch bei seinem letzten Science-Fiction-Film DAS DING IM SCHLOSS zusammen. Gerhard Helwig hat beim Set-Design von DIE ABENTEUER DES WERNER HOLT mitgewirkt und ist der einzige der drei, dessen Karriere nicht sofort mit der Wende ein Ende fand.

Eine erstklassige internationale Besetzung:
Jana Brejchová, Leon Niemczyk,
Alfred Struwe, Milan Beli
Die fünf wichtigsten Figuren von IM STAUB DER STERNE werden von Darstellern aus vier verschiedenen Ländern gespielt. Jana Brejchová, die Hauptdarstellerin, war nicht nur die zeitweilig die Ehefrau des Neue-Welle-Regisseurs Miloš Forman und später des Schauspielers Vlastimil Brodský, sondern eines der berühmtesten Gesichter des tschechischen Kinos und Fernsehens. Sie war allerdings auch west- wie ostdeutschen Zuschauern bekannt, etwa in der Tucholsky-Verfilmung SCHLOSS GRIPSHOLM von 1963.
Der Pole Leon Niemczyk, ein Veteran des Warschauer Aufstands und zeitweilig Soldat der US-Armee im besetzten Deutschland, verbrachte in der stalinistischen Ära einige Zeit im Gefängnis für versuchte Republikflucht. Er begann als Schauspieler beim Arbeitertheater und wechselte dann zum Kino. Er spielte in vielen Filmen von Regisseuren, die im weitesten Sinne der „nouvelle vague polonaise“ zugerechnet werden können: CŁOWIEK NA TORZE und EROICA von Andrzej Munk, POCIĄG von Jerzy Kawalerowicz, international am berühmtesten dürfte aber seine Rolle als der Ehemann in Roman Polańskis NÓŻ W WODZIE sein. Auch ostdeutschen Zuschauern war er durch seine Beteiligung an Spielfilmen der DEFA ein bekanntes Gesicht – unter anderem als Nebenrolle in ostdeutschen Westerns, darunter Kolditz‘ APACHEN. Niemczyk starb im November 2006 – vier Tage nach der polnischen Premiere von David Lynchs INLAND EMPIRE, der teilweise in Polen gedreht worden war und in dem Niemczyk eine Nebenrolle spielte. Niemczyk, dessen Name übrigens so viel wie „Deutsch“/„Der Deutsche“ bedeutet, war auch im privaten Leben ein kosmopolitischer Mensch: er war sechs Mal verheiratet, doch keine einziges Mal mit einer polnischen Frau. 
Alfred Struwe, der den Navigator Suko spielt, war hingegen hauptsächlich in ostdeutschen TV-Filmen und TV-Serien zu sehen – die einzigen davon, die mir persönlich etwas sagen, ist der POLIZEIRUF 110. Kolditz und er kannten sich bereits von dem Indianerfilm ULZANA (1974 – ob der Film ein direkter Versuch ist, an Robert Aldrichs ULZANA‘S RAID von 1972 anzuknüpfen, kann ich nicht beurteilen). Milan Beli, der den Sicherheitschef Ronk spielt (er sieht aufgrund seines Kostüms nicht so furchterregend aus, wie er sollte – dafür knallt er zwischendurch mit einem Pistolenkugelschreiber zum Spaß Modellflugzeuge ab), war gebürtiger Serbe, arbeitete aber gar nicht in der jugoslawischen Filmindustrie. Abgesehen von einer Nebenrolle in Erwin Dietrichs Nazi-Sexploitation-Film EINE ARMEE GRETCHEN (der internationale Titel „She-Devils of the S.S.“ war markanter) spielte er nur in ostdeutschen Produktionen mit, unter anderem als Bösewicht in Indianerfilmen. Auch er war gewissermaßen ein Kolditz-„Regular“ und war in dessen ULZANA und DAS DING IM SCHLOSS zu sehen.
Üblicherweise weder im Fernsehen, noch im Kino, sondern im Theater war der größte Besetzungsstreich von IM STAUB DER STERNE zu sehen, nämlich Ekkehard Schall, der den exzentrischen, narzisstischen Chef der Tem-Besatzer mit seinen Neigungen zu merkwürdigen Haarfarben und Kostümen spielt. Schall war ein Urgestein des Berliner Ensembles, wo ihn Bertolt Brecht 1952 geholt hatte. Dort blieb er bis 1995 als Darsteller und Regisseur, lange Jahre auch als stellvertretender Intendant. Der vielfach in Ostdeutschland und auch international preisgekrönte Theaterschauspieler galt als einer der größten Brecht-Darsteller in der DDR (nicht nur auf den Bühnen, sondern auch bei Brecht-Verfilmungen für das Kino und das Fernsehen). Die Rolle des namenlosen Chefs der Tem-Besatzer war sicherlich eine schöne und interessante Abwechslung für Schall, und noch mehr als bei den anderen scheint man ihm anzumerken, dass er wohl beim Dreh Spaß gehabt haben muss. 

Vom Berliner Ensemble zum psychedelischen Planeten Tem:
der wunderbare Ekkehard Schall als exzentrischer Chef

IM STAUB DER STERNE gibt es in zwei, wahrscheinlich identischen Editionen auf DVD zu sehen, einmal als Einzelfilm, einmal als Teil der „Science-Fiction-Special-Edition“ zusammen mit EOLOMEA und DER SCHWEIGENDE STERN. Beide Editionen kommen vom Icestorm-Label, das exklusiv die Filme der DEFA-Stiftung auf DVD vertreibt.
In beiden Editionen gilt der Film gemäß OFDb als gekürzt, was folgenden Hintergrund haben könnte: offenbar wurde aus dem Vorspann und dem Nachspann das Logo gekürzt, das darauf hinweist, dass der Film von der Künstlerischen Arbeitsgruppe defa futurum produziert wurde. Allerdings fehlen mehr als nur ein paar Sekunden, die dieses Logo ausmachen würde. Es fehlt auch jegliche Spur von einem Nachspann: wie bei fast allen Filmen, die das Label Icestorm veröffentlicht, wird das Ende recht abrupt abgeschnitten und das unfassbar hässliche Banner „Bundesarchiv – Filmarchiv – DEFA-Stiftung“ zusammen mit einem Copyright-Vermerk eingeblendet. Und wie bei allen Editonen des Labels Icestorm wird auch IM STAUB DER STERNE nicht-anamorph präsentiert, wenngleich hoffentlich – aber vollkommen sicher bin ich mir da nicht – im richtigen Bildformat, zumindest aber mit halbwegs okayer Bildqualität.
Nun... über den Anlass der Deutschen Einheit in diesen Tagen wollte ich eigentlich keine großen Worte verlieren, aber vielleicht wäre es jetzt, immerhin 26 Jahre „danach“, mal an der Zeit, dass das Filmerbe der DDR nicht mehr einem vorgestrigen Ramsch-Label überlassen wird, das noch nie etwas von anamorpher Codierung gehört hat, oder von ästhetisch ansprechender Cover-Gestaltung, oder davon, dass man Abspänne vielleicht nicht durch hässliche Copyright-Vermerke ersetzen sollte oder, bei sowjetischen Filmen, davon, dass manche Leute heutzutage gerne auch die Originalsprachfassung sehen möchten, und wenn es geht vielleicht sogar auch noch im richtigen Bildformat. So ungnädig, unwürdig und schäbig wird wohl kaum irgendeine Gruppe von Filmen in Deutschland behandelt. Bis sich das allerdings geändert hat, bleibt die Icestorm-Edition von IM STAUB DER STERNE (und vieler anderer Filme) alternativlos – leider.

Samstag, 24. September 2016

Und sie dreht sich doch!

Kurze und höchst unvollständige Geschichte der rotierenden Raumstation

Die Hauptdarstellerin betritt die große Bühne (Collier's, 22. März 1952,
Illustration Chesley Bonestell nach Vorlagen von Wernher von Braun)
Kürzlich lief wieder einmal Stanley Kubricks epochaler 2001: A SPACE ODYSSEY im Fernsehen. Darin gibt es bekanntlich eine riesige Raumstation in Form eines rotierenden Rades. Genau betrachtet sind es eigentlich zwei Räder, die durch ihre gemeinsame Achse miteinander verbunden sind, und von denen eines noch im Bau befindlich ist, aber auf diesen feinen Unterschied soll es hier nicht ankommen. Die Rotation dient natürlich dazu, durch die Zentrifugalkraft eine Art von künstlicher Schwerkraft im äußeren Bereich der Station zu erzeugen. Die heutige Raumstaion ISS sieht aber ganz anders aus, ist viel kleiner, und vor allem rotiert sie nicht (abgesehen von einem sehr kleinen Betrag, der dazu führt, dass die Station der Erde immer dieselbe Seite zuwendet), und das galt auch für alle ihre Vorgänger (Skylab, die Saljut-Stationen, Mir). Es gab also nie ein reales Gegenstück zum Design der rotierenden Station in 2001: A SPACE ODYSSEY. Haben somit Kubrick und sein Co-Autor Arthur C. Clarke dieses Konzept erfunden? Kenner der Materie wissen natürlich, dass das nicht der Fall ist.

2001: A SPACE ODYSSEY
In diesem Zusammenhang wird gern der Name Pawel Kluschanzew genannt. Im Film DER WEG ZU DEN STERNEN (DOROGA K ZVEZDAM) von 1957 zeigte dieser russische Regisseur ebenfalls eine ringförmige rotierende Raumstation. DER WEG ZU DEN STERNEN ist kein Spielfilm, sondern eine 50-minütige populärwissenschaftliche Dokumentation mit eingestreuten Spielszenen. Neben einer Rückschau, in der der russische Raumfahrtpionier Konstantin Ziolkowski im Mittelpunkt steht, geht es vor allem um die nähere Zukunft der bemannten Raumfahrt, wie sie sich 1957 (im Jahr des Sputnik) aus sowjetischer Sicht darstellte. Kluschanzew hatte dazu den führenden Raumfahrtkonstrukteur Michail Tichonrawow und weitere Experten als Berater. Es wurde gelegentlich auf die Ähnlichkeit gewisser Szenen in DER WEG ZU DEN STERNEN und 2001: A SPACE ODYSSEY hingewiesen, z.B. in diesem Artikel von Mark Wade, Autor der Encyclopedia Astronautica. Hat Kubrick womöglich bei Kluschanzew geklaut? Ich will hier nicht auf die Innenausstattung der jeweiligen Raumstation und auf Details einzelner Szenen eingehen - mir geht es hier nur um die äußere Form der Stationen und um die Rotation. Und hier bekommt Kubrick einen Freispruch erster Klasse, denn das Konzept war schon Jahre vor DER WEG ZU DEN STERNEN in der amerikanischen Populärkultur verankert, und in der theoretischen Raumfahrtliteratur existierte es noch viel länger.

DER WEG ZU DEN STERNEN - es rotiert nur der torusförmige Teil der Station; links unten ist ein Mondraumschiff angedockt
Schon Ziolkowski schrieb 1903, dass man im Weltraum durch Rotation künstliche Schwerkraft erzeugen kann. Das erste konkrete Konzept eines ringförmigen rotierenden Raumflugkörpers legte der österreichisch-slowenische Ingenieur Herman Potočnik vor, in seinem Buch Das Problem der Befahrung des Weltraums - Der Raketenmotor, das er 1928 unter dem Pseudonym Hermann Noordung veröffentlichte. In das allgemeine Bewusstsein ist dieses Werk nicht vorgedrungen - dafür war die Zeit noch nicht reif, und Potočnik selbst konnte durch seinen frühen Tod 1929 auch nicht viel zur Popularisierung seiner Ideen beitragen. Aufmerksam gelesen wurde sein Werk aber von den Mitgliedern des in Berlin ansässigen Vereins für Raumschiffahrt (VfR), in dem sich Wissenschaftler, Techniker und Enthusiasten wie Hermann Oberth, Walter Hohmann, Rudolf Nebel und Max Valier versammelt hatten. Mitglied im VfR war auch der damals noch recht junge Wernher von Braun, der somit um 1930 herum mit Potočniks Ideen in Berührung kam.

Skizze aus Das Problem der Befahrung des Weltraums - Der Raketenmotor von Herman Potočnik
(Quelle: Wikipedia)
Zeitsprung rund 20 Jahre in die Zukunft: Wernher von Braun hat jetzt schon eine Karriere als Chefentwickler der "Wunderwaffe" V2 (und in diesem Zusammenhang als Sturmbannführer der SS) hinter sich, und nun ist er als "Beutewissenschaftler" in den USA. Nach einem fünfjährigen Aufenthalt in Fort Bliss bei El Paso (Texas), der anfangs noch den Charakter einer Internierung trägt, übersiedelt er mit seinem Team (darunter viele alte Kollegen aus Peenemünde) nach Huntsville (Alabama), wo er ziviler Chefwissenschaftler in einer Raketenentwicklungsabteilung der US Army wird. Doch von Braun ist mit seiner Situation nicht zufrieden. Denn sein eigentliches Ziel ist von jeher die bemannte Raumfahrt, und davon will die damalige US-Regierung nichts wissen. Statt Flausen über Raumstationen und Flüge zum Mond und zum Mars will man von ihm atomar bestückbare Mittelstrecken- und Interkontinentalraketen, um den neuen Erzfeind Sowjetunion in Schach zu halten, und der Ausbruch des Koreakriegs 1950 hat diese Position noch zementiert. Doch von Braun ist nicht gewillt, das hinzunehmen, und er geht in die PR-Offensive.

2001: A SPACE ODYSSEY
Ebenso wie der mit ihm befreundete Publizist Willy Ley, der auch schon Mitglied im VfR gewesen war (der aber durch seine Emigration 1935 Nazi-Verstrickungen entging), schrieb von Braun allgemeinverständliche Bücher, mit denen er die Raumfahrt (und insbesondere die bemannte Raumfahrt) popularisieren wollte. Entscheidend wurde aber vor allem eine Artikelserie mit dem Titel Man Will Conquer Space Soon! (ja, das Soon war unterstrichen), die von März 1952 bis April 1954 in acht Ausgaben der Zeitschrift Collier's erschien, und die ungeahnte Breitenwirkung entfaltete. Wernher von Braun, Willy Ley und der Harvard-Astronom Fred Whipple waren die Hauptautoren, auch der in der Luft- und Raumfahrtmedizin tätige Physiker Heinz Haber (der später bei uns durch seine Wissenschaftssendungen in ARD und ZDF bekannt wurde) und andere trugen Artikel bei. Redaktionell betreut wurde die Serie von dem Schriftsteller und Journalisten Cornelius Ryan, damals Mitherausgeber von Collier's (Ryan schrieb auch die Buchvorlage zu THE LONGEST DAY über die Invasion in der Normandie). Ein beträchtlicher Teil des Erfolgs der Artikelserie war den instruktiven und teilweise spektakulären Illustrationen zu verdanken, die von drei damals führenden Grafikern im Grenzbereich von Wissenschaft und Science Fiction stammten, nämlich Fred Freeman, Rolf Klep, und vor allem vom genialen Chesley Bonestell.

Der Anfang des ersten und der komplette zweite Artikel in der Collier's-Serie
(Illustration oben Chesley Bonestell, unten Fred Freeman)
Im Editorial zur Artikelserie, das den Titel What Are We Waiting For? trägt, wird schon fünfeinhalb Jahre vor Sputnik das Wettrennen ins All mit der Sowjetunion ausgerufen, und interessanterweise wird eine öffentliche Äußerung von Kluschanzews Berater Tichonrawow als Beleg dafür zitiert, dass das Rennen auf sowjetischer Seite bereits im Gang ist. Im darauf folgenden ersten Artikel der Serie mit dem Titel Crossing the Last Frontier legt Wernher von Braun seine damaligen Pläne für ein amerikanisches Weltraumprogramm dar. Und in deren Zentrum steht eine ringförmige rotierende Raumstation mit einem Durchmesser von ca. 75 Metern, die in einer Höhe von 1700 km alle zwei Stunden die Erde umkreisen sollte. Die Neigung der Bahn zum Äquator würde ungefähr 65° betragen, so dass durch die Eigendrehung der Erde innerhalb kurzer Zeit große Teile der Erdoberfläche überflogen würden. Die Außenhülle der Station sollte nicht aus einem massiven Material bestehen, etwa einer Aluminium- oder Titanlegierung, sondern aus luftdichtem Nylongewebe, das kompakt verpackt in den Weltraum geschossen und erst dort zu seiner Form aufgeblasen werden sollte. Zur Energieversorgung der Station sollte ein solarthermisches Kraftwerk mit einer Leistung von 500 kW dienen, als Arbeitsmedium war Quecksilber vorgesehen. Bei der Rotationsgeschwindigkeit legt sich von Braun nicht genau fest, aber er gibt zwei Zahlenbeispiele: Wenn sich die Station alle 22 Sekunden um ihre Achse drehen würde, würde im äußeren Bereich eine künstliche Schwerkraft von ⅓ g herrschen, und bei einer Drehung alle 12,3 Sekunden wäre es 1 g. Im kurzen nächsten Artikel erläutert Willy Ley anhand einer sehr detaillierten Schemazeichnung von Fred Freeman weitere technische Einzelheiten der Raumstation.

Weitere Bilder aus den Collier's-Artikeln. Links oben die Macher der Serie (es fehlen Freeman und Ryan)
Der Zweck der Station war einerseits die Erdbeobachtung zu verschiedenen wissenschaftlichen und praktischen Zwecken. So sollte etwa eine ganze Schar von Meteorologen mit ihren Instrumenten permanent die Atmosphäre beobachten, um gleich im Orbit Wetterprognosen zu erstellen - dieser Aspekt findet sich eins zu eins auch in Kluschanzews Raumstation in DER WEG ZU DEN STERNEN. Andererseits sollte die Station als Abflugbasis für bemannte Missionen zum Mond (und später zum Mars) dienen. Von Braun diskutiert auch eine mögliche militärische Nutzung der Station, zur militärischen Aufklärung, aber auch als Träger von Atomraketen. Zum Projekt gehört auch ein astronomisches Observatorium in unmittelbarer Nähe zur Raumstation, aber räumlich abgekoppelt, um nicht durch die Rotation und die Erschütterungen gestört zu werden. Von Braun entwarf damit also einen Vorläufer des Hubble-Teleskops (Fred Whipple geht in einem anderen Artikel weiter auf diesen Aspekt ein). Diese ganzen Ideen hatte von Braun schon länger mit sich herumgetragen. Bereits 1946 hatte er der Army einen schriftlichen Vorschlag für eine solche Raumstation samt von ihm angefertigter Skizze vorgelegt, war aber auf taube Ohren gestoßen.

In der Schwerelosigkeit schwebende Schreibstifte in DISNEYLAND: MAN IN SPACE (oben) und
2001: A SPACE ODYSSEY - hat sich Kubrick hier vielleicht wirklich bedient?
Was an der damaligen Sichtweise auffällt (und das schließt Kluschanzew ein), ist die Tatsache, dass die zukünftigen Fähigkeiten und die Bedeutung unbemannter Satelliten dramatisch unterschätzt werden. Aber man sollte nicht vergessen, dass erst Jahre später die ersten integrierten Schaltkreise vorgestellt wurden - die spektakuläre Entwicklung der Halbleitertechnik war damals noch nicht im Entferntesten absehbar, und daran hing auch die Entwicklung der Satellitentechnik zu einem großen Teil. - Die Collier's-Serie wurde im April 1954 sozusagen mit der Königsdisziplin abgeschlossen: Wernher von Braun diskutiert den bemannten Flug zum Mars, den er vage für Mitte des 21. Jahrhunderts prognostiziert. Dabei erwähnt er auch eine Option, die Eingang in die Science Fiction (einschließlich 2001: A SPACE ODYSSEY) gefunden hat, nämlich die Möglichkeit, Crew-Mitglieder für die Dauer der Reise in einen Tiefschlaf zu versetzen.

Willy Ley (links) und Heinz Haber in DISNEYLAND: MAN IN SPACE
Die Artikelserie hat das Thema Raumfahrt ungemein populär gemacht und aus der Sphäre der Science Fiction in die einer realen Option in einer greifbar nahen Zukunft versetzt. Und sie machte aus einem weithin unbekannten deutschen Wissenschaftler mit etwas dubioser Vergangenheit einen strahlenden amerikanischen Helden des Fortschritts (von Braun und seine Frau wurden 1955 US-Bürger). Wernher von Brauns Popularität wurde nun durch Radio- und Fernsehinterviews quasi zum Selbstläufer, und auf diesen Zug sprang auch Disney auf. In der Serie DISNEYLAND, die von Disney in Zusammenarbeit mit dem Sender ABC produziert wurde, wurde das Thema der Artikelserie in aktualisierter Form ins Fernsehen getragen, wobei verbal vorgetragene Informationen mit Schaubildern und Modellen auf sehr unterhaltsame Weise mit witzigen und gelegentlich fast surrealen Zeichentricksequenzen, Animationen mit Modellen und einigen Realaufnahmen mit Schauspielern kombiniert wurden.

DISNEYLAND: MAN AND THE MOON - Wernher von Braun stellt das neue Modell seiner Raumstation vor
In der ersten der drei Folgen, MAN IN SPACE (1955), erläutern Willy Ley, Wernher von Braun und Heinz Haber Grundsätzliches zu den physikalischen Grundlagen, zum Ablauf eines Raumflugs und zur (begrenzten, aber doch gegebenen) Tauglichkeit des Menschen fürs All. In MAN AND THE MOON (1955) geht es um den bemannten Flug zum Mond - vorerst noch ohne Mondlandung, sondern nur mit einer einmaligen Umrundung des Trabanten, wobei erstmalig seine Rückseite betrachtet und fotografiert wird. Von Braun, diesmal der einzige Experte im Studio, erklärt den Ablauf der Mission, wobei auch diesmal eine rotierende Raumstation als Startpunkt dient. Im Vergleich zu der Version von 1952 ist diese nun etwas kleiner, hat drei statt zwei dicke Streben, und zusätzlich viele "Speichen" (in Wirklichkeit Kühlrohre), die an einen Fahrradreifen erinnern. Während die Station aus Collier's mit Sonnenenergie betrieben wurde, besitzt die neue Version einen Kernreaktor im nicht rotierenden Zentrum der Station (wo auch Raumschiffe andocken können). Der Grund für diesen Sinneswandel wird nicht erklärt, ich kann mir aber vorstellen, dass er von den seit 1954 existierenden Atom-U-Booten mit kompakten Kernreaktoren an Bord inspiriert wurde. Diese Folge hat auch eine ausgedehnte Spielsequenz mit den vier Astronauten in ihrem Mondraumschiff, die sich in Ausstattung und Tricktechnik nicht hinter zeitgenössischen Hollywoodfilmen über Raumflüge verstecken muss, dabei aber - allen damaligen Fehleinschätzungen zum Trotz - viel realistischer ist. In MARS AND BEYOND (1957) schließlich dient dieselbe Raumstation wie in der zweiten Folge auch als Startpunkt zum Roten Planeten. Von Braun und sein Kollege Ernst Stuhlinger warten aber mit einer neuen und extravaganten Idee auf: Die Flotte von sechs Raumschiffen, die gemeinsam die Reise absolvieren, wird nicht von konventionellen chemischen Treibstoffen angetrieben, sondern von Ionentriebwerken, wobei Kernreaktoren an Bord der Schiffe die Energie für einen kontinuierlichen Betrieb der Triebwerke liefern und Cäsium als Medium zur Erzeugung des Rückstoßes dient.

DISNEYLAND: MAN AND THE MOON - die Station wird im Orbit zusammengebaut
Diese drei Sendungen sind in mehrerlei Hinsicht auch heute noch sehenswert; inszeniert und moderiert wurden sie von Ward Kimball. Ein Modell der Raumstation aus den Folgen 2 und 3 wurde in der zweiten Hälfte der 50er Jahre von der Firma Strombecker als Plastikbausatz im Maßstab 1:300 (bezogen auf die Maße, die von Braun genannt hat) als Disney Space Station verkauft. Basierend auf den originalen Druckgussformen von damals, wurde der Bausatz in den 90er Jahren erneut herausgebracht - diesmal mit eher nostalgischem statt futuristischem Flair.

CONQUEST OF SPACE
Wir können also festhalten, dass die rotierende Raumstation 1952 in der amerikanischen Populärkultur angekommen ist, und auch so schnell nicht wieder verschwand. Und von der Populärkultur im Allgemeinen ist es nicht mehr weit bis Hollywood. 1955 brachte Paramount CONQUEST OF SPACE in die Kinos. Regisseur war Byron Haskin (der kurz zuvor den Klassiker THE WAR OF THE WORLDS inszeniert hatte), Produzent war George Pal - da waren namhafte Leute am Werk. Wie im Eröffnungsartikel der Collier's-Serie gibt es eine Raumstation, von der aus eigentlich demnächst der erste Testflug zum Mond starten sollte. Doch da wird der Testflug vom Hauptquartier auf der Erde kurzfristig abgesagt und stattdessen der sofortige Flug zum Mars befohlen. Der Kommandant der Station sträubt sich heftig gegen diese Entscheidung, beugt sich aber schließlich dem Befehl und übernimmt auch die Rolle als Kommandant des Marsraumschiffs. Doch dummerweise sind da die Gefahren der kosmischen Strahlung, die das Nervensystem angreift. Nachdem anfangs ein Besatzungsmitglied der Station (als warnendes Exempel) einen minder schweren Anfall erleidet, trifft es auf dem Flug zum Mars ausgerechnet den Kommandanten mit voller Härte. Er steigert sich in einen religiösen Wahn hinein und bringt mit erratischem Verhalten die Mission in höchste Gefahr ...

CONQUEST OF SPACE
CONQUEST OF SPACE wurde inspiriert von dem fast gleichnamigen Buch The Conquest of Space, das Willy Ley (Text) und Chesley Bonestell (Illustrationen) schon 1949 herausgebracht hatten, sowie von Wernher von Brauns Buch Das Marsprojekt bzw. The Mars Project, das er im Wesentlichen schon 1948 geschrieben hatte, das aber erst 1952 auf Deutsch und 1953 auf Englisch erschien. Der etwas schwachbrüstige Plot um den Kommandeur mit Weltraum-Rappel stammt allerdings nicht aus diesen Büchern, sondern wurde erst für den Film erfunden. Chesley Bonestell war auch direkt am Film beteiligt, als Verantwortlicher für Astronomical Art, wie es in den Credits heißt. Wenig überraschend ist das Design des Films sehr eng an die Collier's-Artikel angelehnt. Beispielsweise erkennt man in meinem ersten Bild oben deutlich eine Art Aufsatz auf dem eigentlichen ringförmigen Körper der Station. Es handelt sich dabei wohl um die gekrümmten Spiegel des Solarkraftwerks, die die Sonnenstrahlen auf eine Metallröhre fokussieren, in der das Quecksilber zirkuliert und dabei erhitzt wird. Und einen solchen Aufsatz besitzt auch die Station in CONQUEST OF SPACE - ebenso wie die in QUEEN OF OUTER SPACE.

CONQUEST OF SPACE
1958 erschien QUEEN OF OUTER SPACE, den ich leider nicht online auftreiben konnte - die Screenshots sind aus dem Trailer (ich habe für diesen Artikel keine DVDs gekauft, es gibt aber zu allen hier erwähnten Filmen welche). Auf der Venus gibt es nur Frauen, die von einer permanent maskierten männerhassenden Königin regiert werden. Die rotierende Raumstation im Film wird den Informationen nach, die ich finden konnte, schon am Anfang des Films zerstört, durch Todesstrahlen der Venusianerinnen. Eher versehentlich fliegt dann ein Raumschiff mit vier Astronauten zur Venus und rückt die Dinge (aus irdisch-männlicher Sicht) wieder zurecht. Eine der Venus-Damen wird von Zsa Zsa Gabor gespielt, und Eric Fleming hat sowohl in QUEEN OF OUTER SPACE als auch in CONQUEST OF SPACE eine Hauptrolle (etwas später war Fleming der Star der Westernserie RAWHIDE an der Seite des Nachwuchsdarstellers Clint Eastwood). Regisseur von QUEEN OF OUTER SPACE war ein Edward Berns. Dieser durchaus vielbeschäftigte Regisseur hatte 1956 für dasselbe Studio (Allied Artists, das frühere Monogram) WORLD WITHOUT END inszeniert, und aus diesem Film wurden einige Szenen in QUEEN OF OUTER SPACE wiederverwendet. Auch Kostüme und Utensilien aus FORBIDDEN PLANET sind hier offensichtlich einer Zweitverwertung zugeführt worden. Heute gilt dieser recyclingfreudige Film als ein Camp-Klassiker.

QUEEN OF OUTER SPACE - eine Raumstation und ihr Ende, Teil 1
Von 1963 bis 1968 (mit längeren Pausen zwischen den Staffeln) flimmerte die Puppentrickserie SPACE PATROL über die englischen Bildschirme. In den USA hieß die Serie PLANET PATROL, weil es in den 50er Jahren schon eine amerikanische Serie mit dem Titel SPACE PATROL gab. Das ringförmige Ding in der Serie fliegt aktiv durch das All, ist also eher ein Raumschiff als eine Raumstation, und es rotiert auch nicht selbst, sondern es wirbelt nur eine Art Kraftfeld darum herum. SPACE PATROL galt lange als verloren, aber vor ungefähr 20 Jahren fand Roberta Leigh, die Schöpferin der Serie, längst vergessene Kopien wieder.

SPACE PATROL
Bei MUTINY IN OUTER SPACE (1965) haben wir wieder das von Braun'sche Konzept in Reinkultur: Die rotierende Raumstation als Ausgangs- und Rückkehrpunkt für Flüge zum Mond. Auf dem Erdtrabanten gibt es bereits eine bemannte Station, und dort wurden kürzlich mysteriöse Eishöhlen gefunden. Als ein Raumschiff Proben aus den Höhlen zur Raumstation bringt, ist einer der beiden Astronauten mit einem tödlichen Pilz infiziert. Der Kommandant der Raumstation ist stark überarbeitet, und er wird zwar nicht komplett verrückt wie sein Kollege aus CONQUEST OF SPACE, aber er trifft fatale Fehlentscheidungen, die es dem Pilz ermöglichen, den Körper des mittlerweile toten Astronauten zu verlassen und die ganze Station zu überwuchern. Da der Kommandant weiterhin uneinsichtig ist, bahnt sich unter seinen Offizieren eine Meuterei an, um zu retten, was noch zu retten ist. Unterdessen erwägt man im Hauptquartier, die Station mit Atomraketen zu vernichten, um eine Kontamination der Erde mit dem Pilz zu verhindern ...

MUTINY IN OUTER SPACE - die Station erst blitzblank und dann vom Pilz überwuchert
Der von einem Hugo Grimaldi (sowie ungenannt Arthur C. Pierce) inszenierte MUTINY IN OUTER SPACE ist ein ziemlicher Billigheimer. Die Handlung ist einfallslos, die Spezialeffekte sind dürftig. Unter den Namen der Beteiligten fallen nur zwei Söhne berühmter Väter ins Auge, Harold Lloyd jr. als Darsteller und Josef von Stroheim beim Tonschnitt. Die physikalisch-technischen Sitten sind ein bisschen verlottert, denn bei Innenaufnahmen in der Station ist der Korridor nach links gekrümmt und nicht nach oben, wie es sein müsste, wenn die äußere Begrenzung durch die Rotation zum Boden wird. Mit anderen Worten, die künstliche Schwerkraft wirkt hier nicht radial nach außen, sondern entlang der Drehachse, was natürlich kompletter Humbug ist. Immerhin gibt es auch einen Fortschritt zu vermelden: Während die Station in CONQUEST OF SPACE eine reine Männerdomäne ist, gibt es hier eine Wissenschaftlerin und einen weiblichen Lieutenant, und beide dürfen nicht nur gut aussehen, sondern auch technische Geräte bedienen und eigene Entscheidungen treffen. (Kluschanzews Raumstation hat übrigens einen sehr hohen Frauenanteil.) Die blonde Lt. Engstrom in MUTINY IN OUTER SPACE wirkt sogar noch etwas autonomer als Lt. Uhura, die im Folgejahr ihren Platz auf der Brücke der Enterprise einnahm. Es gibt in MUTINY IN OUTER SPACE übrigens auch einen Doktor, der sich freundschaftlich mit dem uneinsichtigen Kommandanten wegen dessen angegriffener Gesundheit kabbelt, und der in dieser Hinsicht an "Pille" erinnert.

MUTINY IN OUTER SPACE - hier geht es linksrum statt nach oben
Ebenfalls 1965 drehte Anthony M. Dawson alias Antonio Margheriti innerhalb von nur drei Monaten seine Gamma-Eins-Tetralogie. Die vier Filme, in denen jeweils die rotierende Raumstation Gamma 1 vorkommt, kamen aber erst 1966 ins Kino, als auch die Enterprise und die Orion in die unendlichen Weiten aufbrachen. Bekannter als die italienischen dürften die englischen Titel sein, die da lauten: WILD WILD PLANET, WAR OF THE PLANETS, WAR BETWEEN THE PLANETS und SNOW DEVILS. Ich kenne keinen davon, der Screenshot ist aus einem Trailer für WAR OF THE PLANETS. 1968 schließlich, im Jahr, als 2001: A SPACE ODYSSEY das Licht der Welt erblickte, inszenierte der durch seine brachialen Yakuza-Filme bekannte Kinji Fukasaku als Sequel zu Margheritis Tetralogie den Kracher THE GREEN SLIME mit der weiterentwickelten Raumstation Gamma 3, der in deutlich unterschiedlichen japanischen und amerikanischen Versionen veröffentlicht wurde.

WAR OF THE PLANETS
Wurde eigentlich auch Kluschanzew von den Collier's-Artikeln beeinflusst, zumindest indirekt? Davon gehe ich aus, denn sein Berater Tichonrawow wusste sicher darüber Bescheid. Die hochrangigen sowjetischen Raumfahrtforscher (und zu denen zählte Tichonrawow) wurden vom Geheimdienst mit allen verfügbaren Informationen über ihre amerikanischen Kollegen und deren Aktivitäten versorgt, und die Collier's-Artikel waren ohnehin für jedermann frei zugänglich. Jeder sowjetische Diplomat konnte sie mit seiner Post in die Heimat schicken, um sie den interessierten Kreisen zugänglich zu machen, und das ist sicher auch geschehen.

THE GREEN SLIME - eine Raumstation und ihr Ende, Teil 2
Übrigens fand auch Disney Anklang in der Sowjetunion. Im August 1955 fand in Kopenhagen der sechste International Astronautical Congress (IAC) statt, und dort wurde in einer Sondervorführung DISNEYLAND: MAN IN SPACE gezeigt. Bei diesem Kongress waren auch sowjetische Wissenschaftler zugegen. Einer von ihnen war der Physiker Leonid Sedow, der Vorsitzende einer Kommission der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, die das Sputnik-Programm vorantrieb. Sedow bat um leihweise Überlassung einer Kopie des Films, um ihn in der Sowjetunion zu zeigen. Doch Walt Disney persönlich ließ ihn abblitzen. Und zwar, wie sich Ward Kimball erinnerte, weil die sowjetische Regierung Ende der 30er Jahre eine Kopie von SCHNEEWITTCHEN UND DIE SIEBEN ZWERGE "für zwei Wochen" entliehen hatte und erst zehn Jahre später in arg ramponiertem Zustand zurückgab. Doch Sedow gab nicht so schnell auf. Im September des Jahres schrieb er einen Brief an Frederick C. Durant, den damaligen Vorsitzenden der International Astronautical Federation IAF (die die jährlichen IACs veranstaltet). Eine Überlassung einer Kopie, zu welchen Bedingungen auch immer, würde die Ost-West-Zusammenarbeit beträchtlich voranbringen, meinte er in dem Brief. Ob sich Durant als Vermittler einspannen ließ, und ob Sedow doch noch eine Kopie von MAN IN SPACE bekam, ist mir allerdings nicht bekannt.

DISNEYLAND: MAN AND THE MOON - die Reise zum Mond kann beginnen
Und wie steht es nun mit Kubrick? Ich nehme an, dass auch er schon in den 50er Jahren von Wernher von Brauns Ideen gehört oder gelesen hat, weiß es aber nicht mit Bestimmtheit. Aber da ist ja auch noch Arthur C. Clarke, und bei dem ist die Beweislage eindeutig. Ausgangspunkt der gemeinsamen Arbeit an 2001: A SPACE ODYSSEY war Clarkes 1951 erschienene Kurzgeschichte The Sentinel, und ab 1964 schrieben Clarke und Kubrick parallel und in enger Abstimmung den Roman und das Drehbuch zum Film. Und Clarke war nicht nur Schriftsteller, sondern auch ein Wissenschaftler, der sich intensiv mit Fragen der Raumfahrt befasste. Schon 1945 hatte er als Erster in einem wissenschaftlichen Artikel vorgeschlagen, geostationäre Satelliten zum Aufbau eines weltumspannenden Kommunikationsnetzes zu verwenden. Die Eigenschaften der geostationären Bahn waren schon länger bekannt, aber erst Clarke erkannte, dass nur drei solche Satelliten, die ein gleichseitiges Dreieck aufspannen, genügen, um den größten Teil der Erdoberfläche (alles außer den Polgebieten) abzudecken. Clarke war auch seit 1934 langjähriges Mitglied und zeitweise Vorsitzender der British Interplanetary Society, so etwas wie das britische Gegenstück zum VfR (aber anders als der deutsche Verein wurde die Interplanetary Society nie von staatlichen Stellen vereinnahmt).

2001: A SPACE ODYSSEY
1951 fand der zweite IAC in London statt, und auf dem Kongress wurde ein ausführlicher Vortrag von Wernher von Braun (der nicht persönlich anwesend war) über die Möglichkeit einer Reise zum Mars verlesen (und darin wurde bestimmt auch die Raumstation erwähnt). Und Vorsitzender dieses Londoner Kongresses war kein anderer als Arthur C. Clarke. Als Schriftsteller schrieb Clarke nicht nur Science Fiction, sondern auch populärwissenschaftliche Bücher über Raumfahrt mit ähnlicher Ausrichtung wie die von Willy Ley und von Braun. Und in mindestens einem davon (nämlich The Exploration of Space von 1951) wird die Erzeugung künstlicher Schwerkraft in rotierenden Raumfahrzeugen diskutiert. Clarke steckte also tief drin in der Materie, und er war mit dem Konzept der rotierenden Raumstation mindestens seit 1951 vertraut. Es brauchte also nicht den Umweg über Kluschanzew, um ihm (und damit Kubrick) diese Idee einzugeben.

Nach oben gekrümmte Flure bei Kluschanzew (oben) und Kubrick - prinzipbedingt notwendig,
wenn man die Physik ernst nimmt, und deshalb kein Indiz für Ideenklau
Diese kleine Chronologie bis 1968 erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. 2001: A SPACE ODYSSEY war zweifellos für lange Zeit der tricktechnische und ästhetische Höhepunkt der Entwicklung, aber er war nicht einmal ein vorläufiger Endpunkt, denn schon im selben Jahr 1968 ging es ja mit THE GREEN SLIME weiter. Danach gab es noch viele Raumstationen, die ganz oder in Teilen rotierten, in letzter Zeit etwa in THE MARTIAN und ELYSIUM. Aber weil dieser Artikel höchst unvollständig ist, ist er hier auch schon (fast) zu Ende.

2001: A SPACE ODYSSEY
Mitglieder der Houston Section des American Institute of Aeronautics and Astronautics (AIAA) haben die Collier's-Artikel in hoher Qualität gescannt und in acht aufeinanderfolgenden Ausgaben ihrer Zeitschrift Horizons wiederveröffentlicht. Hier kann man die Hefte als PDF frei herunterladen, es handelt sich um die Ausgaben July/August 2012 bis September/October 2013. Dafür bedanke ich mich (unbekannterweise) bei den Leuten, denn es handelt sich um faszinierenden Lesestoff. Meine Collier's-Bilder hier habe ich aus diesen PDFs extrahiert.