Auf den ersten Blick würde man Herk Harvey mit seinem CARNIVAL OF SOULS in eine Reihe von Regisseuren einordnen, die lediglich einen Film gedreht haben: Peter Lorre (DER VERLORENE), Charles Laughton (THE NIGHT OF THE HUNTER), Aleksandr Askol‘dov (KOMISSAR), Leonard Kastle (THE HONEYMOON KILLERS), Dalton Trumbo (JOHNNY GOT HIS GUN), Saul Bass (PHASE IV).
Auf die Frage, warum er nur einen einzigen Film gedreht habe, antwortete Harvey in den späten 1980er Jahren gereizt: „Verdammt, ich habe über 400 Filme gedreht!“ Richtig ist, dass CARNIVAL OF SOULS sein einziger abendfüllender kommerzieller Spielfilm ist. Des weiteren hat er aber etwa drei Jahrzehnte lang am laufenden Band Industrie-, Bildungs-, Lehr- und Dokumentarfilme gedreht. Ob es 400 waren, sei dahingestellt. Es dürften wahrscheinlich wesentlich mehr sein als die weiteren 45 director-Credits (also 46 inklusive CARNIVAL OF SOULS), die der Regisseur bei imdb hat.
Harold Arnold Harvey wurde 1924 in Windsor, Colorado geboren, aber nach seinem Dienst als Quartiermeister während des Zweiten Weltkriegs verlegte er seinen Lebensschwerpunkt nach Lawrence, Kansas, um Theater und Schauspiel zu studieren. Er debütierte als Theaterregisseur und stand auch selbst auf der Bühne, zum Beispiel in der Rolle des Stanley Kowalski bei einer örtlichen Aufführung von „A Streetcar Named Desire“. Harvey machte noch Abschlüsse in Schauspiel und Drama an anderen Hochschulen, bevor er nach Lawrence zurückkehrte, um an der University of Kansas als Dozent für Theater tätig zu sein. Neben seiner Dozententätigkeit spielte er auch als Darsteller in einigen Filmen der Centron Corporation mit, einer in Lawrence ansässigen, unabhängigen Produktionsfirma für Industrie- und Bildungsfilme. Ab 1952 war Harvey Festangestellter bei Centron. Von da an wurde er zu einem der wichtigsten Regisseure, Autoren und Produzenten der Firma für über drei Jahrzehnte. Harvey war renommiert dafür, dass er über ein großes organisatorisches und logistisches Talent verfügte und die beauftragten Filme überpünktlich und meist unter Budget lieferte.
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Herk Harvey genehmigt sich eine Zigarre und einen
Cameo-Auftritt in seinem Syphilis-Aufklärungsfilm
DANCE, LITTLE CHILDREN |
1985 zog sich Harvey von Centron zurück, war aber weiterhin als Dozent an der University Of Kansas sowie als Regisseur und Schauspieler am Lawrence Community Theatre tätig. Etwa in dieser Zeit begann auch das Interesse an CARNIVAL OF SOULS zu steigen. Dank TV-Ausstrahlungen und Videoveröffentlichungen avancierte der Film zu einem Kultklassiker unter Cinephilen. Das war eine Entwicklung, die Harvey selbst interessanterweise mit gemischten Gefühlen aufnahm. Der Regisseur war vom ursprünglichen kommerziellen Misserfolg seines Horrorfilms zwar enttäuscht, ihm wäre es aber nie in den Sinn gekommen, sich auch nur annähernd als „auteur maudit“ zu sehen. Vielmehr war er überaus glücklich mit seiner Tätigkeit als Industrie-, Bildungs- und Dokumentarfilmemacher bei Centron und sagte (vage), dass er auf einige seiner Centron-Industriefilme stolzer denn auf CARNIVAL OF SOULS sei. Er störte sich daran, dass ein Filmprojekt, das er mal im Urlaub in nur fünf Wochen fertig stellte, seine restliche, über 30-jährige Karriere in den Schatten stellte.
Inwiefern das Koketterie war, sei dahin gestellt. CARNIVAL OF SOULS ist und bleibt dennoch ein beeindruckender und vor allem auch beeindruckend gruseliger Horrorfilm. Ein Film, der so unterschiedliche Regisseure wie George A. Romero, David Lynch und Christian Petzold beeinflusste. Die Besprechung von CARNIVAL OF SOULS soll deshalb von Kurzbesprechungen einiger seiner Centron-Filme flankiert werden. Der Einfachheit halber werde ich einfach chronologisch vorgehen.
HEALTH. YOUR POSTURE (1953)
Das Mädchen Adralene passt nicht in ihre Umgebung. Sie sitzt bei Feiern immer alleine in einer Ecke und hat auch keine Ahnung, warum die anderen Kinder immer wieder über sie lachen. Ihr Spiegelbild klärt sie eines Abends auf: sie hat eine schlechte Haltung. Adralene möchte das sogleich ändern. Der Biologielehrer wird angesprochen, und dieser lädt einen Professor in die Klasse ein, der über Gesundheitsprobleme infolge schlechter Haltung spricht. Er empfiehlt den Kindern, Sport zu treiben, oder sonstigen physischen Aktivitäten nachzugehen – Jungs können zum Beispiel den Rasen mähen und Mädels die Wäsche zum Trocknen aufhängen. Aber bitte nicht zu viel, denn sonst droht Ermüdung und infolge dessen dann auch eine Hängehaltung! Es folgen dann noch Ausführungen über die Auswahl gesunder Schuhe und über die richtige Sitzposition.
CARNIVAL OF SOULS schafft wohliges Unbehagen. Das Unbehagen, das HEALTH. YOUR POSTURE gleich zu Beginn kreiert, ist allerdings ganz und gar verstörend. Der Aufhänger des Films zeigt ein junges Mädchen, das von ihren Mitschülern (und sogar ihrem eigenen Spiegelbild!) gemobbt wird und macht auch schnell den Schuldigen aus: sie selbst. Ein beängstigendes „Die-Opfer-sind-selbst-schuld“-Narrativ, das zumal auch vollkommen beiläufig wieder fallengelassen wird. Die Klischeehaftigkeit der Geschlechterrollen wirkt im Vergleich fast schon putzig.
HEALTH. YOUR POSTURE wurde für „Young Amerca Films Inc.“ gedreht und wurde vermutlich in Schulen gezeigt. Er ist hier bei youtube zu sehen.
STAR 34 (1954)
Bill (Herk Harvey) und Mary Asher, die offenbar in einer großen US-Stadt (New York? Chicago?) wohnen, gehen zum Notar, um vom Inhalt des Testament von Bills kürzlich verstorbener Mutter zu erfahren. Bill wird eine Farm in Kansas erben, muss allerdings eine Klausel erfüllen: nämlich von seiner Mutter festgelegte Orte in Kansas besuchen, um sich mit dem Bundesstaat vertraut zu machen, der ihr so viel bedeutet hat. Wenig begeistert – Kansas sei ja schließlich „nowhere“ – bricht das Ehepaar auf. Sie packt die Reisetaschen (weil der Mann solchen „Frauen-Kram“ offenbar nicht kann), er hebt die Reisetaschen in den Kofferraum (weil er als Mann ja für Auto-Angelegenheiten zuständig ist). Dann steht dem Trip zur Erfüllung der Testament-Klausel nichts mehr im Wege. Das Paar reist durch den „Sunflower State“ und besucht alle möglichen Sehenswürdigkeiten: Museen, historisch markante Orte, das Indianerreservat, Hütten der frontier-Siedler, spektakuläre Gebirgsformationen, Büffelherden, das mit einem Markstein gekennzeichnete geografische Zentrum der USA und viele weite Getreidefelder. Ein Erzähler kommentiert pathetisch und nachdrücklich die Bilder: von „with the riffle in one hand, and a bible in the other, man brought faith to Kansas“ bis zu stolzen Kommentaren über „some of the largest outdoor swimming pools ever constructed“. Völlig begeistert kehrt das Ehepaar in der Rahmenhandlung dann zum Notar zurück, um ihm zu verkünden, den restlichen Papierkram dann postalisch nach „Star 34“ zu schicken – Kansas wurde als 34. Staat in die Union aufgenommen und war zugleich die Heimat des (damaligen) 34. US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower.
STAR 34 entstand im Auftrag der „Kansas Industrial Development Commission“. Dem Namen dieser Kommission nach zu urteilen, diente dieser „short“ wahrscheinlich als Image-Film für eine Infrastruktur-Kampagne des Staates Kansas. Der Film ist im Bonus-Teil der deutschen Doppel-DVD-Edition von CARNIVAL OF SOULS enthalten.
NONE FOR THE ROAD. TEEN-AGE DRINKING AND DRIVING (1957)
Hochdramatische Musik schwillt in den Anfang-Credits an. Dr. Charles Wentworth (gemimt von einem Schauspieler), der in einer Laborumgebung sitzt und sich als Biologe vorstellt, möchte gerne eine Geschichte erzählen, die von einem Glücksbringer-Schlüsselanhänger (mit einem vierblättrigen Kleeblatt) und einer farblosen Flüssigkeit handelt. Die Flüssigkeit heißt Alkohol. Der Forscher rezitiert dessen physische Formel und erklärt, dass nicht alle Experimente im Labor stattfinden.
Schnitt zu einer Schüler-Party. Drei prototypische junge Männer werden vorgestellt. Da ist der schwere Trinker Jerry Lyndon, der moderate Trinker Keith Stevens und der Abstinenzler Dan Parker.
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Schwer betrunkene Laborratte |
Gegenschnitt zurück ins Labor, wo Dr. Wentworth anhand dreier Laborratten erklärt, wie sich Alkohol auswirkt. Die erste ist nüchtern („the ginger-ale-type“), der zweiten wurde ein bisschen Alkohol eingeflösst (soll einigen wenigen Bieren entsprechen), und die dritte hat proportional so viel Alkohol bekommen wie jemand, der den ganzen Abend lang ununterbrochen getrunken hat. Der Forscher hebt die Ratten auf eine Metallstange, wo diese balancieren sollen (heute würde man das wohl nicht zu unrecht Tierquälerei nennen). Natürlich kommt heraus: die erste balanciert geschickt auf der Stange, die zweite hält sich gerade so, die dritte plumpst sofort herunter (wer gut aufpasst, merkt, dass die erste vom „Forscher“ auch etwas vorteilhafter auf die Stange platziert wird als die zwei restlichen). Für die Leute, die das noch nicht verstanden haben oder vielleicht, um eine sanfte Rückkehr in die Welt der Menschen zu gewährleisten, gibt es noch eine Labor-Fahrsimulation mit den drei verschiedenen Alkoholpegeln, bei der ein Milchlieferant, der aus seinem Wagen in Richtung Straße aussteigt, am Ende dran glauben muss.
Dann kehren wir zur Party zurück. Jerry, der schwere Trinker, ist inzwischen alleine weggefahren. Keith, der moderate Trinker, weiß, dass Jerry Hilfe braucht und fährt ihm nach. Dan, der gar nichts getrunken hat, fährt seine Freundin und auch Jerrys alleingelassene Freundin zurück. Beim Nachhauseweg kommen sie an einer Unfallstelle vorbei und halten an. Sie denken, dass der schwere Trinker Jerry verunglückt ist. Doch der wurde wegen seines auffälligen Fahrstils von der Polizei aufgeschnappt. Nein, ein Glücksbringer-Schlüsselanhänger, der am Unfallort gefunden wird, beweist, dass Keith, „the conservative type who did some drinking“, tot im verunglückten Auto sitzt. Lektion gelernt: schon geringe Mengen Alkohol am Steuer sind gefährlich. Die Wendung der Rahmenhandlung ist zugegebenermaßen trotzdem erstaunlich.
NONE FOR THE ROAD. TEEN-AGE DRINKING AND DRIVING sieht in vielerlei Hinsicht so aus, wie man sich gemeinhin einen Aufklärungsfilm über die Gefahren des Alkohols aus den 1950er Jahren vorstellt: wissende Wissenschaftler, die ihre Weisheiten in weißen Laborkitteln unter die Menschen bringen und tumbe Teenager, die wilde Party-Musik (sprich: ziemlich gediegenen Jazz) hören und dabei zu viel trinken. Zumindest unwillkürlich musste ich bei der Demonstration an den Ratten an die Rock‘N‘Roll-Mäuse in ROCK‘N‘ROLL HIGH SCHOOL denken. Ob einer der Beteiligten Harveys Film in der Schule mal gucken musste? NONE FOR THE ROAD. TEEN-AGE DRINKING AND DRIVING wurde unter der Beratung von Biologen der Yale University für „Young America Films Inc.“ produziert und ist hier bei youtube zu sehen.
MANNERS IN SCHOOL (1958)
Larry ist ein ziemlich frecher Schuljunge, der immer wieder patzig antwortet. Am Schluss der Stunde muss er die Tafel abwischen, und malt stattdessen ein Strichmännchen. Dieser wird lebendig und fängt an, mit Larry zu reden, der ihn erst einmal am liebsten wegwischen möchte. Nur mit viel Geschick kann „Chalky“ dem tödlichen Schwamm entkommen und redet schließlich erfolgreich auf Larry ein, um ihm in Ruhe etwas über Manieren beibringen zu können. Denn der Schüler benimmt sich schrecklich: spielt Baseball und will den Schläger nicht an seine Mitspieler weiterreichen, kommt zu spät zur Klasse (und verführt seine Spielkameraden dazu, zu spät kommen), passt in der Stunde nicht auf, wirft mit Papierfliegern, macht sich über das gemalte Elefanten-Bild einer Mitschülerin lustig.
„Chalky“ erklärt Larry gute Manieren. Im Dialog mit der animierten Strichfigur kommt der patzige Schüler langsam zur Erkenntnis, dass gute Manieren wichtig sind und erarbeitet dann mit ihr eine Regelliste (von „aufpassen in der Klasse“ bis zu „pünktlich sein“). Damit alles sitzt, wiederholt „Chalky“ die Liste noch einmal. Da seine Arbeit getan ist, und Larry auch bei seinen Eltern und Lehrer nachfragen kann, kann er am Schluss mit einem Schwammwisch verschwinden.
MANNERS IN SCHOOL wurde offensichtlich für ein jüngeres Zielpublikum als das von NONE FOR THE ROAD. TEEN-AGE DRINKING AND DRIVING gedreht und vermischt reelle Figuren mit einer einfach animierten Zeichentrick-Figur, die sowohl kumpelhaft als auch süß rüberkommen soll – was eigentlich ganz nett gelingt. Der Film wurde für McGraw-Hill Book, einem Subunternehmen des großen Medienkonzerns McGraw-Hill produziert. Dieser war übrigens ein regelmäßiger Kunde von Centron Corporation (und Harvey).
MANNERS IN SCHOOL ist hier bei youtube zu sehen. Es gibt auch ein „Sequel“ mit dem Titel MANNERS IN PUBLIC, das ich allerdings nicht gefunden habe: den gibt es auf einem US-Kompilationsvideo mit dem klangvollen Namen „Campy Classroom Classics Vol. 2“.
WHAT ABOUT PREJUDICE? (1959)
Keiner an der Schule kann Bruce Jones leiden. Jede und jeder fragt sich, wie man nur „so jemanden“ überhaupt in den Unterricht lässt. Er wird gemobbt, beleidigt, und jedes Mal, wenn irgendetwas passiert, „wissen“ alle, dass er der Schuldige sein muss. Bei einer Schülerparty sind alle froh, dass Bruce Jones nicht da ist, um mit seiner schieren Anwesenheit zu irritieren. Kann er auch nicht: zufälligerweise hat er eine Mitschülerin unter Gefährdung seines eigenen Lebens aus einem verunglückten Auto gerettet, und sich dabei schwer verletzt. Die anderen Teenager fahren ins Krankenhaus und beginnen ihre Vorurteile zu hinterfragen.
WHAT ABOUT PREJUDICE? ist ein moralischer Lehrfilm, der sich gegen Vorurteile gegenüber Minderheiten positioniert („racial, socio-economic or religious“). Bruce Jones‘ Hintergrund bleibt unbekannt. Im Vorspann heißt es, dass er ein Symbol ist, der für alle Minderheitengruppen steht, und deshalb nicht im Film repräsentiert wird – sondern nur in den Gedanken der Zuschauer. Man weiß nur, dass er männlich ist, und sieht zu Beginn lediglich seine Beine (in ausgebeulten und fleckigen Hosen – was zumindest Armut vermuten lässt). Der Rest des Films dreht sich dann nur noch um die Mitschüler und ihre verachtungsvollen Äußerungen über Bruce Jones. Ihm kein Gesicht zu geben, geht sicherlich von einer guten und humanistischen Idee aus. Die Thematisierung von Vorurteilen bleibt dadurch aber auch gezwungenermaßen stets im nebulösen Unkonkreten – und dürfte tendenziell sogar niemanden wirklich angesprochen haben. Dass Vorurteile gegenüber einem Angehörigen einer Minderheit erst hinterfragt werden, wenn dieser „Heldentaten“ vollführt, hat ebenfalls einen etwas komischen Beigeschmack.
Dem Drehbuch der Centron-Stammautorin Margaret Travis entsprechend ist WHAT ABOUT PREJUDICE? vor allem ein dialog- und holzhammerpädagogik-lastiger Film. Er wurde von der „Young America Films Inc.“ in Zusammenarbeit mit McGraw-Hill Book für die Reihe „Discussion Problems in Group Living“ produziert. Diese präsentierte ein soziales Problem in der Schule und endete stets mit der Frage „What do YOU think?“. Harvey drehte ein gutes Dutzend Filme für diese Reihe. WHAT ABOUT PREJUDICE? ist hier bei youtube zu sehen.
THE INNOCENT PARTY (1959)
Zwei Jungs sind in der Stadt unterwegs und wollen Spaß haben. Sie stellen sich an der Kinokasse an, aber dann kommen zwei hübsche Mädchen vorbei, denen sie nachstellen. Mit ihnen fahren sie durch die Gegend, und der Abend endet mit... „Küssen“.
Wenig später fährt einer der beiden Jungs, Don, seine Freundin Betty von einer Party nach Hause. Da sie noch fast eine halbe Stunde Zeit bis zur elterlichen Sperrstunde haben, schlägt er vor, am Straßenrand zu halten, um sich etwas ausgiebiger... „küssen“ zu können. Danach fühlen sich beide schlecht, und in der Schule mag Betty nicht mehr wirklich mit Don reden. Seinem Kollegen Nick, mit dem er neulich unterwegs war, beichtet er außerdem folgendes: „I‘ve got some sort of sore, down there.“ Das bekommt er mit einem nonchalanten „Oh, don‘t worry about it, it‘s probably just a pimple or something.“
Don ist trotzdem beunruhigt, und geht zum Arzt. Es stellt sich heraus, dass das „or something“ in Wirklichkeit die Syphilis ist. Verständnisvoll klärt der Arzt seinen Patienten über die Krankheit auf, zeigt ihm dabei noch ein paar unschöne Bilder, und bittet ihn, ihm die Namen seiner Sexualpartnerinnen zu nennen. „Barbara Meyer“, das Mädchen vom eingangs gezeigten Abend (wahrscheinlich ein falscher Name, wie Don selbst bemerkt) wird gebeichtet. Doch Bettys Namen mag er nicht nennen – auch nicht nach einer zusätzlichen unappetitlichen Bilderreihe. Schlussendlich knickt Don doch ein, und findet sich mit Betty beim Arzt zusammen wieder. Ihre Krankheit wird geheilt werden, aber ihre Beziehung dürfte dennoch zerstört bleiben.
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Don & Betty: vor und nach dem vorehelichen Sex
Anrüchige Mädchen / Syphilis |
THE INNOCENT PARTY ist ein Aufklärungsfilm, den Harvey für das Kansas State Board of Health und dem U.S. Public Health Service drehte. Gerade sein Aufklärungsteil ist relativ klassisch gehalten, doch die ersten zwei Minuten sind schlichtweg großartig. Harvey schafft es, in nur wenigen Sekunden, eine ausgelassene Freitagabend-Ausgeh-Stimmung zu etablieren: die Jungs laufen durch eine belebte Straße, überall Lichter, Passanten. Sie gehen am Kino vorbei. Dort wird RIO BRAVO gezeigt. John Wayne, Dean Martin und Ricky Nelson blicken die Jungs von ihren Aushangs-Fotos aus an. Karten zu diesem hypermaskulinen Film wollen gekauft werden, aber dann erscheinen die beiden Mädchen, die man sofort als „unartig“ identifizieren kann: sie tragen Hosen statt Röcke, sie rauchen und sie blicken kokett rein. Nichts wie hinterher! Nick ist Feuer und Flamme, Don folgt eher passiv hinterher. Als sie zu viert ins Auto steigen, folgt ein kurzer Schnitt auf Dons Gesichtsausdruck: irgendwie scheint er Zweifel zu haben, nickt diese aber weg. Das alles ist komplett stumm, nur mit einer urbanen Geräuschkulisse und einem Duo aus Bass und Saxofon unterlegt. Im Auto legt die Musik einen Schritt zu: Don und die Unbekannte sitzen auf der Rückbank und beginnen sich zu küssen (unter den Credits). Schnitt: auf den Vordersitzen ist niemand mehr (Nick und die andere sind wohl weg), doch Don und die Unbekannte küssen sich, nun am Straßenrand, weiter. Wie in diesen knapp zwei Minuten so viele Informationen und Eindrücke so kompakt und trotzdem so unbeschwert untergebracht werden, ist schlicht bemerkenswert!
Der Titel von THE INNOCENT PARTY kann man zweideutig lesen: er ironisiert den gefährlichen spontanen Seitensprung mit den anrüchigen Mädchen, und charakterisiert zugleich Betty, die „unschuldige Partei“, mit deren Leben Don spielt, als er zögert, dem Arzt ihren Namen zu nennen – ein übrigens ebenfalls sehr spannend inszenierter Konflikt, der aus dem kranken jungen Mann für einige Zeit implizit in einen regelrechten „Bösewicht“ verwandelt.
DANCE, LITTLE CHILDREN (1961)
Trotzdem THE INNOCENT PARTY hervorragend inszeniert war, schien er offenbar den Auftragsgebern recht schnell veraltet. Denn zwei Jahre später drehte Harvey erneut für das Kansas State Board of Health und das U.S. Public Health Service einen Aufklärungsfilm über die Gefahr der Syphilis. Diesmal geht es um einen „outbreak“, der augenscheinlich die ganze Jugend einer Kleinstadt infiziert. Die Schuldigen dafür sind schnell ausgemacht: natürlich die Medien, die sexualisierte Bilder verbreiten, der Rock‘n‘Roll und Brigitte Bardot! Die Epidemie droht, sich in den ganzen USA und sogar bis nach Mexiko auszubreiten, aber ein Beamter des Kansas State Board of Health bringt die Situation unter Kontrolle, in dem er ausgiebig mit den Jugendlichen spricht (und ihnen – wie in THE INNOCENT PARTY – die Legende der Toilettensitz-Infizierung ausredet). Am Schluss ist die Epidemie eingedämmt. Nur die „tall aggressive blonde“, die auf Autorennstrecken unschuldige junge Männer verführt und wohl hauptverantwortlich für einen Teil der Infizierungen ist, wird nicht geschnappt.
Falls das alles sehr (unfreiwillig) komisch klingt: das ist es nicht. DANCE, LITTLE CHILDREN ist dramaturgisch holprig und unübersichtlich, führt viel zu viele Figuren parallel ein und wird von einem unangenehm moralinsauren Ton beherrscht, der in THE INNOCENT PARTY weitestgehend fehlte.
TO TOUCH A CHILD (1962)
TO TOUCH A CHILD zeigt, wie das Konzept der „community school“ in Flint, Michigan eingeführt worden ist. Die Stadt war damals noch ein prosperierendes Autoindustrie-Zentrum. Erst ab den späten 1960er erlebte sie ihren Niedergang – der später auch vom gebürtigen Flinter Michael Moore immer wieder thematisiert wurde.
Am Anfang präsentiert der Film eine suboptimale Situation: Schulgebäude stehen halbtägig und in den Ferien leer, die Schüler bringen Belastungen von zuhause mit in die Schule mit (exemplifiziert an einigen Einzelschicksalen, darunter auch eines schwarzen Mädchens), und wenn die Schule zu Ende ist, spielen sie auf der Straße oder werden zu Kleinkriminellen.
Die Implementierung des „community school“-Konzepts schafft Abhilfe. Es ist die Idee eines Sportlehrers, der sich der finanziellen Unterstützung eines reichen Industriellen sicher sein kann. Nunmehr werden die Schulgebäude aktiv für Gemeine-Aktivitäten genutzt. Für die Erwachsenen gibt es Volkshochschulkurse und Weiterbildungsangebote, für die älteren unter ihnen gibt es Senioren-Versammlungen. Und auch für die Schüler wird ein umfangreicheres außerschulisches Programm implementiert: Jugendclubs, Sportkurse, musikalische Aktivitäten. Das „community school“-Konzept gewinnt an Momentum. Die Gemeinde, früher politisch passiv, stimmt für den Bau neuer Schulen.
Am Ende steht die „community school as a place for shared activities“, und zwar für alle. Die Schüler, die Anfangs ihre Probleme hatten, haben nun eine bessere Zukunftsaussicht – etwa dadurch, dass der Arbeiter-Vater des einen Kindes durch eine Weiterbildung (durchgeführt Abends in der Schule) beruflich aufsteigen wird. Eine harmonische Montage zu den Klängen von „America the Beautiful“ beendet den etwa halbstündigen Film.
John Clifford, der Centron-Mitarbeiter, der für CARNIVAL OF SOULS das Drehbuch geschrieben hatte, äußerte sich später mit bewundernden Worten über TO TOUCH A CHILD. Seiner Aussage nach wurde der Film lediglich von einem Zweimann-Team aus Harvey selbst und dem Kameramann Bob Rose gedreht. Der Rest entstand dann am Schneidetisch und im Tonstudio beim Nachsynchronisieren (der Film wurde offensichtlich stumm gedreht). Die Narration von TO TOUCH A CHILD wird massgeblich durch die schnelle Montage vorangetrieben. Die Kameraschwenks sind meist kurz und einfach. Häufiger sind Reisszooms (meistens rauszoomen) – denkwürdig: ein zoom-out durch das Loch eines zerbrochenen Fensters, das der Sportlehrer vor dem Gebäude stehend bemerkt.
Interessant am Film ist aber vor allem die absolute Selbstverständlichkeit, mit der schwarze und weiße Menschen gleichberechtigt und integriert gezeigt werden – ohne, dass es explizit thematisiert wird. Eines der „community school“-Programme richtet sich an die Kinder alleinerziehender Mütter, bei denen Männer aus der Gemeinde eine Patenschaft übernehmen: exemplifiziert wird dies mit dem Bild eines weißen Jungen, der von einem schwarzen Mann väterlich an die Hand genommen wird.
TO TOUCH A CHILD war eine Auftragsarbeit der in Flint angesiedelten philanthropischen Charles Stewart Mott Foundation (die im Film auch explizit genannt wird) und des Flint Board Of Education. Nach Aussage der Mott-Foundation sorgte die Verbreitung ihres Films für eine Verbreitung des Konzepts der „community school“ in den USA.
TO TOUCH A CHILD ist auf der Bonus-DVD der Doppel-Edition von CARNIVAL OF SOULS enthalten, allerdings nur in einer gekürzten (und arg rotstichigen) Version von 12 Minuten. Das ist auch die Dauer, die bei imdb angegeben ist. Hier bei youtube findet sich eine 29-minütige Fassung des Films (allerdings im falschen Bildformat). Inwiefern die gekürzte Fassung eine Version ist, die ebenfalls 1962 im Umlauf gebracht worden ist, oder aber nur für den Bonusteil gekürzt wurde, kann ich nicht abschätzen.
CARNIVAL OF SOULS (1962)
Darsteller: Candace Hilligoss (Mary Henry), Herk Harvey (The Man), Sidney Berger (John Linden), Frances Feist (Mrs. Thomas), Stan Levitt (Dr. Samuels), Art Ellison (Priester)
In einer der kürzesten Filmexpositionen der Kinogeschichte stacheln zwei Männer in einem Auto drei Frauen in einem anderen Auto zu einem kleinen Rennen an. Die Fahrerin sagt zu, eine Kollegin schaut skeptisch rein. Das Auto der Frauen landet bei der Überquerung einer Brücke im Fluss, und nur die Frau, die skeptisch war, kann sich mysteriöserweise aus dem Wagen retten, der auch gar nicht mehr gefunden wird. Sie ist heißt Mary Henry, ist Organistin, und reist bald zu ihrer neuen Arbeitsstelle, einer Kirche. Auf dem Weg fährt sie an einem verlassenen Pavillon vorbei, und plötzlich erscheint am Wagenfenster ein bleicher Mann, der sie fürchterlich erschrickt.
Sie checkt in einer Pension ein, wo sie den Mann erneut an ihrem Fenster sieht, sich aber sicher ist, dass es nur eine Vision ist. Am nächsten Tag tritt sie ihre Arbeit in der Kirche an, wo der mysteriöse Mann während ihres Spiels – diesmal ohne ihr Wissen – auftaucht. Später fährt Mary zusammen mit dem Priester zu dem verlassenen Pavillon außerhalb der Stadt, und scheint stark zu diesem Ort angezogen zu sein. Zurück in der Pension wird alles turbulent: der einzige andere Pensionsgast, ein Mann namens Linden, belästigt sie, der bleiche Mann taucht wieder auf und Mrs. Thomas, die die Pension führt, hält sie für verrückt. Am nächsten Morgen frühstückt Mary, nolens volens, mit dem aufdringlichen Nachbarn, der sich als Alkoholiker entpuppt.
Als Mary sich ein Kleid kauft, hat sie einen unerklärlichen Anfall: sie hört nichts mehr, und die Menschen um sie herum nehmen sie nicht mehr wahr. Panik erfasst sie, bis sie wieder hört und in die Arme eines Dr. Samuels rennt. Bei ihm in der Praxis spricht sie über ihren Anfall und über den Mann, den sie immer wieder sieht. Dr. Samuels erklärt ihr, dass es sich um post-traumatischen Stress handelt, der durch ihren Autounfall verursacht wurde.
Mary fährt danach gleich wieder zum verlassenen Pavillon. An einem späteren Tag ereilt sie bei der Arbeit, also während des Orgelspiels in der Kirche, eine Vision vom Pavillon: der bleiche Mann steigt zusammen mit anderen bleichen Figuren aus dem Wasser, und alle zusammen fangen an zu tanzen – zu den zunehmend karnevalesk-dissonanten Orgelklängen, die Mary selbst produziert. Der Priester merkt das und feuert sie, weil sie profane Musik in der Kirche gespielt hat. Am Abend geht sie mit ihrem penetranten Zimmernachbarn Linden aus. Das „Date“ verläuft nicht gut. Bei der Rückkehr in die Pension versucht er, mittlerweile betrunken, sich ihr anzunähern, was sie beim ersten Mal schroff zurückweist. Beim zweiten Annäherungsversuch ereilt sie wieder eine Vision des bleichen Mannes. Sie wirft Linden raus, und verbringt den Rest der Nacht in Panik und Hysterie.
Später verlässt sie die Pension und fährt in die Stadt, um ihr Auto reparieren zu lassen. In der Werkstatt sieht sie wieder den Mann, flüchtet und beginnt, panisch durch die Stadt zu rennen. Dabei verliert sie wieder ihr Gehör, und kann erneut nicht mehr mit ihrer Umwelt kommunizieren. Sie will in einen Bus steigen, aber bleiche Gestalten sitzen dort, stehen auf und kommen auf sie zu. Hysterisch flüchtet sie wieder weg und irrt durch die Stadt. An der selben Ecke, in der sie Dr. Samuel traf, ist plötzlich wieder alles in Ordnung, und in seiner Praxis spricht sie über ihren Anfall. Doch eigentlich sitzt der bleiche Mann im Arztsessel. Sie schreit – und findet sich wieder in der Autowerkstatt. Sogleich fährt sie zum Pavillon, wo wieder bleiche Gestalten aus dem Wasser steigen und zu tanzen beginnen. Auch ihre „Doppelgängerin“ ist darunter, und als sie flieht, verfolgen sie die bleichen Gestalten, bis sie sie kriegen.
Inzwischen wurde am Unfallort der Wagen gefunden. Als dieser aus dem Wasser rausgezogen wird, sieht man, dass alle drei Frauen, darunter auch Mary, tot sind.
CARNIVAL OF SOULS wurde in knapp drei Wochen mit einem Budget von etwa 30.000 Dollar (andere Quellen sagen 17.000 Dollar) stumm auf 16-mm-Film gedreht. Einer der drei Saltair Pavillons beim Great Salt Lake diente als Drehort. Der Rest wurde in Kansas gefilmt, die Innenszenen in den Studios von Centron. Die Finanzierung des Films fand über ein Fundraising in Lawrence statt: kleine und mittelständische Unternehmen investierten in den Film. Eine Dame, die einen Anteil des Budgets mit finanziert hatte, wurde 1967 die zweite Ehefrau Harveys.
Die an der Inszenierung und Postproduktion des Film beteiligten Personen waren größtenteils Centron-Angestellte: so der Autor John Clifford, der das Drehbuch auf der Grundlage von Harveys Idee verfasste und Cutter Dan Palmquist, der auch einen Tankwart spielt. Zwei weitere Schlüsselpositionen in der Produktion des Films, nämlich Kameramann und Komponist, wurden jedoch mit Personen aus der Konkurrenz besetzt, nämlich mit Angestellten der Calvin Company in Kansas City, Missouri. Die Calvin Company war ebenso wie Centron eine unabhängige Produktionsfirma für Industriefilme. Einer ihrer Regisseure hieß übrigens Robert Altman, der sich bekanntermaßen später auch einen Namen im Bereich des Spielfilms machen sollte. Maurice Prather, Hauskameramann von Calvin, fotografierte CARNIVAL OF SOULS, und ihm sind ohne Zweifel wunderbare Bilder gelungen. Gene Moore war der Hauskomponist von Calvin und schrieb für Harveys Film den prägnanten Orgel-Score, der eher Klangteppich als Melodie ist und maßgeblich zur beunruhigenden Atmosphäre des Films beiträgt. Extra- und intradiegetische Musik fließen immer wieder ineinander über, da die Protagonistin Mary schließlich selbst Kirchenorganistin ist.
CARNIVAL OF SOULS ist ein Film der vielfältigen Irritationsmomente. Sein Look ist über weite Strecken als „realistisch“ zu bezeichnen, und seinen Grusel entwickelt er gerade dadurch, dass in diese (nur scheinbar) geordnete Welt der Irrsinn und das Irrationale einbricht. Die ordentliche Welt wird als fester Boden präsentiert, der immer wieder ruckartig weggezogen wird.
Das besondere Unbehagen wird vielleicht am ehesten in der Szene deutlich, als Mary zum ersten Mal das Pavillon betritt. Es ist verlassen, etwas trist, aber nicht im engeren Sinne gruselig. Mary betritt eine Terrasse und schaut sehnsüchtig in die Weite. In diesem Moment wird ein Bild des im Wasser liegenden bleichen Mannes in die Sequenz montiert.
Viele kleine Details irritieren. Mary kommt nach einem Unfall nass und schlammüberzogen aus dem Fluss raus. Nach einem Schnitt trägt sie ein makelloses Kleid, wird von ihrer Umgebung kaum wahrgenommen und fährt vom Unfallort einfach so weg. Auf dem Weg zu ihrer neuen Arbeit hört sie Radio, und trotz Umschalten der Sender läuft die Orgelmusik weiter. Immer wieder äußert sie, dass sie keinen Mann oder Freund hat, und allgemein sich nicht gerne mit anderen Menschen umgibt. Aber warum trägt sie dann sichtbar einen Ehering und fährt zu Beginn offenbar mit guten Freundinnen Auto? Die „Anfälle“ Marys, bei denen sie nichts mehr hört und mit ihrer Umwelt nicht mehr interagieren kann. Viele kleine Dissonanzen, die zeigen, dass hier irgendetwas nicht in Ordnung ist. In der Tat ist hier nichts in Ordnung: Mary ist schließlich die ganze Zeit schon tot.
Der bleiche Mann (gespielt von Regisseur Herk Harvey) ist natürlich eher Schock als eine Dissonanz, und es ist faszinierend, dass – abgesehen vom Schluss – er tatsächlich praktisch nichts anderes macht, als einfach nur da zu sein. Er tritt nicht offensiv oder aggressiv auf, ja eigentlich „macht“ er nichts, sondern zeigt sich nur, was den Grusel vielleicht potenziert.
CARNIVAL OF SOULS ist ein Film, die nicht nur trotz seines minimalen Budgets gut funktioniert, sondern wahrscheinlich gerade auch deswegen. Strukturell erinnert er mich ein bisschen an Edgar Ulmers poverty-row-noir DETOUR: ein Film, der seine eigene „Schäbigkeit“ zum Trumpf erhebt. Das selbe ist auch in CARNIVAL OF SOULS zu sehen. Weite Teile des Films wurden ohne Direktton gedreht: um so besser, das passte eh zu Marys „tauben Anfällen“ und störte so weniger, wenn der atmosphärische Score unterlegt werden sollte. Der „Ausfall“ des Tons ist schließlich das größte Problem in Marys „Leben“. Die „goof“-section des Films bei imdb liest sich teilweise eher als eine interessante Liste von Irritationselementen: Schritte oder Handbewegungen beim Orgelspielen, die nicht mit dem Bild synchronisiert sind; verschwindende Geldbörsen und Brillen.
CARNIVAL OF SOULS war ein kommerzieller Misserfolg. Das lag vor allen Dingen an den Distributionsschwierigkeiten, die der Film hatte. Da er komplett unabhängig produziert war, konnte er schließlich nicht von den Hollywood‘schen Distributionswegen profitieren. Harvey selbst kümmerte sich offenbar auch nicht sonderlich um den Vertrieb des Films. Als die Schwierigkeiten Überhand nahmen, befand er sich sowieso auf den Antillen, um einen Centron-Dokumentarfilm zu drehen. Der Misserfolg entmutigte Harvey auch, weitere kommerzielle und abendfüllende Spielfilme zu drehen (bis auf ein abgebrochenes Projekt Ende der 1960er Jahre, siehe unten). Der Film verschwand weitestgehend bis Ende der 1980er Jahre, als er sich zu einem Kultfilm entwickelte.
Primär sollte CARNIVAL OF SOULS in Autokinos gespielt werden, und dafür wurde der ohnehin schon kurze Film vom Verleih um etwa fünf Minuten gekürzt, damit er noch öfter in Double-Features gespielt werden konnte. Das führte dazu, dass es heute zwei unterschiedliche Fassungen gibt, nämlich den Kino-Cut und den ursprünglichen Premiere-Cut.
Bis er in den 1980er Jahren ein Comeback erlebte, hinterließ CARNIVAL OF SOULS aber auch so Spuren. Die Seelen (also der bleiche Mann, und seine Tanzgenossen im Pavillon) erscheinen nach heutigen Sehgewohnheiten wie Zombies, auch wenn sie eigentlich keine menschenfleischfressende Untoten sind: Sie bewegen sich unnatürlich, sind sehr bleich, sehen im allgemeinen ungesund und „unfrisch“ aus und haben dunkle Augenringe. Acht Jahre später sah man solche Gestalten (diesmal menschenfleischfressende Untote!) in NIGHT OF THE LIVING DEAD, der auch strukturelle Ähnlichkeiten mit CARNIVAL OF SOULS aufweist: ein Low-Budget-Film, gedreht von einem unabhängigen Regisseur, der in Gebrauchsfilmen spezialisiert war. Pittsburgh und Lawrence sind zwar über 1.000 Kilometer voneinander entfernt, aber man kommt nicht umhin zu denken, dass George A. Romero CARNIVAL OF SOULS vor dem Dreh zu NIGHT OF THE LIVING DEAD gesehen haben muss. Später, in LAND OF THE DEAD, hat er der Szene, in dem die Seelen aus dem Wasser steigen, eine Hommage geschenkt. Diese wird im imdb-connections-Teil übrigens alternativ auch als Hommage an eine entsprechende Szene in APOCALYPSE NOW präsentiert. Ob Coppola wiederum jemals CARNIVAL OF SOULS vor dem Dreh seines Vietnam-Epos gesehen hat?
David Lynch soll Harveys Film als maßgeblichen Einfluss auf sein Werk genannt haben, und das scheint ziemlich schlüssig: Provinzielle Städte, in denen das Unbehagen und das Irrationale lauern; Figuren, die sich in alptraumhafte Situationen verstricken, aus denen es im Grunde kein Zurück mehr geben kann – das ähnelt sich in der Tat.
Mit einer leicht abgeänderten Geschichte, die der Hauptfigur mehr psychologischen Hintergrund gibt, wurde 1998 ein gleichnamiges Remake von CARNIVAL OF SOULS gedreht, mit Wes Craven als ausführender Produzent. Inwiefern diese Änderung wirklich sinnvoll ist, sei dahin gestellt. Harveys Film lebt ja maßgeblich davon, dass die Hauptfigur kaum einen Hintergrund hat, von nirgendwo herkommt, sich im Nichts bewegt und nirgendwo hingeht. Allerdings kann ich tatsächlich über Qualität des Remakes nicht urteilen.
Ein weiteres Remake von CARNIVAL OF SOULS, nämlich Christian Petzolds YELLA, erschien 2007. Der Film erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die nach einem Unfall an gelegentlichen kognitiven Störungen leidet, und ebenfalls auf einen Mann trifft (mit dem sie allerdings mitgeht und krumme Geschäfte abwickelt). Das Grundmuster und die Auflösung der Geschichte sind praktisch dieselben. Ton und Bild der rauschenden Blätter, die immer wieder den Übergang vom gestörten in den „normalen“ Zustand markieren, sind sogar fast eins zu eins übernommen. Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass YELLA sich trotzdem als weitestgehend eigenständiger Film entwickelt und vor allen Dingen im Gegensatz zu seiner Vorlage kaum als Horrorfilm im klassischen Sinne zu bezeichnen ist.
CARNIVAL OF SOULS ist im Internet in mittelmäßigen bis schlechten Kopien zu sehen, weil der Film in den USA einige Zeit im „public domain“ war. Das ist wohl auch der Grund dafür, warum es unzählig DVD-Editionen gibt. Für diese Besprechung habe ich die Doppel-DVD-Edition von M.I.B. genutzt, die sowohl den Kino-Cut als auch den Premieren-Cut enthält und des Weiteren auch eine „Best-Of-Kompilation“ von Harveys Industriefilmen bei Centron aufweist („Best-of-Kompilation“ in Anführungszeichen, weil einige Filme nur ausschnittsweise enthalten sind). Diese DVD stimmt weitestgehend mit der US-Criterion-Edition des Films überein. Es gibt übrigens auch eine kolorierte Version des Films (einige wenig begeisterte Ausführungen sind hier zu lesen).
THE RELUCTANT WITCH (unvollendeter Spielfilm – Ende der 1960er Jahre)
Der kommerzielle Misserfolg von CARNIVAL OF SOULS entmutigte Harvey zunächst, weitere abendfüllende Spielfilme zu drehen, hatte aber auch keinerlei Auswirkungen auf seine Karriere bei Centron. Ende der 1960er Jahre wollte er aber tatsächlich die Kurzgeschichte „The Reluctant Witch“ des Science-Fiction-Autoren James Gunn verfilmen. Gunn war Professor für englische Literatur an der University of Kansas, woher Harvey ihn als Arbeitskollegen vermutlich auch kannte. Der Film sollte diesmal von Centron produziert werden, aber dann gab es wohl budgetäre Probleme und das Projekt wurde abgeblasen. Bei youtube finden sich fünf Minuten Rohmaterial ohne Ton. THE RELUCTANT WITCH sollte wohl von einem Professor an der KU handeln, der übernatürliche Kräfte entwickelt. Die ersten paar Minuten sind banal, eine Gans und eine Schlange sorgen dann aber für – offenbar komödiantischen – Trubel. Schwer zu sagen, was daraus hätte werden können. Herk Harvey ist kurz als Tankwart zu sehen.
ohne Titel (ohne Jahr – Ende der 1960er Jahre)
Auf der Bonus-DVD von CARNIVAL OF SOULS enthalten ist ein etwa zweiminütiger Clip, in dem das Hauptquartier von Centron Corporation gezeigt wird, und zwar komplett durch ein „Fischaugen“-Objektiv. Die Verzerrung wird dadurch verstärkt, dass sich die Kamera fast permanent bewegt, und dabei in einer Art Rundgang die verschiedenen Abteilungen präsentiert: Verwaltungsräume, die „Preis-Galerie“ (viele Centron-Filme bekamen Auszeichnungen), der Vorführungsraum, der Chefraum, die „Art & Animation“-Abteilung, ein sound stage, die Tonabteilung, die Montageabteilung. Ja, alles in zwei Minuten. Der titellose Film ist schnell geschnitten und wird zwischendurch auch mal doppelt und dreifach belichtet. Die rhythmische Montage passt wunderbar zu den jazzig-souligen Klängen, die den Film untermalen.
Es ist zu vermuten, dass dieser Clip als Image- bzw. Eigenwerbung-Film verwendet wurde.
KOREA: OVERVIEW – THE FACE OF KOREA (1980)
Centron Corporation schickte seine Leute auch um die ganze Welt, um für verschiedene Kunden Dokumentarfilme über exotische Länder zu drehen. Harvey und Kameramann Rose reisten 1978 nach Korea, um dort eine vierteilige Dokumentarreihe über das Land zu drehen.
Der erste Teil bietet, wie der Titel es andeutet, einen Überblick. Die Bilder des Landes werden vom Regisseur selbst aus dem Off kommentiert. In einem Spurt werden Teilung, Auto- und Textilindustrie, traditionelles Austerntauchen sowie Religion abgehandelt. Alles nichts außergewöhnliches.
Interessanter ist, dass die Bilder durch ihre Montage sehr systematisch einen Kontrast zwischen einem alten, ruralen und traditionellen Korea und einem jungen, urbanen und modernen Korea schafft. Eine traditionelle Musik-Aufführung wird mit einer Gruppe junger Menschen kontrastiert, die ein US-inspiriertes Folk-Lied singt; ein gemütliches ländliches Familien-Mahl wird den Bildern aus einer betriebsamen Auto-Werkshalle gegenübergestellt.
Wer der Auftraggeber dieser Korea-Dokumentarfilmreihe war, lässt sich weder aus Anfangs- noch Schluss-Credits nachvollziehen. Der Film findet sich auf der Bonus-DVD von CARNIVAL OF SOULS.
SHAKE HANDS WITH DANGER (1980)
Geprellte und verbrannte Leiber, schmerzverzerrte Gesichter, tiefe Wunden im Brustbereich, Verstümmelungen, abgetrennte Hände und Füße, Tote, Explosionen... Nein! Harvey hat keinen Action- oder Kriegsfilm mit Splatter-Elementen gedreht. Sondern einen Lehrfilm über Arbeitssicherheit auf einer Baustelle – der ein bisschen wie ein Western aufgezogen ist.
SHAKE HANDS WITH DANGER drehte Harvey im Auftrag der Caterpillar Company. In vielen kleinen Episoden werden Gefahrquellen auf einer Baustelle aufgezeigt. Manchmal aber „schütteln die Arbeiter Hände mit der Gefahr“, und es kommt zu Fast-Unfällen, und manchmal auch zu richtig blutigen Zwischenfällen.
Was zu einem etwas drögen und besserwisserischen Pädagogikhammer hätte werden können, entwickeln Harvey und Autor John Clifford tatsächlich zu einer Art 20-minütigen Western. Die frontier, die erobert werden muss, ist die Baustelle. Statt Cowboys und Siedler gibt es Bauarbeiter. Statt Indianer-Angriffen und Auseinandersetzungen mit Räubern oder den Unwirtlichkeiten der Natur müssen die Helden der Geschichte mit den Tücken von schweren Baustellen-Maschinen kämpfen – und einige von ihnen werden nicht lebendig aus der Schlacht zurückkehren. Fehlt eigentlich nur die Salloon-Schlägerei.
Der Western-Eindruck wird maßgeblich vom Soundtrack auch mitgetragen, bestehend aus dem Lied „Shake Hands With Danger“, vorgetragen in schwerer, bluesiger Country-Manier mit einem Sänger, der ganz offensichtlich den Gesangstil Johnny Cashs imitiert. Der Titel des Lieds könnte auch „Three-Finger-Joe Blues“ sein: der Sänger erzählt aus der Perspektive eines ehemaligen Bauarbeiters, der seine Lektion gelernt hat – „I used to laugh at safety, now they call me Three-Finger-Joe.“ Das Lied rhythmisiert auf ganz eigene Weise den Film: zwischendurch gibt es nur ein paar schwere Riffs, und immer wieder kommentiert der Sänger ironisierend das Geschehen. Diese Ironisierung wird auf einer ganz anderen Ebene mit dem Off-Kommentator fortgeführt. Mit der autoritären, respekteinflößenden und tiefen Stimme eines alten Geschichten-Erzählers kommentiert er ungerührt, ganz „matter of fact“ die Geschehnisse – und spult dabei auch das eigentliche Lehrprogramm ab.
Die Stimme gehört Charles Oldfather, seines Zeichens langjähriger Professor für Recht an der University of Kansas in Lawrence. Nicht nur war er ein äußerst respektierter Jurist, sondern auch engagiert in den Theater-Aktivitäten der Universität, wo er höchstwahrscheinlich auch den Dozenten-Kollegen Harvey kennenlernte. Ob er auch das Lied singt, ist schwierig zu sagen, aber nicht unwahrscheinlich. Jedenfalls hat er zusammen mit John Clifford und einem Unbekannten namens Jim Stringer den treibenden Song mitgeschrieben.
Ganz unwillkürlich könnte man bei der Sichtung von SHAKE HANDS WITH DANGER an STAPLERFAHRER KLAUS – DER ERSTE TAG denken, der berühmten Parodie auf Lehrfilme über Sicherheit am Arbeitsplatz. Harveys Film unterlag aber natürlich den Anforderungen der Auftragsgeber und fällt daher nicht ganz so drastisch und konsequent aus. Und unwillkürlich fragt man sich auch, wie wohl ein richtiger Western Harveys ausgesehen hätte. SHAKE HANDS WITH DANGER ist hier bei youtube zu sehen.
SIGNALS: REED ‘EM OR WEEP (1981)
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Baggern über Funk; Bagger im Garten |
Hierbei handelt es sich gewissermaßen um das „Sequel“ von SHAKE HANDS WITH DANGER, das ebenfalls im Auftrag der Caterpillar Tractor Company inszeniert wurde. Der maßgebliche Unterschied besteht darin, dass hier nicht die Personensicherheit, sondern die Maschinenwartung und der sorgfältige Umgang mit Arbeitsmaterial im Vordergrund steht. Der Film zeigt anhand verschiedener kurzer Episoden, was passiert, wenn die Baustellenarbeiter und -fahrer nicht umsichtig mit den Maschinen umgehen (meistens: Materialschaden).
Die meisten Episoden werden relativ nüchtern vorgetragen. Ein Lastwagenfahrer, der mit der Gangschaltung seines Fahrzeugs schlecht umgeht, fährt zum Beispiel einfach weiter, während der Off-Kommentator erklärt, dass die Reparatur Tausende Dollar kosten wird. Ganz anders ist eine Episode, bei der ein reparaturbedürftiger Bagger auf ein Lastwagen gehoben wird, um zur Werkstatt transportiert zu werden, jedoch nicht ordnungsgemäß befestigt wird. Der Lastwagenfahrer ist ein witziger Typ, der beim Fahren Country-Musik hört und über Funk mit der Telefonistin in der Baustellen-Zentrale flirtet. Als er ankommt, sagt er nonchalant zum Werkstattarbeiter, dass er eine Ladung zu liefern hat. Doch der fragt nur: wo denn? Beim Flirten zwischendurch ist der Bagger wohl von der Ladefläche des Lastwagen runtergerutscht: zwei stark verwunderte Rentner finden ihn in ihrem Garten.
Über verschiedene Fassungen bei Spielfilmen kann man ganze Artikel füllen. Interessanterweise gibt offenbar auch von SIGNALS: REED ‘EM OR WEEP mindestens zwei verschiedene Cuts: einen 19-minütigen, den man hier bei youtube finden kann, sowie einen knapp 6-minütigen, der auf der Bonus-DVD von CARNIVAL OF SOULS zu finden ist. Der 6-minütige Cut ist nicht einfach nur eine kürzere Fassung, sondern enthält auch eine alternative Episode: es geht um einen notdürftig geflickten Ventilschlauch, der ein Problem bereitet – der darin besteht, dass der Hebemechanismus des Baggers gerade dann ausfällt, als eine Ladung über das Auto des Vorarbeiters gehoben wird. Lektion mit einem Lacher gelernt!