Montag, 23. Dezember 2013

Fellatio, Bildgewitter in Super 8, und Sexualerziehung mit Außerirdischen in Kantabrien

Drei spanische Underground- und Avantgardefilme

ICE CREAM
Spanien 1970
Regie: Antoni Padrós
Darsteller: Rosa Morata, Hiriam Abid

Do you suck?



Antoni Padrós (geb. 1940) war ursprünglich ein katalanischer Maler, der, nachdem er eine Filmschule in Barcelona besucht hatte, "achteinhalb" (wie er selbst in Anspielung auf Fellini sagt) Filme drehte (in Wirklichkeit sind es wohl 13 oder 14), meist in Schwarzweiß auf 16mm, wie auch ICE CREAM. Ausgangspunkt war ein erotisches Gedicht, das Padrós selbst geschrieben hatte, und wie unschwer zu erkennen ist, geht es in diesem Film nicht wirklich um eine kalte Süßspeise, sondern um Oralsex. Wenn man Spanisch (oder ist das Katalanisch?) kann bzw. die auf der DVD (siehe unten) vorhandenen englischen Untertitel liest, wird das noch deutlicher, aber es ist auch so schon offensichtlich genug. Rosa Morata spielte in allen Filmen von Padrós Hauptrollen, und in einem Text wird sie als "seine persönliche Diva" bezeichnet. Später verlegte sie sich auf konventionellere Rollen, meist im Fernsehen. Padrós' Filme scheinen in Deutschland selten bis nie gelaufen zu sein, dem Lexikon des internationalen Films ist nur SHIRLEY TEMPLE STORY von 1976 bekannt. - Andy Warhol war mit BLOW JOB von 1963 sieben Jahre früher dran als Padrós, man sollte aber nicht vergessen, dass 1970 das Fossil Franco noch für weitere fünf Jahre am Leben und an der Macht war, und dass die katholische Kirche damals in Spanien über großen Einfluss verfügte. Ein Film wie ICE CREAM dürfte damals durchaus gewagt gewesen sein, und das Label "Undergroundfilm", das oft etwas leichtfertig vergeben wird, ist hier sicher passend.



A MAL GAM A
Spanien 1976
Regie: Iván Zulueta
Darsteller: Iván Zulueta (als "Jim Self")



Der Rest des Films: Teil 2, Teil 3, Teil 4. Leider wird Teil 2 in Deutschland von der GEMA blockiert, wer ihn dennoch sehen will, muss also einen passenden Proxy benutzen. Wer meint, dass ihm eine gute halbe Stunde bei einem solchen Film zu lang ist, der sollte wenigstens die furiosen letzten drei Minuten ansehen, die mit dem Beatles'schen A Day in the Life unterlegt sind.

Der aus dem baskischen San Sebastian stammende Iván Zulueta (1943-2009) lebte Anfang der 60er Jahre kurze Zeit in New York, wo er Pop (damals in Spanien weitgehend abwesend) und Underground kennenlernte, was seinen weiteren künstlerischen Weg prägte. Der auf Super 8 gedrehte A MAL GAM A ist eine Art Selbstportrait: Der junge Mann mit Bart und Wuschelhaar ist Zulueta selbst, gedreht wurde hauptsächlich in Zuluetas Elternhaus in San Sebastian und in seiner Madrider Wohnung, und zwar mit einem Minimum an personellem Aufwand, weil Zulueta den Arbeitsmodus von Malern, ganz auf sich allein gestellt ein Kunstwerk zu erschaffen, auch im eigentlich auf Teamarbeit basierenden Film realisieren wollte. 1981 hat er dazu folgendes geschrieben:
"Ich stelle mir vor, dass alle Filmemacher gelegentlich die Maler, Zeichner, Grafiker beneiden, die nicht mehr als sich selbst (abgesehen von einigen Werkzeugen natürlich) für ihre Arbeit benötigen. [...] A MAL GAM A ist, mehr als irgendetwas sonst, ein Versuch, Kino so wie jemand zu machen, der ein Portrait malt und sich entscheidet, das ohne ein Modell zu tun [...] Der Maler würde einen Spiegel vor sich aufstellen, und man würde das ein Selbstbildnis nennen, und es wäre mehr oder weniger masturbatorisch. Der Filmemacher, in diesem Fall ich, denkt sich Einstellungen mit fixierter Kamera aus, kauft sich einen langen Auslöse-Draht, setzt das Vakuum ins Bild und taucht dann selbst in diesen unsichtbar gerahmten Raum ein, im Vertrauen darauf, dass er nicht den Focus oder den Bildausschnitt verliert [...] Ein guter Wichs (Verzeihung!), in dem, wenn mich die Erinnerung nicht trügt, mein Bruder aushelfen musste (jemand musste drehen, wenn sich Jim Self bewegte), für die Momente, wenn die Kamera nicht fixiert werden konnte [...]
Mit seiner vage autobiografischen Ausrichtung und den Assoziationsketten erinnert mich A MAL GAM A etwas an Stan Brakhage, während die Handhabung des Soundtracks und die Integration von Fremdmaterial (teilweise vom laufenden Fernseher abgefilmt) vielleicht an Kenneth Anger denken lässt. Möglicherweise sind solche Vergleiche mit angelsächsischen Regisseuren nicht sehr sinnvoll, aber das ist für mich eben vertrauteres Terrain. Zuluetas opus magnum, der wüste und selbstreflexive ARREBATO von 1980 (Zuluetas alter ego in diesem Film, diesmal nicht von ihm selbst gespielt, ist ein Regisseur im Spannungsfeld von Sex, Drogen und (experimentellem) Film), war gleichzeitig Höhe- und (fast) Endpunkt seiner Karriere. Durch seine langjährige Heroinabhängigkeit und Finanzierungsprobleme konnte er keine weiteren Filme mehr drehen, abgesehen von zwei Folgen zweier Fernsehserien. Die Heroinsucht beeinträchtigte nicht nur sein Berufs-, sondern auch sein Sozialleben schwer: In den 90er Jahren hat er laut eigener Aussage die Familienvilla in San Sebastian acht Jahre lang nicht verlassen. Zulueta war nicht nur Regisseur, sondern auch Grafiker, und er gestaltete viele Poster und Filmplakate, darunter auch aus der Frühphase von Pedro Almodóvar. Wer mehr über Zulueta wissen will, dem sei dieser Artikel auf Senses of Cinema empfohlen.



DER MILCHSHORF: LA COSTRA LÁCTEA (alternativ auch nur LA COSTRA LÁCTEA)
Spanien 2002
Regie: Velasco Broca



César Velasco Broca (geb. 1978), wie Zulueta aus dem Baskenland stammend, drehte DER MILCHSHORF [sic!] in und um Laredo in der nordspanischen Küstenregion Kantabrien, und es geht um eine Invasion Außerirdischer in ebendieser Gegend. Zusammen mit dem zuvor entstandenen (aber anscheinend erst 2004 herausgekommenen) KINKY HOODOO VOODOO und AVANT PÉTALOS GRILLADOS von 2006 bildet er die Trilogie ECHO DER BUCHRÜCKEN (deutsch im Original). Er beruht auf einem Text eines Elier Ansgar Wilpert, der auch an anderen Broca-Filmen beteiligt war (in KINKY HOODOO VOODOO spielt er einen Außerirdischen). LA COSTRA LÁCTEA gewann diverse Festivalpreise im In- und Ausland und machte Broca zu einem Shooting Star des spanischen Experimentalfilms. Der kanadische Filmkritiker Todd Brown hat die Trilogie als "eine Mischung der Arbeiten von Ed Wood und Guy Maddin" bezeichnet, mir würde vielleicht noch SINS OF THE FLESHAPOIDS von den Kuchar-Brüdern einfallen. Kurios ist die (behauptete) Entstehungsgeschichte von LA COSTRA LÁCTEA. Im Presseheft des Films heißt es folgendermaßen:
Der kurze Film ist das Resultat eines Auftrags einer feministischen Vereinigung, deren Intention es war, ein Video zur Sexualerziehung von Heranwachsenden zu produzieren. Nach einer großen Zahl an Sitzungen mit den Direktorinnen der Vereinigung schaffte es Velasco Broca, sie von folgendem zu überzeugen: Das Betrachten des kurzen Films würde Jugendliche in eine Art von hypnotischer Trance versetzen, die sie viel aufnahmefähiger für die sexuellen Informationen machen würde, die die Lehrer(innen) übermitteln wollten. Unglücklicherweise konnte das nie demonstriert werden, weil der Film nie in einer schulischen Umgebung lief.
Das klingt so hanebüchen, dass ich mich frage, ob Broca hier nicht die Presse auf den Arm nehmen wollte. Wie dem auch sein mag - weniger spektakulär ist die Information aus dem Presseheft, dass der auf 16mm gedrehte Film ungefähr 6600 Euro gekostet hat.



Die vorgestellten drei Filme sind zusammen mit ca. 25 weiteren in einer spanischen 2-DVD-Box mit dem Titel "Del Éxtasis Al Arrebato" (was ungefähr "Von der Extase zur Verzückung" bedeutet) erschienen. Menüs und Booklet sind zweisprachig (Spanisch/Englisch), und die Filme haben engl. Untertitel, wo nötig. Die Box beruht auf einem gleichnamigen Filmprogramm, das 2009-2011 durch diverse Länder tourte, um den spanischen Experimentalfilm der Obskurität zu entreissen. Ungefähr die Hälfte der enthaltenen Filme entstand bis 1975, die andere Hälfte danach, und man staunt, was zu Francos Lebzeiten schon alles gemacht wurde. Geografische Schwerpunkte liegen auf Katalonien und dem Baskenland, aber andere spanische Regionen sind auch vertreten. Ich hätte gern noch ein oder zwei weitere Filme daraus vorgestellt, etwa den ziemlich grandiosen MISERERE (1979) von Antoni Miralda und Benet Rossell, der das Kunststück zuwegebringt, Allegorien mit Stilmitteln des Cinéma vérité zu vereinen, und der damit zu einer Verhöhnung des Militarismus gelangt, oder SÚPER 8 (1997) von David Domingo, eine wilde Collage auf (man ahnt es schon) Super 8 in der Tradition von Zulueta (auf die Frage, wer ihn beeinflusste, antwortete Domingo in einem Interview "die Kuchar-Brüder, Kenneth Anger, Martha Colburn, und natürlich Zulueta") - aber die habe ich alle nicht online gefunden. - Es gibt auch eine Box mit 4 DVDs, die (vermutlich alle) Filme von Antoni Padrós enthält, ebenfalls zweisprachig in Spanisch/Englisch. Sehr lobenswert, das alles! - Zwei Meister, die ebenfalls auf "Del Éxtasis Al Arrebato" vertreten sind, nämlich José Val del Omar und José Antonio Sistiaga, habe ich hier absichtlich weggelassen, denn ich werde ihnen eigene Artikel spendieren.

Sonntag, 15. Dezember 2013

C – eine Stadt sucht einen Detektiv


WO IST COLETTI?
Deutsches Reich 1913
Regie: Max Mack
Darsteller: Hans Junkermann (Jean Coletti), Madge Lessing (Lolotte), Heinrich Peer (Anton), Anna Müller-Lincke (resolute Dame), Hans Stock (Graf Edgar), Max Laurence (Alter Graf)



Zum Inhalt

Innerhalb von 48 Stunden nach der Tat fängt der Berliner Detektiv Jean Coletti einen Verbrecher. Eine beachtliche Leistung eigentlich, findet er. Die Presse (besonders die B. Z.) ist jedoch anderer Meinung und macht sich über ihn lustig: wenn die Öffentlichkeit über einen in der Zeitung veröffentlichten Steckbrief an der Verbrecherjagd teilgenommen hätte, wäre der Übeltäter doch wesentlich schneller gefangen worden. Coletti kontert: er lässt sich selbst steckbrieflich erfassen und ruft die Bevölkerung Berlins dazu auf, ihn binnen weniger als 48 Stunden auffindig zu machen. Wer ihn fängt, erhält ein Preisgeld von 100.000 Mark. 

Gesagt, getan: der Steckbrief wird aufgegeben, die Belohnung ausgeschrieben. Coletti versteckt sich zunächst bei seiner Verlobten, der Tänzerin Lolotte, lässt sich vom Barbier Anton rasieren und verkleidet sich mit Perücke und entsprechendem Overall als Straßenfeger. Seinen Barbier verkleidet er als sich selbst. Draußen, auf den Straßen, ist der Steckbrief („Wo ist Coletti?“) schon überall angeschlagen, und schnell wird der falsche Coletti Anton von einer Menge verfolgt. Der richtige Coletti taucht als Straßenfeger unter, bis er die Aufmerksamkeit eines Polizisten auf sich zieht, weil er seine wesentlich feiner gekleidete Verlobte auf der Straße küsst. Anton-Coletti derweilen flieht in einem Omnibus, dann auf einem Fahrrad vor einer Verfolger-Menge und steigt in ein Zeppelin. Dort bekommt er vom mittlerweile als Kellner verkleideten richtigen Coletti einen Cognac serviert und wird von einer resoluten Dame erkannt. Der Zeppelin landet und er wird zur Polizei abgeführt, wo er seine wahre Identität preisgibt – sehr zum Hohn der Fängerin und der sensationsgierigen Menge.

Derweilen versteckt sich der richtige Coletti wieder bei seiner Verlobten, die ihn in einem Wäschekorb zum Hotel Adlon transportieren lässt, wo sie am nächsten Tag einen Auftritt haben soll. Graf Edgar, ein Verehrer der Tänzerin, verschafft sich zusammen mit seinem Onkel Zugang zum Hotelzimmer und bittet sehr eindringlich um ein abendliches Rendezvous mit Lolotte. Diese sagt zu, und bringt gleich eine Freundin zu einem Doppel-Date mit: nämlich den als Frau verkleideten Coletti. Vor dem Abendessen gehen alle vier ins Kino, wo sie in der Wochenschau von der Verfolgung des Detektiven erfahren. Danach geht es zu Speis, Trank und Tanz in ein Lokal – doch die Verfolger sind schon auf der Spur...


Das Medium Film auf dem Weg zur ernsthaften Kunstform

Vor ziemlich genau 100 Jahren machte das Medium Film allmählich eine Wandlung von einer Jahrmarktsattraktion zur eigenständigen Kunstform durch und stieß dabei auf erheblichen Widerstand von Seiten zahlreicher intellektueller Kreise. Die „Filmkunstbewegung“, die ihren Ursprung in Frankreich hatte, wollte das stark kritisierte Medium auch für gebildete und gehobene Schichten attraktiv machen und für dessen Respekt kämpfen. Besonders Bezüge zur Literatur und zum Theater – thematisch, ästhetisch und personell – sollten dabei helfen. Max Mack (1884-1973), der Regisseur von WO IST COLETTI?, der heute als Pionier des deutschen Films gesehen werden kann, kam selbst vom Theater, und drehte seit 1911 Filme. Auch er wollte den Status des Mediums durch literarische Bezüge und namhafter Unterstützung aus der Theater-Szene heben. Für Aufsehen sorgte sein Film DER ANDERE: die Geschichte eines Rechtsanwalts, der mildernde Umstände für geistig kranke Verbrecher strikt ablehnt, aber nach einem Unfall selbst unbewusst eine „andere“ Persönlichkeit als Krimineller entwickelt. Das Drehbuch schrieb der Journalist, Schriftsteller und Theater-Intendant Paul Lindau nach einem Bühnenstück aus dem Jahr 1893. Für einen noch renommierteren Namen aus der deutschen Bühnenlandschaft sorgte Alfred Bassermann in der Titel-“Doppel“-Rolle, seines Zeichens einer der großen Darsteller am Deutschen Theater Berlin in der Ära Max Reinhardts (der selbst durchaus filmaffin war). DER ANDERE floppte trotzdem beim Publikum.

Für WO IST COLETTI? schrieb erneut eine Theaterkoryphäe das Drehbuch, nämlich der österreichische Lustspiel-Spezialist Franz von Schönthan, der noch Ende des selben Jahres 64-jährig verstarb. Hans Junkermann, der Darsteller der Titelfigur und erfahrener Theaterschauspieler, war 1913 schon seit zwei Jahren auch aktiv im Filmgeschäft tätig, im Gegensatz zu seiner britischen Partnerin Madge Lessing, die hier ihren Film-Einstand gab. Ihre Credits zu Beginn des Films enthalten einen expliziten Hinweis auf ihre Theater-Herkunft.

Diese herausgestellten Bezüge zum Theater im personellen Bereich (nicht so sehr im ästhetischen, wie gleich zu erläutern sein wird!) dürften allerdings nicht der Hauptgrund für seinen großen zeitgenössischen Erfolg gewesen sein. Denn tatsächlich wurde WO IST COLETTI? so etwas wie der erste, große, erfolgreiche, abendfüllende deutsche Film – sowohl in Deutschland, wie auch international. Ein Sensationsfilm. Geradezu eine Art früher „Blockbuster“. Und zusammen mit den wenigen Wochen bzw. Monaten später gezeigten RICHARD WAGNER und DER STUDENT VON PRAG ein Wegbereiter des „künstlerischen“ Films in Deutschland.

Alle drei erwähnten Werke sind Pionierfilme, allerdings mit ganz unterschiedlichen Ansätzen und Themen. WO IST COLETTI? ist gewissermaßen der „trivialste“ der drei Filme. Er ist der am wenigsten bekannte, und – meiner Meinung nach – auch der beste, interessanteste, aufregendste und im banalen Sinne unterhaltsamste von allen drei!


Zur besonderen Ästhetik von WO IST COLETTI?

Der Film beginnt damit, dass ein Schreibtisch per Stopmotion von der Seite in die Mitte des Bildes „hinein läuft“. Ein Jump-Cut später sitzt der Autor Franz von Schönthan am Tisch, und stehend daneben präsentiert ihm der Regisseur Max Mack die Hauptdarsteller. Aus einem zusammengeknüllten Papierbündel heraus „wirft“ er die Namen an die schwarze Leinwand im Hintergrund und mit einem Handgriff (sprich: Jump-Cut) tauchen alle drei Personen (Hans Junkermann, Madge Lessing und Heinrich Peer) unter ihren jeweiligen Namen auf. Der Autor und der Regisseur schütteln ihnen die Hände und scheinen mit ihnen zufrieden zu sein: der Film kann (nun also „wirklich“) beginnen.

Dieser Prolog mischt Theater-Ästhetik auf der einen Seite (Handlung auf einer Bühne) mit „reinem“ Film in der Tradition des Attraktionskinos à la Georges Méliès. Letzteres, also das „pure“ Kino, wird den Film ästhetisch größtenteils dominieren. Das merkt man schon am Schnitt, der regelmäßig „statische“ Szenen dynamisiert. Man kennt die „Theater-Ästhetik“ aus vielen frühen Stummfilmen: eine Szene wird von A bis Z in einer einzigen fixen Einstellung gefilmt – gerade auch in RICHARD WAGNER und DER STUDENT VON PRAG. In WO IST COLETTI? hingegen werden viele Szenen schon recht dynamisch mit Schnitten aufgelockert und punktuiert. So etwa die Szene, wo Coletti sich zwecks der genauen steckbrieflichen Erfassung seine Körpermaße nehmen lässt: die Messmaschine (eine Art bizarrer Thron mit vielen verschiebbaren Messlatten) wird aufgebaut und erste Messungen werden von den Polizeiassistenten durchgeführt. Als die Schultern Colettis gemessen werden, wechselt der Schnitt in die Naheinstellung: von der Gesamtszene wandert die Aufmerksamkeit zur Mimik des Coletti, der die Prozedur offenbar furchtbar amüsant findet (überhaupt lacht Junkermann bzw. die Coletti-Figur ziemlich oft im Film).

Noch weitaus interessanter ist die Art und Weise, wie die Raumtiefe genutzt wird. Dank sehr hoher Tiefenschärfe lassen Max Mack und sein Stammkameramann Hermann Böttger an mehreren Stellen parallele Handlungen in verschiedenen Arealen des Bildraumes stattfinden. Wenn etwa Lolotte im Hotel Adlon den Wäschekorb (mit dem Inhalt Wäsche und Coletti) in ihrem Zimmer von Hotelpagen in eine Nische vor der Badezimmertür im Hintergrund tragen lässt, einige Coletti-Sucher sie befragen und sich sonst im Zimmer umsehen und sie in den Vordergrund tritt und die Zuschauer schmunzelnd anzwinkert (das Durchbrechen der „vierten Wand“ passiert im Film immer wieder). Kurz, bevor die zentrale Action-Szene des Films beginnt, sieht man eine Menschenansammlung vor einer Litfaßsäule mit dem Steckbrief stehen, im Hintergrund fährt ein Omnibus vorbei, in dem der Anton-Coletti sitzt und der schon von einigen Leuten verfolgt wird. Die Menge rennt daraufhin sukzessive dem Bus nach, während sich im Vordergrund der als Straßenkehrer verkleidete Coletti lachend vor die Litfaßsäule stellt.

Diese Massen-Szene, gedreht mit dem Brandenburger Tor im Hintergrund, mündet auch in die spektakulärste Action-Szene des Films. Anton-Coletti sitzt im zweiten Stock des Busses ganz hinten. Eine aufgeregte Menschenmenge rennt ihm hinterher (hier wieder ein Beispiel für kunstvoll ausgenutzte Tiefenschärfe). Teile der Menge erreicht den Bus, es entsteht ein Gerangel, Leute klettern auf den fahrenden Bus, einige fallen dabei wieder runter, das Fahrzeug wackelt gefährlich unter dem Gewicht der Kletterer, und in diesem Chaos schafft es der Anton-Coletti, sich auf und davon zu machen. Diese Verfolgungsjagd ist zweifelsohne die visuell großartigste Attraktion von WO IST COLETTI? Ein kurzer, aber sehr effektiver Prototyp des Actionfilms. Eine Szene, die ein wenig an die komplexen und gefährlichen Stunts erinnert, die Buster Keaton etwa ein Jahrzehnt später in seinen Filmen (freilich wesentlich geballter) einbauen würde. Dass der Meister des Action-Stummfilms diesen Detektiv-Film gesehen hat, wäre nicht völlig unmöglich: WO IST COLETTI? lief im Frühjahr 1914 auch in den USA.

Eine Keaton-Verbindung fände sich auch in der demonstrativen Selbstreflexion des Mediums Film. Als Lolotte, der verkleidete Coletti und die beiden Grafen ins Kino gehen, sehen sie eine Wochenschau über Colettis Flucht bzw. über die Verfolgung des falschen Colettis: auf der Leinwand laufen Bilder aus dem Film selbst, und zwar mit doppelter Geschwindigkeit. Der richtige Coletti bekommt im Kino quasi ein Briefing darüber, wie bislang seine eigene Verfolgung verlief, und wird auf den Wissensstand des Zuschauers (außerhalb seines Filmuniversums) gebracht. Dieses Film-im-Film-Element tauchte später bekanntermaßen in Keatons „Detektiv“-Film SHERLOCK JR. auf – freilich noch wesentlich komplexer (als Film-als-Traum-im-Film).

WO IST COLETTI? schafft es, zumindest meiner Meinung nach, wesentlich besser als RICHARD WAGNER und DER STUDENT VON PRAG, sich komplett von anderen Kunstformen zu emanzipieren, um ganz und gar Film zu sein. Allerdings sind zugleich auch seine Rückgriffe auf andere Kunstformen und Genres wesentlich breiter. Nebst Theater-Elementen hat Macks Film mit einer Tanz-Nummer gegen Ende auch Versatzstücke aus dem Varieté. Sein Thema schafft auch Bezüge zum damals überaus beliebten Groschenroman. In den Zwischentiteln finden sich auch Elemente des frühen Comics: mehrmals tauchen neben dem Text kleine Cartoons auf, etwa bei (sinngemäß) „Coletti geht zum Barbier“ eine kleine Karikatur eines Barbiers, oder bei „Coletti taucht als Straßenkehrer unter“ eine Karikatur des Colettis in seiner etwas grotesken Verkleidung.

Inhaltlich kann WO IST COLETTI? auch als milde Satire gesehen werden auf den rechthaberischen Kleinbürger, der gerne möchte, dass „ordentlicher“ gegen Verbrecher vorgegangen wird, und zwar am besten mit seiner Beteiligung und Expertise. Die Frage nach der Effizienz von Verbrechensbekämpfung und der möglichen Beteiligung der Öffentlichkeit an dieser wurde fast zwei Jahrzehnte später in einem anderen visuell beeindruckenden Berlin-Film gestellt, nämlich in M. Wo in Macks Film die erregte Menschenmenge, die wie ein Hunderudel hinter einen Bus rennt, noch durchaus belächelt werden kann, ist in Fritz Langs Film die kollektive Paranoia und Massenhysterie natürlich wesentlich düsterer dargestellt. 


Weitere Lebenswege der Macher & einige Worte zur Überlieferung

Hans Junkermann, der wunderbare Darsteller des Coletti, blieb dem Film noch jahrzehntelang treu, allerdings meistens in Nebenrollen (u. a. in Josef von Bákys MÜNCHHAUSEN aus dem Jahre 1943). Madge Lessing hingegen spielte bis 1919 nur noch in vier weiteren Filmen von Max Mack Kinorollen. Dieser drehte allerdings weitaus mehr Filme: 127 Credits als Regisseur hat Max Mack bei der imdb (darunter natürlich viele Kurzfilme), Dreiviertel dieser Filme hat er vor 1920 gedreht. Eine interessante Info: in zwei dieser Werke, namentlich ARME MARIA – EINE WARENHAUSGESCHICHTE sowie ROBERT UND BERTRAM, DIE LUSTIGEN VAGABUNDEN (beide 1915) spielte Ernst Lubitsch eine Nebenrolle. Ab 1930 begann Max Mack auch, Tonfilme zu drehen. 1933 endete seine Karriere in Deutschland, als er vor den Nazis nach Großbritannien floh. Dort drehte er noch zwei Filme, bevor er sich aus dem Filmgeschäft zurückzog. 1973 verstarb er im Alter von 88 Jahren in seiner Exilheimat London. Trotzdem Mack 1965 beim Deutschen Filmpreis das „Filmband in Gold“ für seine Verdienste für den deutschen Film erhielt, sind seine (Pionier-)Werke dem breiten Publikum weitestgehend unbekannt. 

Wenn ich es richtig sehe, ist kein einziger Film von Max Mack in irgendeinem Heimkino-Format verwertet worden. WO IST COLETTI? ist als 35-Millimeter-Kopie beim Deutschen Institut für Filmkunde in Frankfurt erhältlich – sprich: für den Otto-Normal-Zuschauer gar nicht (einer der Gründe, warum dieser Beitrag entgegen der Gepflogenheiten in diesem Blog keinerlei Screen-Shots enthält). Ich selbst habe den Film am Sonntag, dem 8. Dezember im Weimarer Lichthaus-Kino in besagter Kopie bei einer Aufführung mit Live-Musik gesehen.

Sowohl DER STUDENT VON PRAG als auch RICHARD WAGNER wurden, gewissermaßen zu ihrem 100. Geburtstag, 2012/13 restauriert und 2013 in neuem Glanz wieder gezeigt: zunächst in öffentlichen Aufführungen, dann später bei arte-Stummfilm. Es ist (wahrscheinlich) nur eine Frage der Zeit, bis von beiden Filmen eine DVD-Edition erscheint. Natürlich: DER STUDENT VON PRAG ist eh ein legendärer Film, und RICHARD WAGNER profitierte von der medialen Aufmerksamkeit des Wagner-Jahres. Vielleicht wird ja auch WO IST COLETTI? gerade durch eine fleißige Restaurations-Abteilung geschleust und dort zwecks Präsentation für ein breiteres Publikum zurecht gemacht. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Montag, 9. Dezember 2013

Moderne Architektur, tanzende Flamingos und Heinz Erhardt

MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER
Bundesrepublik Deutschland 1961
Regie: Ulrich Erfurth
Darsteller: Fritz Tillmann (Alexander Engelmann), Marika Rökk (Ilona Farkas), Conny Froboess (Julia), Heinz Erhardt (Paul Korn), Helmut Lohner (Tommy Schiller)



Ein Flugzeug landet in Berlin. Ein Mann möchte sich zum Ausgang drängeln. Eine Frau lässt ihn nicht durch. Auf der Landebahn passiert dasselbe Spiel und die Frau bezeichnet den Mann beleidigt als Nilpferd. Auf dem Parkplatz warten die jeweiligen Chauffeurs, und beim Hinausmövrieren aus dem Stellplatz krachen beide Autos fast ineinander.

Der Mann, Alexander Engelmann, ist Großunternehmer im Stahl-Geschäft. Er ist ein Workaholic, der ab und zu mit seinem Chauffeur Paul, der auch sein bester und einziger Freund ist, über die alten Zeiten im Krieg plaudert – damals war Alexander Pauls Chauffeur. Der Industrielle ist verwitwet, und zieht alleine eine Tochter groß. Keine einfache Aufgabe: Julia ist nämlich gerade im rebellischen Teenager-Alter und denkt vor allem an Rock‘n‘Roll, Filme und Jungs. Außerdem lässt sich „Alex“ – wie sie ihren Papa immer neckisch nennt – arbeitsbedingt nur höchst selten zu Hause blicken.

Julia mit ihrer "Stiefmutter" Ilona
Engelmann mit Chauffeur Paul
Eine kleine Krisensitzung mit Paul schafft Klarheit: eine neue Mutter muss für Julia her und zwar möglichst schnell. Davon will die Tochter nichts hören, und schwärmt lieber von ihrem neuen Lieblingsstar, der Sängerin und Schauspielerin Ilona Farkas. Kurzerhand entscheidet Engelmann also, „die Farkas“ zu heiraten. Dass diese von ihrem künftigen Eheglück als so ziemlich letzte Person informiert wird, ist dabei das geringste Problem: Ilona Farkas ist die Dame, mit der sich Engelmann am Flughafen verbal geprügelt hat. Da Julia erklärtermaßen nur ihren Lieblingsstar als neue Mutter akzeptieren wird, will der Millionär die Sache trotzdem zähnebeissend durchstehen.

Ein sehr formeller Ehevertrag wird ausgearbeitet: Zweck der Verbindung ist die Erziehung Julias bis Erreichen des 21. Lebensjahres, körperliche Berührungen zwischen den Ehepartnern sind unstatthaft. Ilona Farkas sieht hier nicht so sehr eine Chance auf viel Geld (sie ist selbst reich genug), sondern vor allen Dingen die Möglichkeit, es dem unhöflichen Flugzeug-Rempler so richtig heimzuzahlen...

Das ist natürlich keineswegs die narrative Voraussetzung für einen Rache-Thriller, sondern für eine leichte Komödie, denn im Grunde sind alle Figuren überaus nett. Engelmann zum Beispiel ist sicherlich kein absolut idealer Vater, aber das eben vor allen Dingen, weil er oft tagelang einfach nicht da ist und nicht etwa, weil er seiner Tochter gegenüber besonders streng oder gar unfair wäre. Paul, der Chauffeur, ist der engste Vertraute Engelmanns, versteht sich allerdings auch blendend mit Julia (die ihn im Prinzip öfter als ihren Vater sieht) und agiert mit seiner gutmütigen Art allgemein als Vermittlungsfigur, wenn es Konflikte gibt. Geistig völlig abwesend ist er hingegen, wenn er Lotto spielt und nach allen möglichen zufälligen Zahlen in seiner Umgebung sucht: in seinen Schein versunken zählt er etwa die Anzahl der Treppen, die er besteigt, oder fragt eine Sekretärin nach ihrem Alter oder addiert die Anzahl der Buchstaben, aus denen ein zufällig gesagter Name besteht. Auch Ilona Farkas ist trotz ihres Drangs, dem Millionär Dampf unter den Hintern zu machen, eine herzensgute Person. Ihre „Rache“ besteht vor allen Dingen darin, als neue „Ehefrau“ Engelmanns ihn mit Innenausstattungswechseln und spontanen kleinen Parties zur Weißglut zu treiben. Das tut sie keineswegs „auf dem Rücken“ Julias – schnell merkt sie, dass die Teenagerin im Grunde keine Erzieherin mehr braucht, und versteht sich rasch mit ihrer „Adoptivtochter“.

Der Vorspann als Architektur-Montage
MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER ist ein einfaches Lustspiel mit Screwball-Komödien- und Musical-Elementen (ja, zwischendurch wird auch gesungen). Das Drehbuch ist eher simpel und strotzt nicht gerade vor Originalität. Auch das vielleicht zu erwartende satirische Element – ein reicher Wirtschaftswunder-Gewinner „kauft sich“ auf die Schnelle eine Ehefrau – ist eher rudimentär ausgebildet und fordert nicht wirklich zu großen interpretatorischen Rundumschlägen heraus. Weitaus bemerkenswerter, und das, was den Film ziemlich hervorstechend macht, ist seine visuelle Gestaltung. Bereits der Vorspann macht ein zentrales Element von MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER deutlich, nämlich die Inszenierung von Architektur.

Beim sehr kurzen Vorspann werden Gebäude in Außensicht fotografiert. Im weiteren Verlauf spielt dann vor allem die Innenarchitektur eine bedeutende Rolle. Die Gestaltung der Innenräume (Set-Designer: Ernst H. Albrecht und Max Vorwerg) nimmt im Film eine zentrale Rolle ein, denn oft werden die Figuren nicht in Nahaufnahme gefilmt, sondern in Totalen, in denen sie nur einen kleinen Teil des Bildausschnitts darstellen. Die für eine solche „triviale“ Komödie sehr exzentrisch wirkende Gestaltung kann man aber durchaus als konsistent mit dem Narrativ interpretieren: den zentralen Figuren werden gewisse Formen von Innenarchitektur und bestimmte Raumarrangements zugeschrieben, die sie charakterisieren. Ihre Konflikte tragen sie dadurch aus, dass sie die Räume anderer Personen mit ihrem eigenen Stil ändern.

Engelmanns Geschäftsräume...
Alexander Engelmann etwa gebietet über zwei Raum-Komplexe: sein Büro und seine Villa. Ersteres ist eine geradezu puristische Manifestation architektonischen Modernismus: große weite Räume, auf reine Funktionalität reduzierte Möbel, auf dem leicht überhöhten Schreibtisch des Chefs stehen lediglich eine Knopfleiste und ein halbes Dutzend Telefone (unwillkürlich fragt man sich, warum es noch nicht mal ein Regal für Aktenordner gibt, aber sogar der erscheint hier überflüssig). Selbst der Blick aus dem Fenster offenbart nur eine Business-Skyline. Deren kantige Linien, in Kombination mit den Lamellenjalousien, „durchschneiden“ oft das Haupt des Industriellen – als würde diesem Workaholic die Arbeit manchmal über den Kopf wachsen. Trotzdem: hier fühlt sich Engelmann ganz und gar in seinem Reich. Wenn jemand diese minimalistische Harmonie stört, dann ist es Paul (wenn er die Empfangssessel verrückt) oder Julia (wenn sie ihren Vater besucht und die Knopfleiste auf dem Schreibtisch hoch- und runterdrückt). Ilona Farkas hingegen, nachdem das erste Eheanbahnungs-Gespräch unbefriedigend verläuft, meint hingegen aufgebracht: „Nicht einmal was zum kaputt schmeißen gibt es hier.“

... und sein Zuhause.
Sie und Engelmann scheinen generell architektonisch inkompatibel zu sein. Denn die Villa des Industriellen ist im Prinzip eine Art Duplikat des minimalistischen Modernismus seiner Geschäftsräume – trotz einiger doch persönlicheren Noten (eine bizarre Vorliebe für kitschige Engel-Plastiken und eine gemütlich-fluffige Hänge-Schaukel-Couch). „Stell dir vor, man müsste in so etwas wohnen. Eiskalt!“ sagt Ilona zu ihrer Chauffeurin und Agentin, als sie erstmals die Engelmann-Villa besucht – und niest daraufhin spontan: „Schon verkühlt.“

"Gradeso, so wie du, sieht der Held in meinen
Träumen aus..." Bizarre Montage der Verspieltheit
Julia hingegen wird im Rahmen der so charmanten wie auch zutiefst bizarren Musical-Nummer „Gradeso, so wie du“ in ihrem Zimmer dem Zuschauer erstmalig vorgestellt. Die harte geometrische Grundstruktur des Zimmerzuschnitts weicht sie vor allem mit allen möglichen Starportraits (darunter zum Beispiel Marilyn Monroe, Burt Lancaster und Ilona Farkas) auf, sowie mit einem Regal voller mechanischer Spielzeuge (über die symbolische Kontrastierung von unschuldiger Kindlichkeit und erwachender Sexualität ließe sich bestimmt auch eine ganze Menge sagen). Was diese Spielzeuge eigentlich von diesem jungen Mädchen und ihrem Tanz halten, ist schwer zu sagen: manche schütteln den Kopf, manche nicken. Denn die Musical-Nummer wird visuell immer wieder von Großaufnahmen der mechanischen Spielzeugfiguren unterbrochen. Eine interessante, weil auch sehr bizarre Montage. Klar ist nur: Julia steht generell für innenarchitektonische Verspieltheit.

Ilonas architektonische Charakterisierung fällt eher knapp aus, da man sie nur kurz in ihrer eigenen Wohnung sieht: eine Mischung aus altmodisch, barock, ein bisschen verkitscht, aber trotzdem (oder gerade deswegen) gemütlich. Während ihrer arrangierten Ehe mit Engelmann wird sie, mit Julia und auch Paul als Komplizen, nach und nach die privaten Räume des Industriellen erobern, und über deren Grundstruktur ihre eigene „Schicht“ auftragen. Das fängt zunächst damit an, dass sie zur Hochzeitsfeier eine Unmenge an Menschen einlädt, die das riesige „kalte“ Wohnzimmer mit ihrer Präsenz füllen und zu den Klängen einer „ungarischen“ Zigeuner-Combo tanzen. Die Wände werden mit (wahrscheinlich) knallbunten Bändern geschmückt. Später, nachdem Engelmann seine Abneigung gegen Gartenzwerge in einem Nebensatz erwähnt hat, füllt sich die Villa wie durch ein Wunder mit Gartenzwergen.

Aus "kalt" mach "lustig"
Der Höhepunkt der Verwandlung findet jedoch in den Keller-Räumen statt, wo Ilona mit Julia, Paul und Julias Verehrer, dem Journalisten Tommy, eine eigene kleine architektonische Utopie für Julias 17. Geburtstag errichtet: einen Jazz-Keller. Dieser an nur einem Nachmittag errichtete Party-Raum ist geradezu ein „Who‘s who“ des zeitgenössischen Jazz: die Wände sind vollgepackt mit Festival- und Konzert-Postern sowie mit Portraits berühmter Jazzmusiker. Zu Julias Geburtstagsfeier kommen tatsächlich eine ganze Menge Leute (darunter sogar ein Flamingo!), die sich dann unter den Blicken der Jazz-Prominenz tanzend vergnügen. Louis Armstrong auf einem Riesentransparent ist gewissermaßen der Conférencier des Abends, aber auch Sidney Bechet, Benny Goodman, Django Reinhardt, Ray Anthony und Max Roach sind anwesend. In absentia, aber namentlich aufgeführt, nehmen auch Art Blakey, Albert Mangelsdorff, Jay Jay Johnson, Benny Carter, Coleman Hawkins, Stan Getz, Don Byas, Roy Eldridge, Jo Jones, Cándido (Camero), Ella Fitzgerald, Oscar Peterson und nicht zuletzt der Jazz-Impressario Norman Granz an der Feier teil. Sie alle sind passive Beobachter des bunten Treibens im Keller. Oder vielleicht auch richtige Nebenfiguren? Benny Goodman jedenfalls scheint aufmerksam über die Annäherung zwischen Julia und Tommy zu wachen, während Louis Armstrong offenbar großen Spaß daran hat, Alexander vollkommen überfordert zu sehen.

Feiern, lieben und streiten
unter den Blicken der Jazz-Prominenz
Der Kameramann Albert Benitz fängt diese komplexen räumlichen Arrangements in wunderbaren, prägnanten Bildern ein. Von der Kameraarbeit her dürfte manch ein Film aus den 1950er Jahren schlechter gealtert sein. So wird zum Beispiel eine Szene in einer Bar „künstlich“ zu Cinemascope verengt: der Blick der Kamera aus einer Position hinter der Theke wird oben und unten von einer Reihe Gläser begrenzt. Benitz, geboren 1904, hatte sein Metier noch in der Stummfilm-Ära gelernt, vor allen Dingen für Arnold Fanck. Später blieb er dem Bergfilm weiterhin treu und wurde zum Stammkameramann Luis Trenkers, sowohl während der ausgehenden Weimarer Republik, des Dritten Reiches wie auch in der frühen Bundesrepublik. In den 1950er Jahren arbeitete er auch mit Helmut Käutner.

Ulrich Erfurth, der Regisseur von MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER, ist wesentlich unbekannter (gewesen und geblieben). Er war vor allen Dingen ein Mann des Theaters, und erst nachrangig Filmregisseur. 1956 sorgte sein Film FRUCHT OHNE LIEBE (auch unter dem Titel GEHEIMNISSE EINER EHE veröffentlicht) für einen Skandal, weil er künstliche Befruchtung thematisierte. Ab den frühen 1960er Jahren drehte Erfurth, neben seiner Hauptbeschäftigung als Theater-Regisseur und -Intendant zwischen Hamburg, Essen, Frankfurt und dem Wiener Burgtheater, vor allem für das Fernsehen.

Fritz Tillmann, der den stets ein wenig überforderten Alexander Engelmann wunderbar verkörpert, spielte in den 1950er und 1960er Jahren in mehreren Filmen Helmut Käutners, unter anderem in DAS HAUS IN MONTEVIDEO. Mit Heinz Rühmann wirkte er in zwei weiteren Adaptionen von Curt Goetz-Stücken mit. Ab den späten 1960er Jahren war er vor allen Dingen im Fernsehen zu sehen und arbeitete auch als Synchronsprecher, als Leihstimme für unter anderem Karl Malden, Orson Welles, Peter Ustinov und Ernest Borgnine.

Conny Froboess als rebellische Julia in einer
Cinemascope-Bar
Marika Rökk wurde in den 1930er Jahren zu einem großen Star der Ufa für die Sparte Operettenverfilmungen und Revuefilme, besonders als Partnerin von Johannes Heesters. Ihr „sprudelnder Charme“ und der „Paprika im Blut“ wurde stets gelobt. Letzteres eine Anspielung auf ihre ungarische Herkunft: von einem deutschen Vater und einer ungarischen Mutter in Kairo geboren, wuchs sie in Budapest auf und lernte das Tanzmetier in Paris und New York und behielt im Deutschen stets einen „exotischen“ Akzent. Nach einer kurzzeitigen Karrierepause (aufgrund ihrer Involvierung in die nationalsozialistische Unterhaltungs- und Propagandaindustrie) spielte sie auch in den 1950er und 1960er im größtenteils selben Repertoire weiter: Musicals und Komödien.

Cornelia Froboess ist vor allem als Deutschlands Beitrag zum 7. Eurovision Song Contest im Jahre 1962 bekannt geworden, wo sie mit dem Schlager „Zwei kleine Italiener“ zwar nur auf den sechsten Platz kam, aber später trotzdem einen großen Hit in (West-)Deutschland landete. Die Schlagersängerin ist noch bis heute als auch Schauspielerin für Kino, Fernsehen und Theater tätig. Erwähnenswert ist auch, dass der gebürtige Wiener Helmut Lohner, der Julias Verehrer Tommy spielt, ein renommierter Opern- und Operetten-Regisseur ist und in seiner Heimatstadt (mit einer kurzen Unterbrechung) neun Jahre lang Direktor des Theaters in der Josefstadt war – ein Amt, das von 1933 bis 1935 Otto Preminger inne hatte.

Zu Heinz Erhardt, einem DER bundesdeutschen Allround-Entertainer der 1950er und 1960er Jahre, müssen wohl nicht allzu viele Worte gesagt werden. Die Rolle des stets etwas gedankenverlorenen Chauffeurs Paul ist ihm auf den Leib geschrieben. Allerdings spielt er in MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER tatsächlich „nur“ eine Nebenrolle, auch wenn er in den Anfangs-Credits noch vor Fritz Tillmann erwähnt wird. An mancher Stelle merkt man ein bisschen die Bemühung der Macher, durch zusätzliche Dialoge und Musical-Nummern Erhardt mehr screening time zu geben, als seine Figur dramaturgisch eigentlich hergibt. Wer den Film also nur wegen Erhardt schaut, dürfte letztendlich trotzdem enttäuscht sein.

Ein merkwürdiger Party-Gast

Auch heutzutage wird MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER als reines Heinz Erhardt-Vehikel vermarktet. Das Intergroove-Sublabel „Dynasty Film“ bringt seit kurzem sukzessiv eine „Heinz Erhardt Filmklassiker“-Reihe heraus, in der nun im November 2013 auch MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER erschienen ist. Die DVD ist minimalistisch gehalten , die Bild- und Ton-Qualität des Films lassen jedoch kaum was zu wünschen übrig.

Sonntag, 24. November 2013

Wenn es Nacht wird in Paris

TOUCHEZ PAS AU GRISBI (WENN ES NACHT WIRD IN PARIS)
Frankreich 1954
Regie: Jacques Becker
Darsteller: Jean Gabin (Max), René Dary (Riton), Lino Ventura (Angelo), Paul Frankeur (Pierrot), Michel Jourdan (Marco), Jeanne Moreau (Josy), Dora Doll (Lola), Marilyn Buferd (Betty)


Max und Riton, zwei gealterte Gangster und Freunde seit 20 Jahren, haben gerade das letzte, das ganz große Ding gedreht: In Orly erbeuteten sie Goldbarren im Wert von 50 Millionen (alten) Francs. Alles ging gut - niemand hat sie erkannt, niemand verdächtigt sie, das Gold ist sicher verstaut. Jetzt ist es an der Zeit, sich zur Ruhe zu setzen und einen bürgerlichen Lebensabend zu genießen. Doch natürlich kommt es anders. Der nicht sehr helle Riton verplappert sich gegenüber seiner Freundin, der Varietétänzerin Josy, ohne zu wissen, dass diese inzwischen genug von ihm hat und die neue Geliebte des Zuhälters und Drogenhändlers Angelo ist. Und der will nun den Kuchen für sich. Sein erster Versuch, Max und Riton durch seine Männer auszuschalten, scheitert, und die beiden sind nun gewarnt. Sie tauchen in der geheimen Zweitwohnung von Max unter. Max beabsichtigt, Angelo zu ignorieren, das Gold so schnell wie möglich bei seinem Onkel, einem Hehler, gegen Geld einzutauschen und dann endgültig abzutauchen. Doch der in seiner Ehre gekränkte Riton will sich an Josy rächen und wird dabei von Angelo geschnappt. Dieser setzt Max unter Druck: Ritons Leben im Austausch gegen das Gold. Mit Unterstützung des befreundeten Nachtclubbesitzers Pierrot und des jungen Kollegen Marco holt Max zum Gegenschlag aus. Beim Austausch von Gold gegen Geisel kommt es zum Showdown, der mit schwerem Gerät (Handgranaten und Maschinenpistolen) ausgetragen wird, und am Ende gibt es viele Tote, wenige Überlebende, und keinen Gewinner.

Nachtleben in Pigalle. Riton, Max, Marco (v.l.n.r.)
TOUCHEZ PAS AU GRISBI wurde zu einem Prototypen und herausragenden Beispiel des französischen Film noir und Kriminalfilms der 50er und 60er Jahre. An technischen Details des Verbrecherberufs zeigt er sich nicht interessiert. Einen minutiös geplanten und durchgeführten Einbruch oder Überfall, wie in RIFIFI oder mehrfach bei Jean-Pierre Melville, gibt es nicht zu sehen. Ganz im Gegenteil: Am Anfang des Films hat der Coup bereits stattgefunden, die Beute lagert scheinbar sicher im Kofferraum von Max' Auto in einer Tiefgarage. Umso mehr interessiert sich Jacques Becker für die Mechanismen von Freundschaft, Ehre und Verrat in der Gesellschaft der Gangster und Ganoven und die sich daraus ergebenden Zwänge und Rituale, und hier erweist sich TOUCHEZ PAS AU GRISBI dann doch als ein Vorläufer der Filme von Melville (der 11 Jahre jüngere Melville war auch ein Bewunderer von Becker). Ebenso interessiert zeigt sich der Film am wenig glamourösen und gelegentlich sogar spießbürgerlich wirkenden Alltag seiner Protagonisten. Die Abende verbringen sie meist in den Bistros und Nachtclubs rund um den Place Pigalle, das traditionelle Zentrum der Pariser Halb- und Unterwelt. Doch Max hat längst die Freude daran verloren, er sieht keinen Sinn mehr darin, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen, und er sehnt den seiner Meinung nach wohlverdienten Ruhestand herbei. In der Szene in Max' Geheimwohnung kann man ausgiebig dabei zusehen, wie Max das Abendessen serviert, seinen Freund mit sorgsam gefalteter Bettwäsche, Handtuch und Schlafanzug versorgt, wie sich die beiden älteren Herren im Pyjama die Zähne putzen (auch in Melvilles erstem Genre-Film BOB LE FLAMBEUR sieht man den Titelhelden im Schlafanzug), wie Riton im Spiegel skeptisch seine Falten und Tränensäcke begutachtet. In TOUCHEZ PAS AU GRISBI wird das Verbrecherdasein (und damit der Verbrecherfilm) entmythologisiert. In den Dialogen wird reichlich Argot verwendet, der traditionelle französische Verbrecher-Slang, was auch bereits im dem Film zugrunde liegenden Roman von Albert Simonin der Fall ist (das Buch enthielt sogar ein Glossar mit den einschlägigen Ausdrücken, um die Leser nicht zu überfordern).

Josy (links) und Lola
TOUCHEZ PAS AU GRISBI punktet auch mit den reich texturierten Schwarzweißbildern, die Becker und sein Kameramann Pierre Montazel schufen. WENN ES NACHT WIRD IN PARIS spielt fast vollständig in der Nacht, deshalb ist der deutsche Titel durchaus passend, auch wenn er nichts mit dem Originaltitel (der ungefähr "Hände weg von der Beute" bedeutet) zu tun hat. - Die Besetzungsliste des Films klingt heute wesentlich illustrer als damals. Lino Ventura spielt seine erste Rolle überhaupt, und er stolperte eher zufällig in dieses Abenteuer. Er hatte damals überhaupt keine Absichten, Schauspieler zu werden, und Becker kann man getrost als seinen Entdecker bezeichnen. Jeanne Moreau hatte auch erst einige wenig beachtete Rollen gespielt. Und Jean Gabins Karriere war nach den grandiosen Erfolgen der 30er Jahre in den 40ern deutlich ins Stocken geraten (er hatte in diesem Jahrzehnt nur sechs oder sieben Filme gedreht), und es war TOUCHEZ PAS AU GRISBI, der ihr wieder Schubkraft verlieh. Am ehesten war damals noch Paul Frankeur ein zugkräftiger Name, aber ein echter Star war er auch nicht. Dieses Fehlen großer Namen trug dazu bei, dass der Film relativ billig war.

Unterweltgrößen unter sich
Wie ich in meiner Renoir-Reihe schon erwähnte, war Jacques Becker in den 30er Jahren regelmäßig Jean Renoirs Regieassistent. Tatsächlich war er damals Renoirs engster Mitarbeiter, ein sehr guter Freund und zeitweilig fast ein Familienmitglied. Gelegentlich spielte er in den Renoir-Filmen auch kleinere Rollen. Nach ersten bescheidenen Regieversuchen in den 30er Jahren und einem Jahr in Kriegsgefangenschaft trat er 1942 mit seinem ersten Spielfilm hervor. Die Nähe zu Renoir hat dazu geführt, dass Becker trotz Meisterwerken wie CASQUE D'OR (GOLDHELM) und LE TROU (DAS LOCH) oft als Epigone des großen Meisters abgetan wurde, vergleichbar vielleicht mit dem ein Jahr später geborenen Rudolf Jugert, der (ebenfalls zu Unrecht) oft nur als Anhängsel von Helmut Käutner betrachtet wurde. Dabei sind auch einige seiner weniger bekannten Filme sehenswert, etwa ANTOINE ET ANTOINETTE (ZWEI IN PARIS), in dem die Suche nach einem verschwundenen Lotterieschein als Aufhänger dazu dient, die Alltagsnöte eines jungen Paars in Paris liebevoll auszubreiten (dieser Film hat ESA PAREJA FELIZ, den ersten Spielfilm von Juan Antonio Bardem und Luis García Berlanga, stark beeinflusst). "Ich bin Franzose, ich mache Filme über die Franzosen, ich schaue auf die Franzosen, ich interessiere mich für die Franzosen", sagte Becker (der eine schottische Mutter hatte) einmal in einem Interview.

Hochnotpeinliche Befragung eines gefangenen Gegners (rechts jeweils Pierrot)
TOUCHEZ PAS AU GRISBI ist in den USA bei Criterion und in England (jeweils unter dem Originaltitel), in Frankreich und in einigen anderen Ländern auf DVD erschienen (aber in Deutschland wieder mal nicht). Morgen läuft er als WENN ES NACHT WIRD IN PARIS um 20:15 Uhr auf arte.

Montag, 18. November 2013

René Magritte und das Strandmonster

BLOOD BEACH („Blood Beach – Horror am Strand“)
USA 1980
Regie: Jeffrey Bloom
Darsteller: David Huffman (Harry), Marianna Hill (Catherine), Burt Young (Sergeant Royko), Otis Young (Lieutenant Piantadosi), John Saxon (Captain Pearson), Darrell Fetty (Hoagy), Stefan Gierasch (Dr. Dimitrios)



Mit JAWS schuf Steven Spielberg nicht nur einen Meilenstein des Sommer-Blockbuster-Kinos, der drei direkte Sequels nach sich zog, sondern löste auch eine ganze Welle an Filmen aus, die ähnlich gelagerte Geschichten verarbeiteten. Das betraf nicht nur Sharksploitation-Filme im engeren Sinne, sondern auch andere Horrorfilme mit Ungeheuern, die gerne Menschen in Gewässern oder am Strand verspeisen, wie zum Beispiel ORCA (1977), PIRANHA (1978) oder ALLIGATOR (1980). Zweifelsohne ist auch BLOOD BEACH ein Jawsploitation-Film und enthält auch eine kleine augenzwinkernde Hommage an JAWS 2. Dessen Tagline „Just when you thought it was safe to go back in the water...“ wird von einer der Figuren nach etwa einem Drittel des Films ausgesprochen – und mit dem Zusatz „you can‘t go to it!“ versehen.

Das hat folgenden Hintergrund: am Strand einer Gemeinde im Los Angeles-Bezirk verschwindet spurlos eine ältere Dame. Dann geht ein Hund am Strand spazieren, und wenig später wird er ohne Kopf gefunden – der wurde ihm nämlich abgerissen oder abgebissen. Die Nacht danach geht eine adrette junge Frau am Strand spazieren und wird von einem Mann sexuell angegriffen: sie kann ihn mit einem gezielten Tritt an einer empfindlichen Stelle abwehren, und als er, bereits etwas geschwächt, auf sein Opfer zukriecht, wird ihm sein bestes Stück von unten weggebissen, oder weggerissen...

Oben: Harry & Catherine; Piantadosi & Royko
Unten: Captain Pearson & Dr. Dimitrios
Der Zuschauer weiß schon nach drei Minuten, was „Sache ist“, oder zumindest annähernd: wir sehen nämlich, dass die ältere Dame einfach so vom Sand verschluckt wird. Die Figuren im Film haben hingegen am Anfang überhaupt keine Ahnung, was da eigentlich passiert. Catherine zum Beispiel, die Tochter der älteren Dame, vermutet zunächst, dass ihre Mutter nur vermisst ist. Der Küstenwächter Harry, der mit Catherine vor Jahren eine Beziehung hatte, befürchtet zu Recht, dass die Dame tot ist. Seine Freundin, eine Stewardess, verschwindet wenig später dann auch im Sand (womit einer Neuauflage der Harry-Catherine-Romanze nichts mehr im Weg steht). Harrys bester Kumpel Hoagy sieht das ganze zunächst viel lockerer, muss dann aber auch rasch seine Freundin trösten, die nach dem Vergewaltigungsversuch am Strand unter Schock steht. Die Polizei tappt völlig im Dunkeln. Der überkorrekte Lieutenant Piantadosi und sein prollig-schmieriger Assistent Royko sind ziemlich hilflos und müssen dann auch rasch Schelte von ihrem Vorgesetzten Pearson einstecken, der sich nicht nur mit aufgebrachten Bürgern, sondern auch mit Tierschutzvereinen und der Handelskammer abplagen muss. Es ist der Wissenschaftler Dr. Dimitrios, der schlussendlich recht hat: ein Monster, zumindest eine nicht-bekannte Spezies, wohnt unter dem Strand und frisst ahnungslose Menschen auf. Eine Obdachlose hat möglicherweise auch einen guten Durchblick, aber das ist nicht sicher: sie ist permanent so übel gelaunt, dass sie kaum etwas verständliches von sich gibt und ist zudem wahrscheinlich auch leicht verrückt.

Ein B-Monster-Film nach Schema F also? Bei meiner Erstsichtung vor einem Jahr hat mich BLOOD BEACH von Beginn an absolut fasziniert, und relativ schnell wurde auch klar, warum. Nun, bei der erneuten Sichtung, ergibt der Anfangsverdacht noch wesentlich mehr Sinn. Das auffälligste an dem Film ist zweifelsohne sein bizarrer Look, der einem sehr eigenwilligen Einsatz von Licht geschuldet ist. Dieses ist ständig sehr diffus gefilmt, und wenn direkte Lichtquellen es in den Blickfeld der Kamera schaffen, dann verschwimmen große Teile des Bilds zu einer fast schon abstrakten Farbkomposition. Dieser exzessive Mangel an Kontrast, wenn das so richtig formuliert ist, findet seinen Höhepunkt nach knapp zwei Dritteln Laufzeit in einem wunderschönen Moment, den ich aus einleuchtenden Gründen gerne als den „Magritte-Shot“ bezeichnen möchte – Harry und Catherine haben gerade ein romantisches Date, die Kamera bewegt sich dabei nach links und für knapp eine Sekunde verschwindet ihr Gesicht vollkommen im diffusen Licht der Kerzenflamme:



Und hier ist ein Bild von René Magrittes Gemälde „Le principe du plaisir“ (Das Lustprinzip) aus dem Jahre 1937:



Vom "fahlen Licht des Todes" ergriffen
Die ikonografische Ähnlichkeit ist, denke ich, augenscheinlich: der Kopf verschwand und ward zu Licht! Der Candle-Light-Dinner-Moment ist sicherlich die radikalste Umsetzung von Magrittes „Lustprinzip“, da sich hier die Lichtquelle auch räumlich vor eine Figur schleicht. Doch auch der Rest des Films strotzt nur so von „Magritte-Shots“. Immer wieder schweben Lichterpunkte über den Köpfen der Figuren. Der allererste „Magritte-Shot“ – und zwar einer, der dem späteren Candle-Light-Dinner-Moment recht ähnlich kommt – taucht gleich zu Beginn auf, als die ältere Spaziergängerin mit dem Sand kämpft, der sie verschluckt. Sind diese ganzen Lichter, die über die Figuren schweben, also ein Symbol für die diffuse Bedrohung, die von dem Strandmonster ausgeht? Wer weiß! In einer anderen Besprechung ist vom „fahlen Licht des Todes“ die Rede.

Weitere "Magritte-Shots"
Es liegt natürlich bei einem „solchen“ Film wie BLOOD BEACH (Stichwort: Wertung von 4,1 bei imdb, Stand: November 2013) auf der Hand, diese Ästhetik als nett anzusehender Kollateralschaden inszenatorischen Dilettantismus' abzutun. Auch mir ging dieser Gedanke bei der Erstsichtung durch den Kopf, und ich deutete ihn allerdings auch sogleich positiv aus: die Unfähigkeit, „normale“ Bilder zu schaffen, als künstlerische Chance. Die Zweitsichtung nährt allerdings die These, dass wir es eher mit dem bewussten Unwillen zu tun haben, „normale“ Bilder zu filmen. Die restliche inszenatorische Detailverliebtheit von BLOOD BEACH stützt diese These. So wird die Kameraführung relativ stringent der Dramaturgie angepasst. Das Monster etwa, das man bis auf die letzten wenigen Minuten gar nicht sieht, hat einen ganz eigenen Point-Of-View-Stil: eine nervöse und „suchende“ Handkamera mit Untersicht. Immer wieder werden mehr oder weniger kurze solcher „Monster-Shots“ in die Handlung montiert, teils nur für wenige Sekunden. Der Rest des Films ist in eher ruhigen und langen Einstellungen inszeniert.

Auch das „Versprechen“ anderer Filme, nämlich die Spannung dadurch zu erhöhen, dass das Monster kein Gesicht hat (heisst: nicht gezeigt wird), löst BLOOD BEACH in einem ungleich radikaleren Ausmaß ein – natürlich: sicher auch budgetbedingt. Das Ungeheuer sieht man sogar in den letzten Minuten nur als amorphe Masse auf dem Übertragungs-Bildschirm einer Infrarot-Überwachungskamera oder in mysteriösen Detailaufnahmen. Da das Monster am Schluss undefiniert bleibt, kann auch seine Bedrohung letztlich auch nicht aus der Welt geschaffen werden. Logisch: wie löst man ein Problem, wenn man nicht richtig weiß, was das Problem eigentlich ist! Das Epilog des Films führt diesen Gedanken bis in die letzte bittere und ironische Konsequenz (bei einem Arthouse-Film würde man das wohl als „offenes Ende“ bezeichnen).

Bei der Zweitsichtung ist mir nun auch aufgefallen, wie liebevoll die Figuren des Films eigentlich gezeichnet sind – zumal sie allesamt von überaus fähigen Darstellern verkörpert werden. Es sind glaubwürdige Menschen aus Fleisch und Blut (deshalb schmecken sie dem Monster wahrscheinlich auch so gut), die keine besonderen heldenhaften oder sonstige außergewöhnliche Eigenschaften besitzen. Sie unterhalten sich oft über Sachen, die nicht im engeren Sinne Drehbuch-relevant sind und deren Hintergrund nur sie selbst verstehen (was war das zum Beispiel mit der Uhr, die repariert werden soll?). Ja, die Dialoge sind oftmals auch akustisch fast unverständlich, weil die Hintergrundgeräusche zu laut sind oder die sprechende Person eine Zigarre oder einen angekauten Hotdog im Mund hat. Aber warum sollte das ein Problem sein? Nur weil die Figuren sprechen, müssen wir sie nicht die ganze Zeit wörtlich begreifen, um sie menschlich zu verstehen. Geradezu akribisch zeigt sie der Film, und irgendwo kann man auch Mitleid mit ihnen bekommen: sie sind alle "nur" normale Menschen, und daher umso hilfloser gegenüber der Gefahr, der sie am Strand begegnen müssen. Da gibt es keinen Held, der energisch durchgreift und zupackt. Wo könnte man denn auch „zupacken“? Das macht BLOOD BEACH in einem klassischen dramaturgischen Sinne ziemlich sperrig, aber gerade auch diese Eigenwilligkeit macht den Reiz des Films aus.

Höchst interessant sind auch die zahlreichen Musik(er)-Einlagen, die dramaturgisch nicht viel Sinn ergeben, aber die lebendige Textur des Films stark verdichten. Immer wieder sind Straßen-Musiker im Bild zu sehen: ein Saxofonist am frühen morgen, ein Mundharmonika-Spieler zur Mittagspause, ein Violinist zum Sonnenuntergang. Auch ein Drehorgelspieler taucht immer wieder auf, jedoch nicht im Bild (man hört nur seine Musik im Hintergrund). Und schließlich ist Hoagy selbst auch Musiker in seiner Freizeit: er singt Duette mit seiner Freundin. Mit ihr hat er auch eine Band (beide singen, er haut noch auf einem Umhänge-Keyboard in die Tasten), die des Abends ab und zu in einer kleinen Hafenspelunke spielt. Was gespielt wird, vermittelt in einer solchen Umgebung sicherlich mehr Lebensfreude als ästhetische Stilsicherheit. Es ist allerdings auch im positiven Sinne überraschend, wie sich die Figuren eine kleine Pause von ihren Alltagssorgen nehmen (zum Beispiel vom Problem, dass ein Monster am Strand Menschen auffrisst). Da wirkt auch ein Umhänge-Keyboard plötzlich herzerwärmend. Die extradiegetische Musik weiß durchaus in einem klassischeren Sinne zu faszinieren. Das Hauptthema erinnert, sicherlich bewusst, an John Williams' JAWS-Thema, unbewusst auch an John Carpenters minimalistische Soundtracks, weiß aber durchaus eigene Akzente zu setzen.

À propos John Carpenter: BLOOD BEACH ist produktionstechnisch ein Independent-Film. Er wurde 1981 von der Vertriebsfirma „The Jerry Gross Organization“ in einer relativ geringen Kopienzahl in die US-Kinos herausgebracht. Ein Jahr später folgte eine zweite Runde, diesmal im Vertrieb der „Compass International Pictures“, die drei Jahre zuvor auch Carpenters HALLOWEEN in die Kinos gebracht hatte und wenig später aufgelöst wurde.

Blutiger Geister-Strand
Die Verbindung zu John Carpenter besteht übrigens auch durch den Kameramann Steven Poster. 1986 war er Second Unit-Kameramann bei STARMAN und BIG TROUBLE IN LITTLE CHINA. Als solcher Mann der „zweiten Reihe“ arbeitete er mit anderen berühmten Regisseuren zusammen, etwa mit – hier wiederum die JAWS-Connection – Steven Spielberg (CLOSE ENCOUNTERS OF THE THIRD KIND), Ridley Scott (BLADE RUNNER), Brian De Palma (MISSION TO MARS) und M. Night Shyamalan (UNBREAKABLE). BLOOD BEACH war Posters erstes Engagement als „director of photography“ bei einem Spielfilm. Als solcher wirkte er später an solch unterschiedlichen Werken wie LIFE STINKS oder DONNIE DARKO mit und war 2002 für ein Jahr Präsident der „American Society of Cinematographers“.

Von Steven Spielberg über John Carpenter bis Mel Brooks: da gehört Jeffrey Bloom zu den eher obskureren Filmemachern, mit denen der Erschaffer der „Magritte-Shots“ zusammen gearbeitet hat. Bloom, Jahrgang 1945, war angeblich in seiner Kindheit in den 1950er Jahren Mitglied einer tourenden Magier-Truppe und drehte mit BLOOD BEACH seinen dritten von nur insgesamt vier Kino-Filmen. In den 1980er und frühen 1990er Jahren inszenierte er Filme in allen möglichen Genres (von Melodrama bis Sci-Fi) für das Fernsehen, betätigte sich aber vor allen Dingen als Drehbuchautor. Auch dies tat er hauptsächlich für das Fernsehen, und schrieb unter anderem das Drehbuch für drei Folgen von COLUMBO. In den 1990er Jahren kehrte er dem Filmbusiness den Rücken und betätigt sich seither als professioneller Fotograf. Wer seine Fotografen-Website besucht, wird sehen, dass eine ganze Rubrik („all creatures“) Tieren gewidmet ist, und zwar hauptsächlich Hunden. Bloom scheint ein ausgesprochener Hundeliebhaber zu sein. Sein erster Film DOGPOUND SHUFFLE, für das er wie für alle seiner vier Kinofilme als Regisseur auch das Drehbuch schrieb, handelt von einem Obdachlosen, der sich auf die Suche nach seinem verlorenen Hund begibt. Wenn also in BLOOD BEACH einem solchen Vierbeiner der Kopf abgebissen wird, so ist das Tier in diesem Licht durchaus als ernsthaftes Opfer zu sehen, und nicht als reines plot-treibendes MacGuffin.

Aber es ist ja nur ein Film: dem Hund ging es am Set bestimmt ganz gut. Im realen Leben tragischer hingegen verlief das weitere Schicksal des BLOOD BEACH-Hauptdarstellers, TV-Stars und Theater-Schauspielers David Huffman: im Februar 1985 ertappte er in San Diego in flagranti einen Wohnwagen-Einbrecher, der ihn daraufhin erstach. Huffman verstarb mit nur 39 Jahren.




BLOOD BEACH ist in Deutschland, Kanada und den USA auf DVD erschienen. Gemäß imdb hat der Film ein Bildformat von 1.85:1. Auf der deutschen DVD befindet sich allerdings nur eine Version in 1.33:1-Vollbild. Es scheint aber auch keinerlei andere Veröffentlichung zu geben, die den Film im 1.85:1-Format enthält. Es ist natürlich möglich, dass BLOOD BEACH nach dem open matte-Prinzip gedreht wurde, also im 1.33:1-Format, und später bei Kinoprojektionen Bildareale oben und unten zugedeckt wurden. Letzteres halte ich aber für eher unwahrscheinlich. Es könnten natürlich auch für alle Heimauswertungen Teile des Films links und rechts beschnitten worden sein (auch wenn die meisten Bilder des Films meiner Meinung nach "vollständig" aussehen). Oder imdb hat sich geirrt (dort hat dieser eigentlich großartige Film ja auch nur eine Bewertung von 4,1!).
An der deutschen DVD gibt es, bis auf mangelnde Untertitel, nicht viel zu mäkeln.