Freitag, 28. Oktober 2011

Kurzhaar muss Elektra tragen

ELEKTRA (griech. ILEKTRA / ΗΛΈΚΤΡΑ)
Griechenland 1962
Regie: Michael Cacoyannis
Darsteller: Irene Papas (Elektra), Yannis Fertis (Orestes), Aleka Katselli (Klytaimnestra), Theodoros Dimitriou (Agamemnon), Phoebus Rhazis (Aigisthos), Notis Peryalis (Elektras Mann), Manos Katrakis (Erzieher/Greis), Takis Emmanuel (Pylades), Theano Ioannidou (Chorführerin)


Über Helden, die solche Waffen geführt,
gebot der Mann, den du, Tyndaridin,
ermordet, dein Gatte, du tückisches Weib!
So werden dich denn die Himmlischen auch
dem Tode einst weihen; wahrlich, ich soll
deinen Nacken noch sehen, zur Strafe des Mordes
blutüberströmt, unterm Schlage des Beiles!
(Euripides: Elektra, Übersetzung Dietrich Ebener)

Die griechische Tragödie ist eine altehrwürdige Literaturgattung, die im 5. Jahrhundert v. Chr. von den Herren Aischylos, Sophokles und Euripides - alle drei in Athen wirkend - zur Blüte gebracht wurde. Jeder der drei hat dutzende Stücke geschrieben, von denen aber nur wenige erhalten sind. "Elektra" ist der einzige Stoff, bei dem von jedem der drei eine Version überlebt hat (bei Aischylos unter dem Titel "Choephóroi" als Mittelteil der dreiteiligen "Orestie"). Michael Cacoyannis hielt sich bei seiner Verfilmung eng an Euripides. Während es eine Unzahl von in der griechischen Antike angesiedelten Sandalenfilmen gibt, sind echte Verfilmungen (also nicht einfach abgefilmte Theateraufführungen) griechischer Tragödien relativ selten. Am bekanntesten dürften Pier Paolo Pasolinis EDIPO RE (nach Sophokles) und MEDEA (nach Euripides) sein, aber Cacoyannis' ELEKTRA ist diesen Filmen mindestens ebenbürtig.


Der Trojanische Krieg ist zu Ende. König Agamemnon, der Anführer der siegreichen Griechen, kehrt heim nach Argos in seine Hauptstadt Mykene, wo er von seiner Frau Klytaimnestra erwartet wird. Doch diese hat ein Problem: Während Agamemnons langer Abwesenheit hat sie sich einen Liebhaber, Aigisthos, genommen. Klytaimnestra hasst Agamemnon, weil dieser auf der Fahrt nach Troja auf Geheiß eines Sehers ihre gemeinsame Tochter Iphigenia geopfert hat (Iphigenia ist nicht wirklich tot, sondern sie wurde zu einem Barbarenvolk am Schwarzen Meer versetzt, aber das ist eine andere Geschichte). Klytaimnestra und Aigisthos lösen ihr Problem auf radikale Art: Gemeinsam ermorden sie Agamemnon unmittelbar nach seiner Ankunft, als dieser ein Bad nimmt. Doch daraus erwächst ein neues Problem: Orestes und Elektra, die weiteren Kinder von Agamemnon und Klytaimnestra, standen auf der Seite des Vaters und hassen jetzt die Mutter. Zwar ist Orestes noch ein Kind und Elektra eine Jugendliche, aber irgendwann werden sie versuchen, den Mord zu rächen. Weil Orestes' Leben deshalb unmittelbar in Gefahr ist, bringt ihn der frühere Erzieher Agamemnons sofort außer Landes nach Phokis, wo er inkognito aufwächst. Elektra dagegen wird wie eine Gefangene im Palast von Mykene gehalten.


Einige Jahre später. Aigisthos und Klytaimnestra regieren als neues Königspaar, doch sie sind beim Volk wegen der Bluttat verhasst, Aigisthos gilt als Usurpator. Elektra ist inzwischen erwachsen. Klytaimnestra will sie loswerden, doch sie wagt nicht, sie ermorden zu lassen, aus Angst, eine Revolte auszulösen. Deshalb wird Elektra zwangsweise mit einem einfachen Bauern verheiratet, der ein armseliges Stück Land am Rand des mykenischen Staatsgebiets bestellt. Aus Verzweiflung und als Zeichen ihres zukünftigen niederen sozialen Standes schneidet sich Elektra das lange schwarze Haar zu einer Kurzhaarfrisur und legt die Haare als stummen Protest vor die Füße von Aigisthos und Klytaimnestra. Die Idee hinter der Zwangsheirat: Wenn Elektra einen vornehmen Krieger heiraten würde - und Anwärter gab es bereits -, dann könnte ein Sohn von ihr eines Tages als Rächer seines Großvaters auftreten, doch bei den bedeutungslosen Kindern eines bedeutungslosen Bauern ist das ausgeschlossen. Außerdem dient das erzwungene Leben in einfachsten Verhältnissen der Demütigung Elektras.


Doch der Bauer, dessen Name ungenannt bleibt, unterläuft diese Absichten. Er behandelt Elektra respektvoll und führt eine platonische Ehe, aus Rücksicht auf den von ihm anerkannten Standesunterschied und darauf, dass Aigisthos als unrechtmäßiger Herrscher kein Recht hatte, diese Ehe zu befehlen. Aber diese Tatsache halten er und Elektra geheim, um keine weiteren Reaktionen des Königspaars zu provozieren. Wie in jeder griechischen Tragödie gibt es einen Chor, der hier von den mykenischen Landfrauen gestellt wird, die Elektra freundlich als eine der Ihren aufnehmen. Für Elektra hätte es also noch schlimmer kommen können, dennoch ist sie verzweifelt: Ein Leben in Armut, keine Aussichten, Rache nehmen zu können, und keine Nachrichten von Orestes, den die meisten für tot halten. Ihre einzige Hoffnung ist, dass Orestes doch noch lebt und irgendwann zurückkehrt.


Und schon ist es soweit: Orestes und sein Freund Pylades betreten mykenisches Gebiet. Das Orakel von Delphi, also indirekt der Gott Apollon, hat ihm befohlen, die Untat zu rächen. Aus Angst, erkannt zu werden, gehen die beiden Freunde nicht direkt nach Mykene, sondern erkunden erst auf dem Land die Lage und geraten dabei an Elektras Hütte. Durch ein erlauschtes Gespräch der Landfrauen erfährt Orestes, wer hier wohnt, und verlangt Elektra zu sprechen. Er enthüllt seine Identität jedoch nicht, sondern gibt sich als Bote von Orestes aus. Elektra vermutet in den beiden für sie Fremden zunächst von Aigisthos ausgesandte Attentäter und verbirgt sich, doch schließlich kann Orestes die Frauen und Elektra von seiner freundlichen Gesinnung überzeugen. Der von der Feldarbeit heimkehrende Bauer ist froh über die Kunde, dass Orestes noch lebt, und lädt die beiden vermeintlichen Boten in seine Hütte ein, was Orestes und Pylades zu einer Reflexion über die Überlegenheit aufrechten Charakters über Reichtum und hohe Geburt veranlasst. Um die beiden bewirten zu können, wird nach einem alten, halb blinden Hirten gesandt, der Wein und Essen mitbringen soll. Es handelt sich um niemand anderen als den früheren Erzieher, der Orestes in Sicherheit gebracht hatte. Am verzierten Knauf eines Schwertes, das Orestes schon als Kind besaß, erkennt ihn der Greis und verrät seine Identität. Elektra will ihm zunächst nicht glauben, doch eine besondere Narbe, die sich Orestes schon als Kind bei der Jagd zuzog, erbringt den Beweis.


Nach der Wiedersehensfreude werden Rachepläne geschmiedet. Trotz des Orakels von Delphi zaudert Orestes - er weiß nicht so recht, ob und wie er zur Tat schreiten soll. Insbesondere der vorgesehene Mord an der eigenen Mutter ist ihm nicht geheuer. Doch Elektra und der Greis bestehen darauf, dass auch Klytaimnestra sterben muss. Doch zunächst ist Aigisthos an der Reihe. Der Greis entwirft einen Plan: Aigisthos feiert gerade mit wenigen Wachen und Dienern ein Weinfest zu Ehren von Dionysos. Wenn Orestes und Pylades als vermeintliche Fremde dort aufkreuzen, wird Aigisthos sie zum Fest einladen, und es wird sich eine Gelegenheit zum Mord ergeben. Wenn sich Orestes nach der Tat als Sohn Agamemnons zu erkennen gibt, werden die Wachen zu ihm überlaufen. Die beiden Freunde brechen auf, während Elektra für den Fall des Scheiterns des Plans ihren eigenen Selbstmord ankündigt. Die Nacht vergeht quälend langsam, und Elektra glaubt schon an ein Mißlingen des Anschlags und will sich selbst töten - die Landfrauen können sie nur mit Mühe davon abhalten. Da erscheint ein Bote und bringt die erlösende Nachricht: Der Plan hat perfekt geklappt, Aigisthos ist tot, und die Wachen und Diener haben sich Orestes angeschlossen. Wenig später kehren die beiden Freunde mit ihrem neuen Gefolge zurück, und als Beweis für die vollbrachte Tat bringen sie die Leiche von Aigisthos mit, vor der nun Elektra eine bittere Schmährede hält.


Für den zweiten Teil der Rache hat sich Elektra eine List ausgedacht: Der Greis überbringt in der Hauptstadt die falsche Nachricht, dass Elektra ein Kind zur Welt brachte. Klytaimnestra, die den Palast sonst fast nie verlässt, wird unweigerlich bei Elektra auftauchen. Und tatsächlich, bald erscheint die Königin, die noch nichts von Aigisthos' Schicksal weiß, in Begleitung von drei trojanischen Dienerinnen, die einst Agamemnon als Kriegsbeute mitbrachte, vor der Hütte des Bauern. Orestes schreckt mehr denn je vor der schrecklichen Tat zurück, doch Elektra lässt keines seiner Argumente gelten und ringt ihm das Versprechen ab, den Mord unerbittlich auszuführen. Die treibende Kraft hinter der Rache ist nun endgültig Elektra, nicht Orestes. Elektra tritt Klytaimnestra vor der Hütte entgegen. Diese sendet vorsichtige Signale zu einer Annäherung aus und rechtfertigt sich für die Ermordung Agamemnons: Durch die Opferung Iphigenias auf Aulis und durch die Provokation, dass Agamemnon die trojanische Seherin Kassandra als seine Geliebte nach Mykene mitbrachte, sei sie zur Tat berechtigt gewesen. Doch Elektra weist Klytaimnestras Argumente schroff als Ausreden zurück, zwischen Mutter und Tochter gibt es keine Versöhnung. Elektra geleitet Klytaimnestra in die Hütte, wo sie eine vom Brauchtum vorgeschriebene Opferhandlung für das vermeintliche Kind vornehmen soll, und wo schon Orestes mit dem Schwert lauert. Im allerletzten Moment scheint auch Elektra zu zögern, doch nur für einen Augenblick, dann schlägt sie die Tür der Hütte hinter sich und Klytaimnestra zu. Den Mord selbst bekommt man nicht zu sehen, stattdessen zeigt Cacoyannis den Chor der Frauen, die ob des schrecklichen Geschehens wie in Panik umherwanken und fassungslos zusammenbrechen.


Als Orestes und Elektra nach der Tat zu sich kommen und die blutige Leiche Klytaimnestras vor sich sehen, wird ihnen klar, was mit ihnen geschehen ist. Obwohl sie nach den Gesetzen der Blutrache zur Vergeltung für den Mord an Agamemnon verpflichtet waren, obwohl Apollon selbst die Tat befohlen hatte, haben sie ein schreckliches, unverzeihliches Verbrechen begangen - sie sind "schuldlos schuldig" geworden, wie es in der Theorie der Tragödie heißt. Ihnen wird klar, dass sie als Konsequenz daraus weder zusammenbleiben noch in Argos bleiben können, sondern sich trennen und das Land verlassen müssen. Orestes als Ausführender des Mordes hat obendrein die Vergeltung der Erinnyen zu fürchten, der Rachegöttinnen, die solche Freveltaten unerbittlich verfolgen. Nach bitteren Abschiedsworten gehen Elektra und Orestes in verschiedene Richtungen davon. Pylades folgt zunächst Orestes, doch dieser weist ihn mit einer stummen Geste zurück. Der Film endet mit einem Ausspruch der Chorführerin, der bei Euripides unmittelbar nach dem Mord an Klytaimnestra fällt:

Es gibt kein unglücklicheres Geschlecht als das
der Tantaliden, und es gab auch früher keines!


Doch ganz so trostlos geht die Geschichte doch nicht aus. Bei Euripides erscheinen am Ende die Zwillinge und Halbgötter Kastor und Polydeukes (besser bekannt unter seinem lateinischen Namen Pollux), zugleich Halbbrüder von Klytaimnestra, als deus ex machina, und weisen den Weg in die Zukunft. In einem langen Monolog übt Kastor herbe Kritik an Apollon, dem er die Hauptschuld am Unglück zuweist, und er trägt Orestes auf, vor den Erinnyen nach Athen zu fliehen und sich in den Schutz von Athene zu begeben. Dort wird ein menschliches Gericht - der zukünftige Areopag von Athen - über ihn richten und ihn freisprechen. Elektra dagegen wird als Frau von Pylades nach Phokis gehen; der Bauer wird sie als Freund begleiten und reich beschenkt werden (diese Lösung ist möglich, weil Elektra noch Jungfrau ist). Die dauerhafte Verbannung aus Argos und die Trennung der Geschwister bleibt dagegen bestehen. Orestes' Flucht vor den Erinnyen nach Athen und sein letztendlicher Freispruch bilden auch den Inhalt von "Die Eumeniden", dem dritten Teil von Aischylos' "Orestie". Cacoyannis ließ den etwas aufgesetzt wirkenden Schluss von Euripides weg, aber da er nun mal zu der Geschichte gehört, darf man ihn sich hinzudenken.


Regie Michael Cacoyannis, Kamera Walter Lassally, Musik Mikis Theodorakis, und Irene Papas in der weiblichen Hauptrolle - da denkt man gleich an den Klassiker ALEXIS SORBAS von 1964. Doch das Team fand sich bereits 1961 zusammen, nur Anthony Quinn und Alan Bates fehlten noch. Herausgekommen ist mehr als eine geglückte Generalprobe - ELEKTRA ist ein Meisterwerk. Der im letzten Juli verstorbene Michael Cacoyannis (eigentlich Mihalis Kakogiannis), der aus einer griechisch-zypriotischen Familie stammte, lebte 1939-52 in London, wo er auf Wunsch seines Vaters Jura studiert hatte, dann aber Schauspieler wurde. Als er seinen Wunsch, Regie zu führen, in England nicht verwirklichen konnte, ging er nach Athen, wo er mit offenen Armen empfangen wurde. Seither lebte er in dieser Stadt, mit Ausnahme der Jahre der Militärdiktatur (1967-74), die er im Exil verbrachte. Seine zwischen 1954 und 1958 erschienenen ersten vier Filme, in denen er mit unverbrauchter Frische griechische Gegenwartsthemen behandelte, gelten manchen Kritikern als seine besten.


Auf jeden Fall besaß er die Fähigkeit, aus seinen Hauptdarstellerinnen eindrucksvolle Leistungen hervorzuholen und sie zu Stars zu machen. In drei der vier Filme war es die außerhalb Griechenlands nur noch wenig bekannte Ellie Lambeti (auch Lambetti geschrieben), in STELLA dagegen Melina Mercouri in ihrer ersten Rolle - mit Filmen wie SONNTAGS... NIE! und TOPKAPI wurde sie sogar ein Weltstar. Irene Papas musste nicht erst von Cacoyannis zum Star gemacht werden. Als ELEKTRA herauskam, war sie 36 und hatte schon eine beachtliche Karriere hinter sich, auch mit internationalen Auftritten (ATTILA mit Anthony Quinn und Sophia Loren, DIE KANONEN VON NAVARONE mit Gregory Peck, David Niven und wieder Quinn). Auch mit klassischen Tragödienrollen hatte sie schon Erfahrung: 1961 spielt sie Antigone in einer Verfilmung des Stücks von Sophokles. Aber ELEKTRA ist sicher einer der Höhepunkte ihrer Laufbahn. Mit ihrem ebenso ausdrucksstarken wie kontrollierten Spiel und ihrer geradezu majestätischen Erscheinung drückt sie dem Film einen deutlichen Stempel auf.


Euripides' Stück beginnt erst, als Elektra bereits zwangsverheiratet wurde und Orestes und Pylades in Argos auftauchen. Dieses Problem - wenn es für ihn überhaupt eines war - löste Cacoyannis, indem er die Geschehnisse davor als fast wortlosen, siebenminütigen Prolog inszenierte. Auch danach gibt es Sequenzen, in denen die Handlung mehr oder weniger wortlos erzählt wird - durch sorgfältigen Bildaufbau und exakt choreographierte Bewegungen der Protagonisten, unterstützt durch die eindrucksvoll karge griechische Landschaft (abgesehen von Agamemnons Ermordung im Bad und den Szenen in der Hütte des Bauern wurde nichts im Studio gedreht) und der archaisierenden, oft rhythmisch-perkussiven Musik von Mikis Theodorakis (die nichts mit den bekannten Sirtaki-Klängen aus ALEXIS SORBAS gemein hat). Die Bewegungen sind meist langsam, getragen, um den Ernst und das Pathos der Handlung zu unterstreichen. Vor allem der Chor der Frauen mit ihren strengen Gesichtern und strengen Gewändern wird immer wieder eindrücklich in Szene gesetzt. Cacoyannis war damals ein Regisseur, der die Bewegungen der Darsteller schon im Voraus detailliert plante und im Drehbuch festhielt, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Die Sprache der Protagonisten ist über weite Strecken eng an Euripides angelehnt, oft sogar wörtlich übernommen (soweit ich das anhand der deutschen Übersetzung des Stücks und der engl. Untertitel der DVD beurteilen kann), ohne vor Auslassungen und eingeschobenen profaneren Dialogen zurückzuschrecken.


Einen wesentlichen Beitrag zur eindrucksvollen Wirkung des Films leistet Kameramann Walter Lassally, der ELEKTRA für seinen und auch für Cacoyannis' besten Film hält. Lassally, 1926 in Berlin geboren, emigrierte 1939 mit seinen Eltern nach England. Die Lassallys waren eine protestantische Familie, aber es gab jüdische Vorfahren, und somit war man "nichtarisch". Walter Lassally war der wichtigste Kameramann von Free Cinema und British New Wave. In den 50er Jahren war er der bevorzugte Kameramann bei den Dokumentarfilmen von Tony Richardson, Karel Reisz und Lindsay Anderson und Mitunterzeichner des von Anderson verfassten Free Cinema-Manifests, in den 60ern filmte er u.a. Richardsons BITTERER HONIG, DIE EINSAMKEIT DES LANGSTRECKENLÄUFERS und TOM JONES.


Cacoyannis engagierte Lassally 1955 für seinen dritten Film DAS MÄDCHEN IN SCHWARZ. Cacoyannis war in Cannes, um STELLA zu präsentieren, und unterhielt sich dort mit Lindsay Anderson. Weil Cacoyannis mit dem griechischen Kameramann von STELLA unzufrieden war, bat er Anderson um eine Empfehlung, und der zögerte nicht lange und nannte Lassally. So wurde Lassally engagiert, ohne dass Cacoyannis ihn oder eine seiner Arbeiten gekannt hätte. Bei der Arbeit an DAS MÄDCHEN IN SCHWARZ merkten sie schon nach wenigen Tagen, dass sie auf einer Wellenlänge lagen, was schließlich in sechs gemeinsamen Filmen zwischen 1955 und 1967 und in Lassallys Oscar für ALEXIS SORBAS resultierte. Nachdem er durch seine ersten beiden Filme für Cacoyannis in Griechenland bekannt wurde, arbeitete er auch für andere griechische Regisseure - in den 60er Jahren war Griechenland neben England sein zweites Standbein, was durch den Militärputsch von 1967 beendet wurde. In den 70er und 80er Jahren filmte er u.a. acht Merchant/Ivory-Filme, z.B. DIE DAMEN AUS BOSTON, und gelegentlich in Deutschland, etwa ANSICHTEN EINES CLOWS von Vojtěch Jasný. Seine Autobiographie nannte der viel herumgekommene Lassally treffend Intinerant Cameraman, heute lebt er auf Kreta, nicht weit von einem der Drehorte von ALEXIS SORBAS entfernt.


Cacoyannis inszenierte seit Mitte der 50er Jahre nicht nur Filme, sondern auch Theater, Opern und Musicals. Er brachte Autoren von Euripides über Shakespeare und Oscar Wilde bis Samuel Beckett auf die Bühne, und 1967 eine Opernfassung von Eugene O'Neills "Trauer muss Elektra tragen" an der New Yorker Met. Euripides gehörte aber seine besondere Vorliebe. 1962 inszenierte er dessen "Die Troerinnen" in Spoleto, im Jahr darauf lief diese Inszenierung in New York und erlebte 600 Vorstellungen; 1967 folgte "Iphigenia in Aulis". Schon in den 60er Jahren entstand der Plan, ELEKTRA zu einer Euripides-Trilogie auszuweiten. 1971 entstand in Spanien DIE TROERINNEN (deutsch auch DIE TROJANERINNEN oder TROJA), der einzige Film, den Cacoyannis in den Jahren des Exils drehte. Neben Irene Papas spielten Katharine Hepburn, Vanessa Redgrave und Geneviève Bujold. Dass dieser Film nur verhalten aufgenommen wurde, lag wohl an der sperrigen Vorlage, die sich mit langen Klage-Monologen und wenig Handlung gegen eine Verfilmung sträubt. IPHIGENIA von 1977 komplettiert die Trilogie. Er behandelt die Opferung von Iphigenia auf Aulis, ist also chronologisch Jahre vor ELEKTRA angesiedelt. Irene Papas spielt diesmal ironischerweise Klytaimnestra. Bei allen Filmen der Trilogie stammt die Musik von Theodorakis, Lassally war bei den letzten beiden aber nicht mehr dabei. Was sich Cacoyannis bei der Verfilmung von ELEKTRA gedacht hat, hat er einmal so ausgedrückt:

"Die Liebe zum Text bestimmte meinen Respekt dafür. Darüber hinaus gab es nur Freiheit. Freiheit, das Wort in das Bild zu übersetzen, Freiheit, die Reihenfolge der Szenen zu ändern, wo es mir dramaturgisch notwendig erschien. Mein Ziel war es, einen tragischen Film zu drehen, nicht, eine Tragödie vor der Kamera zu inszenieren. Um mit rein filmischen Mitteln den selben emotionalen Eindruck wie das Schauspiel zu erreichen, die selbe Qualität von Schrecken und Mitleid, die selbe Katharsis. [...] Die griechische Tragödie ist zeitlos. Den größten Schaden, den man ihr zufügen kann, ist es, sie mit der Art von Ehrfurcht zu behandeln, die man den Toten erweist."



ELEKTRA ist in den USA bei MGM auf DVD erschienen. Es gibt auch eine griechische Box mit der kompletten Euripides-Trilogie, mit engl. Untertiteln, aber leider recht teuer.

Donnerstag, 20. Oktober 2011

WENN DIE KRANICHE ZIEHEN

Dies ist die gekürzte und leicht überarbeitete Version eines Artikels, der 2004 im Usenet und 2006 als PDF in der Filmzentrale veröffentlicht wurde (in der längeren Fassung wird noch der erstaunliche SOY CUBA angerissen, der eine eigene Besprechung verdient).

WENN DIE KRANICHE ZIEHEN (DDR-Titel DIE KRANICHE ZIEHEN, russ. LETJAT SCHURAWLI)
UdSSR 1957
Regie: Michail Kalatosow
Darsteller: Tatjana Samoilowa (Veronika), Alexej Batalow (Boris), Wassili Merkurjew (Fjodor Iwanowitsch), Alexander Schworin (Mark), Swetlana Charitonowa (Irina), Valentin Subkow (Stepan)


Im Februar 1956, knapp drei Jahre nach Stalins Tod, fand in Moskau der 20. Parteitag der KPdSU statt. Auf dieser denkwürdigen Veranstaltung griff Nikita Chruschtschow in einer berühmt gewordenen Rede Stalin scharf an und leitete damit die Entstalinisierung ein. In der darauf folgenden "Tauwetterperiode", die bis zur "neuen Eiszeit" unter Leonid Breschnew (ab 1964) währte, genossen Künstler und Intellektuelle in der Sowjetunion weit mehr Freiheiten als im Vierteljahrhundert zuvor. Eine nur lose zusammenhängende Gruppe von Filmschaffenden nutzte die neue Freiheit, um sich von den Zwängen des "Sozialistischen Realismus" zu lösen und individuell geprägte, teilweise gar systemkritische Filme zu drehen. Ihr bekanntester Vertreter war Michail Kalatosow, und WENN DIE KRANICHE ZIEHEN war der künstlerisch und kommerziell erfolgreichste Film der Epoche.


Moskau 1941, kurz bevor die Sowjetunion in den 2. Weltkrieg hineingezogen wird. Während ein Schwarm Kraniche im eleganten V-förmigen Formationsflug über den Himmel zieht, trifft sich an den Ufern der Moskwa ein junges Liebespaar. Boris Borosdin ist Arbeiter und Sohn eines angesehenen Arztes, Veronika will irgendwann mal Architektur studieren. Boris nennt sie Belka (Eichhörnchen), und in der Tat erinnert sowohl ihr hübsches Gesicht als auch ihr quirliges Wesen ein wenig an das agile Nagetier. Veronika sieht den Vögeln nach und rezitiert ihren Lieblingsvers: "Kraniche wie Schiffe, am Himmel segelnd, weiße wie graue, mit langen Schnäbeln, ziehen sie dahin ..." Mit der Idylle ist es schnell vorbei: Nazi-Deutschland marschiert in der Sowjetunion ein. Boris und sein Freund und Arbeitskollege Stepan melden sich freiwillig zur Front, zunächst ohne Wissen von Veronika und Boris' Familie. Boris' Cousin Mark dagegen, ein junger Pianist, hofft auf seine Freistellung. Mark, der in der Wohnung der Borosdins lebt, macht auch Veronika schöne Augen, ohne eine Chance bei ihr zu haben. (In einer deutschen Fassung des Films wurde aus Mark aus unerfindlichen Gründen Boris' Bruder, was aber in mehrfacher Hinsicht keinen Sinn ergibt. Er ist definitiv sein Cousin.)


Einen Tag vor Boris' Abmarsch, und vor Veronikas Geburtstag, vereinbaren Boris und die noch immer ahnungslose Veronika ihre Hochzeit, und Veronika malt sich in Gedanken ihr weißes Brautkleid aus. Dann erscheint Stepan, und die schockierte Veronika erfährt von Boris' Entschluß. Auch seine Familie ist entsetzt. Sein Vater Fjodor Iwanowitsch Borosdin hält ihm eine Standpauke, und auch seine Schwester Irina, eine angehende Ärztin, und seine Großmutter machen ihm Vorwürfe. Als am nächsten Tag zwei junge Kolleginnen von Boris in der Wohnung erscheinen, um dem ausrückenden "Helden" eine offizielle Grußbotschaft des Arbeiterkomitees zu überbringen, unterbricht sie Fjodor Iwanowitsch unwirsch und macht sich mit grimmiger Ironie über die hohlen Phrasen lustig. Allein für diese Szene wäre der Regisseur wohl noch wenige Jahre zuvor in einem Straflager in Sibirien verschwunden. Am Tag des Aufbruchs verfehlen sich die Liebenden, um Abschied zu nehmen. Boris lässt als Geburtstagsgeschenk für Veronika ein Stoff-Eichhörnchen zurück, das ihr die Großmutter aushändigen soll. Unter ein paar Süßigkeiten versteckt er seinen Abschiedsbrief. Als Veronika in der Wohnung der Borosdins erscheint, ist Boris schon weg, und in der Hektik erhält sie zwar das Eichhörnchen, aber sie übersieht den Brief. Veronika eilt zum Sammelpunkt der ausrückenden Soldaten, aber auch hier kommt sie zu spät. So werden Boris und Veronika getrennt, ohne sich noch Lebewohl sagen zu können.


Etwas später. Veronika und die Borosdins warten ungeduldig auf Nachrichten von Boris. Bei einem Luftangriff sucht Veronika in der U-Bahn Schutz, während ihre Eltern leichtsinnigerweise in der Wohnung zurückbleiben. Das Wohnhaus erhält einen Volltreffer - Veronikas Eltern sind tot. Die verstörte Veronika wird von den Borosdins in ihrer Wohnung aufgenommen, als sei sie bereits Boris' Frau. Bei einem neuerlichen Luftangriff bleiben Mark und Veronika allein in der Wohnung zurück. Mark nützt die Situation, um sich wieder an Veronika heranzumachen. Zunächst ohrfeigt sie ihn, aber dann gibt sie im emotionalen und realen Chaos des Bombenhagels nach. (Einige Kritiker wollen aus der Szene herauslesen, dass Veronika von Mark vergewaltigt wird, aber dafür kann ich keine deutlichen Anzeichen erkennen.) Am nächsten Morgen eröffnen Mark und Veronika der völlig überraschten Familie, dass sie heiraten werden. Dies empfinden die Anderen als Verrat an Boris und quittieren es mit versteinerten Mienen und eisigem Schweigen.


Szenenwechsel an die Front. Boris ist mit seiner Kampfgruppe in einer absolut trostlosen, sumpfigen Gegend von den Deutschen eingekesselt worden. Auf einem Erkundungsgang wird er von einer Kugel getroffen, wohl von einem Scharfschützen abgefeuert. Er bricht zusammen und stirbt kurz darauf. Nächster Szenenwechsel: Eine Stadt irgendwo in Sibirien, in die ein Teil der Bevölkerung evakuiert wurde. Fjodor Iwanowitsch leitet das Lazarett, in dem Irina als Ärztin und Veronika als Krankenschwester arbeiten. Noch immer haben sie keine Nachricht von Boris, sie wissen nur, dass er vermisst wird. Die Ehe von Mark und Veronika, die von Anfang an unter keinem guten Stern stand, ist so gut wie gescheitert. Veronika ist deprimiert, sie macht sich Selbstvorwürfe und sehnt sich nach Boris. Dem vom aktiven Dienst freigestellten Mark gegenüber ist sie abweisend. Der wiederum beginnt ein Verhältnis mit einer gewissen Antonina Monastyrskaja, hinter der auch sein Vorgesetzter Tschernow her ist. Im Lazarett kommt es zu einem kleinen Tumult. Ein verwundeter Soldat randaliert, als er erfährt, dass seine Braut in seiner Abwesenheit einen Anderen geheiratet hat. Fjodor Iwanowitsch hält dem Mann eine Standpauke, und ohne dabei Veronikas Anwesenheit zu bemerken, erklärt er ihm, dass er an dieser "Verräterin" nicht viel verloren hat, um ihn damit wieder aufzurichten. Aber Veronika bezieht die Predigt auf ihre eigene Situation, und ihre Selbstvorwürfe schlagen in jähe Verzweiflung um. Sie rennt fluchtartig ins Freie und auf eine Brücke, um sich vor einen heranbrausenden Zug zu stürzen. Im letzten Augenblick kommt es anders: Ein kleiner elternloser Junge wird auf der Straße neben Veronika beinahe von einem Auto überfahren. Ihre Selbstmordgedanken sind jetzt verflogen, sie kümmert sich um den Jungen - der auch Boris heißt - und nimmt ihn mit in ihre Unterkunft.


Unterdessen hat Mark Veronikas Eichhörnchen seiner neuen Flamme Antonina geschenkt. Veronika verursacht einen kleinen Eklat, als sie sich das Eichhörnchen zurückholt und Mark dabei wild ohrfeigt. Zwischen den beiden ist es nun endgültig aus. Bei dieser Gelegenheit kommt auch endlich der im Eichhörnchen versteckte Brief zum Vorschein - Boris' letzter Gruß an seine Belka. Währenddessen macht Antonina ihrem anderen Verehrer Tschernow Aussichten, falls dieser ihr eine Spazierfahrt spendiert. Da er keinen Wagen zur Verfügung hat, wendet er sich an Fjodor, um sich vom Lazarett einen Krankenwagen zu leihen. Er lässt durchblicken, dass er das als Gegenleistung für seine erwiesenen Gefälligkeiten erwartet. Da Fjodor keine Ahnung hat, wovon die Rede ist, erklärt ihm Tschernow, dass er doch um Marks Freistellung von der Front gebeten habe. Schnell erkennen beide, dass sich Mark mit dieser Lüge seine Freistellung erschlichen hat. Der aufgebrachte Fjodor stellt Mark zur Rede und hält ihm eine Strafpredigt, dann verbannt er ihn aus dem Kreis der Familie. Dagegen hält er Veronika, der er längst verziehen hat, zurück, als diese ebenfalls gehen will. Etwas später taucht ein Kamerad von Boris in der Unterkunft der Borosdins auf und überbringt die Todesnachricht. Er erzählt, dass Boris auch während der heftigsten Kämpfe immer von seiner Belka gesprochen hat. Allerdings hat er selbst Boris nicht tot, sondern nur verwundet gesehen, und so klammert sich Veronika an die Hoffnung, dass er vielleicht doch noch lebt.


Letzter Szenenwechsel: Wieder in Moskau, nach Ende des Krieges. Veronika hofft immer noch auf Boris' Heimkehr. Als eine große Gruppe Heimkehrer auf dem Bahnhof empfangen wird, wartet Veronika mit einem Blumenstrauß in der Menge. Boris ist nicht unter den Soldaten, aber Stepan. Als er Veronika erblickt, zeigt er ihr ein Foto von ihr, das ihm Boris vor dem verhängnisvollen Erkundungsgang ausgehändigt hat - für den Fall der Fälle. Ohne überflüssige Worte bestätigt er damit Boris' Tod. Jetzt erst akzeptiert Veronika die bittere Wahrheit. Während viele der Umstehenden Freudentränen vergießen, schluchzt sie vor Kummer. Stepan hat mittlerweile eine Lokomotive bestiegen und hält eine Rede: "[...] aber wir werden die Gefallenen nie vergessen. Die Zeit wird vergehen. Alles wird neu aufgebaut. Unsere Wunden werden geheilt. Aber der Hass gegen den Krieg wird ewig glühen! Wir empfinden tiefes Beileid für diejenigen, die ihre Angehörigen nie mehr treffen werden. Und wir werden alles tun, damit die Bräute ihre Bräutigame nie verlieren, damit die Mütter um das Leben ihrer Kinder nie zittern, damit die mutigen Väter nie heimlich weinen müssen. Wir haben gesiegt, nicht um alles zu zerstören, sondern um aufzubauen!" Während Stepan Applaus erntet, hellt sich Veronikas Miene auf. Sie hat Stepan aufmerksam zugehört und nimmt seine Worte zum Anlass, ihren Frieden mit der Vergangenheit zu machen und in die Zukunft zu blicken. Sie verteilt ihre Blumen an Passanten und lächelt, zum ersten Mal seit langer Zeit. Dann geht sie mit Fjodor Iwanowitsch nach Hause. Und über den Himmel zieht wieder ein Schwarm Kraniche.


WENN DIE KRANICHE ZIEHEN ist ein erfreulich unideologischer Film. Weder antideutsche noch kommunistische Propaganda spielt eine Rolle. Wenn der Film überhaupt eine politische Botschaft hat, dann ist es die pazifistische aus Stepans Ansprache. Aber die eigentliche Botschaft ist eine menschliche: Einerseits davon, welches Leid der Krieg auch und gerade bei den Zivilisten anrichtet, aber andererseits auch davon, dass das Leben weitergeht, egal was passiert.


Michail Kalatosow wurde 1903 als Michail Kalatosischwili in Tbilisi (Tiflis) in Georgien geboren. 1925 wurde er Schauspieler, kurz darauf Kameramann, und ab 1927 arbeitete er als Regisseur von formal anspruchsvollen Dokumentarfilmen, mit denen er sich in die Tradition Dsiga Wertows stellte. Das bekannteste dieser frühen Werke ist SOL SWANETIJ (DAS SALZ SWANETIENS) von 1930, ein ethnographisch angehauchter Film über die Bewohner einer abgelegenen Berggegend Georgiens. In seinen Frühwerken erschien Kalatosow unter seinem richtigen Namen in den Credits, aber berühmt wurde er erst unter der russischen Namensform, die ich deshalb hier bevorzuge. Obwohl Kalatosow eigentlich linientreuer Kommunist war, erregte DAS SALZ SWANETIENS bei den stalinistischen Kulturbürokraten wegen seiner formalen Gestaltung bereits erhebliches Stirnrunzeln. Sein nächster Film mit dem Titel LURSMANI CHEQMASHI (1931) wurde dann wegen "Negativismus" verboten, und Kalatosow durfte mehrere Jahre keinen Film mehr drehen. Stattdessen wurde er dazu verdonnert, in der georgischen Filmindustrie administrative Aufgaben wahrzunehmen. Ab 1939 durfte er dann wieder drehen, daneben war er weiterhin in der Verwaltung tätig. Gegen Ende des 2. Weltkriegs war er als sowjetischer Kulturattaché in Los Angeles. Ich nehme an, dass er die Gelegenheit genutzt hat, um sich über die Verhältnisse in Hollywood zu informieren. Nach dem Krieg gab es in seinem Werk erneut eine mehrjährige Pause. In dieser Zeit war er wieder führend in der sowjetischen Filmverwaltung tätig, 1945/46 sogar als stellvertretender Minister. Ab 1950 kehrte Kalatosow dann neuerlich auf den Regiestuhl zurück. WENN DIE KRANICHE ZIEHEN war der fünfte Film seit dem Wiedereinstieg von 1950, und er wurde ein überragender Erfolg. Und das nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch im westlichen Ausland. Als Krönung errang WENN DIE KRANICHE ZIEHEN beim Filmfestival in Cannes 1958 die Goldene Palme. Kalatosow war ein berühmter Mann.


Der Erfolg verdankte sich vor allem zwei Faktoren: Erstens der Leistung der Hauptdarsteller, zweitens der herausragenden Kameraarbeit von Sergej Urussewski. Alexej Batalow und insbesondere Tatjana Samoilowa spielen ungemein lebhaft und ausdrucksstark und lassen beim Zuschauer vom ersten Moment an eine emotionale Bindung an die Protagonisten entstehen. Die damaligen Jungstars - Samoilowa spielte in den KRANICHEN erst ihre zweite Filmrolle - ernteten weltweit begeisterte Kritiken. Aber auch die Nebenrollen sind vorzüglich besetzt. Vor allem Wassili Merkurjew erfüllt seinen Fjodor Iwanowitsch mit Leben und lässt ihn "menscheln". Das Ensemble insgesamt schafft es mühelos, den Zuseher an der Geschichte teilhaben zu lassen. Das gilt natürlich in besonderem Maße für das damalige sowjetische Publikum, das die Zeit des Krieges noch aus eigener Erinnerung kannte, und das damals wohl zum ersten Mal eine ungeschminkte, realistische Darstellung der Leiden zu sehen bekam, frei von den offiziellen Parolen über Heldentum und Opfermut. Entsprechend oft sollen damals in den sowjetischen Kinos die Taschentücher gezückt worden sein.


Aus der heutigen zeitlichen Distanz betrachtet, ist jedoch die brillante optische Gestaltung das herausragende Merkmal von WENN DIE KRANICHE ZIEHEN. Das wird übrigens auch von Alexej Batalow so gesehen, wie er in einem zehnminütigem Video-Statement, das sich als Bonusmaterial auf einer DVD des Films befindet, neidlos anerkennt. Kalatosow und Sergej Urussewski hatten 1955 erstmals zusammengearbeitet, WENN DIE KRANICHE ZIEHEN war der zweite von insgesamt vier gemeinsamen Filmen. Die beiden hatten eine ungeschriebene Übereinkunft, die ihnen ein gegenseitiges Vetorecht einräumte: Keiner der beiden würde in seinem Bereich etwas durchsetzen, was dem anderen nicht gefiel. Aber die beiden lagen in künstlerischer Hinsicht ohnehin auf einer Wellenlänge, wie Batalow im erwähnten Statement erzählt. Er bezeichnet es als einen Glücksfall, dass sich die beiden gefunden hatten. Urussewskis Spezialität waren lange, dynamische Kamerafahrten, die die Protagonisten bei ihren Aktionen begleiten und so eine "mitfühlende" Kamera schaffen. Der Effekt ist gelegentlich dem einer subjektiven Kamera ähnlich, bei der das Geschehen aus der Sicht des Handelnden gezeigt wird, ohne dass dieser selbst zu sehen ist. Doch Urussewskis Technik ist weit virtuoser und auch subtiler als die eher einfache subjektive Kamera. Er hat seine Rolle in diesen Sequenzen einmal so beschrieben: "Die Kamera kann ausdrücken, was der Schauspieler nicht zu porträtieren in der Lage ist: seine inneren Empfindungen. Der Kameramann muss mit den Schauspielern mitspielen." Diese dynamischen Kamerafahrten wurden zum größten Teil mit Handkameras gedreht. Urussewski hatte während des Krieges zwei Jahre als Kameramann beim Militär gedient und dort seine Vorliebe und seine Fertigkeit für die Handkamera entwickelt. Die Sequenzen sind auch in der größten Hektik stets so flüssig gedreht, als hätte Urussewski eine moderne Steadicam zur Verfügung gehabt - doch die wurde erst viele Jahre später erfunden.


Neben den Kamerafahrten kamen weitere Stilmittel wie etwa mehrfache Überblendungen zum Einsatz, und auch der Schnitt ist stellenweise virtuos und erinnert an die glorreichen Tage des russischen Stummfilms. Alle diese optischen Finessen werden jedoch keineswegs als selbstzweckhafte Gimmicks eingesetzt, sondern sie dienen der Geschichte. Insbesondere korrespondieren die virtuosesten Szenen jeweils mit der aufgewühlten Seelenlage der Protagonisten. Das möchte ich an den markantesten Beispielen verdeutlichen. Schon ziemlich am Anfang des Films gibt es eine Szene in dem Wohnhaus, in dem sich ganz oben die Wohnung von Veronika und ihren Eltern befindet: Veronika steht oben im Treppenhaus und Boris rennt hinauf, um den Termin ihres nächsten Rendezvous zu vereinbaren. Dabei folgt die Kamera Boris in der lichten Öffnung des Treppenhauses, immer auf gleicher Höhe mit ihm, und schraubt sich sozusagen spiralförmig in die Höhe. Doch diese an sich schon eindrucksvolle Szene ist nur eine Generalprobe für eine Wiederholung unter ungleich dramatischerem Vorzeichen. Als nämlich Veronika nach dem Bombenangriff, der ihre Eltern das Leben kostet, zum Wohnhaus zurückkommt, hetzt sie, von den schlimmsten Befürchtungen getrieben, durch die noch brennenden Ruinen und im Treppenhaus nach oben. Nur - außer dem Treppenhaus steht von dem Haus kaum noch etwas, man sieht durch riesige Löcher in den Mauern auf die Straße. Ohne darauf zu achten, dass sie sich selbst in Lebensgefahr begibt, rennt Veronika auf den Stufen nach oben, von der Kamera begleitet. Erst als sie, oben angekommen, feststellt, dass von der elterlichen Wohnung buchstäblich nichts mehr übrig ist, bleibt sie wie angewurzelt stehen. Eine Szene, die einem den Atem stocken lässt.


Am Tag von Boris' Abfahrt setzt Veronika alles daran, ihn noch einmal zu sehen, um sich zu verabschieden. Sie fährt zunächst mit einem Bus in die Nähe der Wohnung der Borosdins, steigt aus, rennt durch eine Menschenmenge und dann über eine Straße, über die gerade ein Panzerkonvoi rollt. Dabei folgt ihr die Kamera ohne Schnitt aus dem Bus heraus, durch die Menge - schnell, aber ohne störende Wackler, und immer auf Tuchfühlung mit ihr -, um in dem Moment, als sie die Straße mit den Panzern überquert, unversehens in einige Meter Höhe emporzusteigen und Veronika und die Panzer aus der Vogelperspektive zu zeigen. Nachdem Veronika Boris in der Wohnung verfehlt hat, eilt sie zum Abmarschplatz der Soldaten, wo im allgemeinen Trubel die Szene eine noch dynamischere Fortsetzung findet. Auch der nächtliche Bombenangriff, den Mark nutzt, um Veronika zu verführen, ist eindrucksvoll in Szene gesetzt. Durch einen Bombentreffer irgendwo in der Nachbarschaft fällt das Licht aus, und die Wohnung wird nur noch durch die Explosionsblitze erleuchtet, was eine stroboskopartige Beleuchtung und dadurch eine fast expressionistische Stimmung erzeugt. Auch die akustische Gestaltung dieser Szene ist außergewöhnlich: Marks Klavierspiel wird mit dem Heulen der Luftschutzsirenen und dem Krachen der einschlagenden Bomben kombiniert, was für eine ziemlich infernalische Soundkulisse sorgt.


Ein optischer Höhepunkt ganz besonderer Art ist Boris' Sterbeszene. Er wird in den Rücken getroffen, und während er langsam zusammenbricht, beginnen sich die Baumkronen über ihm zu drehen. Zugleich ziehen Szenen seines Lebens an ihm vorbei: Zunächst sein vorhin erwähnter Lauf im Treppenhaus empor, doch dann eine Szene seines Lebens, nicht wie es war, sondern wie es hätte sein können - nämlich seine Hochzeit mit Veronika, die sie sich gemeinsam ausgemalt hatten, und die nie stattfand. In einer mehrfachen Überblendung der sich drehenden realen Baumkronen und der halluzinierten fröhlichen Hochzeitsgäste und vom herumwirbelnden weißen Schleier von Veronikas Brautkleid steigert sich die Szene zu einem wahren optischen Crescendo, das man gesehen haben muss. Auch Veronikas Beinahe-Selbstmord ist außergewöhnlich virtuos inszeniert. Sie rennt wie von Furien gehetzt zu der Brücke, dabei wird sie teilweise durch die Latten eines Zaunes gefilmt, teilweise (während des Laufs!) in extremer Großaufnahme von vorn, und einige bis zur Abstraktion verfremdete schnelle Zwischenschnitte auf die Umgebung verstärken noch die Dynamik der Situation. In ihrer Gesamtheit erscheint die Szene so rasant und dramatisch, dass sie einem Eisenstein alle Ehre gemacht hätte, und sie visualisiert perfekt Veronikas desolate psychische Verfassung in diesem Moment. Das letzte Beispiel ist auch die letzte Szene des Films, die Heimkehr der Soldaten am Moskauer Bahnhof. Während sich Veronika in der verzweifelten Hoffnung, Boris doch noch wiederzusehen, in angstvoller Eile durch eine riesige wogende Menschenmasse kämpft, folgt ihr die Kamera durch all die Menschen so mühelos, als besäße Urussewski die Fähigkeit, herumstehende Passanten zu durchdringen, als seien sie gar nicht da. In ihren gemeinsamen Filmen erwiesen sich Kalatosow und Urussewski als Dreamteam der entfesselten Kamera.


WENN DIE KRANICHE ZIEHEN ist in diversen Ausgaben auf DVD erschienen.

Donnerstag, 13. Oktober 2011

L'ATALANTE - wie man einen Film versenkt

Dies ist die überarbeitete Version eines Artikels, den ich 2005 im Usenet (ohne Screenshots) und 2006 als PDF in der Filmzentrale (mit wesentlich mehr Screenshots als hier) veröffentlichte.

ATALANTE (L'ATALANTE) Frankreich 1934 Regie: Jean Vigo Darsteller: Michel Simon (Père Jules), Dita Parlo (Juliette), Jean Dasté (Jean)

Wenn man einen Quotienten bildet aus filmgeschichtlicher Bedeutung und Anzahl an gedrehten Filmen, dann dürfte Jean Vigo auf dieser Skala ziemlich weit vorn liegen. Obwohl er aufgrund seines frühen Todes mit 29 Jahren nur vier Filme hinterlassen hat, davon nur einen in Spielfilmlänge, gehört er zu den Großen des französischen Films.


Frankreich, irgendwo auf dem platten Land, in den frühen 30er Jahren. In einem kleinen Ort hat gerade eine Hochzeit stattgefunden. Die Hochzeitsgesellschaft verlässt die Kirche und zieht nicht etwa in den Dorfgasthof, sondern zu einem Lastkahn, um das frischvermählte Paar zu verabschieden. Jean, der von auswärts stammende Bräutigam, ist der Kapitän des Schiffes mit dem klangvollen Namen "L'Atalante", das die Seine, ihre Nebenflüsse und Seitenkanäle befährt. (Atalante ist übrigens eine amazonenhafte Jägerin aus der griechischen Mythologie.) Juliette, die Braut, hat das Dorf noch nie verlassen und wird fortan mit Jean auf der L'Atalante leben. Ebenfalls an Bord sind der kauzige Maat Jules, genannt Père Jules (Papa Jules), ein halbwüchsiger Schiffsjunge, dessen Namen man nicht erfährt, sowie ungefähr ein Dutzend Katzen, um die sich Père Jules kümmert. Juliette bringt zunächst frischen Wind in das Leben an Bord, aber bald ist sie von der Eintönigkeit des Tagesablaufs und von den beengten Platzverhältnissen genervt. Einzige Abwechslung ist das Radio, und als sie zum ersten Mal den Sender Paris empfängt, kann Juliette es kaum abwarten, dort einzutreffen, um bei einem Landgang die Metropole kennenzulernen. Doch es kommt anders. Als sie endlich in Paris sind, macht sich Père Jules davon, um eine "Konsultation" einzuholen, wie er sich ausdrückt. Solange er weg ist, können Jean und Juliette das Schiff nicht allein lassen. Wie sich herausstellt, konsultiert Père Jules nicht etwa einen Arzt oder einen Anwalt, sondern eine Wahrsagerin. Nachdem sie ihm aus der Hand gelesen hat, bietet ihm die rustikale Dame die "volle Behandlung" - ein eindeutig erotisches Angebot, das Père Jules nicht ausschlägt. Anschließend sucht er eine Bar auf - wo er einen Schalltrichter für sein defektes Grammophon mitgehen lässt -, und als er schließlich mitten in der Nacht stockbesoffen und grölend zurückkommt, ist für Jean und Juliette an einen Landgang nicht mehr zu denken, und am nächsten Tag ist keine Zeit mehr, weil das Schiff weiter muss. Juliette ist jetzt langsam frustriert.


Nächster Halt ist ein Vorort von Paris, wo Jean und Juliette ein Tanzlokal aufsuchen. Ein fahrender Händler will Juliette ein Tuch aufschwatzen und macht ihr schöne Augen. Der Luftikus unterhält die Gäste des Lokals mit Taschenspielertricks und einer Gesangseinlage, und er erzählt Juliette von den Verlockungen von Paris. Jean wird eifersüchtig, und es kommt fast zur Schlägerei. Zwischen den Eheleuten herrscht jetzt dicke Luft. Juliette will es nun wissen: Sie schleicht sich davon und fährt mit der Straßenbahn allein nach Paris. Jean ist eingeschnappt und befiehlt, nicht auf ihre Rückkehr zu warten, sondern sofort abzulegen. Als Juliette nach einem ausgiebigen Schaufensterbummel zurückkehrt und die L'Atalante verschwunden ist, ist sie ratlos. Sie kennt niemanden, hat wenig Geld und keine Ortskenntnisse. Schnell lernt sie die Schattenseiten von Paris kennen. Ein schmächtiger, armselig und hungrig wirkender Taschendieb entreißt ihr ihre Handtasche, doch er wird von einer richtigen Meute Passanten gestellt und übel verprügelt, bevor die Polizei ihn abführt. Man bekommt regelrecht Mitleid mit dem armen Wicht. Auf den Straßen begegnet Juliette einem ganzen Heer von Arbeitssuchenden, die von der Polizei mißtrauisch beäugt werden, und sie wird von Männern mit eindeutigen Absichten angesprochen. Traurig und ratlos, nimmt sie am Ende eines zermürbenden Tages ein Zimmer in einer billigen Absteige. Die nächste Zeit verbringt sie damit, auf Brücken nach der L'Atalante Ausschau zu halten.


Unterdessen hat Jean seinen Entschluß längst bitter bereut. Er sehnt sich nach Juliette, aber er sitzt nur apathisch da und ist unfähig, etwas zu unternehmen. Es hat sich herumgesprochen, dass Jean seine Pflichten als Skipper vernachlässigt, und in Le Havre werden er und Père Jules ins Büro der Reederei zitiert. Père Jules kann die Sache noch mal geradebiegen, aber er beschließt, dass jetzt etwas geschehen muss. Und das kann nur heißen: Juliette muss wieder her. Da Jean weiterhin nur herumsitzt, macht sich Père Jules auf, um Juliette zu suchen. Das aussichtslos scheinende gelingt: In einem Laden, wo man für ein paar Münzen in einer Art Jukebox Musik nach Wahl abspielen kann, wählt Juliette ein Lied, das sie und Jean gemeinsam auf der L'Atalante gesungen hatten. Père Jules kommt zufällig an dem Laden vorbei, hört das Lied, geht hinein und findet Juliette. Nachdem der Schiffsjunge die Rückkehr von Père Jules und Juliette angekündigt hat, wirft sich Jean in Schale, und als Juliette endlich wieder an Bord ist, fallen sich die beiden wortlos in die Arme. Eine Luftaufnahme der auf dem Fluss dahinziehenden L'Atalante ist die letzte Einstellung des Films.


Wie man sieht, ist der Kern der Handlung schnell erzählt. Ein großer Teil der Szenen dient nicht dazu, die Handlung voranzutreiben, sondern mit vielen überraschenden Wendungen im Kleinen eine Atmosphäre der Frische und Spontaneität zu erschaffen. Und das gelingt Vigo und den Schauspielern in einer Weise, die auch heute noch überzeugen kann. Ich erwähne die Schauspieler bewusst, denn Vigo hat seine Darsteller geradezu zum Improvisieren aufgefordert. Das kam besonders Michel Simon entgegen. Simon ist ein Naturereignis. Wie er mit exzessiver Körpersprache, mit seiner rauen, krächzenden Stimme, und mit ausgelassener Spielfreude eine entfesselte, geradezu anarchische Performance hinlegt, das muss man gesehen haben! Michel Simon wurde 1895 in Genf als Sohn eines Metzgers geboren. 1914 wurde er zur Schweizer Armee eingezogen, aber wegen Aufsässigkeit und schlechter Gesundheit (er war an Tuberkulose erkrankt) bald wieder entlassen. Früh schon wollte er Schauspieler werden. Er versuchte sich als Artist in Varietés, als Boxer, Fotograf und in diversen anderen Gelegenheitsjobs. 1920 debütierte er auf Genfer Bühnen, bald darauf in Paris, gefördert von den französischen Theaterlegenden Louis Jouvet und Georges Pitoëff. Ab 1924 spielte er auch kleinere Rollen in Stummfilmen. Es wird gern behauptet, dass Simon eine Hauptrolle in Carl Theodor Dreyers LA PASSION DE JEANNE D'ARC von 1928 spielte, aber das beruht auf einem Irrtum späterer Restauratoren von Dreyers seinerzeit verstümmeltem Film. In Wirklichkeit ist Simon in diesem Meisterwerk nur in zwei winzigen Einstellungen von zwei oder drei Sekunden Dauer zu sehen.


Sein tatsächlicher Durchbruch beim Film kam 1931 mit der Hauptrolle in Jean Renoirs LA CHIENNE (DIE HÜNDIN), gefolgt von weiteren Filmen Renoirs wie BOUDU SAUVÉ DES EAUX (BOUDU - AUS DEN WASSERN GERETTET). Als er die Rolle in L'ATALANTE übernahm, war er bereits ein bekannter Mann, und im Verlauf der 30er Jahre wurde er zu einem der beliebtesten Stars des französischen Kinos, der in Dramen wie LA CHIENNE oder Marcel Carnés QUAI DES BRUMES (HAFEN IM NEBEL) ebenso überzeugen konnte wie in Komödien, etwa Carnés DRÔLE DE DRAME (EIN SONDERBARER FALL) an der Seite von Jouvet. Später wurde er zwar von anderen Stars, wie etwa Jean Gabin, an Popularität überflügelt, aber er blieb für Jahrzehnte ein gefragter Charakterdarsteller. Bemerkenswert sind etwa seine Rollen in René Clairs LA BEAUTÉ DU DIABLE (DER PAKT MIT DEM TEUFEL) oder Sacha Guitrys LA POISON (DAS SCHEUSAL). Dem deutschsprachigen Publikum dürfte er vor allem an der Seite von Heinz Rühmann in ES GESCHAH AM HELLICHTEN TAG in Erinnerung sein, wo er einen des Mordes verdächtigten Landstreicher spielt. Simon spielte nicht nur oft sonderbare Figuren, er war auch selbst ein ausgesprochen exzentrischer Charakter. In jungen Jahren entwickelte er anarchistische Ideen, teilweise vermengt mit rechtem Gedankengut. Sein Lebensstil entsprach seiner Persönlichkeit. In seinen wilden Jahren in Paris soll er einige Zeit in einem Bordell gelebt haben. Später entwickelte er sich zu einem Einzelgänger, aber er war ein ausgesprochener Tierfreund. Auf seinem Landsitz in der Nähe von Paris beherbergte er nicht nur viele Hunde, Katzen und Vögel, sondern auch mehrere Affen. Im besetzten Frankreich war er ins Visier der Gestapo geraten, weil man ihn für einen Juden hielt, aber nach dem Ende des 2. Weltkriegs beschuldigte man ihn, ein Kollaborateur gewesen zu sein, weil er in einigen Filmen mitgespielt hatte, die die Zustimmung der Nazis fanden. Zeitweilig soll er Leibwächter benötigt haben, um sich vor den Anfeindungen zu schützen. 1957 wurde Simons Karriere beinahe beendet. Bei den Dreharbeiten zu UN CERTAIN MONSIEUR JO benutzte er Schminke, die mit einer giftigen Chemikalie verunreinigt war. Er erlitt eine Gesichts- und Körperlähmung und benötigte fast zwei Jahre und viel Disziplin, um wieder drehen zu können, doch danach konnte er seine Karriere bis ins hohe Alter fortsetzen. Michel Simon starb 1975 in der Nähe von Paris.


Simon liebte es, zu improvisieren, und er hasste es, lange zu proben und eine Szene mehrmals zu wiederholen. "Das zweite Mal ist bereits eine Lüge", sagte er in einem Interview. Es liegt auf der Hand, dass er mit dieser Einstellung oft auf wenig Gegenliebe stieß. Nur wenige Regisseure ließen ihm freien Lauf, und im erwähnten Interview nennt er als Beispiele Renoir, Guitry, und eben Vigo. (Was Renoir betrifft, so empfehle ich den schon genannten BOUDU SAUVÉ DES EAUX von 1932. Es handelt sich um das Original zum Hollywood-Remake DOWN AND OUT IN BEVERLY HILLS (ZOFF IN BEVERLY HILLS) mit Nick Nolte, Richard Dreyfuss und Bette Midler und zum erneuten Remake mit Gérard Depardieu. In dieser Satire auf bürgerliche Wert- und Moralvorstellungen liefert Simon als Boudu eine ebenso unberechenbare, anarchische Vorstellung wie in L'ATALANTE.) Nicht nur Vigos lockerer Inszenierungsstil, sondern auch das Drehbuch ließ Simon viel Raum zur Entfaltung. Dieser Père Jules ist schon ein Original der besonderen Art. Er überrascht seine Freunde, insbesondere Juliette (und damit den Zuseher), immer wieder aufs neue. Mit seinem tätowierten Oberkörper (in einer Szene steckt er sich vor Juliette eine Zigarette in den Bauchnabel, der den Mund eines tätowierten Gesichts bildet), mit einer improvisierten Ringer-Trockenübung ohne Partner (im griechisch-römischen Stil, wie er anmerkt) auf dem Deck der L'Atalante, mit brachialen Gesangseinlagen, mit frivolen Bemerkungen und immer wieder mit unerwarteten Aktionen und Dialogen sorgt er für ein permanentes Moment der Unberechenbarkeit. Seine Kajüte auf der L'Atalante ist ein Mikrokosmos für sich, vollgestopft mit Krempel und Souvenirs aller Art. Höhepunkt des Sammelsuriums ist ein Einmachglas mit zwei abgetrennten menschlichen Händen (die übrigens echte Präparate waren). Sie gehörten einst einem verstorbenen Freund von ihm - "sie sind alles, was mir von ihm geblieben ist", erklärt er der konsternierten Juliette.


Juliettes Darstellerin Dita Parlo wurde 1906 als Grethe Gerda Kornstädt in Stettin geboren. Nach einer Ausbildung als Balletttänzerin besuchte sie die Filmschule in Babelsberg. 1928 gab sie ihr Filmdebüt, und sie war bald erfolgreich. Zunächst spielte sie in deutschen Filmen, 1930 erstmals auch in einem französischen. Im selben Jahr versuchte sie ihr Glück in Hollywood. Sie spielte zwei Rollen in unbedeutenden Originalfilmen, außerdem einige Rollen in deutschsprachigen Alternativversionen englischsprachiger Produktionen. Als der Erfolg ausblieb, gab sie 1933 die Hollywoodpläne auf und kehrte nach Europa zurück. Sie heiratete einen Franzosen und lebte und drehte fortan in Frankreich. Zweiter Höhepunkt ihrer Karriere nach L'Atalante war Jean Renoirs LA GRANDE ILLUSION (DIE GROSSE ILLUSION) von 1937. Darin spielt sie die deutsche Witwe Elsa, die den von Jean Gabin und Marcel Dalio gespielten französischen Flüchtlingen Unterschlupf gewährt und ihnen zur endgültigen Flucht verhilft. Beim Ausbruch des 2. Weltkriegs wurde Parlo von den Franzosen zwangsweise nach Deutschland zurückgeschickt, was ihre Laufbahn abrupt beendete. Nach dem Krieg arbeitete sie als Schriftstellerin, nur 1950 und 1965 kehrte sie noch zweimal auf die Leinwand zurück. Dita Parlo starb 1971 in Paris. Jean Dasté schließlich, 1904 in Paris geboren, war Schüler und Schwiegersohn des Theaterdirektors Jacques Copeau. Er gab sein Filmdebüt mit einer Nebenrolle in Renoirs BOUDU, und sein zweiter Film ZÉRO DE CONDUITE war zugleich der dritte von Vigo, mit dem sich Dasté befreundete. L'ATALANTE war bereits der Höhepunkt seiner Filmkarriere. Bis 1945 spielte er in zwölf weiteren Filmen, darunter drei von Renoir, aber fast nur noch Nebenrollen. Sein Schwerpunkt lag ohnehin bei der Arbeit am Theater, wo er auch Regie führte und ab 1947 ein eigenes Haus in Saint-Étienne führte. Bis 1963 zog er sich völlig vom Filmgeschäft zurück, dann holte ihn Alain Resnais auf die Leinwand zurück. Dastés zweite Film- und Fernseh-Karriere dauerte bis ins hohe Alter von 85 Jahren und erbrachte rund 30 weitere Filme, darunter insgesamt vier von Resnais, drei von François Truffaut (der Vigo sehr schätzte), und Z von Costa-Gavras, aber wiederum nur Nebenrollen. Sein Hauptbetätigungsfeld blieb die Bühne, und als er 1994 in Saint-Étienne starb, wurde dort ein Theater nach ihm benannt.


Neben dem Element des Unberechenbaren wird L'Atalante noch von einem ganz anderen Stilmittel geprägt, nämlich dem für das französische Kino der 30er Jahre typischen Poetischen Realismus. Die Flusslandschaft, die Hafen- und Industrieanlagen, die L'Atalante selbst sind realistisch in Szene gesetzt und doch immer mit einem Hauch Poesie versehen. Nie wirkt ein Schauplatz trostlos oder menschenfeindlich, manche Bilder erzeugen gar den Eindruck einer leicht surreal angehauchten Traumlandschaft. Das ist vor allem das Verdienst des Haupt-Kameramannes Boris Kaufman. Kaufman wurde 1897 als Sohn einer russisch-jüdischen Familie in Bialystok geboren, das damals zum Zarenreich gehörte und heute zu Polen. Er war der jüngere Bruder des russischen Avantgarde-Regisseurs Dsiga Wertow (bürgerlich Denis Kaufman), und von Michail Kaufman, der als Kameramann bis 1930 eng mit Wertow zusammenarbeitete, bis sie sich verkrachten. Boris wurde ebenfalls Kameramann, aber er ging früh eigene Wege. Schon 1917 schickten ihn seine Eltern nach Frankreich, um ihn den Unwägbarkeiten der Revolutionswirren zu entziehen. Nach einem Studium an der Sorbonne und Reisen durch Deutschland und Belgien ließ er sich 1927 endgültig in Frankreich nieder. Nachdem er 1927/28 bei vier kurzen Dokumentar- und Experimentalfilmen, darunter einen in eigener Regie, die Kamera führte, traf er 1929 Jean Vigo. Die beiden verstanden sich prächtig, und Kaufman filmte alle vier Filme Vigos, die ersten drei alleine, L'ATALANTE mit Louis Berger und Jean-Paul Alphen als Verstärkung, die ihm aber eindeutig untergeordnet waren.


Nach Vigos Tod 1934 drehte Kaufman mit Regisseuren wie Christian-Jaque, Marc Allégret und Abel Gance, sowie vier Filme mit dem heute eher vergessenen Léo Joannon. Beim Ausbruch des 2. Weltkriegs diente er in der französischen Armee; nach der Niederlage und Besetzung Frankreichs emigrierte er in die USA. Kaufman hätte gern in Hollywood gearbeitet, aber die dortigen Gewerkschaftsbestimmungen verhinderten das zunächst. So blieb er in New York, wo er die Bekanntschaft mit Avantgardisten wie Maya Deren und Jonas Mekas pflegte. Er lebte einige Jahre von Dokumentarfilmen, etwa einer Folge der vom amerikanischen Office of War Information (OWI) produzierten Propaganda-Serie WHY WE FIGHT, dem ebenfalls vom OWI produzierten HYMN OF THE NATIONS über Arturo Toscanini, sowie einigen Arbeiten im Auftrag des National Film Board of Canada, das unter der Leitung des emigrierten britischen Dokumentar-Pioniers John Grierson stand. Einige dieser Filme hatten den in Linz geborenen Alexander Hammid als Regisseur, damals Ehemann von Maya Deren. Ebenfalls mit Hammid drehte Kaufman 1951 THE GENTLEMAN IN ROOM 6, einen kurzen Experimentalfilm mit subjektiver Kamera. Letztlich zog es Kaufman aber doch noch nach Hollywood, wo er endlich eine Arbeitserlaubnis bekam. Er bewarb sich bei Elia Kazan für ON THE WATERFRONT (DIE FAUST IM NACKEN) und wurde prompt engagiert. Der Film geriet zum Klassiker, und unter den acht Oscars dafür ging einer auch an Kaufman für die beste Schwarzweiß-Kamera, und als Zugabe gab es auch noch einen Golden Globe. Nach diesem perfekten Einstand war Kaufman ein gefragter Mann für hochwertige Scharzweiß-Fotografie. Er drehte u.a. nochmals mit Kazan (Oscar-Nominierung für Kaufman für BABY DOLL), mit Martin Ritt, Jules Dassin und Otto Preminger. Insbesondere aber wurde Kaufman der Leib- und Magen-Kameramann von Sidney Lumet, für den er siebenmal filmte, u.a. Lumets Einstand 12 ANGRY MEN, THE FUGITIVE KIND und den brillanten THE PAWNBROKER. Kaufman zog sich 1970 zurück und starb 1980 in New York.


In L'ATALANTE gelingen Kaufman Einstellungen von magischer Schönheit. Etwa eine Szene, in der Juliette in der Abenddämmerung in ihrem weißen Brautkleid über das Deck der L'Atalante schreitet. Das Kleid hebt sich so hell leuchtend vom dunklen Hintergrund ab, dass Juliette fast ätherisch wie eine Fee wirkt. In einer Szene hat Juliette Jean weisgemacht, dass man den Geliebten sieht, wenn man den Kopf unter Wasser hält und dabei die Augen öffnet, was Jean gleich an einem Eimer Wasser ausprobiert. Als nun Juliette weg ist und sich Jean hilflos nach ihr sehnt, erinnert er sich daran - und macht einer spontanen Eingebung folgend in voller Kleidung einen Kopfsprung in die Seine. Und tatsächlich glaubt er unter Wasser, sie zu sehen. Juliette, wieder im Brautkleid, wirkt in dieser surrealen Szene wie ein im Wasser schwebendes überirdisches Wesen. (Es erforderte übrigens viel Mut von Jean Dasté, sich bei den winterlichen Dreharbeiten in die eiskalte Seine zu stürzen.) Ein besonderes Kunststück vollbringen Vigo und Kaufman mit einer Szene, in der gleichzeitig Juliette im Bett in ihrem Hotelzimmer und Jean in seiner Koje auf der L'Atalante liegen. Beide sind einsam, beide sehnen sich nach dem jeweils anderen, und beide werden offensichtlich gleichzeitig von erotischen Anwandlungen überfallen und wälzen sich entsprechend hin und her. Durch eine mehrfache Überblendung der beiden wird der erstaunliche Eindruck einer Liebesszene auf Entfernung erweckt.


Neben Kaufmans Kameraführung ist auch die schlichte, aber stimmungs- und wirkungsvolle Musik von Maurice Jaubert für den poetischen Eindruck mit verantwortlich. Manchmal erinnert sie mich an Stücke, die Nino Rota für Filme von Fellini geschrieben hat. Jaubert, der schon für Vigos ZÉRO DE CONDUITE die Musik geschrieben hatte und später vor allem für Carné arbeitete, fiel 1940 40-jährig an der Front in Frankreich. In späteren Jahren hat Truffaut die Erinnerung an ihn hochgehalten, indem er von Jaubert geschriebene Stücke (darunter auch aus L'ATALANTE) in vier seiner Filme verwendete. Und in Truffauts LA CHAMBRE VERTE (DAS GRÜNE ZIMMER) von 1978 gibt es einen Raum, in dem Fotos und Memorabilien Verstorbener aufbewahrt werden. In Wirklichkeit zeigen die Fotos Personen, die in Truffauts Leben oder Werk eine Rolle spielten, und eines davon ist ein Porträt von Jaubert. Truffaut hielt nicht nur Jaubert, sondern vor allem auch Vigo in Ehren, und da war er nicht der einzige seiner und späterer Generationen von französischen Regisseuren. Gerade die Vertreter der Nouvelle Vague betrachteten Vigo neben der großen Lichtgestalt Jean Renoir als einen der Helden der Vergangenheit, denen sie nacheiferten. Vigos geistige Unabhängigkeit, sein spontaner Inszenierungsstil, das Drehen an Originalschauplätzen und die seinerzeit wie heute überzeugende Frische des Ergebnisses lagen voll auf ihrer Wellenlänge.


Vigo wurde 1905 in einer Dachkammer, die ebenso von Katzen bevölkert war wie die L'Atalante, in Paris geboren. Sein Vater war ein seinerzeit prominenter Anarchist und Journalist, der eigentlich Eugène Bonaventure de Vigo hieß, aber unter dem Pseudonym Miguel Almereyda bekannt war. Als Herausgeber der militanten Zeitschrift Le Bonnet Rouge besaß er großen Einfluss auf linke Gruppierungen und Gewerkschaften. 1917, als Almereyda sich für Friedensverhandlungen mit Deutschland einsetzte und deshalb nationalistischen Kreisen ein Dorn im Auge war, wurde er unter dem Vorwand, ein deutscher Spion zu sein, inhaftiert. Wenig später starb er unter dubiosen Umständen im Gefängnis: Man fand ihn mit einem Schnürsenkel stranguliert am Bettgestell hängend. Wahrscheinlich wurde er ermordet, auch wenn Selbstmord nicht ganz ausgeschlossen werden kann. Der Tod seines Vaters traf den 12-jährigen Vigo natürlich tief. Es wird allgemein angenommen, dass Vigos ausgeprägte Freiheitsliebe und seine Abneigung gegen Autoritäten auf den direkten Einfluss seiner anarchistischen Eltern zurückgehen. Nach Almereydas Tod konnte Vigos Mutter nicht für seinen Lebensunterhalt aufkommen, außerdem war er in Paris als "Sohn des Spions" heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Deshalb lebte er mehrere Jahre unter falschem Namen bei Verwandten und in verschiedenen Internaten. Insbesondere verbrachte er vier Jahre in einem Internat in Millau in Südfrankreich. Vigo hasste das Leben im Internat mit seinen strengen Regeln und Ritualen. Ab 1922 lebte er wieder bei seiner Mutter und besuchte, wieder unter seinem richtigen Namen, die Sorbonne. Vigo litt schon als Kind unter einer schlechten Gesundheit, und als junger Mann erkrankte er an Tuberkulose. 1926 lernte er in einem Sanatorium Elisabeth Lozinska kennen, die Tochter eines polnischen Industriellen, die ebenfalls an einer angegriffenen Gesundheit litt. 1929 heiratete er Elisabeth, die er "Lydou" nannte. Vigos Schwiegervater überschüttete das Paar nicht gerade mit Geld, aber er spendierte doch einen gewissen Betrag, den Vigo nutzte, um sich eine Kameraausrüstung zu kaufen. In Nizza, wo das Paar wohnte, arbeitete er 1929 als Kameraassistent, z.B. bei VÉNUS von Louis Mercanton. Nebenbei machte er mit seiner eigenen Kamera Aufnahmen in Nizza für einen geplanten Dokumentarfilm über die Stadt.


Zu dieser Zeit lernte er Boris Kaufman kennen, und wie bereits erwähnt, verstanden sie sich auf Anhieb. Sie beschlossen, das Nizza-Projekt mit Kaufman an der Kamera ernsthaft in Angriff zu nehmen. Das Ergebnis mit dem Titel À RROPOS DE NICE (APROPOS NIZZA) ist ein satirischer Angriff auf die feine Gesellschaft von Nizza. Der ca. 25-minütige Stummfilm steht formal in der Tradition der Großstadt-Symphonien der 20er Jahre wie Alberto Cavalcantis RIEN QUE LES HEURES (NICHTS ALS STUNDEN) oder Walter Ruttmanns BERLIN: DIE SINFONIE DER GROSSTADT. Auch Kaufmans Brüder hatten mit MOSKAU und DER MANN MIT DER KAMERA zu diesem Genre beigetragen. Wie die Vorgänger bedienen sich Vigo und Kaufman origineller Bildmotive, ausgefallener Kamerapositionen und -winkel sowie einer dynamischen Montage. Die Schnitte sind allerdings nicht ganz so schnell wie bei den eigentlichen Großstadt-Symphonien. Die längeren Einstellungen geben aber Vigo die Gelegenheit, genauer hinzusehen, und davon macht er reichlich Gebrauch. In einer Abfolge von Gegenüberstellungen werden die mondänen Vergnügungen und der Müßiggang der High Society mit dem Leben der einfachen Leute kontrastiert, wobei er einerseits auch in die Hinterhöfe und Kloaken blickt und andererseits die Reichen durch eine Reihe von überraschenden Bildeinfällen deftig karikiert. Vigo macht also keinen Hehl daraus, dass seine Sympathie den kleinen Leuten gehört.


Als nächstes drehten Vigo und Kaufman als Auftragsarbeit einen zehnminütigen Dokumentarfilm (diesmal mit Ton) mit dem länglichen Titel NATATION PAR JEAN TARIS, CHAMPION DE FRANCE, auch als TARIS, ROI DE L'EAU bekannt. Der Inhalt ist schnell erzählt: Der seinerzeit sehr bekannte und erfolgreiche Schwimmer Jean Taris demonstriert in einem Sportbecken verschiedene Schwimmstile und spricht selbst einen Kommentar dazu. Das Thema war wohl schon damals nicht besonders aufregend und kann heute erst recht niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken, doch der Schwerpunkt des Films liegt ohnehin in der visuellen Gestaltung. Vor allem durch die geschickte Ausleuchtung werden sehr harte Kontraste erzeugt; grelle Lichtreflexionen auf der Wasseroberfläche, Spritzer und Luftblasen im aufgewühlten Wasser und damals innovative Unterwasseraufnahmen erzeugen einen eigentümlichen optischen Reiz, der dafür sorgt, dass man den Film auch heute noch ansehen kann, ohne sich zu langweilen. Vigo selbst verlor schnell das Interesse daran, nachdem er erst einmal fertiggestellt war. Das war beim nächsten Projekt ganz anders. ZÉRO DE CONDUITE (BETRAGEN UNGENÜGEND) von 1933 war ihm eine Herzensangelegenheit, denn darin verarbeitete er seine Internatserfahrungen zu einem surrealen Angriff auf die Autorität der Lehrer und sonstiger Honoratioren.


In einem Knabeninternat beginnt ein neues Schuljahr. Die Lehrer sind strenge und verknöcherte alte Herren, abgesehen vom neuen Lehrer Huguet (Jean Dasté), der mit den Kindern schon mal auf dem Schulhof Rugby spielt oder sie mit einer Chaplin-Einlage unterhält. Einmal macht er im Klassenzimmer einen Handstand und zeichnet dabei noch eine Comicfigur - die plötzlich für einige Sekunden wie in einem Zeichentrickfilm animiert wird. Ein weiteres Beispiel für Vigos unerwartete Einfälle. Ansonsten ist der Alltag der Schüler eher trist. Sie werden im Schlafsaal von einem unsympathischen Hausaufseher überwacht und bei Gelegenheit auch bestohlen; ein dicker Chemielehrer betatscht einen der Schüler; es gibt aus Kostengründen ständig nur Bohnen zu essen (auch in Vigos Internat in Millau gab es zwar nicht immer, aber doch ziemlich oft Bohnen, wie sich ein Schulfreund von ihm erinnerte). Die lächerlichste Figur im Internat ist der Direktor: Ein rauschebärtiger Zwerg, dem Disziplin und Ordnung über alles gehen. Und so braut sich etwas zusammen: Die Schüler planen eine Rebellion. An einem Gedenktag, zu dem sich der Direktor mit dem Gouverneur und weiteren Ehrengästen im Schulhof versammelt, verschanzen sich die Kinder auf dem Dachboden der Schule und bewerfen die ehrenwerte Versammlung unter Gejohle mit Büchern, Dosen, alten Schuhen und weiterem Gerümpel. Zuletzt erklimmen sie triumphierend den Dachfirst, wie um hinter dem Horizont in die Freiheit zu entschwinden.


Produzent von ZÉRO DE CONDUITE war ein Pferdezüchter namens Jacques-Louis Nounez. Er war mit der zeitgenössischen französischen Filmproduktion unzufrieden und beschloss, Geld in einen hoffnungsvollen Nachwuchsregisseur zu investieren, und so stieß er auf Vigo. Es wurde ein Vertrag über einen Film von rund 45 Minuten Dauer geschlossen, aber Vigos erste Fassung war deutlich länger und musste gekürzt werden. So kommt es, dass die Handlung nicht besonders stringent ist und einige Sprünge aufweist. Vigo und Kaufman legten viel mehr Gewicht auf eine Darstellung kindlicher Fantasiewelt durch teilweise surreale Bildgestaltung. Bestes Beispiel dafür ist eine Kissenschlacht. Sie beginnt zunächst in einem realistisch-dynamischen Stil, aber dann wirbeln Federn wie Flocken bei einem Schneesturm durch den Schlafsaal und es wird Zeitlupe eingesetzt, wodurch die Darstellung ins Unwirkliche kippt. ZÉRO DE CONDUITE war ein anarchischer Frontalangriff auf die Autoritäten und Stützen der Gesellschaft, und die reagierten heftig: Der Film wurde von der Zensur komplett verboten. Das Verbot wurde erst 1945 aufgehoben. Das wirft zwar kein gutes Licht auf die französische liberté, aber es hatte immerhin ein Gutes: Der Film wurde von den Scheren der Verleiher verschont. L'ATALANTE sollte es da ganz anders ergehen.


Produzent Nounez erlitt durch das Verbot einen hohen finanziellen Verlust, aber er hielt an Vigo fest. Doch erstens ging er zur Sicherheit eine Kooperation mit der Produktionsgesellschaft Gaumont-Franco Film-Aubert ein, und zweitens sollte es diesmal ein Stoff sein, der Vigo keine Gelegenheit zur Subversion und damit der Zensur keinen Anlass zum Einschreiten bieten sollte. Das Buch zu L'ATALANTE stammte ursprünglich von einem Jean Guinée, wurde aber von Vigo und Albert Riéra noch stark überarbeitet. Riéra, der auch einer der beiden Regieassistenten bei L'ATALANTE war, war ein Freund von Vigo, ebenso wie der zweite Regieassistent Pierre Merle. Überhaupt wirkten bei ZÉRO DE CONDUITE und L'ATALANTE neben professionellen Schauspielern und Technikern auch viele Freunde, Verwandte und Bekannte Vigos sowie Laiendarsteller mit. Die Jungen in ZÉRO DE CONDUITE wurden alle in der Nachbarschaft des Drehorts zusammengesucht und verbrachten für einige Wochen sozusagen einen Abenteuerurlaub bei den Dreharbeiten. Der mit Vigo befreundete belgische Dokumentarfilm-Regisseur Henri Storck ist in einer Nebenrolle als Priester zu sehen. In L'ATALANTE spielen neben Riéra auch das Brüderpaar Pierre und Jacques Prévert sowie Charles Goldblatt, der auch die Liedtexte schrieb. Alle gehörten zu Vigos Freundeskreis. Als für die Taschendieb-Szene Komparsen gebraucht wurden, war kein Geld für die Bezahlung übrig. Also sprangen Mitglieder eines linksgerichteten Theaterkollektivs unentgeltlich ein. Die Katzen auf der L'ATALANTE stammten übrigens auch nicht vom Tiertrainer, sondern wurden mit Zustimmung der Besitzer in der Umgebung zusammengefangen.


Die Dreharbeiten zu L'ATALANTE fanden im Winter 1933/34 statt und zehrten an den Kräften der Beteiligten, insbesondere aber an denen von Vigo. Es wurde fast nur vor Ort an Originalschauplätzen gedreht, und das Wetter war meist schlecht. Vigo empfand das aber nicht als Behinderung, sondern ließ sich von den jeweiligen Gegebenheiten zu spontanen Regieeinfällen inspirieren. Schon bei den Dreharbeiten mussten wegen Vigos Tuberkulose mehrere Pausen eingelegt werden. Nach Drehschluss reiste Vigo zur Erholung für etwa einen Monat in die Berge, doch als er wiederkam, war er nicht etwa genesen, sondern sein Zustand hatte sich deutlich verschlechtert. Unterdessen hatte Louis Chavance, der ein geschickter Cutter war, nach Vigos Anweisungen, aber ohne seine direkte Aufsicht, den Schnitt besorgt. Chavance verlegte sich später auf das Verfassen von Drehbüchern. Er schrieb unter anderem gemeinsam mit Henri-Georges Clouzot das Buch zu Clouzots heftig umstrittenen Skandalfilm LE CORBEAU (DER RABE). Vigo sah sich nach seiner Rückkehr aus den Bergen Chavances Schnittfassung an und war ziemlich zufrieden. Nach einer Probevorführung vor Kinobesitzern und Verleihern sollten nur noch einige kleinere Schnitte durchgeführt werden. Es war dies das erste und letzte mal, dass der bereits bettlägerige Vigo den kompletten Film sah. Die Probevorführung geriet zur Katastrophe. Die Verleiher und Kinobesitzer befürchteten einen finanziellen Reinfall, sie hassten den Film regelrecht. Sie verlangten drastische Schnitte, und Gaumont-Franco-Aubert schlug sich auf ihre Seite. Produzent Nounez war gegen die Eingriffe, aber Gaumont saß finanziell am längeren Hebel, und so musste Nounez nachgeben. L'ATALANTE wurde um über zwanzig Minuten drastisch gekürzt. Außerdem wurde Jauberts Musik komplett durch einen damals populären Schlager mit dem Titel "Le Chaland qui passe" ersetzt, gesungen von einer Lys Gauthy. Obendrein wurde der Titel des Film nach dem Lied in LE CHALAND QUI PASSE umgeändert. Vigo wusste von den Eingriffen zunächst nichts. Als er es erfuhr, war er schon zu geschwächt, um irgendetwas unternehmen zu können, und er resignierte.


Diese verstümmelte Fassung von L'ATALANTE kam im September 1934 in die Kinos. Es kam, wie es kommen musste: Die verhunzte Version fiel nun erst recht durch, und wurde bald wieder aus den Kinos genommen. Wenig später war Vigo tot. Im Oktober 1934 erlag er einer Blutvergiftung als Folge seiner Tuberkulose. Seine Frau Lydou überlebte ihn nur um viereinhalb Jahre. 1940 brachte ein neuer Verleiher L'ATALANTE unter dem originalen Titel, und wieder mit der Musik von Jaubert, erneut in die Kinos, aber immer noch verstümmelt. Auch diesmal wollte das Publikum den Film nicht sehen. Im Lauf der Jahre existierten dann mehrere verschiedene Schnittfassungen, unter beiden Titeln, alle unvollständig und meist mit schlechter Bild- und Tonqualität. Allerdings bildete sich langsam das Bewusstsein heraus, dass da ein Meisterwerk im Dornröschenschlaf liegt. Als 1945 das Verbot von ZÉRO DE CONDUITE aufgehoben wurde, holte man den unversehrten Film aus dem Giftschrank, und Vigos bereits guter Ruf festigte sich enorm. Henri Beauvais, ein früher bei Gaumont beschäftigter und jetzt unabhängiger Produzent, besaß rund 30 Stunden an Rohmaterial und Schnittabfällen von L'ATALANTE. Dieses und weiteres Material wurde 1949 von Henri Langlois, einem der Gründer der Cinématheque Française, zusammengetragen und zu einem Rekonstruktionsversuch benutzt. Der war allerdings von einer gewissen Konzeptlosigkeit geprägt, so dass den diversen kursierenden Versionen des Films nur eine weitere ohne Anspruch auf Authentizität hinzugefügt wurde. Trotzdem war der gute Ruf von L'ATALANTE jetzt gesichert. Die eine oder andere Version wurde auf Festivals gezeigt, und 1962 schaffte es L'ATALANTE bei den alle zehn Jahre stattfindenden Umfragen der Zeitschrift Sight and Sound nach den besten Filmen aller Zeiten unter die Top Ten. Bei aller Fragwürdigkeit solcher Listen zeigt das die Wertschätzung, die Vigo inzwischen erfuhr.


1985 kaufte Gaumont die Firma von Henri Beauvais und damit sein Material von L'ATALANTE samt den Rechten. Das war der Auftakt zu einem erneuten Rekonstruktionsversuch. In den Filmarchiven der Welt wurde nach weiterem Material gesucht, und man wurde fündig. Hervorzuheben ist ein Fund im Archiv des British Film Institute: Eine vermutlich nie gezeigte Version von 1934, von der man glaubt, dass sie der von Vigo mit Abstrichen abgesegneten ersten Schnittfassung von Chavance so nahe kommt wie keine andere noch existierende Fassung. Außerdem zeigt diese Version eine vergleichsweise sehr gute Bild- und Tonqualität. Aus diesem Material wurde eine Fassung angefertigt, die Vigos Intentionen so nahe kommen sollte wie möglich. Sie wurde 1990 beim Filmfestival in Cannes erstmals präsentiert. Wie schon nach dem ersten Rekonstruktionsversuch, schaffte es L'ATALANTE 1992 wieder unter die Top Ten bei Sight and Sound. Die Version von 1990 wurde 2001 einer kritischen Revision unter Leitung des Filmhistorikers Bernard Eisenschitz unterzogen. Man kam zu dem Schluss, dass die Restauratoren von 1990 etwas zu forsch vorgegangen waren und Szenen hinzugefügt hatten, die Vigo weggelassen hätte. So wurden also einige wenige Szenen wieder gekürzt oder weggelassen (was die Restauratoren von 1990 zu einer heftigen Polemik veranlasste). Diese hoffentlich nun wirklich endgültige Version wurde auch einer digitalen Bild- und Tonrestauration unterzogen und dient als Grundlage diverser DVD-Ausgaben von L'ATALANTE. Ohne die Credits der Restauratoren dauert sie 87 Minuten.


Vigos Spätwirkung zeigt sich nicht nur in Umfragen wie denen von Sight and Sound, sondern auch daran, dass ihm immer wieder mal Regisseure ihre Referenz erweisen, sei es verbal, sei es in ihren Filmen. Truffaut erwähnte ich bereits; Lindsay Anderson war ein großer Bewunderer von Vigo, und sein IF.... steht ganz in der Tradition von ZÉRO DE CONDUITE; ein weiteres Beispiel ist Bernardo Bertolucci, der in DER LETZTE TANGO IN PARIS und in einem weiteren Film L'ATALANTE referenziert. Am Ende von Leos Carax' LES AMANTS DU PONT-NEUF (DIE LIEBENDEN VON PONT-NEUF) werden die Titelhelden von einem alten Paar auf einem Frachtkahn, in dem man zwanglos Jean und Juliette erkennen kann, aus der Seine gefischt. Und in einem Buch über den Regisseur Philippe Garrel steuert Carax quasi als Vorwort ein Foto (ohne Begleittext) von Vigo und Lydou bei. In Jean-Luc Godards ÉLOGE DE L'AMOUR (AUF DIE LIEBE) schließlich gibt es ein Paar, das sich am Ufer der Seine unterhält, und dazu erklingt Maurice Jauberts Hauptthema aus L'ATALANTE.

L'ATALANTE ist in Deutschland bei Arthaus auf DVD erschienen. In England und den USA ist jeweils eine Box mit allen vier Filmen Vigos auf DVD erschienen, letztere auch auf Blu-ray.