Dienstag, 19. Juli 2011

Der Konkurrent

The Illusionist
(The Illusionist, USA/Tschechien 2006)

Regie: Neil Burger
Darsteller: Edward Norton, Jessica Biel, Paul Giamatti, Rufus Sewell, Eddie Marsan, Aaron Johnson, Eleanor Tomlinson, Karl Johnson, Vincent Franklin u.a.

2006 entstanden zwei Filme, deren Ähnlichkeiten auf den ersten Blick frappierend wirkten und die sich an den Kinokassen einen nur im deutschsprachigen Raum nicht bemerkten unerbittlichen Kampf um die Gunst des Publikums liefern sollten. Beide waren so genannte “Period Pieces”, um 1900 angesiedelt, beide nahmen ausgesprochen oder auch nur verschleiert Bezug auf reale Figuren, und in beiden ging es um Bühnenkünstler, deren oberste Pflicht es eigentlich hätte sein müssen, ihr Publikum mit magischen Tricks zu erfreuen, mochten es auch andere Gründe sein, die sie schon beinahe zwanghaft zum Rampenlicht trieben.  Die Rede ist natürlich von Christopher Nolan’s “The Prestige” und von Neil Burger’s zweitem Film “The Illusionist”. - “The Illusionist” hatte den Vorteil, früher in die Kinos zu kommen und als der weniger kostspielige Film sein Geld im Nu wieder einzuspielen; Christopher Nolan wiederum war seit “Memento” (2000) ein derart gefeiertes Wunderkind, dass “The Prestige” in den Augen der Zuschauer und eines Grossteils der Kritiker unweigerlich zum Meisterwerk hochstilisiert wurde - weshalb Burger’s Magierfilm in Deutschland gar keinen Verleih fand und erst 2009 auf DVD erschien. Und dies gereichte ihm anfänglich eher zum Nachteil: “The Illusionist” blieb der zweite Sieger, der “Konkurrent”.


Mittlerweile haben auch hierzulande beide Filme ihre unerbittlichen Verehrer, die derart auf ihren Favoriten fixiert sind, dass sie dem vermeintlichen Gegenspieler gar keine Chance einräumen und sich jeden Vergleich mit den in ihren Augen  völlig unterschiedlichen (auch in qualitativer Hinsicht!) Werken verbieten. Es stimmt: Im Grunde genommen  unterscheiden sich die Filme nicht nur in ihrer Struktur; sie gehören auch ganz anderen Genres an: Während “The Prestige” die Geschichte einer gnadenlosen, vor nichts Halt machenden Rivalität zweier Magier erzählt, ist “The Illusionist” ein Liebesfilm, der  je nach Ansicht mehr oder weniger erfolgreich Elemente des Mystery- und Politthrillers in seine Handlung einzuflechten versucht (manche Fans bezeichnen ihn auch als “Märchen”, was völlig unsinnig ist, schon weil Ort und Zeit der fiktiven Geschichte festgelegt und detailliert nachgezeichnet sind). --- Trotz des allgemeinen Widerstandes scheint mir ein Vergleich angebracht, vielleicht sogar nötig zu sein, den sich “Konkurrenten” nun einmal gefallen lassen müssen. Nur auf diese Weise lassen sich Stärken und Schwächen der beiden Filme (und sie sind natürlich beide nicht perfekt!) einigermassen ermitteln:

Setzt  Burger zwar mit der von oben angeordneten Verhaftung des Illusionisten Eisenheim ein, um anschliessend aber eine weitgehend geradlinige Geschichte zu erzählen, die von Liebe, erbittertem Kampf zwischen ungleichen Gegnern (einem Bühnenkünstler und einem Kronprinzen) und den Zuschauer am Ende doch überraschender Täuschung handelt, so baut Nolan (“Are you watching closely?”), der sich durchaus echte Rivalitäten zwischen Bühnenkünstlern zum Vorbild nahm,  mit seiner Erläuterung der Teile, aus denen sich ein Zaubertrick zusammensetzt, ganz auf die von ihm grundsätzlich geliebte komplizierte, den Zuschauer bewusst und höchst erfolgreich verwirrende Struktur, die aus verschiedenen Zeitebenen, ja Sprüngen zwischen ihnen, besteht - und um des Effekts willen nicht nur gelegentlich seelenlos wirkt, sondern insbesondere auch die Ausgestaltung der weiblichen  Figuren vernachlässigt (man fragt sich in diesem Zusammenhang unweigerlich, weshalb Scarlett Johansson, mittlerweile nun wirklich ein Star, der sich im gleichen Jahr in Woody Allen's herrlichem Magierfilm “Scoop” profiliert hatte, für die Rolle der Olivia Wenscombe überhaupt zur Verfügung stand). Hinzu kommt, dass Nolan zur Auflösung seiner Geschichte die unglaubhafte, enttäuschende und eher wie eine Anti-Klimax wirkende Legendenbildung um den in seinen späteren Jahren als “Mad Scientist” verrufenen Nikola Tesla (1856-1943) bemüht. - Solche weniger erfreulichen Aspekte des eigentlich wirkungsvollen Films fallen dem Zuschauer auf, der im Zusammenhang mit dem umjubelten “Inception” (2010) enttäuscht zur Kenntnis nehmen musste, dass Christopher Nolan ein Regisseur ist, der um der Struktur willen eine denkbar banale Geschichte mit der donnernden Musik von Hans Zimmer und ein paar Spezialeffekten aufzupeppen bereit ist, also letztlich auch nur mit Wasser kocht...

Burger, der wie auch Nolan den berühmten amerikanischen Zauberkünstler und Experten Ricky Jay für die fachliche Beratung beizog, achtete dagegen genau darauf, dass jede in seinem Film vorkommende Illusion im Wien der damaligen Zeit auch tatsächlich vorgeführt worden war und die Zuschauer in Erstaunen versetzte. So übernahm man etwa den berühmten Trick mit dem Orangenbaum inklusive Schmetterlinge von Jean Eugène Robert-Houdin, dem Vater der modernen Zauberkunst, und die mit der als “Pepper’s Ghost” bekannten Technik hergestellten “Geistererscheinungen”, die noch weit ins 20. Jahrhundert hinein immer wieder abergläubische Menschen der Esoterik zutreiben sollten (selbst die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross lieferte sich eine Zeitlang einem Geister produzierenden Scharlatan aus), waren im damaligen Wien nicht nur äusserst populär, sondern führten unter “Gelehrten” zu ernsthaften Diskussionen über den erbrachten Beweis für die Unsterblichkeit der Seele. - Leider verweist Burger nicht einmal im Vorspann auf die historische Verbürgtheit der - im Film natürlich "perfektioniert" - vorgeführten Zaubertricks, weshalb diese vom Zuschauer leicht als Fähigkeiten von Eisenheim  missverstanden werden könnten, die über die eines Zauberkünstlers hinausgehen, "The Illusionist" also bewusst oder unbewusst tatsächlich ins Mystische zu treiben versuchen. Dies fällt besonders unangenehm auf, wenn man bedenkt, dass es Nolan wiederum gerade um die Aufdeckung der vorgeführten Zaubertricks geht, die Erklärung der einzelnen Teile einer Vorführung, die ins Prestige münden.

Ein letzter Punkt, der die Filme entschieden voneinander unterscheidet, ist die Bildgebung: Während in “The Prestige” berechtigterweise das Scheinwerferlicht, in dem sich die Rivalen als Sieger suhlen wollen, dominiert, wurde in “The Illusionist” das alte Wien (mochte es sich in Wirklichkeit auch um Prag handeln) auf jede erdenkliche Weise geradezu liebevoll evoziert, was zu wundervollen Aufnahmen führte, deren Sepia-Töne eine zauberhaft-vergangene Unwirklichkeit erzeugen, wie man ihr auf alten viragierten Fotografien begegnet. Manche der Bilder wirken wie kunstvoll arrangierte Nachtstücke, was den Film zum ästhetischen Hochgenuss macht. - Man warf der Originalversion vor, das Bemühen um die Rekonstruktion der Epoche und des Schauplatzes gingen so weit, dass sogar die Schauspieler einen Akzent annähmen, der Wienerisch klinge, als seien sie Wiener, die sich in unvollkommenem Englisch ausdrückten. Diesen Vorwurf musste sich vor allem Paul Giamatti gefallen lassen, der als Chefinspektor Uhl den wirkungsvollsten - und glänzend gespielten - Part hatte. Der Vorwurf trifft auf das, was man als “die Menge” bezeichnet (etwa die Zuschauerin, die während einer Bühnenshow “It’s her. I know ist’s her! She wants to tell us something.” ruft), tatsächlich zu, ich fand ihn jedoch bei keinem der wichtigen Darsteller bestätigt.


“The Illusionist” beginnt mit der von Uhl kommentierten sagenumwobenen Kindheit des Tischlersohnes Eduard Abramovich, der eines Tages einem reisenden Zauberer begegnet sein soll, von dem er erste Zaubertricks lernte, bevor dieser - samt Baum, unter dem er sass! - wieder verschwand. Gesichert ist, dass der sich in seinen Kunststücken übende Junge eines Tages die gleichaltrige Herzogin Sophie von Teschen trifft, mit der ihn bald eine enge Freundschaft verbindet. Da diese Freundschaft von Sophies Eltern wegen des Standesunterschieds nicht geduldet wird, denken die beiden an Flucht. Eines Nachts werden sie jedoch von den Wachen des Herzogs im Wald aufgegriffen und gnadenlos voneinander getrennt. Sophie fleht Eduard, der ihr einen Anhänger mit einer geheimen Öffnung schenkte, an, sie mit seinen “magischen”  Fähigkeiten einfach verschwinden zu lassen ("Make us disappear!"), was diesem jedoch - noch - nicht gelingt. Der Junge verlässt seine Heimat; die folgende Zeit bleibt im Dunkeln.

15 Jahre später kehrt er als Eisenheim, der Illusionist, nach Wien zurück, um das Publikum mit seinen magischen Kunststücken regelrecht in Begeisterung zu versetzen. Auch Kronprinz Leopold, der seinen Vater stürzen will und sich mit Sophie von Teschen verlobt hat, um mit einer Ehe die Ungarn hinter sich zu bringen, besucht eine Vorstellung. Während der undurchsichtige Chefinspektor Uhl, der zur Beobachtung des Illusionisten abkommandiert wurde, von dessen Vorführungen fasziniert ist und ihnen als Hobby-Zauberer einerseits ihr Geheimnis entlocken, andererseits aber auch das Mysteriöse belassen möchte, betrachtet ihn der neidische Kronprinz als vom Volk übermässig vergötterten Gegner, dessen Tricks es mit Vernunft aufzudecken gilt. Er lädt Eisenheim zu einer Vorstellung in der Hofburg ein, wo er von diesem aber nur noch mehr gedemütigt wird. Und bald erfährt er aus dem Munde seines Spürhundes Uhl auch von geheimen Treffen zwischen dem Illusionisten und Sophie, die ihm anlässlich der Vorstellung erneut begegnet ist. Von nun an setzt Leopold alles daran, die Auftritte Eisenheims zu unterbinden.

Als Sophie ihren Verlobten auf dessen Jagdschloss mit der Absicht konfrontiert, ihn nicht heiraten, sondern dieses Mal wirklich mit Eisenheim zusammenbleiben zu wollen,  kommt es zum Eklat. Der jähzornige Kronprinz, dem nachgesagt wird, er habe schon früher Mätressen umgebracht, verfolgt die davoneilende junge Frau - und am nächsten Morgen trabt nur noch deren blutbeflecktes Pferd durch Wien. Eisenheim begleitet einen Suchtrupp und entdeckt die Leiche seiner Geliebten in einem Weiher. - Obwohl ihn Uhl eindringlich warnt, verdächtigt er den  Kronprinzen offen des Mordes an Sophie und will ihn gnadenlos entlarven. Er mietet ein neues Theater und ändert das Konzept seiner bisherigen “Show” vollkommen: Leitete er früher seine Vorfühungen mit geheimnisvollen Bemerkungen ein (“From the moment we enter this life we are in the flow of it. We measure it and we mock it. We cannot even speed it up or slow it down. Or can we? ...”), so setzt er sich jetzt konzentriert auf einen Stuhl  - und beschwört schweigend Verstorbene herauf, bald auch den Geist Sophies, die geheimnisvolle Andeutungen über ihren Mörder macht. - Spätestens jetzt muss Chefinspektor Uhl erkennen, dass ihn der Illusionist in Sachen Undurchschaubarkeit bei weitem übertrifft.

Viele Kritiker sind der Ansicht, Edward Norton’s Karriere habe ihren Zenit überschritten und werten seine Leistung in “The Illusionist” als dementsprechend enttäuschend. Was sie dabei übersehen: Er muss als Illusionist Eisenheim zurückhaltend wirken, darf nicht viel von seiner Persönlichkeit und seinen Absichten preisgeben. Dass die Szenen, in denen man ihn zusammen mit Jessica Biel sieht, die nötige "Chemie" vermissen lassen,  liegt auch eher daran, dass die Schauspielerin in der Tat eine Fehlbesetzung ist (sie sprang im letzten Moment für Liv Tyler ein und muss zum Glück nicht übermässig viel bieten) - und was der grossen Liebesszene an Chemie fehlt, machen zweifellos die Kerosinlampen wett, die als einzige Lichtquelle während des Drehs dienten. Die anderen Rollen sind hervorragend besetzt: der Brite Rufus Sewell spielt den angeblich auf Liberalisierungen drängenden Kronprinzen mit einer geradezu furchterregenden Arroganz, die die Brutalität des Charakters kaum zu verbergen vermag, und Paul Giamatti, ohnehin einer der besten und auf faszinierende Rollen spezialisierte Schauspieler der Gegenwart ("American Splendor", 2003, "Sideways", 2004) reisst den Film auf eine Weise an sich, die zutiefst beeindruckt (alleine schon sein schallendes Lachen nach der Aufdeckung einer raffinierten Täuschung am Schluss bleibt wohl für immer in Erinnerung).

Was dem bildgewaltigen kleinen Burger-Film, dessen von Philip Glass komponierter aufwühlender Soundtrack alle angeschnittenen Themen abdeckt, ein zusätzliches Flair verleiht: Hinter der Figur von Kronprinz Leopold verbirgt sich der (wenn charakterlich auch völlig anders geartete) Kronprinz Rudolf von Österreich-Ungarn, der sich 1889 auf Schloss Mayerling zusammen mit der Baronesse Mary von Vetsera das Leben nahm, ein Suizid, der das Vertrauen in die habsburgische Monarchie zutiefst erschütterte und bis heute Rätsel aufgibt, zur Legendenbildung anregt. Dass “The Illusionist” auf Kronprinz Rudolf anspielt, ja beinahe eine weitere, wenn auch nicht ernst gemeinte “Erklärung” des historischen Vorfalls liefert, zeigt sich schon daran, dass Eisenheim in der Hofburg das Portrait von Leopolds Vater, bei dem es sich eindeutig um Kaiser Franz Joseph, Rudolfs Vater, handelt, herbeizaubert.


Korinthenkacker  könnten dem einen wie dem anderen Magierfilm des Jahres 2006  sicher zahlreiche weitere Stärken zugestehen oder Schwächen anlasten (imdb protzt für den hier besprochenen mit einer geradezu unangenehm langen Liste von “Goofs”, wie sie freilich einem noch nicht so erfahrenen Regisseur unterlaufen - und dem Zuschauer gar nicht unbedingt auffallen), die hier nicht einmal andeutungsweise zur Sprache kamen: Tatsache ist, dass ich Nolan’s “The Prestige” und “The Illusionist” als einander ebenbürtig empfinde und nur dem weniger erfolgreichen “Konkurrenten” den Vorzug gab, um dieses Empfinden zu begründen (Burger dürfte die in ihn gesetzten Hoffnungen mittlerweile mit “The Lucky Ones”, 2008, ohnehin erfüllt haben). Beide DVDs landen immer wieder in meinem Player, und ich geniesse beide Filme gleichermassen - gerade weil sie so unterschiedlich sind und man ihre Stärken und Schwächen in verschiedenen Bereichen ausfindig machen kann, will man sie denn nicht einfach würdigen, sondern - im Hinblick auf eine einseitige Bevorzugung  - "analysieren".

Dienstag, 12. Juli 2011

Gruselpfötchen

Die Bande des Schreckens
(Die Bande des Schreckens, Deutschland 1960)

Regie: Harald Reinl
Darsteller: Joachim Fuchsberger, Karin Dor, Fritz Rasp, Elisabeth Flickenschildt, Dieter Eppler, Ulrich Beiger, Karin Kernke, Eddi Arent, Ernst Fritz Fürbringer u.a.

Es waren vor allem zwei Filmreihen, die das deutsche Publikum der 60er Jahre in die Kinos lockten und die vollständige Kapitulation der einheimischen Filmindustrie vor dem Fernsehen zu verhindern vermochten. Sie belieferten den Zuschauer, der sich im vorhergehenden Jahrzehnt noch hauptsächlich mit Heimat zufriedengeben musste, mit Exotik, ermöglichten ihm eine Reise ins ferne nebelverhangene und von geheimnisvollen Mördern heimgesuchte England oder gar in den im ehemaligen Jugoslawien hergerichteten Wilden Westen.

Die Rede ist natürlich von den Verfilmungen der Trivialromane des deutschen Schriftstellers Karl May und des Engländers Edgar Wallace. Sie erwiesen sich als äusserst erfolgreich, wobei die farbenprächtigen und mit grossem Aufwand hergestellten Karl May-Filme eher ein jugendliches Publikum ansprachen, während die recht billig produzierten und grösstenteils im Studio aufgenommenen Edgar Wallace-Streifen (sie verdankten den englischen Touch lange Zeit ausschliesslich Archivaufnahmen, die wenigen übrigen Aussenaufnahmen drehte man in Deutschland) so manchem erwachsenen Deutschen einen wohligen Schauer über den Rücken laufen liessen. Oft genügte schon der unheilschwangere Blick einer Barbara Rütting...


Woher rührte der Erfolg der beiden Reihen (die sich selbst im Modestil dem Zeitgeist anpassende Wallace-Welle hielt bis 1972 an)? Dirk Loew erkennt in ihm in seinem für das Deutsche Filminstitut geschriebenen Beitrag zur “Sozialgeschichte des bundesrepublikanischen Films” einen Bewusstseinswandel: Das bisher “unter dem Deckmantel des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders verborgene schlechte Gewissen der Deutschen" sei ins nationale Bewusstsein vorgedrungen und habe zu einer filmischen Flucht aus der unangenehm gewordenen Heimat geführt, einer Flucht, die es zum Beispiel in den Edgar Wallace-Filmen zugleich ermöglichte, mit der Generation der schuldigen Väter abzurechnen, indem man sie erdolchte, erwürgte - und was da sonst noch an ebenso abwechslungsreichen wie phantasievollen Möglichkeiten geboten wurde. - Diese These hat zweifellos etwas für sich; man sollte aber auch das “Wir sind wieder wer!”-Denken der Zeit nicht unterschätzen: Wir können Indianer-Filme drehen, sogar international erfolgreiche Thriller (tatsächlich erwarben sich die 32 von Horst Wendlandts Rialto-Filmgesellschaft  produzierten Wallace-Krimis unter anderem in England als "German Wallace wave" einen gewissen Ruf), die zwar reine Schauspielerfilme von unterschiedlicher Qualität sein mögen, im Gegensatz zu einer eigentlichen Serie aber mit recht abwechslungsreichen Stories aufwarten. Und man muss zugeben: Mochten die Ingredienzien auch immer die gleichen bleiben, die Struktur vorhersehbar sein; jenen Unterhaltungswert, der Trash zu Kult macht, konnte den Filmen niemand absprechen, weshalb sie heute noch Fans finden und parodiert werden. Es ist auch immer noch ein Genuss, grossen Schauspielern wie Lil Dagover oder Elisabeth Flickenschildt, die ihre Vergangenheit ebenfalls nur vergessen wollten, beim gnadenlosen Overacting zuzuschauen, mitzuerleben, wie ein Klaus Kinski oder ein Eddi Arent den eigentlichen  Helden (Joachim Fuchsberger wartet wohl heute noch auf die Rolle, in der er beweisen kann, dass er ein Schauspieler ist) und seine in Gefahr geratene junge Schönheit an die Wand spielen.

Edgar Wallace (1875-1932) war wie Karl May ein Vielschreiber. Er schrieb jedoch als Spielsüchtiger und hoffnungslos über seine Verhältnisse Lebender regelrecht gegen seine Gläubiger, die ihm ständig auf den Fersen waren, an. Diese unangenehme Situation ruinierte nicht nur seine Gesundheit; sie brachte ihn auch auf die Idee, recht simple Kriminalromane im “Baukastenstil” zu verfassen, die wiederkehrende Elemente variierten (der Held war grundsätzlich Polizist, die Welt um ihn herum korrupt, es wimmelte nur so von Verkleidungen und Schauereffekten, die man der “Gothic novel” entlehnt hatte und die es aufzuklären galt, bevor die junge Heldin - oft das eigentliche Ziel des Bösewichtes - geheiratet werden konnte), und die sich bei den Lesern als ausserordentlich beliebt erwiesen. Da Wallace, der auch als Dramatiker und Drehbuchautor tätig war (er verstarb mitten in seiner Arbeit für den Klassiker “King Kong”, 1933), sich ständig auf der Suche nach neuen Einnahmequellen befand,  verkaufte er die Rechte seiner Werke rasch an Filmproduktionen, weshalb bereits ab 1915 die ersten Wallace-Filme entstanden.

Diese Filme wandten sich im Gegensatz zu den Agatha Christie-Verfilmungen nicht an die Ratio des Zuschauers, sie lebten von der Stimmung, deren Meister Edgar Wallace war. Er liess seine geradezu abartigen Morde nicht in einem scheinbar ganz normalen britischen Landhaus stattfinden, sondern in einer fremden, möglichst obskuren Unterwelt, in der  der “schwarze Abt” oder der “grüne Bogenschütze” ihr Unwesen trieben, “tote Augen” das “Gasthaus an der Themse” bevölkerten - oder die “Tür mit den sieben Schlössern” geöffnet werden musste. In diese Welt drang der unbestechliche Polizist ein und begegnete einer ganzen Horde von Verdächtigen, aber auch einer jungen Erbin oder Sekretärin, in die er sich verliebte. Von diesem Moment an - dies bemerkt auch der heutige Leser der Romane - wurden die meisten Geschichten stereotyp, geradezu langweilig; denn es ging nur noch darum, nach ein wenig Action eine der Gestalten, die diese Welt bevölkerten, als zufälligen Mörder zu entlarven, der wahnsinnig war oder dem es ganz banal ums liebe Geld ging. - Dennoch: die anfängliche Stimmung blieb unvergesslich.

Die deutsche Wallace-Welle, die 1959 mit “Der Frosch mit der Maske” ihren Anfang nahm, fügte den bekannten Ingredienzien noch ein paar weitere hinzu: der Vorgesetzte des Polizisten bei Scotland Yard, oft ein Sir John oder ähnlich, war grundsätzlich eine ahnungslose Lachnummer, die Butler gaben sich so britisch, dass sie wie die - gelegentlich unheimliche - Karikatur eines Butlers wirkten - und die hübsche Heldin wirkte ebenso deutsch wie die “lockeren” Sprüche ihres Polizisten fade. Die Handlung wurde in die Gegenwart verlegt, wodurch das seltsame Figurenarsenal, die unheimlichen Blicke von Klaus Kinski und die schrille Musik (der legendäre Vorspann wurde übrigens längst nicht in allen Filmen der Reihe benutzt) noch an Wirkung gewannen. Vielleicht benötigte ein guter Wallace auch sein Schwarzweiss: Viele Fans verloren ihr Interesse nach dem ersten Farbfilm (“Der Bucklige von Soho”, 1966), spätestens ab 1969 wurde die erfolgreiche Reihe ohnehin von der Zeit eingeholt.


Lange bevor das ZDF mit der legendären Ausstrahlung seiner Edgar Wallace-Reihe begann, zeigte die ARD 1966 bereits “Die Bande des Schreckens” - und der Film jagte dem kleinen Whoknows  eine Heidenangst ein, weshalb er noch heute gern an ihn zurückdenkt. Es handelte sich um die dritte Edgar Wallace-Produktion der Rialto Film (die in Berlin ansässige Kurt Ulrich-Film hatte dem Studio vorher mit dem erheblich schwächeren “Der Rächer”, 1960, Paroli zu bieten versucht, worauf solchen “Ausrastern” bald einmal per gerichtlicher Verfügung verboten wurde, gewisse Elemente der Reihe zu übernehmen). Regie führte Harald Reinl, der schon  “Der Frosch mit der Maske” gedreht hatte und  nach Alfred Vohrer als die prägendste Kraft der Reihe gilt. Der Film wartet wohl mit dem unheimlichsten Beginn auf und hält die wohlig gruselige Atmosphäre für einige Zeit aufrecht, lässt während der zweiten Hälfte allerdings deutlich nach und bietet auch nicht die Gewalttätigkeit, der man im ersten Wallace begegnete. Dennoch ist er noch heute sehenswert:

Gleich am Anfang von “Die Bande des Schreckens” wird der von Scotland Yard schon lange gesuchte Bösewicht, der raffinierte Checkbetrüger Clay Shelton, in einer Londoner Bank von Chefinspektor Long (diesem Film verdankt die Parodie “Der WiXXer”, 2004, wohl einen Namenskalauer, auf den der anständigste Blogger im ganzen Internet nicht näher einzugehen gedenkt) festgenommen. Bei seinem Fluchtversuch, der von mehreren Personen zum Teil unfreiwillig aufgehalten wird, erschiesst er einen Polizisten, weshalb ihn der Richter zum Tod durch den Strang verurteilt. - Kurz vor seiner Exekution bittet Clayton (“ein seltsamer Mensch, direkt unheimlich, möchte man sagen”) alle, die ihn bei der Flucht störten oder an seiner Verurteilung beteiligt waren, zu sich in die Todeszelle. Dort droht er ihnen mit furchtbarer Rache: seine Galgenhand werde sie noch nach seinem Tode einholen und alle umbringen. Long, den man auch den "Wetter" nennt, wettet dagegen, und man vergisst die Drohung, bis der Staatsanwalt das Opfer eines seltsamen “Unfalls” wird.  Von nun an sterben bereits in den ersten zwanzig Minuten wohl mehr Figuren auf höchst makabere Weise als in jedem anderen Wallace. Vom Richter bis zum Henker werden sie von der Galgenhand getötet, während Long, der eigentlich den Polizeidienst quittieren wollte, um bei seinem Vater in einer Bank zu arbeiten, hilflos zusehen muss. Hinzu kommt: Diverse Zeugen berichten sogar, sie hätten  nach den Morden den seine Galgenhand drohend in die Höhe haltenden Clayton gesichtet.

Da hilft wohl nur noch eine Exhumierung, die natürlich während einer Gewitternacht stattfinden muss und den Polizeifotografen, der einst begeistert Tiere fotografierte, beinahe in Ohnmacht fallen lässt (eine jener Paraderollen für Eddi Arent). Der Sarg ist leer, enthält jedoch eine Liste mit den weiteren Opfern, zu denen auch Long gehört (er ergänzt das “Inspektor” mit einem “Chef-”, was ich für eine der wenigen witzigen Gesten halte, die Fuchsberger-“Meine Freunde nennen mich Blacky” zu bieten hat). - Nun gilt es, weitere Tote zu verhindern. Zu ihnen könnte auch die robuste Mrs. Revelstoke gehören, die aber nicht daran denkt, sich Long’s Anweisungen zu fügen, weil sie an einem Golfturnier teilnehmen will. Immerhin hat sie eine süsse Sekretärin, mit der “Blacky” eine Uhr aus Neuseeland bei einem weiteren potentiellen Toten abliefern darf. - Das Hotel, in dem die eintreffenden Teilnehmer des Golfturniers logieren wollen, beherbergt, so stellt man rasch einmal fest, seltsame Gäste. Und bald ist jeder verdächtig, möglicherweise sogar Long’s Vater, der offenbar ein Geheimnis nicht preisgeben will. - Oder war es der Butler des Hauses?

Der Film bietet zwar nicht Klaus Kinski, jedoch jede Menge anderer grosser Schauspieler, die schlicht eine herrliche Show abziehen: Elisabeth Flickenschildt, die, mit grässlich blonder Perücke bewaffnet, in einer völlig überladenen Wohnung lebt, lässt sich so leicht nicht einschüchtern, Fritz Rasp gibt sich als Long's Vater, dem die Tätigkeit seines Sohnes gar nicht zusagt, direkt gespenstisch zurückhaltend, während sich Karin Kernke als Geliebte eines heimlichen Messerwerfers im Liegestuhl räkelt. Und Karin Dor, Harald Reinls Gattin, die in Hitchcock's “Topaz” (1968) einen ausserordentlich ästhetischen Tod würde sterben dürfen, war nach Bekunden eines gewissen Joachim Fuchsberger, der angeblich auch noch mit von der Partie war, seine schönste Partnerin in einem Wallace-Film. - Ein Film mit harmlos-hübschen Schockmomenten, die man noch heute - und sei es auch als "guilty pleasure" - von Herzen geniessen kann.

Donnerstag, 7. Juli 2011

Kleist, Rocker und Revolution: SAN DOMINGO

SAN DOMINGO
Deutschland 1970
Regie: Hans-Jürgen Syberberg
Darsteller: Michael König (Michi), Alice Ottawa (Alice), Wolfgang Haas (Hasi), Carla Aulaulu (Michis Mutter), Peter Moland (Michis Vater), Hans-Georg Behr (Schorschi), Sigi Graue (Pornofilmer), Münchner Rocker und weitere Laiendarsteller

"Ach", rief Toni, und dies waren ihre letzten Worte: "du hättest mir nicht mißtrauen sollen!" Und damit hauchte sie ihre schöne Seele aus. (Heinrich von Kleist, "Die Verlobung in St. Domingo")

"We shall have our manhood. We shall have it or the earth will be leveled by our attempts to gain it." (Eldridge Cleaver)

Hans-Jürgen Syberbergs zweiter Spielfilm ist eine moderne und recht freie Adaption von Heinrich von Kleists Novelle "Die Verlobung in St. Domingo" (1811), zugleich aber auch noch eine Weiterführung seiner bisherigen Arbeit als Dokumentarfilmer, und zwar mit Stilmitteln des Direct Cinema: Regisseure wie D.A. Pennebaker, der vor einigen Monaten verstorbene Richard Leacock und in Deutschland Klaus Wildenhahn mischten sich mit kleinen, leichten und geräuscharmen 16mm-Handkameras möglichst unauffällig unter ihre Untersuchungsobjekte, um diese beim Filmen nicht mehr als nötig in ihrem Verhalten zu beeinflussen. Syberberg hatte 1969 in diesem Stil mit dem in Berlin geborenen Amerikaner Christian Blackwood (1942-92) an der Kamera die Dokumentation SEX BUSINESS - MADE IN PASING über den Münchner Sexfilmproduzenten Alois Brummer gedreht. Und auch SAN DOMINGO wurde wiederum von Blackwood in Schwarzweiß mit einer tragbaren 16mm-Kamera gefilmt (einige rasante Aufnahmen vom fahrenden Motorrad aus eingeschlossen). Bis auf Michael König, Carla Aulaulu, Peter Moland und Sigi Graue sind alle Darsteller Laien, die sich mehr oder weniger selbst spielen. Aber Vorsicht: Dass ein Film mit solchen Mitteln gestaltet ist, bedeutet nicht automatisch, dass er dokumentarisch ist - er kann auch von vorn bis hinten durchinszeniert sein. Tatsächlich ist bei SAN DOMINGO über weite Strecken unklar, wie authentisch das Gezeigte wirklich ist. Aufgrund der verwendeten Mittel stilisiert sich Syberberg auf seiner Website zu einem Vorläufer von Dogma 95. Das ist zwar nicht ganz abwegig, aber es gab auch vorher schon Spielfilme, die vom Direct Cinema beeinflusst waren, etwa THE COOL WORLD (1964) von Shirley Clarke.

Zur Handlung: Michael "Michi" König, ein gutaussehender langhaariger "Sohn aus gutem Haus", macht sich aus dem Staub, ohne seinen reichen Eltern Lebewohl zu sagen. Auf dem Weg in sein Traumland Afrika bleibt der liebenswerte, aber etwas naive Michi zunächst mal in einer Landkommune von Rockern im Münchner Umland hängen. Dort wird er scheinbar herzlich aufgenommen, jedoch nicht ohne Hintergedanken: Die Rocker planen, gegenüber Michis Eltern seine Entführung vorzutäuschen, um ein saftiges Lösegeld zu erpressen. Um ihn während der Dauer der Transaktion unter Kontrolle zu halten, wird Alice auf ihn angesetzt. Die Tochter einer früh verstorbenen Wienerin und eines farbigen Amerikaners, der sich schon längst wieder in die USA abgesetzt hat, hat schon eine bewegte Biographie, die von Heimen und sexueller Ausbeutung geprägt war, hinter sich, und ist entsprechend abgebrüht. (Wie schon angedeutet, bleibt unklar, wie weit diese erzählte Biographie dem tatsächlichen Lebenslauf der Darstellerin Alice Ottawa entspricht.) Gegen Zusicherung eines Anteils an der Beute spielt sie das Spiel mit. Sie macht sich an Michi heran, und der verliebt sich schnell in sie. Gegen Ende des Films trifft das Lösegeld tatsächlich ein, und Alice kassiert ihren Teil. Die Rocker haben ihr Ziel erreicht und wollen den nichtsahnenden Michi verjagen. Weil der zunächst nichts kapiert, eröffnen sie ihm Alices Rolle in dem Spiel. Michi, bisher fast ein vertrauensseliger "reiner Tor", verfällt nun ins Gegenteil. Ohne Alice die Gelegenheit zu einer Rechtfertigung zu geben, gibt er ihr einen letzten Kuss und ersticht sie dabei. Doch dann erfährt er von "Hasi", einem der Wortführer der Rocker, dass sich Alice längst in ihn verliebt hatte wie in keinen zuvor. Verzweifelt nimmt sich nun Michi selbst das Leben. In einem Epilog, der die Atmosphäre von klassischen Motorradfilmen wie THE WILD ONE und SCORPIO RISING evoziert, brausen die Rocker mit ihren Motorrädern über oberbayerische Landstraßen, unterlegt mit fetziger Musik von Amon Düül II, und eine Übersetzung des obigen Zitats von Eldridge Cleaver (Schriftsteller und Black-Panther-Führer) wird eingeblendet.

Interessant ist SAN DOMINGO vor allem aufgrund dessen, was zwischen der Exposition und dem dramatischen Schluss passiert. In langen quasi-dokumentarischen (oder pseudo-dokumentarischen?) Passagen werden wir Zeuge des Alltags von Alice und den Rockern (und Michi ist als weitgehend unbeteiligter und staunender Zuseher dabei). Wir sehen Alices erfolglosen Versuch, über eine Künstleragentur einen Job zu bekommen - schließlich landet sie in einem Hinterzimmer-Atelier und macht Nacktfotos. Später dreht ein dilettantischer Regisseur einen Sexfilm mit ihr, bis sie entnervt abbricht. Die Rocker, die meisten von ihnen Lehrlinge, sprechen ebenso wie Michi ein authentisches Münchner Bairisch, das weit von Komödienstadl-Sprech entfernt (und deshalb hochdeutsch untertitelt) ist. In Gesprächen untereinander und mit Michi und anderen Außenstehenden erfährt man etwas über ihre Situation: Anfeindungen am Arbeitsplatz, Repressalien und ungerechte Behandlung seitens der bürgerlichen Gesellschaft, insbesondere der Polizei. Während sie in der Arbeit auch bei Ungerechtigkeiten meistens kuschen, weil der Gesellenbrief letztlich unverzichtbar ist, um sich irgendwann freizustrampeln, leben sie ihre aufgestauten Aggressionen in der Freizeit mit ihren Motorrädern aus. In dieser Hinsicht ist SAN DOMINGO ein ganz anderer und viel politischerer Film als etwa Klaus Lemkes ROCKER von 1972, in dem die Rocker so sind, weil sie halt so sind. Dagegen ist er als Zeitbild eine gute Ergänzung zu Peter Fleischmanns grandiosem Dokumentarfilm HERBST DER GAMMLER von 1967. Ein Teil der Rocker radikalisiert sich und besorgt sich Schusswaffen, um Anschläge auf Polizisten zu verüben. Auf einer Wiese kommt es zu einem "Strategietreffen" mit Mitgliedern der studentischen "Roten Zellen" aus München, doch letztlich redet man nur aneinander vorbei. Den Rockern geht das Gerede der linken Studenten auf die Nerven, und diese wiederum bemängeln einen unreflektierten Aktionismus, der zu nichts führe. Als Negativbeispiel für kontraproduktive Aktionen nennen die Studenten die bewaffnete Befreiung von Andreas Baader im Mai 1970 - damit streift Syberbergs Film die Anfänge des deutschen Linksterrorismus der 70er Jahre. Die Animositäten zwischen den beiden Gruppen münden schließlich sogar in eine Rauferei, die sich aber schnell wieder legt. Ergebnislos vertagt man sich auf ein nächstes Treffen in ein oder zwei Wochen - das wahrscheinlich genauso enden wird. Laut Credits handelt es sich bei den Studenten um Mitglieder der "Roten Zelle Germanistik". Doch diese Gruppierung hat in einer im Dezember 1970 veröffentlichten Stellungnahme jede Mitwirkung bestritten und sich scharf von dem Film distanziert. Man weiß also nicht genau, wer sich nun hinter diesen "Roten Zellen" verbarg - 40 Jahre später spielt es auch keine große Rolle mehr. [UPDATE: Siehe hierzu unten den Kommentar von P. Tode.] Syberberg, der eine preußisch-strenge Erziehung genoss und seine Jugend in der DDR verbrachte, bis er mit 17 in den Westen übersiedelte, war nie ein Linker oder ein Mitglied irgendeiner Jugendszene. Aber mit seinem dokumentarischen Blick ist er erstaunlich nahe an Teilen der jugendlichen Subkultur und der linken Szene um 1970 - unabhängig davon, was nun alles an dem Film authentisch oder inszeniert ist.

Ein Highlight der besonderen Art setzt "Schorschi" (oder "Georgie"?), ein österreichischer Lebenskünstler, Haschischdealer und -konsument, und vor allem ein begnadeter, bühnenreifer Performer. Auf einer Drogenparty, an der etliche der Protagonisten teilnehmen, gibt er eine Vorstellung, die sich kaum in Worte fassen lässt. Gespielt wird er vom 2010 verstorbenen Schriftsteller und Journalisten Hans-Georg Behr (bei Syberberg fälschlich Georg Bär geschrieben), der auch im echten Leben ein bekennender Kiffer war. Auf jener Drogenparty passiert auch ein eklatanter Stilbruch im Film: Michael König durchbricht die "vierte Wand" und spricht als er selbst direkt zum Publikum. Er distanziert sich von dem seiner Meinung nach zu unpolitischen und naiven Michi und doziert über die nötige Abschaffung des Kapitalismus mit allen Mitteln. Aber ist es wirklich die Privatperson Michael König, die da spricht, oder doch nur eine von Syberberg kreierte Kunstfigur? Ich weiß es nicht. Einen weiteren Stilbruch setzen die Szenen mit Michis Eltern, deren Verhalten und Sprechweise bewusst künstlich stilisiert ist - ein greller Kontrast zur Darstellung der jugendlichen Lebenswelt (die aber eine in der Landkommune lebende Oma einschließt). Die Eltern leben in einem schlossartigen Haus mit Blick auf Neuschwanstein, was nicht nur die Aura des Kitsches verstärkt, sondern auch auf Syberbergs nächste Filme LUDWIG und THEODOR HIERNEIS vorausweist. Peter Moland und Carla Aulaulu, die Darsteller der Eltern, spielten seinerzeit etliche Rollen im Neuen Deutschen Film, unter Regisseuren wie Fassbinder, Reinhard Hauff oder Rosa von Praunheim, mit dem Aulaulu (bürgerlich Carla Egerer) auch kurz verheiratet war.

Einen wesentlichen Beitrag zur Atmosphäre des Films leistet der vielseitige Soundtrack von Amon Düül II, der von esoterischen Orgelklängen bis zu knackiger Rockmusik reicht. Die Band entstand 1968 als Abspaltung aus einer Münchner Kommune und gehörte in der ersten Hälfte der 70er Jahre zu den experimentellsten und einflussreichsten Vertretern des Krautrock, bis sie in konventionellere Fahrwasser geriet. Für den Score von SAN DOMINGO erhielten sie 1971 den Deutschen Filmpreis. Diesen bekam auch Christian Blackwood für die beste Kamera (geteilt mit Gerard Vandenberg für LENZ, Regie George Moorse). Einen Deutschen Filmpreis erhielt 1971 auch Michael König, jedoch nicht für SAN DOMINGO, sondern für LENZ, in dem er ebenfalls die Hauptrolle spielte. König besitzt eine solide Theater-Ausbildung und war damals an der Berliner Schaubühne engagiert, heute gehört er zum Ensemble des Wiener Burgtheaters. Auch in Film und Fernsehen ist er bis heute aktiv, so im erst kürzlich von der ARD ausgestrahlten DIE SCHÄFERIN mit Stefanie Stappenbeck und in den Serien DIE BERGWACHT und DER KAISER VON SCHEXING. Den Filmpreisen zum Trotz, wurde SAN DOMINGO von den meisten deutschen Kritikern abgelehnt - was den Beginn einer bis heute andauernden gegenseitigen Abneigung markiert. Für seine Dokumentationen und seinen ersten Spielfilm SCARABEA war Syberberg noch viel gelobt worden. Wohlwollender war Syberbergs Aufnahme seit den 70er Jahren im Ausland, insbesondere Frankreich.

Syberberg vermarktet alle seine Filme auf DVD selbst, und man kann sie auf seiner Website einzeln oder zu Paketen zusammengefasst bestellen. Ich habe SAN DOMINGO aber nur letzten Sonntag im Fernsehen gesehen. Deshalb gibt es diesmal von mir auch keine Screenshots, aber die liefert ja Syberberg selbst.

Montag, 4. Juli 2011

Her mit der deutschen DVD! - die Siebente

Unsere kleine Stadt
(Our Town, USA 1940)

Regie: Sam Wood
Darsteller: William Holden, Martha Scott, Frank Craven, Beulah Bondi, Thomas Mitchell, Guy Kibbiee, Fay Bainter u.a.

Das amerikanische Drama stieg erst im 20. Jahrhundert zu internationaler Bedeutung auf. Eugene O’Neill gilt als die entscheidende Figur, die es in der ersten Jahrhunderthälfte prägte. Nicht weit hinter ihm steht jener Autor, der das wohl populärste und weltweit am meisten gespielte amerikanische Bühnenstück schrieb: Thornton Wilder. “Our Town”, im fiktionalen Crover’s Corners, New Hampshire, der Jahrhundertwende angesiedelt, schien sich zwar bei seiner Uraufführung 1938 zum veritablen Flop zu entwickeln, galt aber bald als exemplarisches Beispiel für die so genannte Americana. Es erforschte scheinbar die traditionellen amerikanischen Werte: Religion, Gemeinschaftssinn, Familienleben und die Freude an den einfachen Dingen. - Dass sich das Stück im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit grosser Beliebtheit erfreute, hatte vor allem mit den minimalen Requisiten (Stühle, Tische, eine Bank), die es erforderte, auch mit seiner teilweisen Anlehnung an das Brecht’sche Lehrstück, zu tun.. Und man erkannte rasch: “Our Town” war keineswegs eine amerikanische Kleinstadt-Idylle, sondern beschäftigte sich mit dem Leben als solchem, war, wie es Wilder selber ausdrückte, bestrebt, angesichts der Vergänglichkeit sogar den unbedeutendsten Ereignissen unseres täglichen Daseins einen Wert abzugewinnen. Man hatte es mit einem kleinen Welttheater zu tun.

Hollywood sicherte sich rasch die Filmrechte und plante Grosses. Ernst Lubitsch sollte das Stück in Technicolor verfilmen; später kam William Wyler ins Gespräch. Als man sich dann entschloss, Sam Wood die Regie für die Verfilmung von “Our Town” zu übertragen, schien dies der Zeit angemessen. Der heutige Zuschauer fühlt sich zuerst allerdings einmal abgeschreckt: Wood (der auch in “Gone With the Wind”, 1939, involviert war) gilt nämlich, obwohl er zwei der Marx Brothers-Filme (“A Night at the Opera”, 1935, “A Day at the Races”, 1936) gedreht hatte, als einer der reaktionärsten Regisseure seiner Zeit (Groucho Marx versah ihn mit dem Attribut "Faschist"), der 1947 mit grosser Freude vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe aussagte (er denunzierte unter anderem Lewis Milestone und John Cromwell) und dessen Stern nach seinem Tod im Jahre 1949 merklich verblasste. In einer ohnehin den Patriotismus fördernden Phase der amerikanischen Geschichte machte er sich jedoch einen Namen mit  Fetzen wie "Rangers of Fortune" (1940),  “The Pride of the Yankees” (1942) - und verhalf in “Kings Row” (1942) einem später zum Präsidenten der Vereinigten Staaten avancierten Schauspieler, der sich in sentimentalen Momenten gern daran zurückerinnerte ("Where's the rest of me?"), zu seiner besten Rolle...


Dass aus dem Film nicht  eine peinliche Hymne auf Amerika wurde, dürfte in erster Linie dem Produzenten Sol Lesser, einem entschiedenen Gegner des in den USA vorherrschenden hysterischen Antikommunismus, zu verdanken sein. Er besprach jedes Detail mit dem Autor des Stücks und sorgte dafür, dass die Adaption diesem weitgehend, auch den (gekürzten) Text übernehmend, folgte. Selbstverständlich ermöglichte eine Hollywood-Produktion nicht die für die Bühne geforderte minimale Ausstattung; man bemerkt aber rasch den Unterschied zu den mit Dekors überfüllten MGM-Filmen jener Zeit, erkennt in den Bildern ein Bemühen, sich auf das Nötigste zu beschränken. Und gerade diese Pflicht, sich auf das Nötigste zu beschränken, erforderte kameratechnische Experimente, für die wohl keiner besser geeignet war als Bert Glennon, der schon mit Josef von Sternberg und John Ford zusammengearbeitet hatte. Diesem wunderbar einfallsreichen Mann verdankte Wood Bilder, die immer wieder vergessen lassen, dass man es mit der Verfilmung eines Bühnenstücks zu tun hat: von der üblicherweise mit Orson Welles’ “Citizen Kane” (1941) in Verbindung gebrachten “Deep focus cinematography”, die eine möglichst grosse Tiefenschärfe im Film zu erreichen versucht, wird wiederholt Gebrauch gemacht, und wenn die Kamera einen unvergesslichen, oft Details betonenden Effekt nicht einzufangen vermochte, half man mit Post-Produktions-Techniken nach. Ein Film, der sich also schon durch seine scheinbar alltäglichen Schwarzweiss-Aufnahmen. die dennoch so vollkommen waren,  von anderen Hollywood-Streifen der Zeit abhob.

“Our Town” dreht sich um zwei benachbarte Familien, deren Kinder sich ineinander verlieben und heiraten. Ihnen werden andere Bewohner zugesellt, über die uns der Stage Manager informiert, ein tatsächlich als All American Man, als gemütlicher Farmer-Typ mit Pfeife, in Erscheinung tretender Voice Over-Ersatz,  der uns  Banales und Tiefgründiges mitteilt, gelegentlich auf Zukünftiges verweist, aber auch mal ironisch einen verklemmten Professor um Informationen zur Geschichte des Städtchens  bittet (Frank Craven hatte die Rolle schon am Broadway gespielt und legt sie auch hier, ein bloss imaginäres Publikum ansprechend, mit einer unvergleichlichen Nonchalance hin). - Im ersten Teil geht es um das alltägliche Leben: Dr. Gibbs kehrt am frühen Morgen von einer Entbindung heim, die er in Polish Town, dem Viertel der Zugezogenen, vornehmen musste. Der Zeitungsjunge, von dem wir erfahren, dass er einen hervorragenden Schulabschluss machen, aber im Ersten Weltkrieg umkommen wird (“All that education for nothin’!”), wechselt ein paar Worte mit ihm. Der Milchmann liefert Mrs. Gibbs die Milch. Anschliessend weckt sie wie ihre Nachbarin, Mrs. Webb, die Kinder. Zwischen dem jungen George Gibbs, der später Farmer werden möchte, und der gleichaltrigen Emily Webb, bahnt sich, wie man rasch bemerkt, eine jugendliche Romanze an. Die tägliche Arbeit wird von den Nachbarsfrauen für ein Schwätzchen genutzt. Mrs. Gibbs erzählt ihrer Freundin, sie würde gerne einmal nach Paris reisen (“It seems to me, once in your life, before you die, you ought to see a country where they don’t speak any English and they don’t even want to.” ). Ihr Wunsch wird nicht in Erfüllung gehen, denn wir haben vom Stage Manager bereits erfahren, dass sie in wenigen Jahren an einer Lungenentzündung sterben wird. Nichtigkeiten, die doch immer wieder hintergründig wirken, auf die Vergänglichkeit aufmerksam machen. - Der Tag endet mit der wöchentlichen Chorprobe, die die Frauen mit dem einzigen “enfant terrible” der Stadt, dem stets alkoholisierten Kirchenorganisten, zusammenbringt - während Emily George von Fenster zu Fenster unschuldig flirtend bei den Hausaufgaben hilft.

Der zweite Teil spielt drei Jahre später am Tag der Hochzeit der Nachbarskinder. In einer Rückblende wird gezeigt, wie sie in einer Eisdiele zueinander fanden. Das alltägliche Leben hat sich ein wenig, aber kaum merklich geändert. - Neun Jahre vergehen, und der Stage Manager führt uns zum Friedhof von Crover’s Corner. Hier ruhen alle Menschen, die mittlerweile verstorben sind. Zu ihnen gehört auch Emily, die bei der Geburt ihres zweiten Kinds starb.  In einer überwältigenden Szene verwandeln sich die Grabsteine in die Toten, die Emily, eine Frau, die noch nicht loszulassen vermag und von ihrem Leben mit George erzählt, empfangen. Die Reaktion einer Frau auf das Erzählte verweist auf die Notwendigkeit des Vergessens, fasst jedoch auch das zusammen, was alle diese Alltäglichkeiten, denen der Zuschauer begegnete, bedeuteten: “I’d forgotten all about that. My, wasn’t life awful - and wonderful.” Trotz der Mahnungen der Toten wünscht sich Emily, noch einmal an einen der glücklichsten Tage ihres Lebens zurückzukehren und sucht sich ihren sechzehnten Geburtstag aus. Als sie erkennen muss, wie sie sich selber beobachtet, ohne sich den plötzlich so jung scheinenden Eltern mitteilen zu können, kehrt sie resigniert zu den Toten zurück: “They don’t understand, do they?”

Und an diesem Punkt weicht der Film entscheidend von der Vorlage ab: Man war sich sicher, dass das Kinopublikum eine tote “Heldin” nie und nimmer goutieren würde. Deshalb fügte man mit Erlaubnis von Thornton Wilder, der für das Drehbuch mitverantwortlich war, leider ein kitschiges Happy End an, das die von der Geburt noch geschwächte Emily aus einem tiefen Traum erwachen lässt. Die Botschaft des Stücks, so es denn explizit eine hatte (der Tod ist Teil jener wunderbaren Alltäglichkeiten, die unser Leben ausmachen, verlangt aber auch, dass wir sie angesichts des unvergänglichen Universums vergessen), ging verloren.


Abgesehen von diesem Fauxpas ist die Verfilmung von “Our Town” ein unterschätzter Klassiker, der nicht nur Neulinge mit einem bedeutenden Bühnenstück vertraut macht, sondern sich auch durch eine ebenso eigenwillige wie gelungene Bildersprache (den Hühnern im Hof wird mehr Bedeutung zugemessen als der sie fütternden Hand, ein Gesicht darf sich bei dieser Schilderung des Alltäglichen ruhig einmal hinter einem Küchenbalken verstecken) auszeichnet und mit Schauspielern aufwartet, die ein bemerkenswertes Ensemble bilden. Dass Martha Scott, die die Emily schon auf der Bühne gespielt hatte, eine Oscar-Nominierung erhielt, zeigt, wie richtig man lag, als man die Rolle nicht mit einem “Star” besetzte. - Stünde nicht noch das unbestreitbare Meisterwerk “For Whom the Bell Tolls” (1943) im Raum, möchte man sagen: Ein Film, der eine deutsche DVD verdient, obwohl Sam Wood Regie führte.

Mittwoch, 29. Juni 2011

Kurzbesprechung: Absolution


Absolution
(Absolution, Grossbritannien 1978)

Regie: Anthony Page

Father Goddard waltet über seine ihm Anbefohlenen  in einer katholischen Knabenschule mit fester Hand, erweist sich jedoch für einen gottesfürchtigen Priester nicht als sonderlich gerecht. Während er seinen “Liebling” Benjamin sogar mit Privatstunden fördert, verachtet er den mit einer Beinschiene ausgestatteten und von den Mitschülern gemiedenen Arthur Dyson als Krüppel, obwohl doch gerade dieser um seine Zuneigung buhlt. Benjamin wiederum treibt sich lieber mit einem Hippie im Wald herum, und als die Vorwürfe des Lehrers wegen seines Umgangs drängender werden, der Hippie sogar offensichtlich vertrieben werden soll, lässt sich das Engelsgesicht ein perfides Spiel einfallen. Er erzählt seinem Priester und Lehrer unter Berufung auf das Beichtgeheimnis von Dingen, die Goddard immer häufiger in den Wald treiben, wo er beim Buddeln Dinge entdeckt, die sein ohnehin schon fahles Gesicht noch fahler aussehen lassen...

Richard Burton hatte in der zweiten Hälfte der 70er Jahre ein eher unglückliches Händchen  bei seiner Rollenwahl selbst in auf den ersten Blick viel versprechenden Filmen. Zu diesen gehörten der damals eigenartigerweise recht grosses Aufsehen erregende “Equus” (1977), die mit Schockelementen versehene Verfilmung eines heute jeder Logik entbehrenden Bühnenstücks von Peter Shaffer, aber auch der sich vor allem durch Längen auszeichnende unentschlossene Genre-Mix “The Medusa Touch” (1978), in dem er über telekinetische Fähigkeiten verfügte, damit das Spiel von Lee Remick jedoch nicht zu verbessern vermochte.  “Absolution”  nach einem Drehbuch von Anthony Shaffer, dem Bruder von Peter und Verfasser des grandiosen “Sleuth”, muss als trauriger Tiefpunkt in dieser Reihe von Filmen, aus denen vielleicht etwas hätte werden können, betrachtet werden. - Dass er völlig misslang, mag zum Teil bereits am Drehbuch gelegen haben, ist aber sicher auch der lieblosen Regie von Anthony Page zuzuschreiben, der später eher durch seine Arbeiten fürs Fernsehen von sich reden machen sollte.

Burton legt die Rolle des Priesters (er hatte sich bekanntlich schon in "Exorcist II: The Heretic", 1977, darin geübt) grundsätzlich gut an, entwickelt sich aber viel zu rasch vom strengen Lehrer zum psychischen Wrack, das anlässlich jeder Beichte mehr und mehr in sich zusammenfällt und nächtens voller Panik  die Schlafräume seiner Schüler betritt, um sich zu vergewissern, ob auch alles in Ordnung sei. Die Privatstunden, die er seinem Liebling Benjamin gibt, wirken wenig glaubhaft, müssten wenigstens andeutungsweise Gründe für die Bevorzugung des Schülers (unterdrückte sexuelle Zuneigung?) liefern. Der Zuschauer dürfte überhaupt schon damals in der schwülen Atmosphäre eines Internats ein wenig Erotik erwartet haben, wenn sie filmisch auch erst mit "Another Country" (1984) in aller Deutlichkeit durchzubrechen begann. Aber die Versuche des verkrüppelten Arthur, sich Schülern wie Lehrer anzubiedern, entbehren hier  jeder Begründung, was mit der Reduktion des Ganzen auf eine vor sich hin plätschernde Thriller-Ebene zu tun hat, die sich wiederum auf das Herumrennen des Priesters mit seiner Schaufel im Wald beschränkt, sonst aber nichts bietet, was die Spannung aufrecht zu erhalten oder durch Überraschungen zu erhöhen vermöchte. Man wartet denn auch eher gelangweilt als gefesselt auf des Rätsels Lösung, die so unerwartet nun wirklich nicht ist. - Ein grosser Schauspieler, verheizt in einem jämmerlichen Film, der sich überhaupt nicht um atmosphärische Glaubwürdigkeit bemüht und ganz darauf setzt, man gebe sich mit dem zufrieden, was so alles ausgebuddelt wird.

Donnerstag, 23. Juni 2011

Der Mann mit der Hasenscharte

Dällebach Kari
(Dällebach Kari, Schweiz 1970)
 
Regie: Kurt Früh
Darsteller: Walo Lüönd, Lukas Ammann, Annemarie Düringer, Ellen Widmann, Hans Gaugler, Erwin Kohlund u.a.

Im Anschluss an eine Sichtung des in Deutschland leider unbekannt bleibenden Schweizer Dokumentarfilms "Der letzte Coiffeur vor der Wettsteinbrücke" (2003), der auf liebenswerte Weise vom Basler Stadtoriginal Charly Hottiger, einem Friseur der alten Schule, erzählt, geriet ich ins Grübeln über die vielfältigen Rollen, die diesem Beruf in der Filmgeschichte zukommen. Man denkt zuerst wohl gern an die  tuckigen Nebenfiguren, die in den prüden Hollywood-Komödien bis in die 60er Jahre hinein gerade noch durchgingen. -   Tatsächlich gibt es derart viele Filme, in deren Mittelpunkt ein Friseur in unterschiedlichen Funktionen steht, dass man beinahe eine Arbeit darüber schreiben möchte. - Ich erwähne bloss ein paar aus dem Ärmel geschüttelte Stücke und lasse “You Don’t Mess With the Zohan” (2008) mal aussen vor: “The Great Dictator” (1940), “Blanc” (1994) von Kieslowski, “The Big Tease” (1999), “Chain of Fools” (2000), “The Man Who Wasn’t There” (2001), “Blow Dry” (2001)... - Könnte man da nicht direkt in Versuchung geraten, die Liste zu erweitern und ihrer Bedeutung nachzugehen?


Zufällig erzählt auch der 1970 entstandene Spielfilm “Dällebach Kari” von einem Friseur, der wie der mit seinem Salon vielen Menschen eine Heimat bietende Basler Charly Hottiger zu einem Stadtoriginal wurde, allerdings zu einem Stadtoriginal der ganz anderen Art:

Dällebach Kari gilt weit über die Stadt Bern hinaus als der Possenreisser und Witzeerzähler, um den sich Legenden ranken, neue Witze bilden und von dem viele letztlich wohl gar nicht wissen, ob er, der Coiffeur mit der Hasenscharte, je existiert hat. Jede Stadt dürfte solche Figuren haben, denen bessere oder schlechtere Witze zugesprochen und -gedichtet wurden und die zugleich unter einer körperlichen Auffälligkeit, die zum sie kennzeichnenden “Makel” erhoben wurde, litten (im Moment fallen mir dank einer Suchmaschine gerade der Mannheimer Blumenpeter oder der Aachener Lennet Kann ein). - Kurt Früh, der lange Zeit unerträglich behäbige, das Kleinbürgerliche feiernde Schweizer Filme wie “Polizischt Wäckerli“ (1955) oder “Bäckerei Zürrer” (1957) gedreht hatte, nahm sich der Figur an, unter dem Einfluss des “Jungen Schweizer Films” aber auf eine Weise, die den Zuschauer im Innersten zu treffen vermag, sozusagen durch Mark und Bein geht. Denn bei ihm wird “Dällebach Kari” zum an sich und seiner Umgebung leidenden Neurotiker, den das biedere Bern, das hier als beinahe schaurige Kulisse dient, sehr wohl duldet, so lange er sich an seine Rolle als Hofnarr hält, von dem, dem zunehmend dem Alkohol Verfallenden, man aber nicht hören will, dass er bald sterben werde. Und so nimmt man weder seine unglückliche Liebe noch seine Krebserkrankung zur Kenntnis. Sogar als er, der sich aus Verzweiflung das Leben nahm, nach zehn Tagen aus der Aare gefischt wird, sagt einer jener fetten Bürger, der im öffentlichen Aushang die Zeitung liest: “Dällebach Kari und zehn Tage lang Wasser saufen? Wenn das nicht ein Witz ist!”

Kurt Früh gibt in seinem episodenhaft-balladenartigen Film (der Aufbau erinnert entfernt an Arthur Penn’s “Bonnie and Clyde”, 1967) durchaus einige der berühmten Dällebach-Sprüche und -witze (etwa wie er einem Nationalrat nur die eine Hälfte der Haare schneidet, weil er aus einem "halben" Kanton komme, oder sämtliche Kunden einseift, um anschliessend ins Restaurant zu gehen) zum Besten; aber sie wirken bewusst schal, unbedeutend und mit Traurigkeit erfüllt, wenn man in der nächsten Szene den völlig besoffenen Coiffeur durch die Gegend schwanken sieht und vom Tod reden hört. Auf diese Weise werden dem “Original” all jene volkstümelnden Eigenschaften entzogen, die es zu einer witzigen Figur machen wollen. Und auf diese Intention bereitet uns bereits der Beginn des Films, der nicht zu Unrecht als einer der besten Schweizer Filme überhaupt betrachtet wird, vor: Wir sehen die nächtliche Brücke, die Kari den Sprung in die Erlösung ermöglicht hat und hören in einer Ballade des berühmten, jung verstorbenen Berner Troubadours Mani Matter (1936 - 1972), der in der Schweiz selber zur Legende wurde, worauf wir uns gefasst machen müssen - nämlich auf eine abseits vom gewohnten Heimatkitsch liegende Geschichte. - Dann entdecken zwei Polizisten den Abschiedsbrief des Coiffeurs mit dem Wunsch, man möge sich beim Leichenmahl der Gemütlichkeit und dem Humor hingeben, zum Abschluss aber sein Lieblingslied “Wie die Blümlein leise zittern” singen; und schon sieht man die Trauergemeinde (darunter etwa Lukas Ammann, der in Deutschland durch die Serie “Graf Yoster gibt sich die Ehre” bekannt wurde) beim Fressen und der “Wisst ihr noch?”-Legendenbildung. - Dass uns die Figur des “Dällebach Kari” derart ergreift, ist in erster Linie das Verdienst des grandiosen Walo Lüönd, der unter anderem auch in Wolfgang Petersens "Die Konsequenz" (Deutschland 1977) mitspielte und den ich ausserordentlich schätze.. Er, der heute  leider kaum mehr bekannte Meister des Einfühlens in eine Figur, fand als an seiner Existenz verzweifelnder und unverstandener “Kari” die Rolle seines Lebens und wird sogar von amerikanischen Filmkennern als Oscar-würdig erachtet. - Leider wird der Film ausserhalb der Schweiz immer ein Geheimtipp bleiben.


Der Coiffeurmeister Karl Tellenbach (1877 - 1931) lebte übrigens wirklich. Sein Coiffeurgeschäft in der Berner Neuengasse wurde zum Treffpunkt für alle, die sich über den Mann mit der Hasenscharte und der nasalen Sprechweise lustig machen, aber auch seine schlagfertigen Sprüche geniessen wollten. Nach zwei erfolglosen Krebs-Operationen nahm er sich das Leben, indem er von der Berner Kornhausbrücke sprang. Tellenbachs Nichte empfand Kurt Frühs Film als Ärgernis, weil einige Details nicht korrekt wiedergegeben wurden und sie sich an der Zeichnung ihres Onkels als Säufer störte. - Man sollte den Film jedoch weniger als “Biopic” denn als eine Art Mahnmal betrachten: Er zeigt uns, was eine in sich kranke kleinbürgerliche Gesellschaft aus einem letztlich verfemten Aussenseiter macht, der sie doch eine Zeitlang zum Lachen brachte: Ein Original!

Die DVD ist mit Untertiteln für Gehörlose und Leute, die des Berndeutschen nicht mächtig sind, ausgestattet. Ich will hier wirklich nicht für die Filmindustrie meines Landes Werbung machen - aber: “Dällebach Kari” sollte man gesehen haben.Wir haben es mit einem grossen und zutiefst traurigen  Film, einem Meisterwerk,  zu tun!