Dies ist die gekürzte und leicht überarbeitete Version eines Artikels, der 2004 im Usenet und 2006 als PDF in der Filmzentrale veröffentlicht wurde (in der längeren Fassung wird noch der erstaunliche SOY CUBA angerissen, der eine eigene Besprechung verdient).
WENN DIE KRANICHE ZIEHEN (DDR-Titel DIE KRANICHE ZIEHEN, russ. LETJAT SCHURAWLI)
UdSSR 1957
Regie: Michail Kalatosow
Darsteller: Tatjana Samoilowa (Veronika), Alexej Batalow (Boris), Wassili Merkurjew (Fjodor Iwanowitsch), Alexander Schworin (Mark), Swetlana Charitonowa (Irina), Valentin Subkow (Stepan)
Im Februar 1956, knapp drei Jahre nach Stalins Tod, fand in Moskau der 20. Parteitag der KPdSU statt. Auf dieser denkwürdigen Veranstaltung griff Nikita Chruschtschow in einer berühmt gewordenen Rede Stalin scharf an und leitete damit die Entstalinisierung ein. In der darauf folgenden "Tauwetterperiode", die bis zur "neuen Eiszeit" unter Leonid Breschnew (ab 1964) währte, genossen Künstler und Intellektuelle in der Sowjetunion weit mehr Freiheiten als im Vierteljahrhundert zuvor. Eine nur lose zusammenhängende Gruppe von Filmschaffenden nutzte die neue Freiheit, um sich von den Zwängen des "Sozialistischen Realismus" zu lösen und individuell geprägte, teilweise gar systemkritische Filme zu drehen. Ihr bekanntester Vertreter war Michail Kalatosow, und WENN DIE KRANICHE ZIEHEN war der künstlerisch und kommerziell erfolgreichste Film der Epoche.
Moskau 1941, kurz bevor die Sowjetunion in den 2. Weltkrieg hineingezogen wird. Während ein Schwarm Kraniche im eleganten V-förmigen Formationsflug über den Himmel zieht, trifft sich an den Ufern der Moskwa ein junges Liebespaar. Boris Borosdin ist Arbeiter und Sohn eines angesehenen Arztes, Veronika will irgendwann mal Architektur studieren. Boris nennt sie Belka (Eichhörnchen), und in der Tat erinnert sowohl ihr hübsches Gesicht als auch ihr quirliges Wesen ein wenig an das agile Nagetier. Veronika sieht den Vögeln nach und rezitiert ihren Lieblingsvers: "Kraniche wie Schiffe, am Himmel segelnd, weiße wie graue, mit langen Schnäbeln, ziehen sie dahin ..." Mit der Idylle ist es schnell vorbei: Nazi-Deutschland marschiert in der Sowjetunion ein. Boris und sein Freund und Arbeitskollege Stepan melden sich freiwillig zur Front, zunächst ohne Wissen von Veronika und Boris' Familie. Boris' Cousin Mark dagegen, ein junger Pianist, hofft auf seine Freistellung. Mark, der in der Wohnung der Borosdins lebt, macht auch Veronika schöne Augen, ohne eine Chance bei ihr zu haben. (In einer deutschen Fassung des Films wurde aus Mark aus unerfindlichen Gründen Boris' Bruder, was aber in mehrfacher Hinsicht keinen Sinn ergibt. Er ist definitiv sein Cousin.)
Einen Tag vor Boris' Abmarsch, und vor Veronikas Geburtstag, vereinbaren Boris und die noch immer ahnungslose Veronika ihre Hochzeit, und Veronika malt sich in Gedanken ihr weißes Brautkleid aus. Dann erscheint Stepan, und die schockierte Veronika erfährt von Boris' Entschluß. Auch seine Familie ist entsetzt. Sein Vater Fjodor Iwanowitsch Borosdin hält ihm eine Standpauke, und auch seine Schwester Irina, eine angehende Ärztin, und seine Großmutter machen ihm Vorwürfe. Als am nächsten Tag zwei junge Kolleginnen von Boris in der Wohnung erscheinen, um dem ausrückenden "Helden" eine offizielle Grußbotschaft des Arbeiterkomitees zu überbringen, unterbricht sie Fjodor Iwanowitsch unwirsch und macht sich mit grimmiger Ironie über die hohlen Phrasen lustig. Allein für diese Szene wäre der Regisseur wohl noch wenige Jahre zuvor in einem Straflager in Sibirien verschwunden. Am Tag des Aufbruchs verfehlen sich die Liebenden, um Abschied zu nehmen. Boris lässt als Geburtstagsgeschenk für Veronika ein Stoff-Eichhörnchen zurück, das ihr die Großmutter aushändigen soll. Unter ein paar Süßigkeiten versteckt er seinen Abschiedsbrief. Als Veronika in der Wohnung der Borosdins erscheint, ist Boris schon weg, und in der Hektik erhält sie zwar das Eichhörnchen, aber sie übersieht den Brief. Veronika eilt zum Sammelpunkt der ausrückenden Soldaten, aber auch hier kommt sie zu spät. So werden Boris und Veronika getrennt, ohne sich noch Lebewohl sagen zu können.
Etwas später. Veronika und die Borosdins warten ungeduldig auf Nachrichten von Boris. Bei einem Luftangriff sucht Veronika in der U-Bahn Schutz, während ihre Eltern leichtsinnigerweise in der Wohnung zurückbleiben. Das Wohnhaus erhält einen Volltreffer - Veronikas Eltern sind tot. Die verstörte Veronika wird von den Borosdins in ihrer Wohnung aufgenommen, als sei sie bereits Boris' Frau. Bei einem neuerlichen Luftangriff bleiben Mark und Veronika allein in der Wohnung zurück. Mark nützt die Situation, um sich wieder an Veronika heranzumachen. Zunächst ohrfeigt sie ihn, aber dann gibt sie im emotionalen und realen Chaos des Bombenhagels nach. (Einige Kritiker wollen aus der Szene herauslesen, dass Veronika von Mark vergewaltigt wird, aber dafür kann ich keine deutlichen Anzeichen erkennen.) Am nächsten Morgen eröffnen Mark und Veronika der völlig überraschten Familie, dass sie heiraten werden. Dies empfinden die Anderen als Verrat an Boris und quittieren es mit versteinerten Mienen und eisigem Schweigen.
Szenenwechsel an die Front. Boris ist mit seiner Kampfgruppe in einer absolut trostlosen, sumpfigen Gegend von den Deutschen eingekesselt worden. Auf einem Erkundungsgang wird er von einer Kugel getroffen, wohl von einem Scharfschützen abgefeuert. Er bricht zusammen und stirbt kurz darauf. Nächster Szenenwechsel: Eine Stadt irgendwo in Sibirien, in die ein Teil der Bevölkerung evakuiert wurde. Fjodor Iwanowitsch leitet das Lazarett, in dem Irina als Ärztin und Veronika als Krankenschwester arbeiten. Noch immer haben sie keine Nachricht von Boris, sie wissen nur, dass er vermisst wird. Die Ehe von Mark und Veronika, die von Anfang an unter keinem guten Stern stand, ist so gut wie gescheitert. Veronika ist deprimiert, sie macht sich Selbstvorwürfe und sehnt sich nach Boris. Dem vom aktiven Dienst freigestellten Mark gegenüber ist sie abweisend. Der wiederum beginnt ein Verhältnis mit einer gewissen Antonina Monastyrskaja, hinter der auch sein Vorgesetzter Tschernow her ist. Im Lazarett kommt es zu einem kleinen Tumult. Ein verwundeter Soldat randaliert, als er erfährt, dass seine Braut in seiner Abwesenheit einen Anderen geheiratet hat. Fjodor Iwanowitsch hält dem Mann eine Standpauke, und ohne dabei Veronikas Anwesenheit zu bemerken, erklärt er ihm, dass er an dieser "Verräterin" nicht viel verloren hat, um ihn damit wieder aufzurichten. Aber Veronika bezieht die Predigt auf ihre eigene Situation, und ihre Selbstvorwürfe schlagen in jähe Verzweiflung um. Sie rennt fluchtartig ins Freie und auf eine Brücke, um sich vor einen heranbrausenden Zug zu stürzen. Im letzten Augenblick kommt es anders: Ein kleiner elternloser Junge wird auf der Straße neben Veronika beinahe von einem Auto überfahren. Ihre Selbstmordgedanken sind jetzt verflogen, sie kümmert sich um den Jungen - der auch Boris heißt - und nimmt ihn mit in ihre Unterkunft.
Unterdessen hat Mark Veronikas Eichhörnchen seiner neuen Flamme Antonina geschenkt. Veronika verursacht einen kleinen Eklat, als sie sich das Eichhörnchen zurückholt und Mark dabei wild ohrfeigt. Zwischen den beiden ist es nun endgültig aus. Bei dieser Gelegenheit kommt auch endlich der im Eichhörnchen versteckte Brief zum Vorschein - Boris' letzter Gruß an seine Belka. Währenddessen macht Antonina ihrem anderen Verehrer Tschernow Aussichten, falls dieser ihr eine Spazierfahrt spendiert. Da er keinen Wagen zur Verfügung hat, wendet er sich an Fjodor, um sich vom Lazarett einen Krankenwagen zu leihen. Er lässt durchblicken, dass er das als Gegenleistung für seine erwiesenen Gefälligkeiten erwartet. Da Fjodor keine Ahnung hat, wovon die Rede ist, erklärt ihm Tschernow, dass er doch um Marks Freistellung von der Front gebeten habe. Schnell erkennen beide, dass sich Mark mit dieser Lüge seine Freistellung erschlichen hat. Der aufgebrachte Fjodor stellt Mark zur Rede und hält ihm eine Strafpredigt, dann verbannt er ihn aus dem Kreis der Familie. Dagegen hält er Veronika, der er längst verziehen hat, zurück, als diese ebenfalls gehen will. Etwas später taucht ein Kamerad von Boris in der Unterkunft der Borosdins auf und überbringt die Todesnachricht. Er erzählt, dass Boris auch während der heftigsten Kämpfe immer von seiner Belka gesprochen hat. Allerdings hat er selbst Boris nicht tot, sondern nur verwundet gesehen, und so klammert sich Veronika an die Hoffnung, dass er vielleicht doch noch lebt.
Letzter Szenenwechsel: Wieder in Moskau, nach Ende des Krieges. Veronika hofft immer noch auf Boris' Heimkehr. Als eine große Gruppe Heimkehrer auf dem Bahnhof empfangen wird, wartet Veronika mit einem Blumenstrauß in der Menge. Boris ist nicht unter den Soldaten, aber Stepan. Als er Veronika erblickt, zeigt er ihr ein Foto von ihr, das ihm Boris vor dem verhängnisvollen Erkundungsgang ausgehändigt hat - für den Fall der Fälle. Ohne überflüssige Worte bestätigt er damit Boris' Tod. Jetzt erst akzeptiert Veronika die bittere Wahrheit. Während viele der Umstehenden Freudentränen vergießen, schluchzt sie vor Kummer. Stepan hat mittlerweile eine Lokomotive bestiegen und hält eine Rede: "[...] aber wir werden die Gefallenen nie vergessen. Die Zeit wird vergehen. Alles wird neu aufgebaut. Unsere Wunden werden geheilt. Aber der Hass gegen den Krieg wird ewig glühen! Wir empfinden tiefes Beileid für diejenigen, die ihre Angehörigen nie mehr treffen werden. Und wir werden alles tun, damit die Bräute ihre Bräutigame nie verlieren, damit die Mütter um das Leben ihrer Kinder nie zittern, damit die mutigen Väter nie heimlich weinen müssen. Wir haben gesiegt, nicht um alles zu zerstören, sondern um aufzubauen!" Während Stepan Applaus erntet, hellt sich Veronikas Miene auf. Sie hat Stepan aufmerksam zugehört und nimmt seine Worte zum Anlass, ihren Frieden mit der Vergangenheit zu machen und in die Zukunft zu blicken. Sie verteilt ihre Blumen an Passanten und lächelt, zum ersten Mal seit langer Zeit. Dann geht sie mit Fjodor Iwanowitsch nach Hause. Und über den Himmel zieht wieder ein Schwarm Kraniche.
WENN DIE KRANICHE ZIEHEN ist ein erfreulich unideologischer Film. Weder antideutsche noch kommunistische Propaganda spielt eine Rolle. Wenn der Film überhaupt eine politische Botschaft hat, dann ist es die pazifistische aus Stepans Ansprache. Aber die eigentliche Botschaft ist eine menschliche: Einerseits davon, welches Leid der Krieg auch und gerade bei den Zivilisten anrichtet, aber andererseits auch davon, dass das Leben weitergeht, egal was passiert.
Michail Kalatosow wurde 1903 als Michail Kalatosischwili in Tbilisi (Tiflis) in Georgien geboren. 1925 wurde er Schauspieler, kurz darauf Kameramann, und ab 1927 arbeitete er als Regisseur von formal anspruchsvollen Dokumentarfilmen, mit denen er sich in die Tradition Dsiga Wertows stellte. Das bekannteste dieser frühen Werke ist SOL SWANETIJ (DAS SALZ SWANETIENS) von 1930, ein ethnographisch angehauchter Film über die Bewohner einer abgelegenen Berggegend Georgiens. In seinen Frühwerken erschien Kalatosow unter seinem richtigen Namen in den Credits, aber berühmt wurde er erst unter der russischen Namensform, die ich deshalb hier bevorzuge. Obwohl Kalatosow eigentlich linientreuer Kommunist war, erregte DAS SALZ SWANETIENS bei den stalinistischen Kulturbürokraten wegen seiner formalen Gestaltung bereits erhebliches Stirnrunzeln. Sein nächster Film mit dem Titel LURSMANI CHEQMASHI (1931) wurde dann wegen "Negativismus" verboten, und Kalatosow durfte mehrere Jahre keinen Film mehr drehen. Stattdessen wurde er dazu verdonnert, in der georgischen Filmindustrie administrative Aufgaben wahrzunehmen. Ab 1939 durfte er dann wieder drehen, daneben war er weiterhin in der Verwaltung tätig. Gegen Ende des 2. Weltkriegs war er als sowjetischer Kulturattaché in Los Angeles. Ich nehme an, dass er die Gelegenheit genutzt hat, um sich über die Verhältnisse in Hollywood zu informieren. Nach dem Krieg gab es in seinem Werk erneut eine mehrjährige Pause. In dieser Zeit war er wieder führend in der sowjetischen Filmverwaltung tätig, 1945/46 sogar als stellvertretender Minister. Ab 1950 kehrte Kalatosow dann neuerlich auf den Regiestuhl zurück. WENN DIE KRANICHE ZIEHEN war der fünfte Film seit dem Wiedereinstieg von 1950, und er wurde ein überragender Erfolg. Und das nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch im westlichen Ausland. Als Krönung errang WENN DIE KRANICHE ZIEHEN beim Filmfestival in Cannes 1958 die Goldene Palme. Kalatosow war ein berühmter Mann.
Der Erfolg verdankte sich vor allem zwei Faktoren: Erstens der Leistung der Hauptdarsteller, zweitens der herausragenden Kameraarbeit von Sergej Urussewski. Alexej Batalow und insbesondere Tatjana Samoilowa spielen ungemein lebhaft und ausdrucksstark und lassen beim Zuschauer vom ersten Moment an eine emotionale Bindung an die Protagonisten entstehen. Die damaligen Jungstars - Samoilowa spielte in den KRANICHEN erst ihre zweite Filmrolle - ernteten weltweit begeisterte Kritiken. Aber auch die Nebenrollen sind vorzüglich besetzt. Vor allem Wassili Merkurjew erfüllt seinen Fjodor Iwanowitsch mit Leben und lässt ihn "menscheln". Das Ensemble insgesamt schafft es mühelos, den Zuseher an der Geschichte teilhaben zu lassen. Das gilt natürlich in besonderem Maße für das damalige sowjetische Publikum, das die Zeit des Krieges noch aus eigener Erinnerung kannte, und das damals wohl zum ersten Mal eine ungeschminkte, realistische Darstellung der Leiden zu sehen bekam, frei von den offiziellen Parolen über Heldentum und Opfermut. Entsprechend oft sollen damals in den sowjetischen Kinos die Taschentücher gezückt worden sein.
Aus der heutigen zeitlichen Distanz betrachtet, ist jedoch die brillante optische Gestaltung das herausragende Merkmal von WENN DIE KRANICHE ZIEHEN. Das wird übrigens auch von Alexej Batalow so gesehen, wie er in einem zehnminütigem Video-Statement, das sich als Bonusmaterial auf einer DVD des Films befindet, neidlos anerkennt. Kalatosow und Sergej Urussewski hatten 1955 erstmals zusammengearbeitet, WENN DIE KRANICHE ZIEHEN war der zweite von insgesamt vier gemeinsamen Filmen. Die beiden hatten eine ungeschriebene Übereinkunft, die ihnen ein gegenseitiges Vetorecht einräumte: Keiner der beiden würde in seinem Bereich etwas durchsetzen, was dem anderen nicht gefiel. Aber die beiden lagen in künstlerischer Hinsicht ohnehin auf einer Wellenlänge, wie Batalow im erwähnten Statement erzählt. Er bezeichnet es als einen Glücksfall, dass sich die beiden gefunden hatten. Urussewskis Spezialität waren lange, dynamische Kamerafahrten, die die Protagonisten bei ihren Aktionen begleiten und so eine "mitfühlende" Kamera schaffen. Der Effekt ist gelegentlich dem einer subjektiven Kamera ähnlich, bei der das Geschehen aus der Sicht des Handelnden gezeigt wird, ohne dass dieser selbst zu sehen ist. Doch Urussewskis Technik ist weit virtuoser und auch subtiler als die eher einfache subjektive Kamera. Er hat seine Rolle in diesen Sequenzen einmal so beschrieben: "Die Kamera kann ausdrücken, was der Schauspieler nicht zu porträtieren in der Lage ist: seine inneren Empfindungen. Der Kameramann muss mit den Schauspielern mitspielen." Diese dynamischen Kamerafahrten wurden zum größten Teil mit Handkameras gedreht. Urussewski hatte während des Krieges zwei Jahre als Kameramann beim Militär gedient und dort seine Vorliebe und seine Fertigkeit für die Handkamera entwickelt. Die Sequenzen sind auch in der größten Hektik stets so flüssig gedreht, als hätte Urussewski eine moderne Steadicam zur Verfügung gehabt - doch die wurde erst viele Jahre später erfunden.
Neben den Kamerafahrten kamen weitere Stilmittel wie etwa mehrfache Überblendungen zum Einsatz, und auch der Schnitt ist stellenweise virtuos und erinnert an die glorreichen Tage des russischen Stummfilms. Alle diese optischen Finessen werden jedoch keineswegs als selbstzweckhafte Gimmicks eingesetzt, sondern sie dienen der Geschichte. Insbesondere korrespondieren die virtuosesten Szenen jeweils mit der aufgewühlten Seelenlage der Protagonisten. Das möchte ich an den markantesten Beispielen verdeutlichen. Schon ziemlich am Anfang des Films gibt es eine Szene in dem Wohnhaus, in dem sich ganz oben die Wohnung von Veronika und ihren Eltern befindet: Veronika steht oben im Treppenhaus und Boris rennt hinauf, um den Termin ihres nächsten Rendezvous zu vereinbaren. Dabei folgt die Kamera Boris in der lichten Öffnung des Treppenhauses, immer auf gleicher Höhe mit ihm, und schraubt sich sozusagen spiralförmig in die Höhe. Doch diese an sich schon eindrucksvolle Szene ist nur eine Generalprobe für eine Wiederholung unter ungleich dramatischerem Vorzeichen. Als nämlich Veronika nach dem Bombenangriff, der ihre Eltern das Leben kostet, zum Wohnhaus zurückkommt, hetzt sie, von den schlimmsten Befürchtungen getrieben, durch die noch brennenden Ruinen und im Treppenhaus nach oben. Nur - außer dem Treppenhaus steht von dem Haus kaum noch etwas, man sieht durch riesige Löcher in den Mauern auf die Straße. Ohne darauf zu achten, dass sie sich selbst in Lebensgefahr begibt, rennt Veronika auf den Stufen nach oben, von der Kamera begleitet. Erst als sie, oben angekommen, feststellt, dass von der elterlichen Wohnung buchstäblich nichts mehr übrig ist, bleibt sie wie angewurzelt stehen. Eine Szene, die einem den Atem stocken lässt.
Am Tag von Boris' Abfahrt setzt Veronika alles daran, ihn noch einmal zu sehen, um sich zu verabschieden. Sie fährt zunächst mit einem Bus in die Nähe der Wohnung der Borosdins, steigt aus, rennt durch eine Menschenmenge und dann über eine Straße, über die gerade ein Panzerkonvoi rollt. Dabei folgt ihr die Kamera ohne Schnitt aus dem Bus heraus, durch die Menge - schnell, aber ohne störende Wackler, und immer auf Tuchfühlung mit ihr -, um in dem Moment, als sie die Straße mit den Panzern überquert, unversehens in einige Meter Höhe emporzusteigen und Veronika und die Panzer aus der Vogelperspektive zu zeigen. Nachdem Veronika Boris in der Wohnung verfehlt hat, eilt sie zum Abmarschplatz der Soldaten, wo im allgemeinen Trubel die Szene eine noch dynamischere Fortsetzung findet. Auch der nächtliche Bombenangriff, den Mark nutzt, um Veronika zu verführen, ist eindrucksvoll in Szene gesetzt. Durch einen Bombentreffer irgendwo in der Nachbarschaft fällt das Licht aus, und die Wohnung wird nur noch durch die Explosionsblitze erleuchtet, was eine stroboskopartige Beleuchtung und dadurch eine fast expressionistische Stimmung erzeugt. Auch die akustische Gestaltung dieser Szene ist außergewöhnlich: Marks Klavierspiel wird mit dem Heulen der Luftschutzsirenen und dem Krachen der einschlagenden Bomben kombiniert, was für eine ziemlich infernalische Soundkulisse sorgt.
Ein optischer Höhepunkt ganz besonderer Art ist Boris' Sterbeszene. Er wird in den Rücken getroffen, und während er langsam zusammenbricht, beginnen sich die Baumkronen über ihm zu drehen. Zugleich ziehen Szenen seines Lebens an ihm vorbei: Zunächst sein vorhin erwähnter Lauf im Treppenhaus empor, doch dann eine Szene seines Lebens, nicht wie es war, sondern wie es hätte sein können - nämlich seine Hochzeit mit Veronika, die sie sich gemeinsam ausgemalt hatten, und die nie stattfand. In einer mehrfachen Überblendung der sich drehenden realen Baumkronen und der halluzinierten fröhlichen Hochzeitsgäste und vom herumwirbelnden weißen Schleier von Veronikas Brautkleid steigert sich die Szene zu einem wahren optischen Crescendo, das man gesehen haben muss. Auch Veronikas Beinahe-Selbstmord ist außergewöhnlich virtuos inszeniert. Sie rennt wie von Furien gehetzt zu der Brücke, dabei wird sie teilweise durch die Latten eines Zaunes gefilmt, teilweise (während des Laufs!) in extremer Großaufnahme von vorn, und einige bis zur Abstraktion verfremdete schnelle Zwischenschnitte auf die Umgebung verstärken noch die Dynamik der Situation. In ihrer Gesamtheit erscheint die Szene so rasant und dramatisch, dass sie einem Eisenstein alle Ehre gemacht hätte, und sie visualisiert perfekt Veronikas desolate psychische Verfassung in diesem Moment. Das letzte Beispiel ist auch die letzte Szene des Films, die Heimkehr der Soldaten am Moskauer Bahnhof. Während sich Veronika in der verzweifelten Hoffnung, Boris doch noch wiederzusehen, in angstvoller Eile durch eine riesige wogende Menschenmasse kämpft, folgt ihr die Kamera durch all die Menschen so mühelos, als besäße Urussewski die Fähigkeit, herumstehende Passanten zu durchdringen, als seien sie gar nicht da. In ihren gemeinsamen Filmen erwiesen sich Kalatosow und Urussewski als Dreamteam der entfesselten Kamera.
Moskau 1941, kurz bevor die Sowjetunion in den 2. Weltkrieg hineingezogen wird. Während ein Schwarm Kraniche im eleganten V-förmigen Formationsflug über den Himmel zieht, trifft sich an den Ufern der Moskwa ein junges Liebespaar. Boris Borosdin ist Arbeiter und Sohn eines angesehenen Arztes, Veronika will irgendwann mal Architektur studieren. Boris nennt sie Belka (Eichhörnchen), und in der Tat erinnert sowohl ihr hübsches Gesicht als auch ihr quirliges Wesen ein wenig an das agile Nagetier. Veronika sieht den Vögeln nach und rezitiert ihren Lieblingsvers: "Kraniche wie Schiffe, am Himmel segelnd, weiße wie graue, mit langen Schnäbeln, ziehen sie dahin ..." Mit der Idylle ist es schnell vorbei: Nazi-Deutschland marschiert in der Sowjetunion ein. Boris und sein Freund und Arbeitskollege Stepan melden sich freiwillig zur Front, zunächst ohne Wissen von Veronika und Boris' Familie. Boris' Cousin Mark dagegen, ein junger Pianist, hofft auf seine Freistellung. Mark, der in der Wohnung der Borosdins lebt, macht auch Veronika schöne Augen, ohne eine Chance bei ihr zu haben. (In einer deutschen Fassung des Films wurde aus Mark aus unerfindlichen Gründen Boris' Bruder, was aber in mehrfacher Hinsicht keinen Sinn ergibt. Er ist definitiv sein Cousin.)
Einen Tag vor Boris' Abmarsch, und vor Veronikas Geburtstag, vereinbaren Boris und die noch immer ahnungslose Veronika ihre Hochzeit, und Veronika malt sich in Gedanken ihr weißes Brautkleid aus. Dann erscheint Stepan, und die schockierte Veronika erfährt von Boris' Entschluß. Auch seine Familie ist entsetzt. Sein Vater Fjodor Iwanowitsch Borosdin hält ihm eine Standpauke, und auch seine Schwester Irina, eine angehende Ärztin, und seine Großmutter machen ihm Vorwürfe. Als am nächsten Tag zwei junge Kolleginnen von Boris in der Wohnung erscheinen, um dem ausrückenden "Helden" eine offizielle Grußbotschaft des Arbeiterkomitees zu überbringen, unterbricht sie Fjodor Iwanowitsch unwirsch und macht sich mit grimmiger Ironie über die hohlen Phrasen lustig. Allein für diese Szene wäre der Regisseur wohl noch wenige Jahre zuvor in einem Straflager in Sibirien verschwunden. Am Tag des Aufbruchs verfehlen sich die Liebenden, um Abschied zu nehmen. Boris lässt als Geburtstagsgeschenk für Veronika ein Stoff-Eichhörnchen zurück, das ihr die Großmutter aushändigen soll. Unter ein paar Süßigkeiten versteckt er seinen Abschiedsbrief. Als Veronika in der Wohnung der Borosdins erscheint, ist Boris schon weg, und in der Hektik erhält sie zwar das Eichhörnchen, aber sie übersieht den Brief. Veronika eilt zum Sammelpunkt der ausrückenden Soldaten, aber auch hier kommt sie zu spät. So werden Boris und Veronika getrennt, ohne sich noch Lebewohl sagen zu können.
Etwas später. Veronika und die Borosdins warten ungeduldig auf Nachrichten von Boris. Bei einem Luftangriff sucht Veronika in der U-Bahn Schutz, während ihre Eltern leichtsinnigerweise in der Wohnung zurückbleiben. Das Wohnhaus erhält einen Volltreffer - Veronikas Eltern sind tot. Die verstörte Veronika wird von den Borosdins in ihrer Wohnung aufgenommen, als sei sie bereits Boris' Frau. Bei einem neuerlichen Luftangriff bleiben Mark und Veronika allein in der Wohnung zurück. Mark nützt die Situation, um sich wieder an Veronika heranzumachen. Zunächst ohrfeigt sie ihn, aber dann gibt sie im emotionalen und realen Chaos des Bombenhagels nach. (Einige Kritiker wollen aus der Szene herauslesen, dass Veronika von Mark vergewaltigt wird, aber dafür kann ich keine deutlichen Anzeichen erkennen.) Am nächsten Morgen eröffnen Mark und Veronika der völlig überraschten Familie, dass sie heiraten werden. Dies empfinden die Anderen als Verrat an Boris und quittieren es mit versteinerten Mienen und eisigem Schweigen.
Szenenwechsel an die Front. Boris ist mit seiner Kampfgruppe in einer absolut trostlosen, sumpfigen Gegend von den Deutschen eingekesselt worden. Auf einem Erkundungsgang wird er von einer Kugel getroffen, wohl von einem Scharfschützen abgefeuert. Er bricht zusammen und stirbt kurz darauf. Nächster Szenenwechsel: Eine Stadt irgendwo in Sibirien, in die ein Teil der Bevölkerung evakuiert wurde. Fjodor Iwanowitsch leitet das Lazarett, in dem Irina als Ärztin und Veronika als Krankenschwester arbeiten. Noch immer haben sie keine Nachricht von Boris, sie wissen nur, dass er vermisst wird. Die Ehe von Mark und Veronika, die von Anfang an unter keinem guten Stern stand, ist so gut wie gescheitert. Veronika ist deprimiert, sie macht sich Selbstvorwürfe und sehnt sich nach Boris. Dem vom aktiven Dienst freigestellten Mark gegenüber ist sie abweisend. Der wiederum beginnt ein Verhältnis mit einer gewissen Antonina Monastyrskaja, hinter der auch sein Vorgesetzter Tschernow her ist. Im Lazarett kommt es zu einem kleinen Tumult. Ein verwundeter Soldat randaliert, als er erfährt, dass seine Braut in seiner Abwesenheit einen Anderen geheiratet hat. Fjodor Iwanowitsch hält dem Mann eine Standpauke, und ohne dabei Veronikas Anwesenheit zu bemerken, erklärt er ihm, dass er an dieser "Verräterin" nicht viel verloren hat, um ihn damit wieder aufzurichten. Aber Veronika bezieht die Predigt auf ihre eigene Situation, und ihre Selbstvorwürfe schlagen in jähe Verzweiflung um. Sie rennt fluchtartig ins Freie und auf eine Brücke, um sich vor einen heranbrausenden Zug zu stürzen. Im letzten Augenblick kommt es anders: Ein kleiner elternloser Junge wird auf der Straße neben Veronika beinahe von einem Auto überfahren. Ihre Selbstmordgedanken sind jetzt verflogen, sie kümmert sich um den Jungen - der auch Boris heißt - und nimmt ihn mit in ihre Unterkunft.
Unterdessen hat Mark Veronikas Eichhörnchen seiner neuen Flamme Antonina geschenkt. Veronika verursacht einen kleinen Eklat, als sie sich das Eichhörnchen zurückholt und Mark dabei wild ohrfeigt. Zwischen den beiden ist es nun endgültig aus. Bei dieser Gelegenheit kommt auch endlich der im Eichhörnchen versteckte Brief zum Vorschein - Boris' letzter Gruß an seine Belka. Währenddessen macht Antonina ihrem anderen Verehrer Tschernow Aussichten, falls dieser ihr eine Spazierfahrt spendiert. Da er keinen Wagen zur Verfügung hat, wendet er sich an Fjodor, um sich vom Lazarett einen Krankenwagen zu leihen. Er lässt durchblicken, dass er das als Gegenleistung für seine erwiesenen Gefälligkeiten erwartet. Da Fjodor keine Ahnung hat, wovon die Rede ist, erklärt ihm Tschernow, dass er doch um Marks Freistellung von der Front gebeten habe. Schnell erkennen beide, dass sich Mark mit dieser Lüge seine Freistellung erschlichen hat. Der aufgebrachte Fjodor stellt Mark zur Rede und hält ihm eine Strafpredigt, dann verbannt er ihn aus dem Kreis der Familie. Dagegen hält er Veronika, der er längst verziehen hat, zurück, als diese ebenfalls gehen will. Etwas später taucht ein Kamerad von Boris in der Unterkunft der Borosdins auf und überbringt die Todesnachricht. Er erzählt, dass Boris auch während der heftigsten Kämpfe immer von seiner Belka gesprochen hat. Allerdings hat er selbst Boris nicht tot, sondern nur verwundet gesehen, und so klammert sich Veronika an die Hoffnung, dass er vielleicht doch noch lebt.
Letzter Szenenwechsel: Wieder in Moskau, nach Ende des Krieges. Veronika hofft immer noch auf Boris' Heimkehr. Als eine große Gruppe Heimkehrer auf dem Bahnhof empfangen wird, wartet Veronika mit einem Blumenstrauß in der Menge. Boris ist nicht unter den Soldaten, aber Stepan. Als er Veronika erblickt, zeigt er ihr ein Foto von ihr, das ihm Boris vor dem verhängnisvollen Erkundungsgang ausgehändigt hat - für den Fall der Fälle. Ohne überflüssige Worte bestätigt er damit Boris' Tod. Jetzt erst akzeptiert Veronika die bittere Wahrheit. Während viele der Umstehenden Freudentränen vergießen, schluchzt sie vor Kummer. Stepan hat mittlerweile eine Lokomotive bestiegen und hält eine Rede: "[...] aber wir werden die Gefallenen nie vergessen. Die Zeit wird vergehen. Alles wird neu aufgebaut. Unsere Wunden werden geheilt. Aber der Hass gegen den Krieg wird ewig glühen! Wir empfinden tiefes Beileid für diejenigen, die ihre Angehörigen nie mehr treffen werden. Und wir werden alles tun, damit die Bräute ihre Bräutigame nie verlieren, damit die Mütter um das Leben ihrer Kinder nie zittern, damit die mutigen Väter nie heimlich weinen müssen. Wir haben gesiegt, nicht um alles zu zerstören, sondern um aufzubauen!" Während Stepan Applaus erntet, hellt sich Veronikas Miene auf. Sie hat Stepan aufmerksam zugehört und nimmt seine Worte zum Anlass, ihren Frieden mit der Vergangenheit zu machen und in die Zukunft zu blicken. Sie verteilt ihre Blumen an Passanten und lächelt, zum ersten Mal seit langer Zeit. Dann geht sie mit Fjodor Iwanowitsch nach Hause. Und über den Himmel zieht wieder ein Schwarm Kraniche.
WENN DIE KRANICHE ZIEHEN ist ein erfreulich unideologischer Film. Weder antideutsche noch kommunistische Propaganda spielt eine Rolle. Wenn der Film überhaupt eine politische Botschaft hat, dann ist es die pazifistische aus Stepans Ansprache. Aber die eigentliche Botschaft ist eine menschliche: Einerseits davon, welches Leid der Krieg auch und gerade bei den Zivilisten anrichtet, aber andererseits auch davon, dass das Leben weitergeht, egal was passiert.
Michail Kalatosow wurde 1903 als Michail Kalatosischwili in Tbilisi (Tiflis) in Georgien geboren. 1925 wurde er Schauspieler, kurz darauf Kameramann, und ab 1927 arbeitete er als Regisseur von formal anspruchsvollen Dokumentarfilmen, mit denen er sich in die Tradition Dsiga Wertows stellte. Das bekannteste dieser frühen Werke ist SOL SWANETIJ (DAS SALZ SWANETIENS) von 1930, ein ethnographisch angehauchter Film über die Bewohner einer abgelegenen Berggegend Georgiens. In seinen Frühwerken erschien Kalatosow unter seinem richtigen Namen in den Credits, aber berühmt wurde er erst unter der russischen Namensform, die ich deshalb hier bevorzuge. Obwohl Kalatosow eigentlich linientreuer Kommunist war, erregte DAS SALZ SWANETIENS bei den stalinistischen Kulturbürokraten wegen seiner formalen Gestaltung bereits erhebliches Stirnrunzeln. Sein nächster Film mit dem Titel LURSMANI CHEQMASHI (1931) wurde dann wegen "Negativismus" verboten, und Kalatosow durfte mehrere Jahre keinen Film mehr drehen. Stattdessen wurde er dazu verdonnert, in der georgischen Filmindustrie administrative Aufgaben wahrzunehmen. Ab 1939 durfte er dann wieder drehen, daneben war er weiterhin in der Verwaltung tätig. Gegen Ende des 2. Weltkriegs war er als sowjetischer Kulturattaché in Los Angeles. Ich nehme an, dass er die Gelegenheit genutzt hat, um sich über die Verhältnisse in Hollywood zu informieren. Nach dem Krieg gab es in seinem Werk erneut eine mehrjährige Pause. In dieser Zeit war er wieder führend in der sowjetischen Filmverwaltung tätig, 1945/46 sogar als stellvertretender Minister. Ab 1950 kehrte Kalatosow dann neuerlich auf den Regiestuhl zurück. WENN DIE KRANICHE ZIEHEN war der fünfte Film seit dem Wiedereinstieg von 1950, und er wurde ein überragender Erfolg. Und das nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch im westlichen Ausland. Als Krönung errang WENN DIE KRANICHE ZIEHEN beim Filmfestival in Cannes 1958 die Goldene Palme. Kalatosow war ein berühmter Mann.
Der Erfolg verdankte sich vor allem zwei Faktoren: Erstens der Leistung der Hauptdarsteller, zweitens der herausragenden Kameraarbeit von Sergej Urussewski. Alexej Batalow und insbesondere Tatjana Samoilowa spielen ungemein lebhaft und ausdrucksstark und lassen beim Zuschauer vom ersten Moment an eine emotionale Bindung an die Protagonisten entstehen. Die damaligen Jungstars - Samoilowa spielte in den KRANICHEN erst ihre zweite Filmrolle - ernteten weltweit begeisterte Kritiken. Aber auch die Nebenrollen sind vorzüglich besetzt. Vor allem Wassili Merkurjew erfüllt seinen Fjodor Iwanowitsch mit Leben und lässt ihn "menscheln". Das Ensemble insgesamt schafft es mühelos, den Zuseher an der Geschichte teilhaben zu lassen. Das gilt natürlich in besonderem Maße für das damalige sowjetische Publikum, das die Zeit des Krieges noch aus eigener Erinnerung kannte, und das damals wohl zum ersten Mal eine ungeschminkte, realistische Darstellung der Leiden zu sehen bekam, frei von den offiziellen Parolen über Heldentum und Opfermut. Entsprechend oft sollen damals in den sowjetischen Kinos die Taschentücher gezückt worden sein.
Aus der heutigen zeitlichen Distanz betrachtet, ist jedoch die brillante optische Gestaltung das herausragende Merkmal von WENN DIE KRANICHE ZIEHEN. Das wird übrigens auch von Alexej Batalow so gesehen, wie er in einem zehnminütigem Video-Statement, das sich als Bonusmaterial auf einer DVD des Films befindet, neidlos anerkennt. Kalatosow und Sergej Urussewski hatten 1955 erstmals zusammengearbeitet, WENN DIE KRANICHE ZIEHEN war der zweite von insgesamt vier gemeinsamen Filmen. Die beiden hatten eine ungeschriebene Übereinkunft, die ihnen ein gegenseitiges Vetorecht einräumte: Keiner der beiden würde in seinem Bereich etwas durchsetzen, was dem anderen nicht gefiel. Aber die beiden lagen in künstlerischer Hinsicht ohnehin auf einer Wellenlänge, wie Batalow im erwähnten Statement erzählt. Er bezeichnet es als einen Glücksfall, dass sich die beiden gefunden hatten. Urussewskis Spezialität waren lange, dynamische Kamerafahrten, die die Protagonisten bei ihren Aktionen begleiten und so eine "mitfühlende" Kamera schaffen. Der Effekt ist gelegentlich dem einer subjektiven Kamera ähnlich, bei der das Geschehen aus der Sicht des Handelnden gezeigt wird, ohne dass dieser selbst zu sehen ist. Doch Urussewskis Technik ist weit virtuoser und auch subtiler als die eher einfache subjektive Kamera. Er hat seine Rolle in diesen Sequenzen einmal so beschrieben: "Die Kamera kann ausdrücken, was der Schauspieler nicht zu porträtieren in der Lage ist: seine inneren Empfindungen. Der Kameramann muss mit den Schauspielern mitspielen." Diese dynamischen Kamerafahrten wurden zum größten Teil mit Handkameras gedreht. Urussewski hatte während des Krieges zwei Jahre als Kameramann beim Militär gedient und dort seine Vorliebe und seine Fertigkeit für die Handkamera entwickelt. Die Sequenzen sind auch in der größten Hektik stets so flüssig gedreht, als hätte Urussewski eine moderne Steadicam zur Verfügung gehabt - doch die wurde erst viele Jahre später erfunden.
Neben den Kamerafahrten kamen weitere Stilmittel wie etwa mehrfache Überblendungen zum Einsatz, und auch der Schnitt ist stellenweise virtuos und erinnert an die glorreichen Tage des russischen Stummfilms. Alle diese optischen Finessen werden jedoch keineswegs als selbstzweckhafte Gimmicks eingesetzt, sondern sie dienen der Geschichte. Insbesondere korrespondieren die virtuosesten Szenen jeweils mit der aufgewühlten Seelenlage der Protagonisten. Das möchte ich an den markantesten Beispielen verdeutlichen. Schon ziemlich am Anfang des Films gibt es eine Szene in dem Wohnhaus, in dem sich ganz oben die Wohnung von Veronika und ihren Eltern befindet: Veronika steht oben im Treppenhaus und Boris rennt hinauf, um den Termin ihres nächsten Rendezvous zu vereinbaren. Dabei folgt die Kamera Boris in der lichten Öffnung des Treppenhauses, immer auf gleicher Höhe mit ihm, und schraubt sich sozusagen spiralförmig in die Höhe. Doch diese an sich schon eindrucksvolle Szene ist nur eine Generalprobe für eine Wiederholung unter ungleich dramatischerem Vorzeichen. Als nämlich Veronika nach dem Bombenangriff, der ihre Eltern das Leben kostet, zum Wohnhaus zurückkommt, hetzt sie, von den schlimmsten Befürchtungen getrieben, durch die noch brennenden Ruinen und im Treppenhaus nach oben. Nur - außer dem Treppenhaus steht von dem Haus kaum noch etwas, man sieht durch riesige Löcher in den Mauern auf die Straße. Ohne darauf zu achten, dass sie sich selbst in Lebensgefahr begibt, rennt Veronika auf den Stufen nach oben, von der Kamera begleitet. Erst als sie, oben angekommen, feststellt, dass von der elterlichen Wohnung buchstäblich nichts mehr übrig ist, bleibt sie wie angewurzelt stehen. Eine Szene, die einem den Atem stocken lässt.
Am Tag von Boris' Abfahrt setzt Veronika alles daran, ihn noch einmal zu sehen, um sich zu verabschieden. Sie fährt zunächst mit einem Bus in die Nähe der Wohnung der Borosdins, steigt aus, rennt durch eine Menschenmenge und dann über eine Straße, über die gerade ein Panzerkonvoi rollt. Dabei folgt ihr die Kamera ohne Schnitt aus dem Bus heraus, durch die Menge - schnell, aber ohne störende Wackler, und immer auf Tuchfühlung mit ihr -, um in dem Moment, als sie die Straße mit den Panzern überquert, unversehens in einige Meter Höhe emporzusteigen und Veronika und die Panzer aus der Vogelperspektive zu zeigen. Nachdem Veronika Boris in der Wohnung verfehlt hat, eilt sie zum Abmarschplatz der Soldaten, wo im allgemeinen Trubel die Szene eine noch dynamischere Fortsetzung findet. Auch der nächtliche Bombenangriff, den Mark nutzt, um Veronika zu verführen, ist eindrucksvoll in Szene gesetzt. Durch einen Bombentreffer irgendwo in der Nachbarschaft fällt das Licht aus, und die Wohnung wird nur noch durch die Explosionsblitze erleuchtet, was eine stroboskopartige Beleuchtung und dadurch eine fast expressionistische Stimmung erzeugt. Auch die akustische Gestaltung dieser Szene ist außergewöhnlich: Marks Klavierspiel wird mit dem Heulen der Luftschutzsirenen und dem Krachen der einschlagenden Bomben kombiniert, was für eine ziemlich infernalische Soundkulisse sorgt.
Ein optischer Höhepunkt ganz besonderer Art ist Boris' Sterbeszene. Er wird in den Rücken getroffen, und während er langsam zusammenbricht, beginnen sich die Baumkronen über ihm zu drehen. Zugleich ziehen Szenen seines Lebens an ihm vorbei: Zunächst sein vorhin erwähnter Lauf im Treppenhaus empor, doch dann eine Szene seines Lebens, nicht wie es war, sondern wie es hätte sein können - nämlich seine Hochzeit mit Veronika, die sie sich gemeinsam ausgemalt hatten, und die nie stattfand. In einer mehrfachen Überblendung der sich drehenden realen Baumkronen und der halluzinierten fröhlichen Hochzeitsgäste und vom herumwirbelnden weißen Schleier von Veronikas Brautkleid steigert sich die Szene zu einem wahren optischen Crescendo, das man gesehen haben muss. Auch Veronikas Beinahe-Selbstmord ist außergewöhnlich virtuos inszeniert. Sie rennt wie von Furien gehetzt zu der Brücke, dabei wird sie teilweise durch die Latten eines Zaunes gefilmt, teilweise (während des Laufs!) in extremer Großaufnahme von vorn, und einige bis zur Abstraktion verfremdete schnelle Zwischenschnitte auf die Umgebung verstärken noch die Dynamik der Situation. In ihrer Gesamtheit erscheint die Szene so rasant und dramatisch, dass sie einem Eisenstein alle Ehre gemacht hätte, und sie visualisiert perfekt Veronikas desolate psychische Verfassung in diesem Moment. Das letzte Beispiel ist auch die letzte Szene des Films, die Heimkehr der Soldaten am Moskauer Bahnhof. Während sich Veronika in der verzweifelten Hoffnung, Boris doch noch wiederzusehen, in angstvoller Eile durch eine riesige wogende Menschenmasse kämpft, folgt ihr die Kamera durch all die Menschen so mühelos, als besäße Urussewski die Fähigkeit, herumstehende Passanten zu durchdringen, als seien sie gar nicht da. In ihren gemeinsamen Filmen erwiesen sich Kalatosow und Urussewski als Dreamteam der entfesselten Kamera.
WENN DIE KRANICHE ZIEHEN ist in diversen Ausgaben auf DVD erschienen.