Samstag, 19. November 2011

DAS STAHLTIER, Leni Riefenstahl, und ein Regisseur im Irrenhaus - Teil 1

Teil 1: Der Film
Teil 2: Der Fall

DAS STAHLTIER
Deutschland 1935/1954
Regie: Willy Zielke
Darsteller: Aribert Mog (Claaßen), Max Schreck (Cugnot), Laiendarsteller

ANN-KATHRIN KRAMER HAT NACH AHNENFORSCHUNG HERAUSGEFUNDEN
Leni Riefenstahl ließ meinen Onkel zwangssterilisieren
SCHAUSPIELERIN ANN-KATHRIN KRAMER ERFORSCHTE DAS LEBEN IHRES ONKELS, DER TEILTE EIN DUNKLES GEHEIMNIS MIT HITLERS LIEBLINGSREGISSEURIN

So vermeldeten Bild am Sonntag und Bild.de im März 2010. Besagter "Onkel" (der in Wirklichkeit Ann-Kathrin Kramers Großonkel war) hieß Willy Zielke, und er war der Regisseur des Films, um den es hier auch (aber nicht nur) gehen soll. Was war geschehen?

Das Stahltier

Zurück ins Jahr 1934: Willy Zielke unterzeichnet einen ungewöhnlichen Vertrag mit der Deutschen Reichsbahn. Im Dezember 1835 war die 6 km lange Eisenbahnstrecke Nürnberg-Fürth mit der Jungfernfahrt der "Adler" eröffnet worden. Aufgrund des bevorstehenden hundertjährigen Jubiläums waren für 1935 umfangreiche Feierlichkeiten geplant. Neben einer Ausstellung und einer Parade sollte es auch einen künstlerisch anspruchsvollen Jubiläumsfilm geben, der am Tag der Eröffnung der Ausstellung in einer Gala-Premiere vor geladenen Gästen in Nürnberg gezeigt werden sollte. Die Durchführung der Jubiläumsfeierlichkeiten, und damit auch die Herstellung des Films, wurde von der Berliner Hauptverwaltung der Reichsbahn an die Gruppenverwaltung Bayern übertragen, die eine gewisse föderale Selbständigkeit genoss. Mit der Regie des Films wurde Willy Zielke betraut.

Claaßen erhält einen Anruf

Zielke wurde 1902 als Sohn deutscher Eltern in Łódź geboren, das damals zum Zarenreich gehörte. Er studierte zwei Jahre Eisenbahn-Ingenieurwesen an der Universität Taschkent im heutigen Usbekistan, aber Anfang der 20er Jahre musste er die Sowjetunion verlassen und zog nach München. Dort studierte er Fotografie, beeindruckt von der avantgardistischen sowjetischen Fotokunst, und nachdem er die Meisterklasse absolviert hatte, wurde er schnell selbst Dozent an der Münchner Foto-Akademie und ein gefragter künstlerischer Fotograf im Stil der Neuen Sachlichkeit. Zu seinen Spezialitäten zählten kunstvoll arrangierte und fotografierte Glasobjekte, aber er beschäftigte sich auch mit Portrait- und Aktfotografie. Zu den Höhepunkten seiner Laufbahn als Fotograf zählt die Teilnahme an der Werkbund-Ausstellung "FiFo 1929" in Stuttgart. 1931/32 experimentiert er mit einer 16mm-Kamera, die der Foto-Akademie zur Verfügung gestellt wurde, und dreht in Eigenregie drei Kurzdokumentationen, die alle verschollen sind. Sein erster Auftragsfilm ARBEITSLOS. DAS SCHICKSAL VON MILLIONEN entstand 1933 für ein Arbeitslosenheim der Firma Maffei. Der Film war zunächst sozialkritisch ausgerichtet und prangerte die Arbeitslosigkeit an, doch 1933 änderten sich bekanntlich die Zeiten. Das Arbeitslosenheim unterstand jetzt der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, und die wünschte eine andere Tendenz des Films, nämlich eine, die die "Errungenschaften" der Nazis bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit herausstellte. Zielke willigt ein - er stand dem Nationalsozialismus positiv gegenüber. Wie weit seine Sympathien dafür genau gingen, weiß ich nicht, aber man darf aus dem späteren Verbot von DAS STAHLTIER und Zielkes Zwangsunterbringung in der Psychiatrie keinesfalls den Schluss ziehen, er sei ein Gegner der Nazis gewesen. Zielke schneidet also ARBEITSLOS um, ändert den Schluss und verpasst dem Film den neuen Titel DIE WAHRHEIT. In den Schluss fügt Zielke ein dynamisch in Großaufnahme gefilmtes Treibrad einer Lokomotive ein. Bei den Dreharbeiten dazu lernt er Albert Gollwitzer kennen, den neuen Präsidenten der Reichsbahndirektion München. Gollwitzer, seit Oktober 1933 in seinem neuen Amt, war ein überzeugter Nazi - in seiner Antrittsrede ließ er verlauten, er "werde im Sinne Adolf Hitlers arbeiten und nicht rasten, bis nationalsozialistischer Geist die Reichsbahn in ihre letzten Winkel durchdringt". Gollwitzer war von der Szene mit dem Treibrad in DIE WAHRHEIT angetan, und er war es, der Zielke den Auftrag zum Jubiläumsfilm verschaffte.

Abstraktion durch mehrfache Überblendung

Zielke reichte ein Exposé ein, das von der Berliner Hauptverwaltung der Reichsbahn genehmigt wurde, und im Juli 1934 wurde der Vertrag unterzeichnet. Das Exposé sah für den Film drei thematische Teile vor: Geschichte der Eisenbahn, Herstellung einer Lokomotive, und eine "Fahrtsymphonie". Letzteres klingt an Walther (seit 1929 Walter) Ruttmanns Klassiker BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT von 1927 an, der das Genre der "Großstadtsymphonien" prägte. Tatsächlich gibt es darin auch schon eine "Fahrtsymphonie". Am Anfang dieses Films werden grafische balkenförmige Elemente in sich schließende Bahnschranken überblendet, dann braust ein Zug heran und fährt in einer dreiminütigen Sequenz durch Vorstädte in die Hauptstadt ein, wobei Ruttmann eine äußerst dynamische Montage einsetzt, unterstützt von der schnittgenauen, stakkatohaften Musik von Edmund Meisel (die seinerzeit zu polemischen Kontroversen führte). Mit der Geschwindigkeit des Zuges verlangsamt sich auch die Schnittfolge, aber zumindest die erste Minute dieser Sequenz kann als Prototyp dafür dienen, was Zielke für seine Fahrtsymphonie vorschwebte. Im Exposé wandte sich Zielke ausdrücklich gegen "die korrekten belehrenden Kulturfilme", stattdessen wollte er einen "absoluten Film" drehen. Das schien sich mit den Intentionen der Reichsbahn zu treffen, die einen künstlerischen Film wünschte. "Absoluter Film" war seit den 20er Jahren in etwa ein Synonym für das, was man heute als abstrakten Film bezeichnen würde. Dazu zählten grafisch-abstrakte Filme wie OPUS I bis OPUS IV von Ruttmann, RHYTHMUS 21 (aka FILM IST RHYTHMUS) von Hans Richter und DIAGONAL-SYMPHONIE von Viking Eggeling, aber auch Filme mit bis zur Abstraktion verfremdeten Realaufnahmen, wie BALLET MÉCANIQUE, den Dudley Murphy und Fernand Léger in Frankreich drehten, und selbst Filme, die man heute eher als dadaistisch oder surrealistisch bezeichnen würde, wie René Clairs ENTR'ACTE. Gemeinsam ist diesen Filmen, dass die Bewegung an sich als Quintessenz der Kunstform Film verstanden wird. Die Herren von der Reichsbahn hätten eigentlich ahnen können, dass sich Zielkes Vorstellungen vielleicht doch nicht ganz mit ihren eigenen deckten.

Rangierarbeiter

Wie schon erwähnt, war es ein ungewöhnlicher Vertrag, den Zielke abschloss. Er war Produzent, Regisseur, Kameramann und Cutter in Personalunion, und er besaß volle künstlerische Freiheit, sogar das Recht auf den final cut. Wörtlich hieß es im Vertrag: "An dem Film darf ohne eine Zustimmung des Herrn Zielke eine Änderung nicht vorgenommen werden." Das bewilligte Budget betrug zunächst 50.000 Reichsmark, zuzüglich Sach- und Personalleistungen durch die Reichsbahn. Eine dieser Leistungen bestand darin, dass Zielke einen eigenen Aufnahmezug zur Verfügung gestellt bekam. Dieser bestand aus fünf Waggons: Ein Wohnwagen für Zielke und seinen Aufnahmeleiter Hubs Flöter (einer von Zielkes Schülern an der Münchner Foto-Akademie), ein weiterer für das restliche Personal, ein Waggon für die Filmgerätschaften, einer mit einem benzingetriebenen Stromgenerator für die Scheinwerfer, und schließlich ein offener Tieflader als "rollendes Stativ", mit dem Zielke weitgehend erschütterungsfreie Fahrtaufnahmen von einem tiefen Standpunkt aus machen konnte. Der Zug war weiß gestrichen und in Rot auf allen Waggons mit "TONFILM: DAS STAHLTIER" beschriftet. Auf seinen beiden größeren Fahrten von München aus (die erste nach Köln, Oberhausen und Kassel, die zweite nach Berlin) diente der Zug so auch als PR-Vehikel für die Dreharbeiten. Ein weiteres Privileg Zielkes war es, dass er für die eisenbahngeschichtlichen Episoden auf fahrtüchtige originalgetreue Nachbauten der historischen Lokomotiven zurückgreifen konnte, z.B. einen Nachbau der "Puffing Billy" aus dem Deutschen Museum in München.

Claaßen packt mit an und macht sich dreckig

Zielke gliederte seinen Film in eine Rahmenhandlung, in die sechs historische Episoden eingebettet sind, sowie in mehrere furiose Montage-Sequenzen. Nach der ruhigen Anfangssequenz, in der Aufnahmen von Schienen, Leitungen und sonstigem Bahngerät durch vielfache Überblendung zu quasi-abstrakten grafischen Mustern verschwimmen, geht es danach mit der ersten Montage-Sequenz so richtig los. Gewidmet ist sie der Herstellung einer Dampflokomotive - Punkt zwei in Zielkes Exposé. Es gibt keinen wohlgeordneten Ablauf zu sehen, sondern einzelne Stufen werden herausgegriffen - von der Stahlherstellung (gefilmt in einer Stahlhütte in Oberhausen) bis zur Endmontage einer Lok (gefilmt in den Henschel-Werken in Kassel) - und in geradezu dramatisch wirkenden Schnittfolgen montiert, akustisch untermalt durch die in diesem Abschnitt ziemlich brachiale Musik von Peter Kreuder, den Zielke als Komponisten für seinen Film gewinnen konnte. Heute kennt man Kreuder als Schöpfer von Schlagern ("Ich brauche keine Millionen"), Operetten- und leichter Filmmusik, aber damals war er auch in Jazz und Avantgardeklängen bewandert, und davon machte er im STAHLTIER gekonnt Gebrauch.

Rangierarbeiten: ENTHUSIASMUS (links oben), DAS STAHLTIER

Dann setzt die Rahmenhandlung ein. In seinem kleinen Büro auf einem Bahngelände in München brütet der junge Ingenieur Claaßen über technischen Zeichnungen, Formeln und Logarithmentafeln, hantiert mit Zirkel und Rechenschieber. Gespielt wird er von Aribert Mog, der heute nur noch wenig bekannt ist, obwohl er in durchaus erwähnenswerten Filmen Hauptrollen spielte, wie in Gustav Machatýs EKSTASE, seinerzeit ein Skandalfilm (wegen Nacktszenen von Hedy Lamarr, damals noch Hedy Kiesler), oder Frank Wisbars FÄHRMANN MARIA mit Sybille Schmitz. (Gustav Machatý war übrigens neben René Clair Zielkes Vorbild als Regisseur, wie er 1935 in einem Interview für eine Filmzeitschrift erzählte.) Mog war schon vor der Machtergreifung der Nazis Mitglied im antisemitischen "Kampfbund für deutsche Kultur" und in der gewerkschaftsähnlichen "Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation". Er fiel 1941 in Russland. - Claaßen erhält einen Anruf: Er wird zu einem mehrtägigen Praktikum auf einem Rangierbahnhof abkommandiert. Er freut sich über die Abwechslung und die frische Luft, und als krönender Abschluss winkt die Fahrprüfung auf einer Lokomotive. Claaßen gibt sich den Arbeitern gegenüber, mit denen er es jetzt zu tun hat, leutselig, doch die zeigen ihm zunächst die kalte Schulter. Aber er packt unaufgefordert mit an, und obwohl (oder vielleicht weil) er sich dabei ungeschickt anstellt, bricht er das Eis und wird in ihre Runde aufgenommen. Es gibt hier wieder eine kleinere Montage-Sequenz: Güterwaggons prallen beim Rangieren spektakulär aufeinander, wiederum eindrucksvoll akustisch untermalt, während die Arbeiter behände dazwischen herumspringen und die nötigen Handgriffe mit traumwandlerischer Sicherheit ausführen (umso schwerfälliger wirken die Darsteller bei ihren Dialogen). Gespielt werden die Arbeiter von Laiendarstellern, Arbeitern eines Bahnausbesserungswerks in München-Freimann, und in diesen Szenen sieht man, dass sie "vom Fach" sind. Für Bahnfremde wäre die Aufnahme dieser Szenen wohl lebensgefährlich gewesen.

Arbeitspause à la MENSCHEN AM SONNTAG

Aber der überwiegende Teil der Rahmenhandlung läuft ganz unspektakulär ab. Es werden alltägliche Aufgaben verrichtet, aber es wird auch ausgiebig Pause gemacht. Die Arbeiter sind keine arischen Helden der Arbeit, sondern Alltagstypen, die meisten nicht mehr ganz jung, mit Durchschnittsgesichtern, der eine ein dürrer Spargeltarzan, der nächste mit Zahnlücken, ein anderer mit Blumenkohlnase. Das Faulenzen, Brotzeitmachen und Herumjuxen an einem Teich wird von Zielke im Geist der Neuen Sachlichkeit dargestellt - Martin Loiperdinger, der einen lesenswerten Text über DAS STAHLTIER geschrieben hat (Quellen siehe Ende des zweiten Teils), vergleicht diese Szenen mit MENSCHEN AM SONNTAG (1930), wo man sich am Wannsee dem Nichtstun hingibt. Der "nationalsozialistische Geist", den Albert Gollwitzer in jedem Winkel der Reichsbahn walten lassen wollte, ist hierhin noch nicht vorgedrungen, und gerade deshalb vermitteln diese Szenen wohl einen realistischen Eindruck vom Alltag der Arbeiter. Überhaupt gibt es im ganzen Film außer einem "Heil Hitler!", als Claaßen zum erstenmal die Arbeiter begrüßt, keine Symbole des Nationalsozialismus zu sehen oder zu hören. Nun, einen kleinen "Ausrutscher" leistet sich Zielke aber doch: In einer Szene, in der Schienen verlegt werden, ist Claaßen mit nacktem Oberkörper und in heroisierender Untersicht gefilmt zu sehen - hier ist er plötzlich doch, der "arische Typus", wie er auch aus einem Film von Leni Riefenstahl stammen könnte, wenn auch nur für einige Sekunden. DAS STAHLTIER lässt sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen.

OLYMPIA - FEST DER VÖLKER (Prolog, Aufnahme W. Zielke, links), DAS STAHLTIER

Bei verschiedenen Gelegenheiten erzählt Claaßen den Arbeitern Episoden aus der Frühzeit der Eisenbahn, und damit sind wir bei der Eisenbahngeschichte, Punkt eins in Zielkes Exposé. Es handelt sich um folgende Episoden:
Bauernaufstand von Caston Hill
1813 rotten sich abergläubische Bauern zusammen, um drei Landvermesser der Eisenbahn zu verjagen, weil sie fürchten, dass das neumodische "Teufelswerk" die Ernte und das Vieh bedroht. Zwei der Landvermesser suchen das Weite, der dritte bleibt standhaft, aber er wird verprügelt und muss versprechen, nie mehr Land zu vermessen.

James/John Waters
Der Ingenieur James Waters (bei Zielke, in Wirklichkeit John Waters) baut 1812 eine Lokomotive mit einem riesigen Schwungrad und einem komplizierten Zahnradantrieb. Doch die Konstruktion klemmt, das Gefährt will sich nicht in Bewegung setzen. Durch den eigenen Ehrgeiz und hämische Zuschauer unvorsichtig geworden, hantiert Waters so lange daran herum, bis es zur Explosion kommt. Obwohl ihm das Ding aus unmittelbarer Nähe um die Ohren fliegt, erleidet Waters in der Manier einer Slapstick- oder Comicfigur nur leichte Blessuren.

Puffing Billy
Die 1814 von William Hedley gebaute Lokomotive "Puffing Billy" verkehrte Jahrzehnte zuverlässig zwischen einer Kohlegrube und einem Hafen in Nordengland. Sie ist die älteste erhaltene Lokomotive überhaupt.

Cugnot
Der französische Artillerie-Offizier Nicolas-Joseph Cugnot konstruierte 1769 (bei Zielke 1770) einen mit Dampf betriebenen Wagen - eigentlich keine Lokomotive, sondern ein frühes Automobil. Das merkwürdige Gefährt setzt sich tatsächlich in Bewegung, doch eine Probefahrt endet im Debakel: Der schwer lenkbare Wagen rammt schnurstracks eine Kasernenmauer.

Rocket
Die von George und Robert Stephenson (bei Zielke einfach nur ein "Stephenson") konstruierte Lokomotive "Rocket" fuhr ab 1830 für die Liverpool and Manchester Railway, nachdem sie 1829 das Rennen von Rainhill gegen vier Konkurrenten für sich entschied. Doch der Triumph wurde von einer Tragödie überschattet: Bei der feierlichen Eröffnung der Strecke wurde ein Parlamentsabgeordneter aus Liverpool von der Rocket erfasst und tödlich verletzt.

Adler
Der Anlass des Films, und die einzige Episode, die in Deutschland angesiedelt ist. Doch auch die "Adler" ist eine englische Konstruktion von Vater und Sohn Stephenson, und der "Dampfwagenlenker" war ein Mr. William Wilson. Diese Episode endet nicht in einer kleineren oder größeren Katastrophe, sondern in allgemeinem Wohlgefallen.
Die Landvermesser von Caston Hill (l.o.), J. Waters (r.o.), Puffing Billy (mitte),
die Adler und ihr "Dampfwagenlenker" Mr. Wilson (unten)


An diesen Episoden, die ebenso wie die Rahmenhandlung im Norden Münchens gefilmt wurden, gibt es manches auszusetzen. Die Handlung ist jedesmal schlicht (was bei der Kürze von jeweils wenigen Minuten nicht verwundert), die Darsteller agieren entweder steif oder übertrieben, die Dialoge sind meist gestelzt, und ein Teil der Kulissen sieht schon sehr nach Sperrholz aus. Fast schon peinlich und unfreiwillig komisch wirkt es, wenn die Darsteller von Waters und Cugnot mit aufgesetztem englischen bzw. französischen Akzent sprechen. Cugnot wird übrigens von keinem Geringeren als Max Schreck gespielt, der sich durch die Hauptrolle in F.W. Murnaus NOSFERATU unsterblich machte. In den mir bekannten Filmographien Schrecks kommt DAS STAHLTIER nicht vor, er ist es aber wirklich. In den Credits am Anfang des Films wird von den Darstellern nur Aribert Mog genannt, aber in Zielkes Nachlass, der im Filmmuseum Potsdam aufbewahrt wird, findet sich ein Foto von den Dreharbeiten, das Zielke und Cugnot auf einer Lokomotive zeigt, und das mit "Führerstand 18 507 mit Zielke und Max Schreck (Cugnot)" beschriftet ist. Somit ist DAS STAHLTIER einer der letzten Filme von Schreck, der im Februar 1936 starb. - Die historischen Episoden sind keineswegs durchgehend schlecht. Sobald keine Dialoge zu meistern sind, sondern die historischen Lokomotiven oder größere Menschenmassen bewegt werden, gelingen Zielke auch hier flüssige Sequenzen, und Kreuders Musik setzt einige eigenwillige Akzente. Dennoch sind dies die am wenigsten gelungenen Teile des Films. - Die historischen Szenen wurden Ende 1934 in einer Probevorführung vor Reichsbahn-Führungspersonal gezeigt, und Generaldirektor Julius Dorpmüller war davon beeindruckt. Das nutzte Zielkes Mentor Albert Gollwitzer zu einem Vorstoß: Auf seinen Vorschlag hin wurde Zielkes Budget von 50.000 auf 100.000 RM verdoppelt, und auch die vorgesehene Laufzeit verlängerte sich beträchtlich. Das wurde im Januar 1935 in einem Zusatzvertrag festgehalten.

Cugnots Wagen rammt eine Mauer

Am Ende der Rahmenhandlung steht Claaßens Fahrprüfung, und damit die "Fahrtsymphonie". Einen Fahrprüfer gibt es nicht zu sehen, und Claaßen selbst spielt eigentlich auch keine Rolle - im Mittelpunkt steht die Lokomotive (eine S 3/6 mit der Betriebsnummer 18 507, die Zielke zwei oder drei Monate zur Verfügung stand) und die Bewegung. Hier, im Bereich des "absoluten Films", war Zielke wieder voll in seinem Element. Die ca. fünfminütige Sequenz ist furios. Schon der Auftakt ist ein Knüller: Zielke montierte die Kamera direkt an einem Rad der Lokomotive, so dass sie sich zu drehen beginnt, sobald die Lok anfährt. So rotiert das Bild um die Sichtachse, immer schneller, denn die Lok nimmt schnell Fahrt auf, insgesamt ca. 15 mal, bevor umgeschnitten wird. Es gibt Nahaufnahmen der komplizierten und wuchtigen Antriebsmechanik der Dampflok, von Schienen und Weichen, über die die tief montierte Kamera hinweggleitet, und die schnell vorüberhuschende Landschaft, alles sehr dynamisch geschnitten. Im ersten Teil bilden reale Geräusche den Soundtrack, dann setzt wieder Kreuders Musik ein, rhythmisch stampfend die Dampfmaschine imitierend.

Cugnot (Max Schreck) und seine Frau, nochmals Cugnot - und ein Hauch NOSFERATU

Für den Film als das künstlerische Medium der Bewegung war die Eisenbahn schon immer ein dankbares Sujet. Während der in einen Bahnhof einfahrende Zug, den die Brüder Lumière 1895 filmten, kameratechnisch noch eine statische Angelegenheit war, montierte schon um 1898 Billy Bitzer, der spätere Kameramann von D.W. Griffith, seine Kamera auf den Kuhfänger an der Front einer Lokomotive. In Abel Gances monumentalem Epos LA ROUE von 1923 gibt es äußerst dynamisch geschnittene Eisenbahnszenen, einige Schnittfolgen dauern gar nur einen einzigen Frame. Nachdem dieser Film 1926 in Russland gezeigt wurde, beeinflusste er die sowjetischen Montagemeister um Eisenstein. Und dort - abgesehen von der erwähnten kurzen Sequenz am Anfang von Ruttmanns BERLIN - findet man am ehesten Vorbilder für die "absoluten" Teile von Zielkes Film, etwa bei Werken von Dsiga Wertow wie DER MANN MIT DER KAMERA und insbesondere DIE DONBASS-SINFONIE - ENTHUSIASMUS (1930), Wertows erstem Tonfilm. Darin gibt es Szenen aus einem Schwerindustrie-Revier, in denen Bild und Ton ähnlich auf den Zuschauer einprügeln wie Zielkes Sequenz der Stahlerzeugung in Oberhausen, es gibt Bilder, die durch mehrfache Überlagerung zu quasi-abstrakten Grafiken verschwimmen, und es gibt auch einige Eisenbahn-Szenen, die denen von Zielke ähneln, etwa Weichen, über die die knapp über dem Boden schwebende Kamera hinweggleitet. Insgesamt aber dürfte DAS STAHLTIER zumindest auf das Thema Eisenbahn bezogen bis dahin den Höhepunkt des absoluten Films dargestellt haben.

DIE DONBASS-SINFONIE - ENTHUSIASMUS

Gleichwertige Nachfolger sind ebenfalls dünn gesät. Der prominenteste dürfte Jean Mitrys PACIFIC 231 sein. Der zehnminütige Kurzfilm des Filmtheoretikers Mitry, eine seiner wenigen praktischen Arbeiten, zeigt die Fahrt eines von einer Dampflok gezogenen Zuges zwischen zwei Bahnhöfen in ähnlich "absoluter" Manier wie Zielkes "Fahrtsymphonie". In den Credits wird darauf hingewiesen, dass man den Film nicht als Dokumentation, sondern als Essay verstehen soll. Es gibt auch eine schnittgenaue Musik, ähnlich wie die von Edmund Meisel für Ruttmann und die von Kreuder für Zielke. Sie stammt vom schweizerisch-französischen Komponisten Arthur Honegger und trägt denselben Titel wie der Film. Allerdings wurde hier nicht die Musik zum Film geschrieben, sondern der Film zur Musik gedreht bzw. geschnitten, denn Honeggers Stück entstand bereits 1923 (kurz zuvor hatte Honegger auch die Originalmusik für Gances LA ROUE geschrieben).

Ein Bildmotiv, vier Filme: BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT (l.o.), ENTHUSIASMUS
(r.o.), PACIFIC 231 (l.u.), DAS STAHLTIER

Manches an PACIFIC 231 erinnert frappant an DAS STAHLTIER. Natürlich drängen sich bei solchen Filmen manche Bildideen auf, etwa, die Kamera unter einem der vorderen Puffer der Lok zu befestigen und sie so knapp über den Schienen hinweggleiten zu lassen, oder die Kamera zwischen oder knapp neben den Schienen einzugraben und den Zug darüber hinwegbrausen zu lassen. Dennoch frage ich mich, ob Mitry DAS STAHLTIER gekannt haben könnte, bevor er PACIFIC 231 drehte. Ausgeschlossen ist das nicht. Zielke wies Anfang der 50er Jahre darauf hin, dass eine Kopie von DAS STAHLTIER 1945 von französischem Militär bei Leni Riefenstahl in Kitzbühel beschlagnahmt und nach Paris gebracht worden sei (eine andere Kopie soll laut Zielke nach Russland gebracht worden sein). Das ist durchaus plausibel. Riefenstahl besaß in Kitzbühel ein Haus, das auch als Zweigstelle ihrer Riefenstahl Film GmbH diente. Es gab dort Räume mit Ausrüstung für Filmschnitt, -vertonung und -vorführung. Riefenstahl arbeitete dort 1945 an der Endfertigung von TIEFLAND, fernab vom Bombenhagel in Berlin (sie wurde aber bis Kriegsende nicht fertig, weshalb dieser Film erst 1954 herauskam). Im Sommer 1945 wurde das Anwesen mitsamt dem darin befindlichen Filmmaterial von der französischen Besatzungsmacht beschlagnahmt, Riefenstahl nach Deutschland ausgewiesen und die Filme 1946 nach Paris gebracht. Um 1953 wurde DAS STAHLTIER in der Cinémathèque Française aufgefunden, offenbar das bei Riefenstahl sichergestellte Exemplar. Jean Mitry wiederum war neben Henri Langlois und Georges Franju einer der Gründer der Cinémathèque. Er kannte sich dort also aus und könnte irgendwann zwischen 1946 und 1949 DAS STAHLTIER zu Gesicht bekommen haben. Belege dafür sind mir aber nicht bekannt. Neben PACIFIC 231 sind noch SNOW (1963), RAIL (1966) und LOCOMOTION (1975) erwähnenswert, die Geoffrey Jones für British Transport Films, die damalige Filmabteilung der britischen Eisenbahn, gedreht hat, und die ebenfalls sehr dynamisch und nach musikalischen Prinzipien geschnittene Eisenbahnaufnahmen zeigen. LOCOMOTION ist auch wie DAS STAHLTIER ein Jubiläumsfilm, entstanden zum 150. Jahrestag der Stockton and Darlington Railway, mit der 1825 die Passagierbeförderung per Eisenbahn begann.

Antriebsräder: BERLIN (l.o.), PACIFIC 231 (r.o.), DAS STAHLTIER (unten)

Aber DAS STAHLTIER in seiner Mischung aus Bestandteilen, die eigentlich nicht zusammenpassen, ist wohl einzigartig. Neue Sachlichkeit, "absoluter Film", historische Spielszenen, expressionistische Licht- und Schattenspiele mit verkanteter Kamera, eine fast surrealistisch anmutende Tagtraumsequenz Claaßens. Einige Autoren haben zu Recht Zielkes Montageprinzipien vom russischen Konstruktivismus abgeleitet, andererseits erinnert die Verherrlichung von Stahl ("Der Stahl, die Zukunft und die Kraft!" ruft Claaßen einmal fast hysterisch aus), von mechanisierter Bewegung und Geschwindigkeit auch an den italienischen Futurismus mit seiner Nähe zum Faschismus. Wie schon geschrieben, dieser Film lässt sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen - "DAS STAHLTIER ist wohl der wundersamste Film, der im Dritten Reich gedreht wurde." (Martin Loiperdinger)

Claaßen hat ein fast erotisches Verhältnis zum Stahl

DAS STAHLTIER ist in einer Reihe mit dem Titel "Eisenbahn Nostalgie" auf DVD erschienen. Das weckte gewisse Befürchtungen bei mir, und die haben sich bewahrheitet. Die Herausgeber ließen es sich nicht nehmen, ein ca. 20-seitiges Booklet beizulegen - das ausschließlich Eigenwerbung, aber nichts über Zielke oder seinen Film enthält. Auch auf der DVD selbst findet sich kein Bonusmaterial, nur drei Minuten Trailer für andere Filme, also wieder Eigenwerbung. Und auch der Text auf der Cover-Rückseite lässt zu wünschen übrig. Da findet sich kein Wort über das Verbot des Films auf Betreiben der Reichsbahn - nur ein schwammiges "Und das, obwohl dieser Film seinerzeit gar nicht in die Kinos kam" -, über Zielkes Schicksal in der Psychiatrie oder über die spätere Verstümmelung des Films auf Betreiben der Deutschen Bundesbahn. Wollte man der Bahn als Lizenzgeber nicht auf die Füße treten? Unnötig zu erwähnen, dass auch eine Bildrestauration nicht stattfand, obwohl teilweise sehr starke Abnutzungsspuren dies nötig gemacht hätten. So erfreulich es ist, dass DAS STAHLTIER überhaupt auf DVD erhältlich ist, diese DVD ist eine kläglich vergebene Chance. BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT und DIE DONBASS-SINFONIE - ENTHUSIASMUS sind auf ausgezeichneten DVDs der Edition Filmmuseum erschienen (so macht man das richtig!), PACIFIC 231 ist beispielsweise auf dem US-DVD-Set "Avant-Garde 2: Experimental Cinema 1928-1954" enthalten, und die Filme von Geoffrey Jones sind beim British Film Institute auf der empfehlenswerten DVD "Geoffrey Jones: The Rhythm of Film" erschienen.

Fahrtsymphonie

Montag, 14. November 2011

Ausgleichende Gerechtigkeit

Tod eines Keilers (Alternativtitel: Der Keiler)
(Tod eines Keilers, Schweiz/Deutschland 2006)

Regie: Urs Egger
Darsteller: Joachim Król, Friedrich von Thun, Lale Yavas, Stefan Kurt, Hans-Michael Rehberg, Hanspeter Müller, Martin Rapold, Michael Finger, María Casal, Charlotte Schwab, Robert Hunger-Bühler u.a.

Gottfried Binder ist ein freundlich-kollegialer, seit dem frühen Tod seiner Frau aber auch zurückgezogen lebender Mann, der seit 25 Jahren als Präparator in der Pathologie der Zürcher Universitätsklinik arbeitet. Als er erfährt, dass er Lungenkrebs hat und nur noch wenige Monate leben wird, empfindet er dies als himmelschreiende Ungerechtigkeit, rührte er doch in seinem ganzen Leben nie eine Zigarette an, während sein Vorgesetzter Dr. Götze, ein zynisches Ekel (“Dass die Leute immer am Wochenende sterben müssen!”), alle verachtend und von allen gehasst, sich eine Zigarette nach der anderen anzündet, seinen Qualm genussvoll verbreitet, aber munter sein Programm als Jogger absolviert und Boshaftigkeiten verbreiten darf.

Der philosophische Kneipenwirt Conny macht Binder zwar auf die Natur aufmerksam, die keine Gerechtigkeit kennt, sondern sich einfach jemanden holt, damit ihr Gleichgewicht gewahrt bleibt; doch erst das “Sie dürfen nicht aufgeben!” der  jungen Doktorandin Pat Wyss erinnert ihn nicht nur daran, dass das wichtigste Kriterium in einer solchen Situation noch immer der Mensch ist - sondern lässt ihn auch an einen Keiler zurückdenken, den er vor vielen Jahren auf der Jagd erlegte, der aber noch im Sterben weiterkämpfte, nicht aufgab, auf ihn zu rannte und ihm das Knie zerschmetterte. - Und Binder fragt sich, ob es nicht an ihm liegen könnte, wie einst der Keiler für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen, indem er  Götze, der sein “Todesurteil” unterschrieb und sich nun während der Arbeit noch über sein baldiges  Ableben lustig macht (“Schliesslich wissen wir beide, dass Sie einer der Nächsten sind, der hier auf dem Tisch liegen wird”), ins Jenseits befördere. Denn im Grunde genommen möchten alle den Drecksack loswerden: Binders Nachfolger Zimmerli sagt, er könnte ihn erwürgen, und sogar Götzes plötzlich auffällig senil gewordener Chef Professor Charlie Bernbeck schreit nach einer unverschämten Forderung im Treppenhaus, er würde den Kerl am liebsten umbringen. - Wie aber würde es der unter Blackouts leidende Professor wohl tun? Vielleicht mit Blasrohr und Giftpfeil, Bestandteile seiner berühmten Waffensammlung, die sich in seinem stets unverschlossenen Büro befindet?


Bald einmal muss Gottfried Binder feststellen, dass es gar nicht so einfach ist, einen Menschen zu töten. Er erkennt auch, dass das Eingreifen in das Gefüge der Natur, das eigenwillige Verändern des Schicksals, zwar nicht gerade einen Butterfly-Effect auszulösen vermag, aber tief in der Vergangenheit begrabene Dinge unheilvoll an die Oberfläche zerrt. Und dann ist ihm noch ein Kommissar auf den Fersen, von dem man munkelt, er warte auf Kontakt mit dem Jenseits. Wird dieser Kommissar dem Keiler Binder einen Strich durch die Rechnung machen? Oder sorgt ein schöner Engel dafür, dass er sich seinen letzten Traum erfüllen kann: eine Reise nach Afrika, wo er den Kilimandscharo besteigen und nachher sein Grab finden will?

“Tod eines Keilers” ist die Verfilmung eines Kriminalromans des Schweizer Autors Felix Mettler, der ein grosser Erfolg war und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Möglicherweise rechnete Mettler in seinem Erstlingswerk ein wenig mit einigen arroganten “Göttern in Weiss” ab, hatte er doch selber mehrere Jahre am Institut  für Veterinär-Pathologie an der Universität Zürich gearbeitet. Der Roman “Der Keiler” steht jedoch auch in jener berühmten Schweizer Tradition des Kriminalromans, die nicht in erster Linie mit “Whodunit”-Geschichten daherkommt, sondern in die Tiefe der Figuren eindringt, sich um Authentizität bemüht und  wie hier gelegentlich sogar  philosophischen Fragen nachgeht. Friedrich Glauser (“Wachtmeister Studer”, “Matto regiert”, beide mehrfach verfilmt) und Friedrich Dürrenmatt (“Der Richter und sein Henker”, “Das Versprechen”) seien als wichtigste Vertreter dieser Tradition genannt. Ihre Romane zeichnen sich durch einfache, aber das Wesentliche erfassende Sätze aus, und es geht ihnen neben der eigentlichen Ermittlung vor allem darum, in den üblichen Krimis vernachlässigte Aspekte aufzuarbeiten, vielleicht sogar dem gewohnten Krimi ein Ende zu setzen (Dürrenmatt bezeichnete “Das Versprechen” bekanntlich als “Requiem auf den Kriminalroman”). Es ist eine heute erfolgreiche Art, Kriminalgeschichten zu erzählen, weil sie die Figuren als Menschen erfasst, nicht einfach stereotyp auf mögliche Opfer und Täter reduziert. Sie veranlasst den Leser gelegentlich sogar dazu, sich mit dem - oft schon von Anfang an bekannten - “Täter” zu identifizieren, weil er die sympathischste Figur im Gefüge der erzählten Welt ist, der, wie zum Beispiel in “Der Keiler”, einen Tyrannenmord begeht, nicht nur aus Rache, sondern auch, weil er Gerechtigkeit herstellen will und gegen den Tod ankämpft. Man fiebert förmlich mit Gottfried Binder (im Roman heisst er Gottfried Sonder) mit.

Urs Egger, berühmt für den ersten und wohl raffiniertesten Schweizer Tatort “Howalds Fall” (1989) oder den bereits zusammen mit Nils-Morten Osburg als Drehbuchautor realisierten “Die Rückkehr des Tanzlehrers” (2003), bemühte sich bereits 1990 um die Rechte an Mettlers Roman, als er in Druck ging. Es scheint, als habe er das Potential dieses oft schwarzhumorigen, ja zynischen Stoffs - die Geschichte gipfelt in einer beinahe Dürrenmattsche Ausmasse annehmenden Szene, in der zwei alte Männer sich gegenseitig hinterhältig umbringen wollen - augenblicklich erkannt, auch geahnt, welche Möglichkeiten die stillen, gelegentlich tieftraurigen Momente, die den spannenden Thriller begleiten, einem wirklich guten Darsteller böten. - Dass die Verfilmung erst rund fünfzehn Jahre später zustande kam, hatte damit zu tun, dass die Rechte bereits vergeben waren. Und das nicht ganz an Eggers gewohnte Qualität (er machte sich immerhin mit dem nicht unbedeutenden Schweizer Spielfilm “Kinder der Landstrasse”, 1992, oder dem höchst erfolgreichen Zweiteiler “Opernball”, 1998, einen Namen) anknüpfende Ergebnis dürfte dem Schweizer Fernsehen zu verdanken sein, das den Film zwar zusammen mit dem ZDF produzierte, aber berühmt ist für seine Knausrigkeit am falschen Ort (man fand anschliessend seltsamerweise durchaus das Geld für eine zusätzliche lächerlich wirkende schweizerdeutsche Synchronisation des ursprünglich in Deutsch gedrehten Films). - Gewisse Schwächen machen sich vor allem in den etwas einfallslosen Szenenwechseln bemerkbar, und obwohl man wirklich nicht behaupten kann, “Tod eines Keilers” betreibe Werbung für Zürich (es regnet beinahe während des ganzen Films, was die grauen Häuserwände noch unwirtlicher erscheinen lässt), hielt man es dennoch für nötig, mehrmals mit einer Supertotalen, die die Mündung der Limmat in den Zürichsee zeigt, daran zu erinnern, dass sich der Zuschauer in der Möchtegern-Weltstadt der Schweiz befindet. - Immerhin knüpfen die oft eingeblendeten blau-weissen Trams (= Strassenbahnen) an die konsequent durchgehaltene blau-weisse Atmosphäre in der kühlen Klinik an.


Dass “Tod eines Keilers” trotz der erwähnten Schwächen zu einem sehenswerten Ereignis wurde, ist neben der mit überraschenden Wendungen aufwartenden Geschichte vor allem den hervorragenden Darstellern zu verdanken. Friedrich von Thun sorgt als scheinbar an Demenz leidender Professor für Lacher, die einem gelegentlich im wahrsten Sinne des Wortes im Hals stecken bleiben (wenn er etwa auf Binders Erklärung “Ich hatte Krebs” mit einem abwesenden “Aber sonst - geht es Ihnen gut?” reagiert), oft aber auch herrlich sind (etwa die vom Brüllen der Studenten begleitete Ankündigung seiner Vorlesung “Über den Kreislauf der Geschichte” - was eigentlich ein spannendes Thema für eine Vorlesung wäre!). Hanspeter Müller spielt einen seltsam von Ahnungen erfüllten Ermittler, und Robert Hunger-Bühler ist als philosophierender Kneipenwirt schlicht ein Erlebnis.  Neben Hans-Michael Rehberg ist es natürlich vor allem der begnadete, lange Zeit in etwas seichten Blockbustern eingesetzte Joachim Król, dem es mit seinem differenziert-minimalistischen Spiel gelingt, zu einer sanften Annäherung an den todkranken Mann zu finden, der in das Gefüge der Natur eindringt und den Lauf der Dinge verändert. Die Rolle des Gottfried Binder ist wie gemacht für ihn: Seine Stille wirkt in diesem Film natürlich, glaubhaft. Unnötige Gesten fehlen, und man bemerkt rasch, dass man es bei Binder mit einem Mann zu tun hat, der üblicherweise eher durch seine Gefühle als mit Worten und Taten wirkt. - Król selber schrieb denn auch: “Gottfried Binder hat mich fasziniert, weil er ein Mensch ist, der sich in einer aussergewöhnlichen Lebenssituation befindet. Er hat nicht mehr lange zu leben, und genau das führt bei ihm dazu, dass er ein sehr eigenes Empfinden für Gerechtigkeit entwickelt. ... Sein Verbrechen ist natürlich untragbar. Dass ein Mensch jedoch, der so sehr unter seinen Lebensumständen zu leiden hat, schliesslich zu einer solchen Tat fähig ist und Rache übt, ist  zumindest vorstellbar. Zudem ist Gottfried Binder bereit, sich seiner Verantwortung zu stellen. Er sagt die Wahrheit, verschweigt jedoch seine Tat.” - Wenn sich Schauspieler zu der von ihnen verkörperten Figur äussern, wirkt dies oft wie der verzweifelte Versuch einer Beschreibung dessen, was sie ihr eigentlich gerne mitgegeben hätten. Das ist hier nicht nicht der Fall.

***

Die Besprechung eines Thrillers, mag er auch als ruhiger Fernsehfilm daherkommen, ist grundsätzlich eine diffizile Angelegenheit. Man möchte etwas über ihn erzählen, auch neugierig auf ihn machen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, verräterische Äusserungen zu übersehen oder ihnen nicht ausweichen zu können. Ich hoffe deshalb, es sei mir halbwegs gelungen, "Tod eines Keilers" dem Leser schmackhaft zu machen, mit passenden Teasern zu punkten, aber auch ein paar falsche Fährten zu legen. 



Montag, 7. November 2011

Untergang 1943

Titanic
(Titanic, Deutschland 1943)

Regie: Herbert Selpin
Darsteller: Sybille Schmitz, Hans Nielsen, Kirsten Heiberg, Ernst Fritz Fürbringer, Karl Schönböck, Charlotte Thiele, Otto Wernicke, Franz Schafheitlin, Sepp Rist, Claude Farell u.a.

        In a solitude of the sea
        Deep from human vanity
And the pride of Life that planned her, stilly couches she.
                                                  (Thomas Hardy)

Geschichtliche Ereignisse werden mit Bedeutung gefüllt. Das wusste auch Goebbels, der "seine" Erkenntnis - dem Künstler spezielle Fähigkeiten zugestehend - in pathetische Worte fasste: “Man wird  ... von einem geschichtlichen Darsteller nicht verlangen können, dass er der Geschichte gegenübertritt wie der Historiker. Der Künstler ... hat das Recht, ich möchte sagen, intuitiv in geschichtliche Vorgänge einzugreifen und sie aufgrund einer intuitiven Einsicht zu gestalten. Und es hat sich dann immer erwiesen, dass grosse Künstler geschichtliche Vorgänge in einem höheren Sinne wahrheitsgetreu gesehen und dargestellt haben, als die Historiker.” --- Dass die zitierten Sätze vor allem die der Naziideologie dienlichen Verdrehungen der vom Filmfanatiker angeordneten Historienschinken rechtfertigen sollten, versteht sich von selber.

Der Propagandaminister hatte lange gezögert, filmisch mit schwerem Geschütz gegen die Briten aufzufahren, galten sie doch eigentlich als Arier und somit als unantastbar. Der Weltkrieg machte jedoch eine Dämonisierung Englands auch im Film unumgänglich. Sie setzte 1940 mit “Die Rothschilds” ein, einem propagandistischen Streifen, der antisemitisches Gedankengut mit antibritischem verband. Etwa zur gleichen Zeit wurde ein Film über den Untergang des Luxusliners RMS Titanic im Jahre 1912 angekündigt. Die Schiffskatastrophe stand, wie die ersten Zeilen aus dem Gedicht “The Convergence of the Twain” (1912) von Thomas Hardy zeigen, von  Anfang an für die menschliche Hybris, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzende Überzeugung, man könne mit der modernen Technik alles bewältigen, sogar ein unsinkbares Schiff bauen - der nun die Natur oder Gott Paroli bot, indem der anmassenden Eitelkeit ihre Grenzen aufgezeigt wurden. Goebbels wollte jedoch den Untergang dank seiner “intuitiven Einsicht”, Lügen und erwiesene Verdrehungen in Kauf nehmend, mit einer völlig anderen Bedeutung füllen.


Mehrere Regisseure und Drehbuchautoren standen zur Diskussion. Und bevor sich die Tobis auf Herbert Selpin und seinen Autor  Walter Zerlett-Olfenius, einen aufrechten Nazi, der für subtile, aber unmissverständliche Hetze gegen die Engländer sorgen sollte, einigen konnte, wurde das Publikum mit anderen Filmen gegen das plutokratische Denken der Briten und ihre  Vergangenheit als Kolonialmacht aufgehetzt (“Der Fuchs von Glenarvon”, 1940, “Ohm Krüger”, 1941, “Anschlag auf Baku”, 1942). - Selpin, der eigentlich gar nicht antibritisch eingestellt war, hatte in den 30ern einige höchst erfolgreiche Streifen mit Hans Albers gedreht, und es schien nur folgerichtig, ihm statt Harlan und seiner "Reichswasswerleiche" eine der bis anhin kostspieligsten Produktionen des deutschen Films zu übertragen. Dass diese Produktion in mehrfacher Hinsicht ein Debakel werden sollte, ahnte Goebbels nicht, auch nicht, dass der fertige Film eher zur Allegorie des Untergangs "seines" Dritten Reichs als zum antibritischen Propagandastreifen werden sollte. Tatsächlich nahm "Titanic" den eigenen Untergang sogar  derart offensichtlich vorweg, dass er zwar in von Deutschland besetzten Gebieten und der Schweiz, im Reich selber jedoch nicht gezeigt wurde (eine gekürzte Fassung mutete man dem deutschen Publikum erst 1950 zu).

“Titanic” kostete bekanntlich seinen Regisseur das Leben. Selpin hatte Zerlett-Olfenius als Regieassistenten nach Gotenhafen vorausgeschickt, wo dieser mit seinem Team Aussenaufnahmen auf der ‘Cap Arcona’, einem ehemaligen Luxusschiff, vorbereiten sollte. Als er nachkam, war kaum etwas geschehen, weil sich diverse Marineoffiziere der Komparsinnen angenommen hatten und jetzt auch bei Nacht stattfindende Aufnahmen mit ihren Blitzlichtern sabotierten. Selpin verkrachte sich darauf mit Zerlett-Olfenius und äusserte sich bei dieser Gelegenheit gegenüber der Wehrmacht und gewissen NSDAP-Grössen ziemlich unvorteilhaft. Zerlett-Olfenius kündigte und verpfiff ihn augenblicklich beim Chef der Reichskulturkammer Hinkel, worauf man Selpin aufforderte, seine Beleidigungen zurückzunehmen. Als er sich - wohl langsam seine Ohnmacht erkennend - weigerte, wurde er verhaftet. Am nächsten Morgen fand man ihn erhängt in seiner Zelle. Bis heute wird darüber diskutiert, ob es sich um einen fingierten Selbstmord handelte. Manche Selpin-Freunde stellten Fragen, hielten auch heimliche Versammlungen ab. Erst  unmissverständliche Warnplakate in den Ateliers brachten sie zum Schweigen. Der Film wurde von Werner Klingler fertig gestellt. - Doch dies war nur die erste  Katastrophe, die die Geschichte des Propagandastreifens begleiten sollte...

Selpins Film sollte sich vor allem auf Geiz und Gier der britischen Upper Class konzentrieren. Es ging also nicht um eine möglichst wahrheitsgetreue Rekonstruktion des Untergangs der Titanic auf ihrer Jungfernfahrt; auch Kitsch, wie man ihn in Jean Negulesco’s Version (1953) im Übermass finden würde, hatte nur am Rande Platz. Im Mittelpunkt standen vielmehr Sir Bruce Ismay, der Besitzer der White Star Line, und der unermesslich reiche John Jacob Astor IV, der flugs zum Engländer umfunktioniert wurde (er und seine Frau werden als Lord und Lady Astor eingeführt). Ihre Gier und ihre hinterhältigen Aktienspielchen sollten für den Tod von über 1500 Menschen verantwortlich gemacht werden.

Zu Beginn des subtilen Hetzstreifens informiert Ismay seine Aktionäre, dass die White Star Line wegen des Baus des Überdampfers vor dem Bankrott stehe. Dieser könne nur abgewendet werden, wenn es der Titanic gelänge, auf ihrer Jungfernfahrt in Rekordzeit den Atlantik zu überqueren und sich das berüchtigte “Blaue Band” zu holen. Und während der Reederei-Besitzer dem Kapitän des Schiffs für jede Stunde, die man früher in New York eintrifft, Geld verspricht, findet sich eine illustre Gesellschaft im Prunksaal des Dampfers ein. Zu dieser gehört Astor, von dem es heisst, er könnte die Titanic kaufen. In Wirklichkeit hat der kalte, machtgierige Mann (von Karl Schönböck hervorragend als “englischer” Gentleman verkörpert) noch mehr vor: Er will die ganze White Star Line, weshalb er die Aktien der Firma künstlich nach unten drückt und die anderen Aktionäre zum Verkauf  drängt. Seine sich vernachlässigt fühlende Frau “tröstet” er mit den Worten: “Für mich mehr Macht, für dich mehr Schmuck.” -  Ein weiterer Gast ist die geheimnisvolle Baltin Sigrid Olinsky, an die sich Ismay augenblicklich heranpirscht, weil auch sie über Reichtümer verfügen soll. Das Herz der Schönheit ist allerdings längst an den sie abweisenden 1. Offizier Petersen vergeben, einen Deutschen, den die Engländer nicht gern auf ihrem Schiff sehen, der jedoch - selbstverständlich! - als einziger vor den Gefahren einer zu schnellen Überfahrt warnt; dies in Worten, die so brav, pflichtbewusst und öde sind, dass ihm der heutige Zuschauer das Ersaufen am meisten wünscht.


Während die Aktionäre ihren geldgierigen Geschäften nachgehen, spielen sich auf dem Dampfer auch private Geschichten ab: Es geht um den geheimnisvollen blauen Diamanten, der Unglück verheisst, um einen Dieb, der an Bord ist - und natürlich um die Liebe, die gar keine Zeit findet, sich zu entfalten. Da gibt es den 1. Geiger Franz Gruber, der die blonde, für die Maniküre der arroganten Damen zuständige, Hedy kennen lernt (eine hoffnungsvolle deutsche Verbindung auf dem Schiff, mag sie auch unter dem schnippischen englischen Pack, das sie gar nicht zur Kenntnis nimmt, zu leiden haben), und es gibt Petersen, der die mittlerweile zur Armut verdammte Olinsky natürlich trotzdem lieben möchte, vor lauter Pflicht und Warnungseifer aber gar nicht die Zeit dafür findet. Und schon bald macht der Satz “eine Frau, die man lieben könnte” die Runde. Denn während im Heizraum geschaufelt und im Zwischendeck getanzt wird, naht der Eisberg; da findet sich zwischen Geldgier und Katastrophe nicht noch viel Zeit für Romantik à la “Grand Hotel” (1932).


Zeichnete sich der erste Teil des Films vor allem durch dröge, uninspirierte Dialoge aus, so zeigt Selpin im Katastrophenteil, was er drauf hat: Die Wassermassen füllen das Schiff mit eindrücklicher Wucht, Ismay nimmt die Meldung von der Kollision mit einem Blick entgegen, den man nicht vergisst, die Passagiere flüchten in wildem Durcheinander (nur ein von der Nationalität her nicht näher gekennzeichnetes Paar im Zwischendeck, das an die Figuren auf Grant Wood’s Gemälde “American Gothic” erinnert, führt vorbildlich vor, wie man sich in einer solchen Situation verhält) - und Bilder von Menschen im Ozean, die von den Rettungsbooten aufgenommen werden wollen, nehmen apokalyptische Züge an.  - Der brave 1. Offizier erhält, damit der Kitsch wenigstens nicht ganz verloren geht, noch Gelegenheit, ein in einer Kabine zurückgelassenes Mädchen zu retten, und am Ende - hier vergibt Selpins "Titanic" die Gelegenheit, den Zuschauer zu Tränen zu rühren - sitzen alle braven Paare in den Rettungsbooten, um erschüttert zuzusehen,, wie der Rumpf des Schiffes im Meer versinkt. --- Auch Ismay hat sich einen Platz in einem Boot ergattert. Er wird am Schluss von Petersen vor Gericht heftig angeklagt, aber freigesprochen. Und dann leistet sich der Film seine einzige explizit propagandistische Botschaft: In grossen Lettern wird dem Zuschauer mitgeteilt, der Tod von über 1500 Menschen auf der Jungfernfahrt der Titanic bleibe “eine ewige Anklage gegen Englands Gewinnsucht”.

Die Darstellung der Katastrophe gelang Selpin tatsächlich derart beeindruckend, dass sogar der um Authentizität bemühte britische Film “A Night to Remember” (1958) einzelne Bilder übernahm. Das Ausmass dieser “eingebauten Bilder” dürfte jedoch ähnlich übertrieben worden sein wie die angeblichen Anleihen, die in James Cameron’s dreistündigem Untergang (1997) “entdeckt” wurden (Motive bieten sich nun einmal an). - Goebbels hingegen wird in den um ihr Leben rennenden Menschen auf dem Schiff sehr wohl die vor den Bomben der Alliierten Flüchtenden in deutschen Städten erkannt haben und von einem seltsamen Unbehagen erfüllt worden sein, einem Unbehagen, das ihn ahnen liess, wie wenig die Kinobesucher jetzt einen Film sehen wollten, in dem sie sich und ihren Untergang selber miterlebten. Einigen Quellen zufolge wurde der Mix aus Fakten, längst widerlegten Verdrehungen und Melodrama in Deutschland gar nicht freigegeben, weil man defätistische Wirkungen befürchtete. Es wird auch behauptet, das Kino, in dem die Uraufführung geplant war, sei samt Kopie des Films am Tag vor dem Ereignis bombardiert worden, was den Propagandaminister zu seiner Entscheidung veranlasst habe.


Die zweifellos tragischste und die ganze Nazi-Heuchelei widerlegende Katastrophe widerfuhr der ‘Cap Arcona’, auf der Teile des Films gedreht worden waren: Kurz vor Kriegsende wurde das Schiff, auf dem sich mehr als 4000 Häftlinge des Konzentrationslagers Neuengamme, das Himmler räumen wollte, befanden, in der Nähe von Lübeck von alliierten Bombern getroffen und sank. Nazi-Truppen erschossen die wenigen Überlebenden. So forderte die ‘Cap Arcona’ wesentlich mehr Tote als die Titanic. - Der Denunziant Zerlett-Olfenius wurde 1947 zu vier Jahren Arbeitslager verurteilt; die Hälfte seines Vermögens zog man ein.

Ein kleiner Epilog lässt sich nicht vermeiden: Sybille Schmitz, die als von zwei Männern umgarnte androgyne Sigrid Olinsky so etwas wie die weibliche Hauptrolle in “Titanic” gespielt hatte, fand nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kaum noch Beschäftigung und verfiel zunehmend den Drogen und dem Alkohol. 1955 tötete sich die Isolierte mit einer Überdosis Schlaftabletten. Die letzten Lebensjahre der Schmitz wurden zur Grundlage für Rainer Werner Fassbinders Film “Die Sehnsucht der Veronika Voss” (1982).

Freitag, 28. Oktober 2011

Kurzhaar muss Elektra tragen

ELEKTRA (griech. ILEKTRA / ΗΛΈΚΤΡΑ)
Griechenland 1962
Regie: Michael Cacoyannis
Darsteller: Irene Papas (Elektra), Yannis Fertis (Orestes), Aleka Katselli (Klytaimnestra), Theodoros Dimitriou (Agamemnon), Phoebus Rhazis (Aigisthos), Notis Peryalis (Elektras Mann), Manos Katrakis (Erzieher/Greis), Takis Emmanuel (Pylades), Theano Ioannidou (Chorführerin)


Über Helden, die solche Waffen geführt,
gebot der Mann, den du, Tyndaridin,
ermordet, dein Gatte, du tückisches Weib!
So werden dich denn die Himmlischen auch
dem Tode einst weihen; wahrlich, ich soll
deinen Nacken noch sehen, zur Strafe des Mordes
blutüberströmt, unterm Schlage des Beiles!
(Euripides: Elektra, Übersetzung Dietrich Ebener)

Die griechische Tragödie ist eine altehrwürdige Literaturgattung, die im 5. Jahrhundert v. Chr. von den Herren Aischylos, Sophokles und Euripides - alle drei in Athen wirkend - zur Blüte gebracht wurde. Jeder der drei hat dutzende Stücke geschrieben, von denen aber nur wenige erhalten sind. "Elektra" ist der einzige Stoff, bei dem von jedem der drei eine Version überlebt hat (bei Aischylos unter dem Titel "Choephóroi" als Mittelteil der dreiteiligen "Orestie"). Michael Cacoyannis hielt sich bei seiner Verfilmung eng an Euripides. Während es eine Unzahl von in der griechischen Antike angesiedelten Sandalenfilmen gibt, sind echte Verfilmungen (also nicht einfach abgefilmte Theateraufführungen) griechischer Tragödien relativ selten. Am bekanntesten dürften Pier Paolo Pasolinis EDIPO RE (nach Sophokles) und MEDEA (nach Euripides) sein, aber Cacoyannis' ELEKTRA ist diesen Filmen mindestens ebenbürtig.


Der Trojanische Krieg ist zu Ende. König Agamemnon, der Anführer der siegreichen Griechen, kehrt heim nach Argos in seine Hauptstadt Mykene, wo er von seiner Frau Klytaimnestra erwartet wird. Doch diese hat ein Problem: Während Agamemnons langer Abwesenheit hat sie sich einen Liebhaber, Aigisthos, genommen. Klytaimnestra hasst Agamemnon, weil dieser auf der Fahrt nach Troja auf Geheiß eines Sehers ihre gemeinsame Tochter Iphigenia geopfert hat (Iphigenia ist nicht wirklich tot, sondern sie wurde zu einem Barbarenvolk am Schwarzen Meer versetzt, aber das ist eine andere Geschichte). Klytaimnestra und Aigisthos lösen ihr Problem auf radikale Art: Gemeinsam ermorden sie Agamemnon unmittelbar nach seiner Ankunft, als dieser ein Bad nimmt. Doch daraus erwächst ein neues Problem: Orestes und Elektra, die weiteren Kinder von Agamemnon und Klytaimnestra, standen auf der Seite des Vaters und hassen jetzt die Mutter. Zwar ist Orestes noch ein Kind und Elektra eine Jugendliche, aber irgendwann werden sie versuchen, den Mord zu rächen. Weil Orestes' Leben deshalb unmittelbar in Gefahr ist, bringt ihn der frühere Erzieher Agamemnons sofort außer Landes nach Phokis, wo er inkognito aufwächst. Elektra dagegen wird wie eine Gefangene im Palast von Mykene gehalten.


Einige Jahre später. Aigisthos und Klytaimnestra regieren als neues Königspaar, doch sie sind beim Volk wegen der Bluttat verhasst, Aigisthos gilt als Usurpator. Elektra ist inzwischen erwachsen. Klytaimnestra will sie loswerden, doch sie wagt nicht, sie ermorden zu lassen, aus Angst, eine Revolte auszulösen. Deshalb wird Elektra zwangsweise mit einem einfachen Bauern verheiratet, der ein armseliges Stück Land am Rand des mykenischen Staatsgebiets bestellt. Aus Verzweiflung und als Zeichen ihres zukünftigen niederen sozialen Standes schneidet sich Elektra das lange schwarze Haar zu einer Kurzhaarfrisur und legt die Haare als stummen Protest vor die Füße von Aigisthos und Klytaimnestra. Die Idee hinter der Zwangsheirat: Wenn Elektra einen vornehmen Krieger heiraten würde - und Anwärter gab es bereits -, dann könnte ein Sohn von ihr eines Tages als Rächer seines Großvaters auftreten, doch bei den bedeutungslosen Kindern eines bedeutungslosen Bauern ist das ausgeschlossen. Außerdem dient das erzwungene Leben in einfachsten Verhältnissen der Demütigung Elektras.


Doch der Bauer, dessen Name ungenannt bleibt, unterläuft diese Absichten. Er behandelt Elektra respektvoll und führt eine platonische Ehe, aus Rücksicht auf den von ihm anerkannten Standesunterschied und darauf, dass Aigisthos als unrechtmäßiger Herrscher kein Recht hatte, diese Ehe zu befehlen. Aber diese Tatsache halten er und Elektra geheim, um keine weiteren Reaktionen des Königspaars zu provozieren. Wie in jeder griechischen Tragödie gibt es einen Chor, der hier von den mykenischen Landfrauen gestellt wird, die Elektra freundlich als eine der Ihren aufnehmen. Für Elektra hätte es also noch schlimmer kommen können, dennoch ist sie verzweifelt: Ein Leben in Armut, keine Aussichten, Rache nehmen zu können, und keine Nachrichten von Orestes, den die meisten für tot halten. Ihre einzige Hoffnung ist, dass Orestes doch noch lebt und irgendwann zurückkehrt.


Und schon ist es soweit: Orestes und sein Freund Pylades betreten mykenisches Gebiet. Das Orakel von Delphi, also indirekt der Gott Apollon, hat ihm befohlen, die Untat zu rächen. Aus Angst, erkannt zu werden, gehen die beiden Freunde nicht direkt nach Mykene, sondern erkunden erst auf dem Land die Lage und geraten dabei an Elektras Hütte. Durch ein erlauschtes Gespräch der Landfrauen erfährt Orestes, wer hier wohnt, und verlangt Elektra zu sprechen. Er enthüllt seine Identität jedoch nicht, sondern gibt sich als Bote von Orestes aus. Elektra vermutet in den beiden für sie Fremden zunächst von Aigisthos ausgesandte Attentäter und verbirgt sich, doch schließlich kann Orestes die Frauen und Elektra von seiner freundlichen Gesinnung überzeugen. Der von der Feldarbeit heimkehrende Bauer ist froh über die Kunde, dass Orestes noch lebt, und lädt die beiden vermeintlichen Boten in seine Hütte ein, was Orestes und Pylades zu einer Reflexion über die Überlegenheit aufrechten Charakters über Reichtum und hohe Geburt veranlasst. Um die beiden bewirten zu können, wird nach einem alten, halb blinden Hirten gesandt, der Wein und Essen mitbringen soll. Es handelt sich um niemand anderen als den früheren Erzieher, der Orestes in Sicherheit gebracht hatte. Am verzierten Knauf eines Schwertes, das Orestes schon als Kind besaß, erkennt ihn der Greis und verrät seine Identität. Elektra will ihm zunächst nicht glauben, doch eine besondere Narbe, die sich Orestes schon als Kind bei der Jagd zuzog, erbringt den Beweis.


Nach der Wiedersehensfreude werden Rachepläne geschmiedet. Trotz des Orakels von Delphi zaudert Orestes - er weiß nicht so recht, ob und wie er zur Tat schreiten soll. Insbesondere der vorgesehene Mord an der eigenen Mutter ist ihm nicht geheuer. Doch Elektra und der Greis bestehen darauf, dass auch Klytaimnestra sterben muss. Doch zunächst ist Aigisthos an der Reihe. Der Greis entwirft einen Plan: Aigisthos feiert gerade mit wenigen Wachen und Dienern ein Weinfest zu Ehren von Dionysos. Wenn Orestes und Pylades als vermeintliche Fremde dort aufkreuzen, wird Aigisthos sie zum Fest einladen, und es wird sich eine Gelegenheit zum Mord ergeben. Wenn sich Orestes nach der Tat als Sohn Agamemnons zu erkennen gibt, werden die Wachen zu ihm überlaufen. Die beiden Freunde brechen auf, während Elektra für den Fall des Scheiterns des Plans ihren eigenen Selbstmord ankündigt. Die Nacht vergeht quälend langsam, und Elektra glaubt schon an ein Mißlingen des Anschlags und will sich selbst töten - die Landfrauen können sie nur mit Mühe davon abhalten. Da erscheint ein Bote und bringt die erlösende Nachricht: Der Plan hat perfekt geklappt, Aigisthos ist tot, und die Wachen und Diener haben sich Orestes angeschlossen. Wenig später kehren die beiden Freunde mit ihrem neuen Gefolge zurück, und als Beweis für die vollbrachte Tat bringen sie die Leiche von Aigisthos mit, vor der nun Elektra eine bittere Schmährede hält.


Für den zweiten Teil der Rache hat sich Elektra eine List ausgedacht: Der Greis überbringt in der Hauptstadt die falsche Nachricht, dass Elektra ein Kind zur Welt brachte. Klytaimnestra, die den Palast sonst fast nie verlässt, wird unweigerlich bei Elektra auftauchen. Und tatsächlich, bald erscheint die Königin, die noch nichts von Aigisthos' Schicksal weiß, in Begleitung von drei trojanischen Dienerinnen, die einst Agamemnon als Kriegsbeute mitbrachte, vor der Hütte des Bauern. Orestes schreckt mehr denn je vor der schrecklichen Tat zurück, doch Elektra lässt keines seiner Argumente gelten und ringt ihm das Versprechen ab, den Mord unerbittlich auszuführen. Die treibende Kraft hinter der Rache ist nun endgültig Elektra, nicht Orestes. Elektra tritt Klytaimnestra vor der Hütte entgegen. Diese sendet vorsichtige Signale zu einer Annäherung aus und rechtfertigt sich für die Ermordung Agamemnons: Durch die Opferung Iphigenias auf Aulis und durch die Provokation, dass Agamemnon die trojanische Seherin Kassandra als seine Geliebte nach Mykene mitbrachte, sei sie zur Tat berechtigt gewesen. Doch Elektra weist Klytaimnestras Argumente schroff als Ausreden zurück, zwischen Mutter und Tochter gibt es keine Versöhnung. Elektra geleitet Klytaimnestra in die Hütte, wo sie eine vom Brauchtum vorgeschriebene Opferhandlung für das vermeintliche Kind vornehmen soll, und wo schon Orestes mit dem Schwert lauert. Im allerletzten Moment scheint auch Elektra zu zögern, doch nur für einen Augenblick, dann schlägt sie die Tür der Hütte hinter sich und Klytaimnestra zu. Den Mord selbst bekommt man nicht zu sehen, stattdessen zeigt Cacoyannis den Chor der Frauen, die ob des schrecklichen Geschehens wie in Panik umherwanken und fassungslos zusammenbrechen.


Als Orestes und Elektra nach der Tat zu sich kommen und die blutige Leiche Klytaimnestras vor sich sehen, wird ihnen klar, was mit ihnen geschehen ist. Obwohl sie nach den Gesetzen der Blutrache zur Vergeltung für den Mord an Agamemnon verpflichtet waren, obwohl Apollon selbst die Tat befohlen hatte, haben sie ein schreckliches, unverzeihliches Verbrechen begangen - sie sind "schuldlos schuldig" geworden, wie es in der Theorie der Tragödie heißt. Ihnen wird klar, dass sie als Konsequenz daraus weder zusammenbleiben noch in Argos bleiben können, sondern sich trennen und das Land verlassen müssen. Orestes als Ausführender des Mordes hat obendrein die Vergeltung der Erinnyen zu fürchten, der Rachegöttinnen, die solche Freveltaten unerbittlich verfolgen. Nach bitteren Abschiedsworten gehen Elektra und Orestes in verschiedene Richtungen davon. Pylades folgt zunächst Orestes, doch dieser weist ihn mit einer stummen Geste zurück. Der Film endet mit einem Ausspruch der Chorführerin, der bei Euripides unmittelbar nach dem Mord an Klytaimnestra fällt:

Es gibt kein unglücklicheres Geschlecht als das
der Tantaliden, und es gab auch früher keines!


Doch ganz so trostlos geht die Geschichte doch nicht aus. Bei Euripides erscheinen am Ende die Zwillinge und Halbgötter Kastor und Polydeukes (besser bekannt unter seinem lateinischen Namen Pollux), zugleich Halbbrüder von Klytaimnestra, als deus ex machina, und weisen den Weg in die Zukunft. In einem langen Monolog übt Kastor herbe Kritik an Apollon, dem er die Hauptschuld am Unglück zuweist, und er trägt Orestes auf, vor den Erinnyen nach Athen zu fliehen und sich in den Schutz von Athene zu begeben. Dort wird ein menschliches Gericht - der zukünftige Areopag von Athen - über ihn richten und ihn freisprechen. Elektra dagegen wird als Frau von Pylades nach Phokis gehen; der Bauer wird sie als Freund begleiten und reich beschenkt werden (diese Lösung ist möglich, weil Elektra noch Jungfrau ist). Die dauerhafte Verbannung aus Argos und die Trennung der Geschwister bleibt dagegen bestehen. Orestes' Flucht vor den Erinnyen nach Athen und sein letztendlicher Freispruch bilden auch den Inhalt von "Die Eumeniden", dem dritten Teil von Aischylos' "Orestie". Cacoyannis ließ den etwas aufgesetzt wirkenden Schluss von Euripides weg, aber da er nun mal zu der Geschichte gehört, darf man ihn sich hinzudenken.


Regie Michael Cacoyannis, Kamera Walter Lassally, Musik Mikis Theodorakis, und Irene Papas in der weiblichen Hauptrolle - da denkt man gleich an den Klassiker ALEXIS SORBAS von 1964. Doch das Team fand sich bereits 1961 zusammen, nur Anthony Quinn und Alan Bates fehlten noch. Herausgekommen ist mehr als eine geglückte Generalprobe - ELEKTRA ist ein Meisterwerk. Der im letzten Juli verstorbene Michael Cacoyannis (eigentlich Mihalis Kakogiannis), der aus einer griechisch-zypriotischen Familie stammte, lebte 1939-52 in London, wo er auf Wunsch seines Vaters Jura studiert hatte, dann aber Schauspieler wurde. Als er seinen Wunsch, Regie zu führen, in England nicht verwirklichen konnte, ging er nach Athen, wo er mit offenen Armen empfangen wurde. Seither lebte er in dieser Stadt, mit Ausnahme der Jahre der Militärdiktatur (1967-74), die er im Exil verbrachte. Seine zwischen 1954 und 1958 erschienenen ersten vier Filme, in denen er mit unverbrauchter Frische griechische Gegenwartsthemen behandelte, gelten manchen Kritikern als seine besten.


Auf jeden Fall besaß er die Fähigkeit, aus seinen Hauptdarstellerinnen eindrucksvolle Leistungen hervorzuholen und sie zu Stars zu machen. In drei der vier Filme war es die außerhalb Griechenlands nur noch wenig bekannte Ellie Lambeti (auch Lambetti geschrieben), in STELLA dagegen Melina Mercouri in ihrer ersten Rolle - mit Filmen wie SONNTAGS... NIE! und TOPKAPI wurde sie sogar ein Weltstar. Irene Papas musste nicht erst von Cacoyannis zum Star gemacht werden. Als ELEKTRA herauskam, war sie 36 und hatte schon eine beachtliche Karriere hinter sich, auch mit internationalen Auftritten (ATTILA mit Anthony Quinn und Sophia Loren, DIE KANONEN VON NAVARONE mit Gregory Peck, David Niven und wieder Quinn). Auch mit klassischen Tragödienrollen hatte sie schon Erfahrung: 1961 spielt sie Antigone in einer Verfilmung des Stücks von Sophokles. Aber ELEKTRA ist sicher einer der Höhepunkte ihrer Laufbahn. Mit ihrem ebenso ausdrucksstarken wie kontrollierten Spiel und ihrer geradezu majestätischen Erscheinung drückt sie dem Film einen deutlichen Stempel auf.


Euripides' Stück beginnt erst, als Elektra bereits zwangsverheiratet wurde und Orestes und Pylades in Argos auftauchen. Dieses Problem - wenn es für ihn überhaupt eines war - löste Cacoyannis, indem er die Geschehnisse davor als fast wortlosen, siebenminütigen Prolog inszenierte. Auch danach gibt es Sequenzen, in denen die Handlung mehr oder weniger wortlos erzählt wird - durch sorgfältigen Bildaufbau und exakt choreographierte Bewegungen der Protagonisten, unterstützt durch die eindrucksvoll karge griechische Landschaft (abgesehen von Agamemnons Ermordung im Bad und den Szenen in der Hütte des Bauern wurde nichts im Studio gedreht) und der archaisierenden, oft rhythmisch-perkussiven Musik von Mikis Theodorakis (die nichts mit den bekannten Sirtaki-Klängen aus ALEXIS SORBAS gemein hat). Die Bewegungen sind meist langsam, getragen, um den Ernst und das Pathos der Handlung zu unterstreichen. Vor allem der Chor der Frauen mit ihren strengen Gesichtern und strengen Gewändern wird immer wieder eindrücklich in Szene gesetzt. Cacoyannis war damals ein Regisseur, der die Bewegungen der Darsteller schon im Voraus detailliert plante und im Drehbuch festhielt, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Die Sprache der Protagonisten ist über weite Strecken eng an Euripides angelehnt, oft sogar wörtlich übernommen (soweit ich das anhand der deutschen Übersetzung des Stücks und der engl. Untertitel der DVD beurteilen kann), ohne vor Auslassungen und eingeschobenen profaneren Dialogen zurückzuschrecken.


Einen wesentlichen Beitrag zur eindrucksvollen Wirkung des Films leistet Kameramann Walter Lassally, der ELEKTRA für seinen und auch für Cacoyannis' besten Film hält. Lassally, 1926 in Berlin geboren, emigrierte 1939 mit seinen Eltern nach England. Die Lassallys waren eine protestantische Familie, aber es gab jüdische Vorfahren, und somit war man "nichtarisch". Walter Lassally war der wichtigste Kameramann von Free Cinema und British New Wave. In den 50er Jahren war er der bevorzugte Kameramann bei den Dokumentarfilmen von Tony Richardson, Karel Reisz und Lindsay Anderson und Mitunterzeichner des von Anderson verfassten Free Cinema-Manifests, in den 60ern filmte er u.a. Richardsons BITTERER HONIG, DIE EINSAMKEIT DES LANGSTRECKENLÄUFERS und TOM JONES.


Cacoyannis engagierte Lassally 1955 für seinen dritten Film DAS MÄDCHEN IN SCHWARZ. Cacoyannis war in Cannes, um STELLA zu präsentieren, und unterhielt sich dort mit Lindsay Anderson. Weil Cacoyannis mit dem griechischen Kameramann von STELLA unzufrieden war, bat er Anderson um eine Empfehlung, und der zögerte nicht lange und nannte Lassally. So wurde Lassally engagiert, ohne dass Cacoyannis ihn oder eine seiner Arbeiten gekannt hätte. Bei der Arbeit an DAS MÄDCHEN IN SCHWARZ merkten sie schon nach wenigen Tagen, dass sie auf einer Wellenlänge lagen, was schließlich in sechs gemeinsamen Filmen zwischen 1955 und 1967 und in Lassallys Oscar für ALEXIS SORBAS resultierte. Nachdem er durch seine ersten beiden Filme für Cacoyannis in Griechenland bekannt wurde, arbeitete er auch für andere griechische Regisseure - in den 60er Jahren war Griechenland neben England sein zweites Standbein, was durch den Militärputsch von 1967 beendet wurde. In den 70er und 80er Jahren filmte er u.a. acht Merchant/Ivory-Filme, z.B. DIE DAMEN AUS BOSTON, und gelegentlich in Deutschland, etwa ANSICHTEN EINES CLOWS von Vojtěch Jasný. Seine Autobiographie nannte der viel herumgekommene Lassally treffend Intinerant Cameraman, heute lebt er auf Kreta, nicht weit von einem der Drehorte von ALEXIS SORBAS entfernt.


Cacoyannis inszenierte seit Mitte der 50er Jahre nicht nur Filme, sondern auch Theater, Opern und Musicals. Er brachte Autoren von Euripides über Shakespeare und Oscar Wilde bis Samuel Beckett auf die Bühne, und 1967 eine Opernfassung von Eugene O'Neills "Trauer muss Elektra tragen" an der New Yorker Met. Euripides gehörte aber seine besondere Vorliebe. 1962 inszenierte er dessen "Die Troerinnen" in Spoleto, im Jahr darauf lief diese Inszenierung in New York und erlebte 600 Vorstellungen; 1967 folgte "Iphigenia in Aulis". Schon in den 60er Jahren entstand der Plan, ELEKTRA zu einer Euripides-Trilogie auszuweiten. 1971 entstand in Spanien DIE TROERINNEN (deutsch auch DIE TROJANERINNEN oder TROJA), der einzige Film, den Cacoyannis in den Jahren des Exils drehte. Neben Irene Papas spielten Katharine Hepburn, Vanessa Redgrave und Geneviève Bujold. Dass dieser Film nur verhalten aufgenommen wurde, lag wohl an der sperrigen Vorlage, die sich mit langen Klage-Monologen und wenig Handlung gegen eine Verfilmung sträubt. IPHIGENIA von 1977 komplettiert die Trilogie. Er behandelt die Opferung von Iphigenia auf Aulis, ist also chronologisch Jahre vor ELEKTRA angesiedelt. Irene Papas spielt diesmal ironischerweise Klytaimnestra. Bei allen Filmen der Trilogie stammt die Musik von Theodorakis, Lassally war bei den letzten beiden aber nicht mehr dabei. Was sich Cacoyannis bei der Verfilmung von ELEKTRA gedacht hat, hat er einmal so ausgedrückt:

"Die Liebe zum Text bestimmte meinen Respekt dafür. Darüber hinaus gab es nur Freiheit. Freiheit, das Wort in das Bild zu übersetzen, Freiheit, die Reihenfolge der Szenen zu ändern, wo es mir dramaturgisch notwendig erschien. Mein Ziel war es, einen tragischen Film zu drehen, nicht, eine Tragödie vor der Kamera zu inszenieren. Um mit rein filmischen Mitteln den selben emotionalen Eindruck wie das Schauspiel zu erreichen, die selbe Qualität von Schrecken und Mitleid, die selbe Katharsis. [...] Die griechische Tragödie ist zeitlos. Den größten Schaden, den man ihr zufügen kann, ist es, sie mit der Art von Ehrfurcht zu behandeln, die man den Toten erweist."



ELEKTRA ist in den USA bei MGM auf DVD erschienen. Es gibt auch eine griechische Box mit der kompletten Euripides-Trilogie, mit engl. Untertiteln, aber leider recht teuer.

Donnerstag, 20. Oktober 2011

WENN DIE KRANICHE ZIEHEN

Dies ist die gekürzte und leicht überarbeitete Version eines Artikels, der 2004 im Usenet und 2006 als PDF in der Filmzentrale veröffentlicht wurde (in der längeren Fassung wird noch der erstaunliche SOY CUBA angerissen, der eine eigene Besprechung verdient).

WENN DIE KRANICHE ZIEHEN (DDR-Titel DIE KRANICHE ZIEHEN, russ. LETJAT SCHURAWLI)
UdSSR 1957
Regie: Michail Kalatosow
Darsteller: Tatjana Samoilowa (Veronika), Alexej Batalow (Boris), Wassili Merkurjew (Fjodor Iwanowitsch), Alexander Schworin (Mark), Swetlana Charitonowa (Irina), Valentin Subkow (Stepan)


Im Februar 1956, knapp drei Jahre nach Stalins Tod, fand in Moskau der 20. Parteitag der KPdSU statt. Auf dieser denkwürdigen Veranstaltung griff Nikita Chruschtschow in einer berühmt gewordenen Rede Stalin scharf an und leitete damit die Entstalinisierung ein. In der darauf folgenden "Tauwetterperiode", die bis zur "neuen Eiszeit" unter Leonid Breschnew (ab 1964) währte, genossen Künstler und Intellektuelle in der Sowjetunion weit mehr Freiheiten als im Vierteljahrhundert zuvor. Eine nur lose zusammenhängende Gruppe von Filmschaffenden nutzte die neue Freiheit, um sich von den Zwängen des "Sozialistischen Realismus" zu lösen und individuell geprägte, teilweise gar systemkritische Filme zu drehen. Ihr bekanntester Vertreter war Michail Kalatosow, und WENN DIE KRANICHE ZIEHEN war der künstlerisch und kommerziell erfolgreichste Film der Epoche.


Moskau 1941, kurz bevor die Sowjetunion in den 2. Weltkrieg hineingezogen wird. Während ein Schwarm Kraniche im eleganten V-förmigen Formationsflug über den Himmel zieht, trifft sich an den Ufern der Moskwa ein junges Liebespaar. Boris Borosdin ist Arbeiter und Sohn eines angesehenen Arztes, Veronika will irgendwann mal Architektur studieren. Boris nennt sie Belka (Eichhörnchen), und in der Tat erinnert sowohl ihr hübsches Gesicht als auch ihr quirliges Wesen ein wenig an das agile Nagetier. Veronika sieht den Vögeln nach und rezitiert ihren Lieblingsvers: "Kraniche wie Schiffe, am Himmel segelnd, weiße wie graue, mit langen Schnäbeln, ziehen sie dahin ..." Mit der Idylle ist es schnell vorbei: Nazi-Deutschland marschiert in der Sowjetunion ein. Boris und sein Freund und Arbeitskollege Stepan melden sich freiwillig zur Front, zunächst ohne Wissen von Veronika und Boris' Familie. Boris' Cousin Mark dagegen, ein junger Pianist, hofft auf seine Freistellung. Mark, der in der Wohnung der Borosdins lebt, macht auch Veronika schöne Augen, ohne eine Chance bei ihr zu haben. (In einer deutschen Fassung des Films wurde aus Mark aus unerfindlichen Gründen Boris' Bruder, was aber in mehrfacher Hinsicht keinen Sinn ergibt. Er ist definitiv sein Cousin.)


Einen Tag vor Boris' Abmarsch, und vor Veronikas Geburtstag, vereinbaren Boris und die noch immer ahnungslose Veronika ihre Hochzeit, und Veronika malt sich in Gedanken ihr weißes Brautkleid aus. Dann erscheint Stepan, und die schockierte Veronika erfährt von Boris' Entschluß. Auch seine Familie ist entsetzt. Sein Vater Fjodor Iwanowitsch Borosdin hält ihm eine Standpauke, und auch seine Schwester Irina, eine angehende Ärztin, und seine Großmutter machen ihm Vorwürfe. Als am nächsten Tag zwei junge Kolleginnen von Boris in der Wohnung erscheinen, um dem ausrückenden "Helden" eine offizielle Grußbotschaft des Arbeiterkomitees zu überbringen, unterbricht sie Fjodor Iwanowitsch unwirsch und macht sich mit grimmiger Ironie über die hohlen Phrasen lustig. Allein für diese Szene wäre der Regisseur wohl noch wenige Jahre zuvor in einem Straflager in Sibirien verschwunden. Am Tag des Aufbruchs verfehlen sich die Liebenden, um Abschied zu nehmen. Boris lässt als Geburtstagsgeschenk für Veronika ein Stoff-Eichhörnchen zurück, das ihr die Großmutter aushändigen soll. Unter ein paar Süßigkeiten versteckt er seinen Abschiedsbrief. Als Veronika in der Wohnung der Borosdins erscheint, ist Boris schon weg, und in der Hektik erhält sie zwar das Eichhörnchen, aber sie übersieht den Brief. Veronika eilt zum Sammelpunkt der ausrückenden Soldaten, aber auch hier kommt sie zu spät. So werden Boris und Veronika getrennt, ohne sich noch Lebewohl sagen zu können.


Etwas später. Veronika und die Borosdins warten ungeduldig auf Nachrichten von Boris. Bei einem Luftangriff sucht Veronika in der U-Bahn Schutz, während ihre Eltern leichtsinnigerweise in der Wohnung zurückbleiben. Das Wohnhaus erhält einen Volltreffer - Veronikas Eltern sind tot. Die verstörte Veronika wird von den Borosdins in ihrer Wohnung aufgenommen, als sei sie bereits Boris' Frau. Bei einem neuerlichen Luftangriff bleiben Mark und Veronika allein in der Wohnung zurück. Mark nützt die Situation, um sich wieder an Veronika heranzumachen. Zunächst ohrfeigt sie ihn, aber dann gibt sie im emotionalen und realen Chaos des Bombenhagels nach. (Einige Kritiker wollen aus der Szene herauslesen, dass Veronika von Mark vergewaltigt wird, aber dafür kann ich keine deutlichen Anzeichen erkennen.) Am nächsten Morgen eröffnen Mark und Veronika der völlig überraschten Familie, dass sie heiraten werden. Dies empfinden die Anderen als Verrat an Boris und quittieren es mit versteinerten Mienen und eisigem Schweigen.


Szenenwechsel an die Front. Boris ist mit seiner Kampfgruppe in einer absolut trostlosen, sumpfigen Gegend von den Deutschen eingekesselt worden. Auf einem Erkundungsgang wird er von einer Kugel getroffen, wohl von einem Scharfschützen abgefeuert. Er bricht zusammen und stirbt kurz darauf. Nächster Szenenwechsel: Eine Stadt irgendwo in Sibirien, in die ein Teil der Bevölkerung evakuiert wurde. Fjodor Iwanowitsch leitet das Lazarett, in dem Irina als Ärztin und Veronika als Krankenschwester arbeiten. Noch immer haben sie keine Nachricht von Boris, sie wissen nur, dass er vermisst wird. Die Ehe von Mark und Veronika, die von Anfang an unter keinem guten Stern stand, ist so gut wie gescheitert. Veronika ist deprimiert, sie macht sich Selbstvorwürfe und sehnt sich nach Boris. Dem vom aktiven Dienst freigestellten Mark gegenüber ist sie abweisend. Der wiederum beginnt ein Verhältnis mit einer gewissen Antonina Monastyrskaja, hinter der auch sein Vorgesetzter Tschernow her ist. Im Lazarett kommt es zu einem kleinen Tumult. Ein verwundeter Soldat randaliert, als er erfährt, dass seine Braut in seiner Abwesenheit einen Anderen geheiratet hat. Fjodor Iwanowitsch hält dem Mann eine Standpauke, und ohne dabei Veronikas Anwesenheit zu bemerken, erklärt er ihm, dass er an dieser "Verräterin" nicht viel verloren hat, um ihn damit wieder aufzurichten. Aber Veronika bezieht die Predigt auf ihre eigene Situation, und ihre Selbstvorwürfe schlagen in jähe Verzweiflung um. Sie rennt fluchtartig ins Freie und auf eine Brücke, um sich vor einen heranbrausenden Zug zu stürzen. Im letzten Augenblick kommt es anders: Ein kleiner elternloser Junge wird auf der Straße neben Veronika beinahe von einem Auto überfahren. Ihre Selbstmordgedanken sind jetzt verflogen, sie kümmert sich um den Jungen - der auch Boris heißt - und nimmt ihn mit in ihre Unterkunft.


Unterdessen hat Mark Veronikas Eichhörnchen seiner neuen Flamme Antonina geschenkt. Veronika verursacht einen kleinen Eklat, als sie sich das Eichhörnchen zurückholt und Mark dabei wild ohrfeigt. Zwischen den beiden ist es nun endgültig aus. Bei dieser Gelegenheit kommt auch endlich der im Eichhörnchen versteckte Brief zum Vorschein - Boris' letzter Gruß an seine Belka. Währenddessen macht Antonina ihrem anderen Verehrer Tschernow Aussichten, falls dieser ihr eine Spazierfahrt spendiert. Da er keinen Wagen zur Verfügung hat, wendet er sich an Fjodor, um sich vom Lazarett einen Krankenwagen zu leihen. Er lässt durchblicken, dass er das als Gegenleistung für seine erwiesenen Gefälligkeiten erwartet. Da Fjodor keine Ahnung hat, wovon die Rede ist, erklärt ihm Tschernow, dass er doch um Marks Freistellung von der Front gebeten habe. Schnell erkennen beide, dass sich Mark mit dieser Lüge seine Freistellung erschlichen hat. Der aufgebrachte Fjodor stellt Mark zur Rede und hält ihm eine Strafpredigt, dann verbannt er ihn aus dem Kreis der Familie. Dagegen hält er Veronika, der er längst verziehen hat, zurück, als diese ebenfalls gehen will. Etwas später taucht ein Kamerad von Boris in der Unterkunft der Borosdins auf und überbringt die Todesnachricht. Er erzählt, dass Boris auch während der heftigsten Kämpfe immer von seiner Belka gesprochen hat. Allerdings hat er selbst Boris nicht tot, sondern nur verwundet gesehen, und so klammert sich Veronika an die Hoffnung, dass er vielleicht doch noch lebt.


Letzter Szenenwechsel: Wieder in Moskau, nach Ende des Krieges. Veronika hofft immer noch auf Boris' Heimkehr. Als eine große Gruppe Heimkehrer auf dem Bahnhof empfangen wird, wartet Veronika mit einem Blumenstrauß in der Menge. Boris ist nicht unter den Soldaten, aber Stepan. Als er Veronika erblickt, zeigt er ihr ein Foto von ihr, das ihm Boris vor dem verhängnisvollen Erkundungsgang ausgehändigt hat - für den Fall der Fälle. Ohne überflüssige Worte bestätigt er damit Boris' Tod. Jetzt erst akzeptiert Veronika die bittere Wahrheit. Während viele der Umstehenden Freudentränen vergießen, schluchzt sie vor Kummer. Stepan hat mittlerweile eine Lokomotive bestiegen und hält eine Rede: "[...] aber wir werden die Gefallenen nie vergessen. Die Zeit wird vergehen. Alles wird neu aufgebaut. Unsere Wunden werden geheilt. Aber der Hass gegen den Krieg wird ewig glühen! Wir empfinden tiefes Beileid für diejenigen, die ihre Angehörigen nie mehr treffen werden. Und wir werden alles tun, damit die Bräute ihre Bräutigame nie verlieren, damit die Mütter um das Leben ihrer Kinder nie zittern, damit die mutigen Väter nie heimlich weinen müssen. Wir haben gesiegt, nicht um alles zu zerstören, sondern um aufzubauen!" Während Stepan Applaus erntet, hellt sich Veronikas Miene auf. Sie hat Stepan aufmerksam zugehört und nimmt seine Worte zum Anlass, ihren Frieden mit der Vergangenheit zu machen und in die Zukunft zu blicken. Sie verteilt ihre Blumen an Passanten und lächelt, zum ersten Mal seit langer Zeit. Dann geht sie mit Fjodor Iwanowitsch nach Hause. Und über den Himmel zieht wieder ein Schwarm Kraniche.


WENN DIE KRANICHE ZIEHEN ist ein erfreulich unideologischer Film. Weder antideutsche noch kommunistische Propaganda spielt eine Rolle. Wenn der Film überhaupt eine politische Botschaft hat, dann ist es die pazifistische aus Stepans Ansprache. Aber die eigentliche Botschaft ist eine menschliche: Einerseits davon, welches Leid der Krieg auch und gerade bei den Zivilisten anrichtet, aber andererseits auch davon, dass das Leben weitergeht, egal was passiert.


Michail Kalatosow wurde 1903 als Michail Kalatosischwili in Tbilisi (Tiflis) in Georgien geboren. 1925 wurde er Schauspieler, kurz darauf Kameramann, und ab 1927 arbeitete er als Regisseur von formal anspruchsvollen Dokumentarfilmen, mit denen er sich in die Tradition Dsiga Wertows stellte. Das bekannteste dieser frühen Werke ist SOL SWANETIJ (DAS SALZ SWANETIENS) von 1930, ein ethnographisch angehauchter Film über die Bewohner einer abgelegenen Berggegend Georgiens. In seinen Frühwerken erschien Kalatosow unter seinem richtigen Namen in den Credits, aber berühmt wurde er erst unter der russischen Namensform, die ich deshalb hier bevorzuge. Obwohl Kalatosow eigentlich linientreuer Kommunist war, erregte DAS SALZ SWANETIENS bei den stalinistischen Kulturbürokraten wegen seiner formalen Gestaltung bereits erhebliches Stirnrunzeln. Sein nächster Film mit dem Titel LURSMANI CHEQMASHI (1931) wurde dann wegen "Negativismus" verboten, und Kalatosow durfte mehrere Jahre keinen Film mehr drehen. Stattdessen wurde er dazu verdonnert, in der georgischen Filmindustrie administrative Aufgaben wahrzunehmen. Ab 1939 durfte er dann wieder drehen, daneben war er weiterhin in der Verwaltung tätig. Gegen Ende des 2. Weltkriegs war er als sowjetischer Kulturattaché in Los Angeles. Ich nehme an, dass er die Gelegenheit genutzt hat, um sich über die Verhältnisse in Hollywood zu informieren. Nach dem Krieg gab es in seinem Werk erneut eine mehrjährige Pause. In dieser Zeit war er wieder führend in der sowjetischen Filmverwaltung tätig, 1945/46 sogar als stellvertretender Minister. Ab 1950 kehrte Kalatosow dann neuerlich auf den Regiestuhl zurück. WENN DIE KRANICHE ZIEHEN war der fünfte Film seit dem Wiedereinstieg von 1950, und er wurde ein überragender Erfolg. Und das nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch im westlichen Ausland. Als Krönung errang WENN DIE KRANICHE ZIEHEN beim Filmfestival in Cannes 1958 die Goldene Palme. Kalatosow war ein berühmter Mann.


Der Erfolg verdankte sich vor allem zwei Faktoren: Erstens der Leistung der Hauptdarsteller, zweitens der herausragenden Kameraarbeit von Sergej Urussewski. Alexej Batalow und insbesondere Tatjana Samoilowa spielen ungemein lebhaft und ausdrucksstark und lassen beim Zuschauer vom ersten Moment an eine emotionale Bindung an die Protagonisten entstehen. Die damaligen Jungstars - Samoilowa spielte in den KRANICHEN erst ihre zweite Filmrolle - ernteten weltweit begeisterte Kritiken. Aber auch die Nebenrollen sind vorzüglich besetzt. Vor allem Wassili Merkurjew erfüllt seinen Fjodor Iwanowitsch mit Leben und lässt ihn "menscheln". Das Ensemble insgesamt schafft es mühelos, den Zuseher an der Geschichte teilhaben zu lassen. Das gilt natürlich in besonderem Maße für das damalige sowjetische Publikum, das die Zeit des Krieges noch aus eigener Erinnerung kannte, und das damals wohl zum ersten Mal eine ungeschminkte, realistische Darstellung der Leiden zu sehen bekam, frei von den offiziellen Parolen über Heldentum und Opfermut. Entsprechend oft sollen damals in den sowjetischen Kinos die Taschentücher gezückt worden sein.


Aus der heutigen zeitlichen Distanz betrachtet, ist jedoch die brillante optische Gestaltung das herausragende Merkmal von WENN DIE KRANICHE ZIEHEN. Das wird übrigens auch von Alexej Batalow so gesehen, wie er in einem zehnminütigem Video-Statement, das sich als Bonusmaterial auf einer DVD des Films befindet, neidlos anerkennt. Kalatosow und Sergej Urussewski hatten 1955 erstmals zusammengearbeitet, WENN DIE KRANICHE ZIEHEN war der zweite von insgesamt vier gemeinsamen Filmen. Die beiden hatten eine ungeschriebene Übereinkunft, die ihnen ein gegenseitiges Vetorecht einräumte: Keiner der beiden würde in seinem Bereich etwas durchsetzen, was dem anderen nicht gefiel. Aber die beiden lagen in künstlerischer Hinsicht ohnehin auf einer Wellenlänge, wie Batalow im erwähnten Statement erzählt. Er bezeichnet es als einen Glücksfall, dass sich die beiden gefunden hatten. Urussewskis Spezialität waren lange, dynamische Kamerafahrten, die die Protagonisten bei ihren Aktionen begleiten und so eine "mitfühlende" Kamera schaffen. Der Effekt ist gelegentlich dem einer subjektiven Kamera ähnlich, bei der das Geschehen aus der Sicht des Handelnden gezeigt wird, ohne dass dieser selbst zu sehen ist. Doch Urussewskis Technik ist weit virtuoser und auch subtiler als die eher einfache subjektive Kamera. Er hat seine Rolle in diesen Sequenzen einmal so beschrieben: "Die Kamera kann ausdrücken, was der Schauspieler nicht zu porträtieren in der Lage ist: seine inneren Empfindungen. Der Kameramann muss mit den Schauspielern mitspielen." Diese dynamischen Kamerafahrten wurden zum größten Teil mit Handkameras gedreht. Urussewski hatte während des Krieges zwei Jahre als Kameramann beim Militär gedient und dort seine Vorliebe und seine Fertigkeit für die Handkamera entwickelt. Die Sequenzen sind auch in der größten Hektik stets so flüssig gedreht, als hätte Urussewski eine moderne Steadicam zur Verfügung gehabt - doch die wurde erst viele Jahre später erfunden.


Neben den Kamerafahrten kamen weitere Stilmittel wie etwa mehrfache Überblendungen zum Einsatz, und auch der Schnitt ist stellenweise virtuos und erinnert an die glorreichen Tage des russischen Stummfilms. Alle diese optischen Finessen werden jedoch keineswegs als selbstzweckhafte Gimmicks eingesetzt, sondern sie dienen der Geschichte. Insbesondere korrespondieren die virtuosesten Szenen jeweils mit der aufgewühlten Seelenlage der Protagonisten. Das möchte ich an den markantesten Beispielen verdeutlichen. Schon ziemlich am Anfang des Films gibt es eine Szene in dem Wohnhaus, in dem sich ganz oben die Wohnung von Veronika und ihren Eltern befindet: Veronika steht oben im Treppenhaus und Boris rennt hinauf, um den Termin ihres nächsten Rendezvous zu vereinbaren. Dabei folgt die Kamera Boris in der lichten Öffnung des Treppenhauses, immer auf gleicher Höhe mit ihm, und schraubt sich sozusagen spiralförmig in die Höhe. Doch diese an sich schon eindrucksvolle Szene ist nur eine Generalprobe für eine Wiederholung unter ungleich dramatischerem Vorzeichen. Als nämlich Veronika nach dem Bombenangriff, der ihre Eltern das Leben kostet, zum Wohnhaus zurückkommt, hetzt sie, von den schlimmsten Befürchtungen getrieben, durch die noch brennenden Ruinen und im Treppenhaus nach oben. Nur - außer dem Treppenhaus steht von dem Haus kaum noch etwas, man sieht durch riesige Löcher in den Mauern auf die Straße. Ohne darauf zu achten, dass sie sich selbst in Lebensgefahr begibt, rennt Veronika auf den Stufen nach oben, von der Kamera begleitet. Erst als sie, oben angekommen, feststellt, dass von der elterlichen Wohnung buchstäblich nichts mehr übrig ist, bleibt sie wie angewurzelt stehen. Eine Szene, die einem den Atem stocken lässt.


Am Tag von Boris' Abfahrt setzt Veronika alles daran, ihn noch einmal zu sehen, um sich zu verabschieden. Sie fährt zunächst mit einem Bus in die Nähe der Wohnung der Borosdins, steigt aus, rennt durch eine Menschenmenge und dann über eine Straße, über die gerade ein Panzerkonvoi rollt. Dabei folgt ihr die Kamera ohne Schnitt aus dem Bus heraus, durch die Menge - schnell, aber ohne störende Wackler, und immer auf Tuchfühlung mit ihr -, um in dem Moment, als sie die Straße mit den Panzern überquert, unversehens in einige Meter Höhe emporzusteigen und Veronika und die Panzer aus der Vogelperspektive zu zeigen. Nachdem Veronika Boris in der Wohnung verfehlt hat, eilt sie zum Abmarschplatz der Soldaten, wo im allgemeinen Trubel die Szene eine noch dynamischere Fortsetzung findet. Auch der nächtliche Bombenangriff, den Mark nutzt, um Veronika zu verführen, ist eindrucksvoll in Szene gesetzt. Durch einen Bombentreffer irgendwo in der Nachbarschaft fällt das Licht aus, und die Wohnung wird nur noch durch die Explosionsblitze erleuchtet, was eine stroboskopartige Beleuchtung und dadurch eine fast expressionistische Stimmung erzeugt. Auch die akustische Gestaltung dieser Szene ist außergewöhnlich: Marks Klavierspiel wird mit dem Heulen der Luftschutzsirenen und dem Krachen der einschlagenden Bomben kombiniert, was für eine ziemlich infernalische Soundkulisse sorgt.


Ein optischer Höhepunkt ganz besonderer Art ist Boris' Sterbeszene. Er wird in den Rücken getroffen, und während er langsam zusammenbricht, beginnen sich die Baumkronen über ihm zu drehen. Zugleich ziehen Szenen seines Lebens an ihm vorbei: Zunächst sein vorhin erwähnter Lauf im Treppenhaus empor, doch dann eine Szene seines Lebens, nicht wie es war, sondern wie es hätte sein können - nämlich seine Hochzeit mit Veronika, die sie sich gemeinsam ausgemalt hatten, und die nie stattfand. In einer mehrfachen Überblendung der sich drehenden realen Baumkronen und der halluzinierten fröhlichen Hochzeitsgäste und vom herumwirbelnden weißen Schleier von Veronikas Brautkleid steigert sich die Szene zu einem wahren optischen Crescendo, das man gesehen haben muss. Auch Veronikas Beinahe-Selbstmord ist außergewöhnlich virtuos inszeniert. Sie rennt wie von Furien gehetzt zu der Brücke, dabei wird sie teilweise durch die Latten eines Zaunes gefilmt, teilweise (während des Laufs!) in extremer Großaufnahme von vorn, und einige bis zur Abstraktion verfremdete schnelle Zwischenschnitte auf die Umgebung verstärken noch die Dynamik der Situation. In ihrer Gesamtheit erscheint die Szene so rasant und dramatisch, dass sie einem Eisenstein alle Ehre gemacht hätte, und sie visualisiert perfekt Veronikas desolate psychische Verfassung in diesem Moment. Das letzte Beispiel ist auch die letzte Szene des Films, die Heimkehr der Soldaten am Moskauer Bahnhof. Während sich Veronika in der verzweifelten Hoffnung, Boris doch noch wiederzusehen, in angstvoller Eile durch eine riesige wogende Menschenmasse kämpft, folgt ihr die Kamera durch all die Menschen so mühelos, als besäße Urussewski die Fähigkeit, herumstehende Passanten zu durchdringen, als seien sie gar nicht da. In ihren gemeinsamen Filmen erwiesen sich Kalatosow und Urussewski als Dreamteam der entfesselten Kamera.


WENN DIE KRANICHE ZIEHEN ist in diversen Ausgaben auf DVD erschienen.