Sonntag, 21. April 2013

Von schwarzen Wellen, unendlichen Plansequenzen und wilden Tieren: das 13. goEast Festival des mittel- und osteuropäischen Films



Freitag, 12. April 2013


Nach wenigen Stunden Schlaf bin ich aufgebrochen zum 13. goEast Festival des mittel- und osteuropäischen Films. Dieses Jahr standen nebst aktuellen Filmen im oder außerhalb des Wettbewerbs auch Retrospektiven zum ungarischen Regisseur Jancsó Miklós und zur Jugoslawischen Neuen Welle auf dem Programm.
13.30 Uhr in Wiesbaden angekommen, beim Presse-Counter den Presseausweis abgeholt, erster Espresso getrunken, zu meiner Übernachtungsgelegenheit gelaufen, Sachen abgestellt, umgezogen, dann wieder los, beim Festivalcounter Karten für den nächsten Tag mitgenommen und dann zu Gabriel, einem libanesischen Imbissladen, um die letzte ruhige Mahlzeit für die nächsten Tage einzunehmen, nämlich das beste Falafel-Sandwich auf der ganzen Welt (zumindest auf der Welt, die ich kenne): die Besonderheit liegt wohl daran, dass die Teigrolle knusprig gebacken ist. Ein libanesischer Mokka hinterher. Auf dem Weg von der Innenstadt zum Murnau-Filmtheater verschwindet die Sonne kurzweilig und ein Wolkenbruch überflutet die Straßen und mich gleich mit. Der Regen hört natürlich in dem Augenblick auf, in dem ich wie ein begossener Pudel das modernistische Gebäude in der Murnau-Straße 6 betrete, das sich u. a. die Murnau-Stiftung und die FSK teilen. Doch unvorteilhaftes Aussehen und Feuchte werden – nach einem Espresso – schnell vergessen...

17.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
CSILLAGOSOK, KATONÁK (THE RED AND THE WHITE)
Regie: Jancsó Miklós
Ungarn / UdSSR 1967, 90 Minuten, 35mm

Magyar Filmunio
Der Russische Bürgerkrieg: eine stumpfsinnige Aneinanderreihung brutaler Morde, für die jegliche ideologische Rechtfertigung nur Makulatur ist – wenn eine solche denn überhaupt bemüht wird! Denn in einer Gewöhnung an Morden und in einer Ritualisierung des Tötens ergreifen alle gegnerischen Parteien Möglichkeiten, die ein zivilisationsfreier Gewaltraum eröffnen kann.
So stilisiert Jancsós Vision des Bürgerkriegs auch ist, hat er möglicherweise seine Essenz besser erfasst, als jegliche realistische oder naturalistische Darstellung es könnte. Stilisiert ist auch die Gewalt, dadurch aber nicht weniger schockierend – ganz im Gegenteil. In einem Film, dessen einzige Handlung darin besteht, dass desillusionierte Soldaten sich gegenseitig in einer Steppenlandschaft jagen, wird tödliche Gewalt zur handlungstreibenden Kraft. Soldaten fallen irgendwo ein, töten Leute, dann kommen andere Soldaten, töten die vorherigen Soldaten und noch weitere Leute und so weiter und so fort. Die filmische Verdichtung einer Situation, die in Zeugenberichten, Tagebucheinträgen und sonstigen zeitgenössischen Quellen oft ähnlich beschrieben wird.
Janscós Herz schlägt zwar für die Roten. Doch der anwesende Filmhistoriker Forgács Iván formulierte eine interessante Deutung, als er meinte, dass uniformierte Soldaten die Weißen seien, und die nackten und halbnackten Männer in Hemden die Roten. Das klingt plausibel: wenn die (vermuteten) Roten nach begangenen Gewalttaten ihre Armeejacken ausziehen, in weißen Hemden die Arbeiter-Marseillaise anstimmen und dem übermächtigen Feind entschlossen entgegenmarschieren, dann schleicht sich großes Pathos in einen ansonsten relativ pathosfreien Film ein. Eine Szene von einer Schönheit, die Gänsehaut erregt, wie so viele andere in diesem verstörenden Meisterwerk.

CSILLAGOSOK, KATONÁK lief als Double-Feature mit einer anschließenden Dokumentation über die Entstehung des Films.

ca. 18.30 Uhr, Murnau-Filmtheater
SZOVIET-MAGYAR KOPRODUKCIÓ (SOVIET-HUNGARIAN COPRODUCTION)
Regie: Forgács Iván, Kodolányi Sebestyén
Ungarn 2011, 52 Minuten, DigiBeta

CSILLAGOSOK, KATONÁK ging als erste sowjetisch-ungarische Filmproduktion in die Geschichte ein. In teilweise etwas langatmigen und nichtssagenden Interviews beleuchtet SZOVIET-MAGYAR KOPRODUKCIÓ die Produktionsumstände, wobei die üblichen Probleme solcher Interview-Dokus entstehen: die Befragten sagen spekulative oder belanglose Sachen und loben sich und ihre Mitarbeiter, wie toll sie es damals gemacht haben. Überaus interessante Ausschnitte aus einem zeitgenössischen Making-Of zeigten die Dreharbeiten am westlichen Rand Russlands (und offenbaren, dass Jancsó diesen Film wohl die meiste Zeit bis auf eine weisse Unterhose nackt inszeniert hat). Nach Ende der Produktion wurde die ungarische Fassung in der Sowjetunion noch umgeschnitten. Interessanterweise schnitt Mosfilm vor allen Dingen bei den Nacktszenen! Auch die „Marseillaise“-Szene wurde beschnitten – indem kurz vor dem Fall der weißen Hemden Bilder von Reiter einmontiert wurden. Dieselben Reiter, die die Scham der nackten Bäuerin wenige Minuten zuvor ebenso bedecken mussten (entsprechende Lacher im Publikum).
In der Nachdiskussion erörterten die beiden anwesenden Filmemacher auch den ambivalenten Stand des Janscó-Werkes im neuen Orbán-Ungarn. So wurde CSILLAGOSOK, KATONÁK zwar vor kurzem im Fernsehen im Rahmen einer Retrospektive der „100 besten ungarischen Filme“ gezeigt. Andererseits gilt Jancsó als unerwünschter Kommunist, und die Edierung seiner Werke auf DVD erfährt so gut wie keinerlei Unterstützung.
Ein weiteres interessantes Detail: der kryptische Titel des Films CSILLAGOSOK, KATONÁK entstammt einem ungarischen Lied der Arbeiterbewegung und bedeutet in etwa „Die Soldaten mit den rot-besternten Mützen“.

Wenige Minuten und ein Espresso später...

20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
TRI (THREE)
Regie: Aleksandar Petrović
Jugoslawien 1965, 80 Minuten, 35mm

 goEast Filmfestival
Die Filmkopie selbst hatte keine Untertitel, diese wurden per Digitalprojektion auf eine Leiste unter der Leinwand ergänzt und waren teilweise vom Timing her suboptimal. Doch Petrovićs revisionistischer Partisanenfilm funktionierte ohnehin die meiste Zeit fast ausschließlich über seine unfassbaren Bilder. Der Titel ist Programm für die narrative Dreiteilung. Kurz nach der Bombardierung Belgrads steht eine Menschenmenge auf der Flucht an einem Bahnhof und wartet auf den nächsten Zug. Spannung liegt in der Luft: Soldaten ebenso wie Zivilisten sind bereit, alles was vorbeifährt und nicht niet- und nagelfest ist, mitzunehmen. Ein Mann, der etwas im Abseits steht, fällt der Meute negativ auf, und sieht sich in kürzester Zeit der absurdesten Spion-Beschuldigungen angeklagt: er beteuert, auf seine Frau und sein Kind zu warten. Von den drei Soldaten, die mit der Bewachung des Bahnhofs betraut werden, wird er schließlich in einem Farce-Prozess verurteilt und an Ort und Stelle erschossen. Seine Frau und sein Kind tauchen wenige Minuten später auf und suchen verzweifelt nach Ehemann und Vater. Ein Student hat vergeblich versucht, sich für den Angeklagten einzusetzen. Dieser Student flüchtet im zweiten Teil des Films als Partisan in einer Berg- und später einer Sumpflandschaft vor deutschen Besatzungssoldaten. Er trifft einen anderen flüchtigen Partisanen, der schließlich gefasst und in einer Strohhütte lebendig verbrannt wird. Im dritten Teil ist der Ex-Student und Ex-Partisan nun ein Offizier der siegreichen Volksbefreiungsarmee, die mit rächender Hand gegen ehemalige Kollaborateure vorgeht. Auf den ersten Blick verliebt sich der Protagonist in eine inhaftierte Frau, die die Geliebte eines Gestapo-Offiziers war. Zwischen Pflichterfüllung und (plantonischer) Liebe entscheidet er sich gezwungenermaßen für ersteres, und bleibt mit einem Gefühl quälender Leere zurück...
Umwerfende Bilder von schroffer Direktheit und einnehmender Poesie schaffen Petrović und sein Kameramann Tomislav Pinter. Sie werden von einem kargen, aber höchst eindringlichen Soundtrack ergänzt. Im ersten Segment ist wird der Ursprung der Musik gezeigt: ein Mann spielt am Bahnhof auf einer Handtrommel und lässt dazu einen Bären tanzen. Die Kamera tanzt dazu um den Bären, während das primitive Scheppern erklingt. Immer wieder taucht es unvermittelt auf, dieser musikalisch unsaubere Klang wie aus dem Jenseits, und sagt oftmals mehr aus als die ohnehin spärlichen Dialoge.
Herrschen im ersten Teil noch offenes Chaos, so bietet auch die klare Struktur der Landschaft im zweiten Teil keineswegs Schutz für den Antihelden: er verliert sich zusammen mit seinem Kameraden in der sumpfigen Schilflandschaft, während seine Verfolger im Flugzeug das Gesamtbild klar überblicken. Ruhe kehrt im dritten Segment ein, doch die Spannung der Blicke, die der Mann mit der gefangenen Frau tauscht, verstören ihn so sehr, dass er einen Lagebericht immer neu anfangen muss. Er kann sie nicht retten, er kann sie nicht einmal berühren: nur aus der Ferne anschauen, und ihr ein Stück Wassermelone bringen lassen, und leiden.
Schaurig schöne Bilder, die wie flüchtige Verbindungen immer wieder angesichts des allgegenwärtigen gewaltsamen Todes zerrinnen. Erwähnt sei der Moment, wo sich der Antiheld liegend in einer Schafherde versteckt – und die Tiere auseinandergehen. Umarmen wollte ich beim sich ankündigenden Ende die Leinwand, sie anflehen, weiterzumachen. PET oder ŠEST hätte es sein sollen. Aber vielleicht, nein sogar ziemlich sicher ist es besser so.
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern: TRI ist mein persönlicher Festival-Liebling!


Noch ein Espresso später...


22.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
JUTRO (THE MORNING)
Regie: Puriša Đorđević 
Jugoslawien 1967, 95 Minuten, 35mm

Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, und in einer jugoslawischen Kleinstadt muss der Sieg nun in Lebensalltag umgesetzt werden. Wer hat kollaboriert? Wer steht wie zum neuen Regime? Wer muss in welcher Frist verhaftet und hingerichtet werden? Und vor allem: wer schläft mit wem? Wie eine zerkratzte 33er-Platte in 45er- und manchmal gar 78er-Geschwindigkeit eilt Đorđević durch Bruchstücke von Handlungen, die motivisch als tragikomische Farce mit Musical-Elementen daherkommen. Lustig und komisch ist das oft, manchmal skurril und unbegreiflich, an einigen Stellen allerdings auch  im negativen Sinne anstrengend und entnervend. Stellenweise hat man das Gefühl, dass im Kontext der Jugoslawischen Neuen Welle Monty Python vorweggenommen wird (und zwar sowohl das frisch-freche frühe wie auch das verkrampft-bemühte späte Flying Circus).


Müde... zum „Schlachthof“ 50 Meter weiter gelaufen, wo die goEast-Party stattfinden sollte. Letztes Jahr war sie super, was nicht nur daran lag, dass kostenloser Wodka verteilt wurde. Nun komme ich nicht rein mit meinem Presse-Ausweis. Nur Gästeliste. Zehn Euro Eintritt (vier mehr als letztes Jahr) sind mir zu viel und wenn ich mir die drei Leute anschaue, die in der leeren Halle zur Musik der Band unmotiviert vor sich hin wippen, dann anscheinend nicht nur mir! Feierabend also...


Samstag, 13. April 2013


ca. 10.15 Uhr, Sichtungsraum im Festivalzentrum (Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft)
KRUGOVI (CIRCLES)
Regie: Srđan Golubović
Serbien / Deutschland / Frankreich / Slowenien / Kroatien 2013, 112 Minuten, Screener

Haris, ein bosnisch-muslimischer Kiosk-Besitzer, wird während des Bosnien-Kriegs von einer Einheit serbischer Soldaten malträtiert. Deren Kollege Marko versucht die Situation zu deeskalieren und wird von ihnen ermordet. Jahre später lebt Haris in Deutschland, wo er mit einer deutschen Frau eine Familie gegründet hat. Er wird ebenso von der Vergangenheit eingeholt wie Markos Verlobte und die Verwandten von Markos Mördern.
Fragmentarische Handlungsstränge verbinden sich zur Frage, inwiefern gute Taten sich tatsächlich lohnen. Mitunter ist diese „dichte Beschreibung“ der Kriegsfolgen anhand „kriegsferner“ Einzelschicksale weniger dicht, als man sie sich wünschen würde. Die melodramatischen Wendungen scheinen oft bemüht, banal und nicht gänzlich klischeefrei. Das ist schade, findet der Film doch gerade in ruhigen Momenten seine vollste Kraft. Wenn etwa Markos Vater und der Sohn von Markos Mörder sich in gegenseitigem Einvernehmen und Verständnis am Küchentisch bei Kaffee und Raki anschweigen, oder wenn Haris seine innere Anspannung unter Begleitung der großartigen meditativen Titelmusik beim nächtlichen Autofahren zu lösen versucht, dann entstehen kleine und zu seltene Momente der Magie. Die Verleihung des Preises der Landeshauptstadt Wiesbaden für die Beste Regie ist angesichts der wenig originellen Machart dieses Films eher erstaunlich.


Fliegender Screenerwechsel...


ca. 12.15 Uhr, Sichtungsraum im Festivalzentrum (Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft)
STROITELI (CONSTRUCTORS)
Regie: Adilkhan Eržanov
Kazachstan 2013, 67 Minuten, Screener

Dem 31-Jährigen Kasachen hätte der Preis für die Beste Regie im Prinzip viel besser gestanden. Sein Film transzendiert mit einem absurden und sehr bitteren Humor die extreme formale Strenge der Inszenierung. Ein Mann, ein Teenager und ein kleines Mädchen fliegen aus ihrer Wohnung raus und wollen auf einem Grundstück am Stadtrand mit bloßen Händen ein Haus bauen. Streitsüchtige Nachbarn, ein Vertreter für Leuchtdioden und staatliche Beamten stehen diesem Vorhaben im Wege. Mit stoischer Ruhe erduldet der Protagonist (entweder Vater oder großer Bruder der beiden anderen Figuren und großartig besetzt!) die Zwischenfälle. Genauso stoisch wie die unbewegliche Schwarzweiss-Kamera. Rhythmus erzeugt nur die Montage, die expressive Beleuchtung und die Bewegung der Figuren im Raum, dies jedoch aber großem Effekt. Humor und Poesie, aber letztlich auch humanistisches Mitgefühl mit Außenseitern am (wörtlichen) Rande der urbanen Transformationsgesellschaft sorgen trotz einiger Hänger im zweiten Drittel für ein so kunstvolles wie unterhaltsames Filmerlebnis, das entfernt an den frühen Jarmusch erinnert.


Nein! Der Taboulé bei Gabriel ist alle. Stattdessen also noch ein Kaffee.
Dafür gibt es eine positive Überraschung: nicht im Alpha-Saal, sondern im Atelier-Saal finden die Projektionen im Apollo-Kinocenter statt. Er entpuppt sich als größerer und atmosphärisch sympathischerer Saal.


14.00 Uhr, Atelier-Saal im Apollo-Kinocenter
TIGRE V MESTE (TIGERS IN THE CITY)
Regie: Juraj Krasnohorský
Slowakei 2012, 90 Minuten, DCP

Links: Kristína Tóthová als Rudolf.  goEast Filmfestival
Ausgehend von den Schriften Carl Gustav Jungs lotet der junge slowakische Regisseur in seinem Debütfilm die Schwierigkeiten der menschlichen Seele in einer postmodernen urbanen Umgebung aus... Heisst soviel wie: die Abenteuer Rudolfs und seiner zwei besten Freunde um Liebe, Eifersucht und Auseinandersetzungen mit der russischen Mafia werden nicht mit dem Körper Rudolfs, sondern mit seiner Seele dargestellt – und die ist in ihrer materialisierten Form weiblich. Was wir also sehen: die wundervolle Kristína Tóthová in der Rolle Rudolfs. Was wir dabei hören: die überaus männliche und tiefe Stimme Tomáš Maštalírs.
Zwischendurch habe ich mich gefragt, ob dieses Konzept für eine eigentlich banale Komödie mit Liebesfilm- und Krimi-Elementen tatsächlich für 90 Minuten trägt. Die Antwortet ist ja: dieser Gender-Kniff präsentiert uns einen komplexen und im wahrsten Sinne des Wortes ambivalenten Protagonisten und die Witze, die aus einer männlichen Figur in weiblicher Darstellung mit männlicher Stimme entstehen, sind stets so angelegt, dass diese nicht vorgeführt wird, sondern dass der Zuschauer zum ständigen Nachdenken über Genderstereotypen angeregt wird.
Der Regisseur, so im Nachfilm-Gespräch, wollte keinen 3D-Film machen, wie sie seiner Meinung nach das slowakische Kino zu sehr dominieren. Gemeint hat er das Triptychon aus depression, drugs & death. Alle drei Elemente tauchen doch auf, aber meist durch die Brille dessen, was Krasnohorský bewusst als leichte Sommerkomödie konzipieren wollte. Heutzutage wird man immer später erwachsen, findet man immer später seinen beruflichen und privaten Weg, und das wollte der 32-jährige Regisseur in seinem Film zeigen: die Suche von Endzwanzigern nach Glück, solchen Hindernissen wie etwa ein depressiver Killer der russischen Mafia zum Trotz – gewissermaßen eine Coming-Of-Age-Komödie.
TIGRE V MESTE war der Höhepunkt der aktuellen Außerwettbewerbs-Filme und hat mit einer wundervollen Leichtigkeit demonstriert, wie aus durchschnittlicher Genrekost Kunst werden kann.


Für jedes Yin gibt es bekanntermaßen auch ein Yang. Und so zeigte der nachfolgende Film, wie man aus fehlgeleiteten Arthouse-Ambitionen Dreck machen kann.


16.00 Uhr, Atelier-Saal im Apollo-Kinocenter
PANIHIDA
Regie: Ana-Felicia Scutelnicu
Deutschland / Moldawien 2012, 61 Minuten, DCP

Eine alte Frau stirbt in einem moldawischen Bergdorf und es folgt das Begräbnis. Und über eine Stunde dürfen wir bei dieser „scheinbar einfachen Geschichte“ zuschauen, wie sich die deutsch-moldawische Regisseurin als große Künstlerin inszeniert, und letztlich genau so viel heiße Luft bläst, wie ein Sommerwind in den kargen Bergen Moldawiens. Endlose Kadrierungen auf völlig sinnentleerte Berglandschaften sollen die künstlerischen Ambitionen der dffb-Alumna ganz besonders bedeutungsschwanger unterstreichen und für „berückende Schönheit“ sorgen. Das Spektakel sturzbetrunkener alter Männer, die nur Blödsinn vor sich hinbrabbeln und sich auch sonst peinlich und asozial benehmen, wird zu einer „Feier des Lebens“, und wenn die Schauspielerin, die die Enkelin der Verstorbenen spielt, in kunstvoll ruckelnden Zeitlupen Sonnenblumenkerne zerkaut und ausspuckt, dann sind wir definitiv im Reich der „Poesie“ angelangt – oder beim Wunsch, tatsächlich vor Langeweile zu sterben, um von der Qual dieses Machwerks erlöst zu werden! (Anmerkung: die Worte und Wortgruppen in Anführungszeichen entstammen der Filmbeschreibung im Programmheft, denn Realsatire ist und bleibt unschlagbar!)


Check: vom Apollo-Kinocenter bis zum Murnau-Filmtheater braucht man bei zügigem Schritt genau 18 Minuten, wenn man dabei eine Banane und ein Müsli-Riegel verspeist.


18.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
RDEČE KLASJE (RED WHEAT)
Regie: Živojin Pavlović
Jugoslawien 1970, 85 Minuten, 35mm

Ein Sittenbild der landwirtschaftlichen Kollektivierung in einem slowenischen Dorf kurz nach dem Weltkrieg – ein Projekt, das Anfang der 1950er Jahre abgebrochen wurde. Ein junger Parteiaktivist versucht dieses Vorhaben mit verschiedenen Mitteln in die Tat umzusetzen: Gewalt, Propaganda, sexuelle Verführung.
Moralisch durch und durch verrottet ist dieser Aktivist. Immer wieder zeigt uns Pavlović, wie er sich genüsslich vollfrisst und vollsauft bei jenen Bauern, die er zuvor als Kulaken beschimpft hat. Schamlos nutzt er die Gastfreundschaft der Landwirte aus und streckt dann auch seine Fühler nach mehr aus: nach den Töchtern des Hauses, nach der Mutter des Hauses. Nur um sie dann wegzuwerfen wie angebissene Äpfel. Doch der Wind wird sich drehen, und das ganze wird für ihn wie auch für alle anderen Stalin-Anhänger schlecht enden.
Pavlović hatte, so der Kurator der Retrospektive vor der Vorführung, eine ganze Theorie über „drastische Bilder“ entwickelt. Aus heutiger Sicht scheint es, dass diese etwas an Bisskraft verloren haben. Trotzdem ein sehenswerter Film.


Check: vom Murnau-Filmtheater bis zum Apollo-Kinocenter zurück braucht man auch 18 Minuten (wohl wieder dank Banane und Müsliriegel).


20.00 Uhr, Atelier-Saal im Apollo-Kinocenter
DOMESTIC
Regie: Adrian Sitaru
Rumänien 2012, 85 Minuten, DCP

In einem rumänischen Mietshaus wohnen, wie auch in den meisten Mietshäusern der restlichen Welt, nicht nur Menschen, sondern auch Tiere: Katzen, Hunde, Vögel etc. Implizit spielen sie die Hauptrolle in Adrian Sitarus wundervollem DOMESTIC.
In den Beziehungen zwischen den Menschen und den Tieren widerspiegeln sich die Beziehungen zwischen den Menschen untereinander. Immer wieder bringen Eltern ihren Kindern Tiere nach Hause, sei es ein Hase oder ein Huhn, und können und wollen dann die Tiere doch nicht behalten. Das bedeutet auch, das sie den Kleinen die Übernahme von Verantwortung für andere Lebewesen verweigern – und manchmal die Konsequenzen dafür tragen müssen. Ein schreckliches Ereignis teilt die beiden Segmente (erste Hälfte: „Tod“; zweite Hälfte: „Leben“): die Tochter des Herrn Lazar stirbt bei einem Unfall. So müssen er und seine Frau lernen, ein Verhältnis zu ihrer menschlichen und tierischen Umwelt wieder aufzubauen.
Schwer zu beschreiben ist dieser Ensemblefilm, der trotz des zentralen tragischen Ereignisses und vieler nachdenklicher Momente auch einen herrlichen Humor an den Tag legt. Dialoge verwischen zu einer fast unverständlichen Geräuschkulisse, wenn alle menschlichen Protagonisten gleichzeitig aufeinander einreden und erinnern an den subtilen Humor Robert Altmans.
 goEast Filmfestival
Am charakteristischsten sind sicherlich die extrem langen Plansequenzen mit ihrer meist sehr ruhigen Kameraführung. Das sie nicht langweilig oder gar pompös wirken, liegt daran, dass die großartigen Darsteller (Menschen und Tiere) das Setting der (Studio-)Wohnungen in der ganzen Breite und Tiefe für ihre Entfaltung nutzen. Exemplarisch ist eine Sequenz am Anfang: Frau Lazar bringt ein Huhn nach Hause, zwischen Tochter und Vater Lazar entsteht eine Diskussion darüber, was mit dem Tier geschehen soll. Der Vater will das Tier eigentlich verspeisen, will es aber nicht selbst schlachten. Die Tochter bietet an, die Schlachtung gegen 50 Lei (etwa 11 Euro) zu übernehmen. Nach einigen Fehlstarts tut dies das junge Mädchen tatsächlich und saut das ganze Bad ein. Derweilen streiten sich die Eltern über die Erziehung ihres Kindes und zwei Nachbarn kommen in die Wohnung, um über einen streunenden Hund im Mietshaus und eine entlaufene Katze mit Herrn Lazar zu reden. In dieser über 10- (vielleicht auch 15-)minütigen Plansequenz verdichten sich alle Qualitäten des Films: absurder Humor, engagiertes Ensemble-Spiel und die stringente und radikale künstlerische Vision eines vollendeten Regietalents.
Der beste Film in der Wettbewerbssektion! In der Pressemitteilung zur Preisverleihung schändlicherweise noch nicht einmal erwähnt!


Vom Sonnenschein in die Traufe...


22.00 Uhr, Atelier-Saal im Apollo-Kinocenter
EASTALGIA
Regie: Darija Onyščenko
Deutschland / Ukraine / Serbien 2012, 93 Minuten, DCP

Wann wurden Episodenfilme, in denen alle Figuren in verschiedenen Teilen eines Kontinents schicksalhaft irgendwie miteinander verbunden sind, zum reinen, sich selbst reproduzierenden Klischee? Warum gibt es immer noch Leute, die Wackelkamera für das beste Mittel halten, um „Realismus“ zu erzeugen? Und warum gibt es so viele Zuschauer, die sich solche Fragen nicht stellen? EASTALGIA ist definitiv ein Film, der diese Fragen gänzlich unfreiwillig aufwirft und naturgemäß nicht beantworten kann. Es ist nicht zu leugnen: einige Momente haben zumindest von der Grundidee her einen gewissen Charme und der junge Schauspieler Ivan Dobronrarov hat ein ganz großes Potential und spielt alle anderen an die Wand, aber das reicht für 93 Minuten einfach nicht.


Nach einem eher enttäuschenden Tagesabschluss stelle ich fest, dass ich seit um 9.30 Uhr morgens nichts richtiges gegessen habe (außer Bananen und Müsli-Riegel). Also nun zu Moritz, dem türkischen Imbiss in der Nähe des Appollo-Kinos. Der scharfe Couscous ist sehr lecker, wird mir aber aufgrund des hohen Knoblauch-Gehalts jegliche potentielle soziale Interaktion bei der Filmschool-Party im Caligari ziemlich erschweren. Nebst der Tatsache, dass ich nach sieben Filmen hintereinander wohl nicht nur wie ein Zombie gehe, sondern auch wie ein solcher spreche. Auf dem Weg vom Eingang des Caligari zum Tresen ist meine Befürchtung tatsächlich wahr geworden... Filmfestivals können anstrengend sein, sobald man aus dem Kino raus ist...


Sonntag, 14. April 2013


ca. 10.15 Uhr, Sichtungsraum im Festivalzentrum (Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft)
MÓJ ROWER (MY FATHER‘S BIKE)
Regie: Piotr Trzaskalski
Polen 2012, 94 Minuten, Screener

Opa sitzt alleine zu Hause herum, weil ihn seine Frau verlassen hat. Er schwelgt nostalgisch von seinen Zeiten als Jazz-Klarinettist. Sein Sohn ist ein erfolgreicher Konzertpianist, der zu wenig Zeit hat, um seinen Vater zu besuchen oder sich um seinen Sohn zu kümmern. Der ist sowieso gerade in seiner spätpubertär-rebellischen Hiphop-Phase. Alle drei rappeln sich dann doch einmal auf, um gemeinsam die Oma in Ostpolen auffindig zu machen, wo sie offenbar mit einem ehemaligen Jetpiloten Romanze spielt.
MÓJ ROWER ist ein nettes Drei-Generationen-Roadmovie. Ein bisschen weniger Familiendrama-Klischees und ein bisschen mehr Energie hätten dem Film gut getan, aber die Darsteller waren dafür sehr überzeugend und sympathisch, allen voran der Jazz-Saxophonist und -Violinist Michał Urbaniak als kauziger Großvater.


Angeblich habe ich am Samstag meine Reservierung für den Sichtungsraum nicht korrekt getätigt. Nachdem ich meine Reservierung für Montag nun unmissverständlicher aufgegeben habe, werde ich „hinauskomplimentiert“... Und dann hat auch noch Gabriel geschlossen! Mini-Döner bei Moritz gegessen. Spazieren gegangen.


14.00 Uhr, Atelier-Saal im Apollo-Kinocenter
ROCKER
Regie: Marian Crişan
Rumänien 2013, 91 Minuten, DCP

Am Schlagzeug der fantastische Dan Chiorean als Victor.  goEast Filmfestival 
Verstohlen läuft ein Mann in Lederjacke durch ein Ski-Gelände. Bewegt sich bemüht unauffällig, und wirkt dadurch noch auffälliger. Blickt verängstigt um sich. Und klaut schließlich ein Paar Damen-Skier. Immer wieder wird er auf der Straße oder in Garagen Leute ansprechen und versuchen, ihnen die Ware anzudrehen. Vergeblich. Zu verdächtig sieht dieser über 40-jährige Mann in Punker-Klamotten aus.
Drogensucht betrifft bekanntlich nicht nur den Süchtigen, sondern auch sein ganzes Umfeld. In diesem Fall ist der Amateur-Rocksänger Florin der Süchtige. Sein Vater Victor, der ebenfalls Musik als Leidenschaft betreibt, ist der „Kollateral-Süchtige“: er beschafft mittels kleiner Tricksereien mehr oder weniger erfolgreich Geld, besorgt seinem Sohn Heroin, muss die naturgemäß eher unangenehmen Kontakte mit der Drogenmafia abwickeln. Wenn er dann noch Zeit findet, dann trifft er sich auch mal mit seiner Freundin, einer alleinerziehenden Friseurin. Aber das ist eher selten, denn die meiste Zeit seines Lebens widmet er sich dem Lebensunterhalt seines süchtigen Sohns. Florin ist zwar ein cholerisches, arrogantes, herrisches, verantwortungsloses, gefühlskaltes Arschloch. Aber er ist trotzdem sein Sohn. Für ihn opfert Victor sein Leben. Auch wenn die einzige kommunikative Verbindung zwischen den beiden die Rockmusik ist.
ROCKER hat keine narrative Entwicklung, keinen dramaturgischen Handlungsverlauf, keine Spannungsdramaturgie und solche Sachen braucht der Film im Grunde auch nicht, denn er hat Dan Chiorean. Der Bühnendarsteller am Nationaltheater Cluj-Napoca spielt den Victor auf unfassbare Weise. Ohne jegliche Mühe deckt er alle emotionalen Ausbrüche und Contenancen seiner Figur: zwischen stoischer Resignation und unkontrollierten Zuckungen, wenn er sich beim Zuhören völlig in die Musik verliert. Der Regisseur Marian Crişan hat gut verstanden, was er an Chiorean hatte, und filmt oft nicht Handlungen selbst, sondern Victors Reaktionen darauf. Die Faszination der grandiosen One-Man-Show ROCKER wurde mir erst richtig klar, als die Abspann-Credits schwarz auf weiß (sic!) begannen: ich hatte gerade ein Meisterwerk gesehen!


16.00 Uhr, Atelier-Saal im Apollo-Kinocenter
IZMENA (BETRAYAL)
Regie: Kirill Serebrennikov
Russland 2012, 115 Minuten, DCP


 goEast Filmfestival
Ein Film wie ein Alptraum, der nicht enden will! Arztpraxen, die wie ein Vorhof zur Hölle aussehen. Ein Regensturm scheint die Apokalypse zu bringen. Schräge Hotelflure aus ewig langen Treppen. Dazwischen eine Normalität, die jeden Moment in Hysterie, oder Qual, oder Tod umzuschlagen droht.
Eine Ärztin teilt einem Patienten mit, dass seine Ehefrau ihn mit ihrem Ehemann betrügt. Und hinweg ist das sichere bürgerliche Leben des Patienten. Immer wieder sucht er die Nähe der Ärztin, bis sie ihm schließlich die geheimen Treffpunkte der betrügenden Ehepartner zeigt – eine Szene, die unwillkürlich Assoziationen an Scottie Fergusons Verfolgung der Madeleine in VERTIGO hervorruft. Beide werden (vielleicht) Liebhaber, ihre Angetrauten sterben jedoch eines makabren Todes. Die Polizei ermittelt zwar, ist aber nicht besonders an Resultaten interessiert. Ist die Ärztin eine Mörderin? Ist der Patient ein Mörder? Das interessiert die Ermittler nicht, genauso wenig wie offenbar den Regisseur Kirill Serebrennikov. Ab etwa der Mitte löst sich der Film nahezu vollkommen auf: Personen und Handlungsstränge verschwinden ohne Erklärung, die übrig gebliebenen Figuren verhalten sich immer weniger rational, eine irrsinnige Szene wird an die nächste gereiht und die anfängliche Selbstsicherheit der Ärztin genauso zerschlagen wie jegliche auch noch so kleine Spur an Gewissheit. Verstörende Szenen häufen sich: wie wenn etwa die Ärztin sich einseift und mit dem Rasierer ihres toten oder vielleicht nicht toten Ehemanns oder vielleicht auch Ex-Liebhabers über Gesicht, Brust und Achseln fährt.
Serebrennikov löst die anfängliche Neo-Noir-Thriller-Stimmung nach und nach komplett in Surrealismus auf. Ein beunruhigendes Werk ist ihm gelungen, ein sicherlich sehr sperriger Film, den nicht alle im Publikum (besonders nicht der Herr direkt neben mir) mochten, was sich besonders in Gelächter und abfälligen Bemerkungen niederschlug, die bei den erratischen Handlungen der Figuren manchmal ertönten. Gegen Ende hängt IZMENA dann in der Tat ein wenig durch, doch das ist angesichts seiner sonstigen Stärken durchaus zu verkraften.


Die Toiletten im Alpha-Kino haben einen Wienerischen Baustil: selbst für nur eine Person ist das ganze ziemlich eng. Was macht also der durchschnittliche männliche Kino-Besucher an einem solchen Ort? Natürlich: einfach mal stehen bleiben (ist ja so gemütlich), sich minutenlang unterhalten (ist der passende Ort dazu) und allen anderen Leuten damit den Weg versperren (sollen ihnen doch die Blasen platzen)...


18.00 Uhr, Atelier-Saal im Apollo-Kinocenter
CSAK A SZÉL (JUST THE WIND)
Regie: Fliegauf Bence
Ungarn / Deutschland / Frankreich 2012, 98 Minuten, DCP

Die wahrscheinlich größte Enttäuschung des Festivals! Natürlich waren die Erwartungen sehr hoch, aber einen dermaßen schlechten und schlecht aussehenden Film hätte ich niemals erwartet. Fangen wir zunächst damit an, dass hier wieder einmal „Realismus“, „Direktheit“ und „Unmittelbarkeit“ dem Zuschauer durch ein möglichst kräftiges Durchschütteln der Kamera „nahe gebracht“ werden. Eine „motion sickness“-Warnung vor der Vorführung wäre nicht schlecht gewesen.
In Verbindung mit dieser unsäglichen Wackelkamera-Ästhetik stellte sich dann aber auch  irgendwann ein gewisses Unwohlsein über das Inhaltliche ein. Gezeigt wird ein Tag im Leben der Mitglieder einer ungarischen Roma-Familie. Ihre Roma-Siedlung ist in den letzten Wochen von einer Mordserie erschüttert worden. Am Ende des Films werden auch sie ermordet werden. Doch größtenteils präsentiert sich CSAK A SZÉL als Milieustudie über Roma-Armut. Mir persönlich schien dabei, dass die Grenzen zwischen Milieustudie und Sozialpornografie, zwischen „realistischer“ Erzählung und reinem Armuts-Voyeurismus allzu fließend gestaltet waren. Der Regisseur schien es regelrecht zu genießen, seine Figuren ganz wörtlich in Dreck baden zu lassen. Humanismus scheint ihm völlig fremd zu sein, so dass er seine Protagonisten jeglicher Würde beraubt hat – auch wenn er vielleicht nur die Intention hatte, zu zeigen, „wie es eigentlich [gewesen] sei“.
Im allerschlimmsten Fall werden hier Roma-Bilder produziert, die sich von jenen der Rechtsradikalen rein äußerlich nicht besonders unterscheiden (auch wenn Fliegauf selbstverständlich andere Schlüsse aus ihnen zieht). Im besten Fall jedoch sieht der Film aus wie eine Doppel- oder Dreifachfolge dessen, was unter dem Begriff „Unterschichten-RTL2-TV“ üblicherweise summiert wird.


Die Kombination aus nervendem Film und voller Blase hat mich fast in den Wahnsinn getrieben. Kurz nach Abspann-Beginn rausgerannt, um eine vielleicht zumindest halbleere Toilette vorzufinden. Geschafft! Jedoch dürfte das Gespräch mit dem Regisseur Fliegauf Bence interessant gewesen sein, denn dafür wird ein stark verschobener Start des nächsten Films sehr billigend in Kauf genommen.


(nach) 20.00 Uhr, Atelier-Saal im Apollo-Kinocenter
POKŁOSIE (AFTERMATH)
Regie: Władysław Pasikowski
Polen / Russland 2012, 104 Minuten, DCP

„Neighbors“, Jan Tomasz Gross‘ Abhandlung über die Ermordung der jüdischen Bevölkerung Jedwabnes im Sommer 1941, schlug in Polen wie eine Bombe ein. Gross wies nach, dass hier Polen weitestgehend in Eigenregie ihre jüdischen Nachbarn ermordet hatten. Eine kontroverse Debatte über die Mitschuld Polens am Holocaust und über die Stichhaltigkeit des Status Polens als Opfer folgte.
Władysław Pasikowskis POKŁOSIE ist gewissermaßen ein filmischer Nachklang zur Jedwabne-Debatte. Nach jahrelangem Exil besucht Franciszek Kalina in sein Heimatdorf, wo sein Bruder Józef einen immer schwereren Stand bei seiner Umgebung hat: er birgt geschändete jüdische Grabsteine, die als Straßenpflaster missbraucht worden sind, und stellt sie in seinem Weizenfeld auf. Dafür wird er angefeindet. Nach und nach kommt immer mehr von der unangenehmen Wahrheit ans Licht.
Ein solider und überaus intelligenter Film ist Pasikowski gelungen, der sich nicht vordergründig mit den historischen Ereignissen selbst, sondern ganz explizit mit ihrer Aufarbeitung befasst und besonders gegen Ende mit drastischen Bildern einen Alarm gegen Antisemitismus in Polen schlägt. An manchen Stellen mangelt es sicherlich an Subtilität, und meistens erkennt der Zuschauer zehn bis fünfzehn Minuten vor den Figuren, was Sache ist (natürlich vor allem die Tatsache, dass die Juden des Ortes von ihren polnischen Nachbarn ermordet worden sind). Damit dürfte der hervorragend fotografierte und gespielte Film aber gerade in den erzkonservativen Teilen der polnischen Gesellschaft umso wirksamer einschlagen.
Zutiefst bizarr erscheint die Tatsache, dass Władysław Pasikowski nur fünf Jahre zuvor das Drehbuch von Andrzej Wajdas KATYŃ verfasst hatte, einem pathos-triefenden Monument zu Ehren der polnischen Opfer-Selbstvergewisserung. Hat ein Sinneswandel stattgefunden? Vielleicht!


22.00 Uhr, Atelier-Saal im Apollo-Kinocenter
SEENELAÏK (MUSHROOMING)
Regie: Toomas Hussar
Estland 2012, 93 Minuten, DCP

Mein erster estnischer Film überhaupt. Ein voller Erfolg!
Ein Parlamentsabgeordneter und seine Ehefrau brechen an einem Wochenende zum Pilzesammeln auf. An einer Tankstelle nehmen sie einen biertrinkenden Rocksänger per Anhalter mit. Dann verlieren sie sich im Wald, wo komische Haare aus Bäumen wachsen und bizarre konkurrierende Pilzsammlerinnen ihr Unwesen treiben. In einer aberwitzigen Odyssee suchen sie aus dem dichten Wald einen Ausweg.
EIn herrlich absurder Humor durchzieht SEENELAÏK: sei es die Komik der Gesamtsituation oder die schrulligen Figuren. Da ist Villu, der einen Notruf aus politischen Erwägungen so lange unterdrückt, bis dem Mobiltelefon der Saft ausgeht. Seine Frau Viivi scheint sich derweilen ein bisschen in Zäk, dem Rocker, verguckt zu haben. Dem bleibt das Dosenbier im Halse stecken, als ein überaus aggressiver Hinterwäldler-Typ ihm zuerst helfen, und ihn dann später angreifen und umbringen will. So durchläuft Toomas Hussars offenbar erster Film seit zwölf Jahren viele Stadien durch (Screwball-Komödie, Backwoods-Horror, Survival-Thriller und purer Slapstick), um schließlich als Polit-Farce zu enden.
Ein herrlicher kleiner Film.


Von da nur todmüde zur Übernachtungsgelegenheit getorkelt...



Montag, 15. April 2013


ca. 10.15 Uhr, Sichtungsraum im Festivalzentrum (Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft)
POUPATA (FLOWER BUDS)
Regie: Zdeněk Jiráský
Tschechische Republik 2012, 91 Minuten, Screener

POUPATA ist ein Ensemble-Film, der in einem kleinen Industriestädtchen der tschechischen Provinz spielt und für einige Tage das Leben der dortigen Unterschicht mitverfolgt: Eine sozialpornografische Mischung aus RTL2-Realityshow und Impressionen, die man an Wochenenden vor gewissen Discos sammeln kann.
Die 16-jährige Mandy ist schwanger geworden und derweilen hat sich ihre beste Freundin Jacqueline ein Schmetterling-Tattoo stechen lassen. Der ältere Bahnhofswärter Harry ertrinkt geradezu in Spielautomaten-Schulden, während der 18-jährige Kevin sich in die neue Stripperin der Dorfdisco verliebt. Selbstverständlich trägt diese Freakshow tschechische Namen, aber interessanter wird sie dadurch nicht.


Fliegender Screener-Wechsel...


ca. 11.45 Uhr, Sichtungsraum im Festivalzentrum (Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft)
DESPRE OAMENI ŞI MELCI (OF SNAILS AND MEN)
Regie: Tudor Giurgiu
Rumänien 2012, 92 Minuten, Screener

Letztes Jahr habe ich beim goEast-Festival keinen einzigen rumänischen Film gesehen. Dieses Jahr hingegen sind diese entweder grandiose Knaller oder zumindest exzellent. Wie diese Komödie, die kurz nach der Wende spielt. Eine Fabrik soll an Franzosen verkauft und umstrukturiert werden, Massenentlassungen inklusive. Die Arbeiter wollen sich dagegen wehren. Ihr Plan: die Fabrik selbst aufkaufen mit Geld, das sie durch Samenspenden verdienen könnten. Nicht überall wird die Idee ernst genommen und die Ehefrauen der Arbeiter sind erst recht nicht glücklich. Derweilen verliebt sich der Sohn des französischen Investors in die Sekretärin des rumänischen Fabrikchefs.
Als leichte und anspruchslose Sommerkomödie könnte man DESPRE OAMENI ŞI MELCI schimpfen. Denn mit Klischees wird nicht gerade gespart: hier der opportunistische und ungebildete Fabrikboss, dort der hübsche Gewerkschaftsführer mit Casanova-Attitüde. Auch ist das historische Setting tatsächlich nur Setting, und die Ansätze zur Kritik an den Fehlern der politischen Transformation sind eher mild. Der Film will nicht das Komödien-Genre neu erfinden, eine tiefe Botschaft vermitteln oder ein Zeitbild sein, sondern offenbar nur unterhalten. Das genau das gelingt ihm wunderbar.


Übrigens: der erste richtig schöne und warme Frühlingstag dieses Jahr... Zeit für einen kleinen Snack im Park, und dann ab ins Caligari!


14.00 Uhr, Caligari FilmBühne
DOUBLE FEATURE KROATISCHE KINEMATHEK

LAKAT KAO TAKAV (THE ELBOW)
Regie: Ante Babaja
Jugoslawien 1959, 17 Minuten, DigiBeta

 goEast Filmfestival
1982 wurde in Deutschland „Ellenbogengesellschaft“ zum Wort des Jahres gewählt. 23 Jahre zuvor wurde der Begriff in Jugoslawien gewissermaßen verfilmt. Ein Zwillingsgeschister-Paar liefert sich ein gnadenloses Duell um die besten Plätze in der Gesellschaft, und zwar mit ihren Ellenbogen. Mit diesem Körperteil wird geschubst, gar Leute hochkant aus Geschäftsräumen hinausgeprügelt. In klinischen Abteilung für Ellenbogenkunde wird dieses Instrument in harten Trainingseinheiten gestählt. Und wehe dem, der die Abschlussprüfung nicht besteht.
Eine ätzende Satire, komplett ohne Dialog praktisch wie ein Stummfilm gedreht. Mit grotesk größenverzerrten Bauten in einer komplett weißen Welt. Vollkommen halluzinatorisch. Ich fühlte meine Kinnlade vor diesem unfassbaren Film in Ehrfurcht herunterklappen!


LISICE (HANDCUFFS)
Regie: Krsto Papić
Jugoslawien 1969, 77 Minuten, 35mm

Der international berühmte Bruch Titos mit Stalin führte nicht nur zum besonderen jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus, sondern zunächst vor allem zu einer massiven Säuberung der Partei von Stalin-Anhängern. Gewissermaßen Antistalinismus mit stalinistischen Mitteln.
Diese Ereignisse greift auch Krsto Papićs LISICE auf. Eine Hochzeitsgesellschaft wird von einem (Stalin-treuen) Geheimpolizisten flankiert, dem besten Kumpel des Bräutigams. Zwei (Tito-treue) Sicherheitskräfte besuchen nach einer Verhaftung ebenfalls die Hochzeitsfeier. Unbehagen breitet sich bei den Feiernden aus, und mündet schließlich in Chaos, Vergewaltigung und Mord.
Meine extrem subjektive Meinung zu diesem Film lautet wie folgt: irgendwie hat er mich nicht überzeugt. Zumindest die Teile, die ich gesehen habe, denn um Ehrlichkeit walten zu lassen, muss ich gestehen, dass ich während der Projektion mehrmals eingeschlafen bin. Wenn ich mich bei den meisten anderen Filmen relativ gut in Form halten konnte, war es eben LISICE, der den berüchtigten Filmfestival-Müdigkeits- und Schlafattacken zum Opfer gefallen ist. Eine Korrelation zwischen der Qualität des Films und meinen Sekundenschlaf-Anfällen mag ich weder bestätigen noch ausschließen.


Einer der beiden Mitarbeiter der Kroatischen Kinemathek hatte zwar nicht wirklich viel interessantes zu erzählen, hat sich aber trotzdem wahnsinnig gerne selbst sprechen hören. Muss daher zum Apollo-Kino rennen, nur um dort zu merken, dass mein nächster Film so oder so zu spät angefangen wird...


16.00 Uhr, Atelier-Saal im Apollo-Kinocenter
ISTEN HÁTRAFELÉ MEGY (GOD WALKS BACKWARDS)
Regie: Jancsó Miklós
Ungarn 1991, 95 Minuten, 35mm

Jancsó, sonst eher für historische Settings bekannt, greift hier einen ganz tagesaktuellen Stoff auf: ISTEN HÁTRAFELÉ MEGY ist seine Vision der politischen Transformation in Ungarn, die 1988 begonnen hat und in einer gewissen Art und Weise bis heute nicht abgeschlossen ist.
Die Plansequenzen sind nicht kürzer geworden, aber interessanterweise zeigt der Ungar hier seinen großen Sinn für Humor. Denn mögen SZEGÉNYLEGÉNYEK und CSILLAGOSOK, KATONÁK Meisterwerke sein, besonders lustig sind sie nicht. Die choreografierten Ballette durch die Steppe werden hier in eine belagerte Villa verlegt. Zwei Journalisten wollen über einen nationalistischen Politiker eine Reportage machen und stoßen dabei in ein Grundstück, in dem alles drunter und drüber geht. Verschiedene Fraktionen bekämpfen sich zu Tode, während alles gleichzeitig vom Fernsehen übertragen wird: zwischendurch filmt Kende János‘ Kamera die Bildschirme der überall in der Villa verteilten Fernseher. Und eine nackte Frau darf natürlich auch in diesem Jancsó-Film nicht fehlen!
Viel Sinn ergibt das ganze nicht wirklich, aber das macht nichts, denn die überdrehte Atmosphäre trägt sich sehr gut und mit großer Leichtigkeit durch die Plansequenz-Choreografien.


18.00 Uhr, Atelier-Saal im Apollo-Kinocenter
GRZELI NATELI DGEEBI (IN BLOOM)
Regie: Nana Ekvtimišvili / Simon Groß
Georgien / Deutschland / Frankreich 2013, 102 Minuten, DCP

Nach vielen positiven Erfahrungen mit (sowjetisch-)georgischen Werken beim letztjährigen goEast-Festival waren meine Erwartungen an diesen Film hoch. Vielleicht zu hoch. Aber trotzdem kann ich schlussendlich nur feststellen, dass GRZELI NATELI DGEEBI ein zutiefst nichtssagender Film ist – in ästhetischer, narrativer, schauspielerischer, fotografischer und emotionaler Hinsicht.
Es geht grob gesagt um die Coming-of-age-Geschichte zweier Mädchen im Georgien der frühen 1990er Jahre und wie sie gesellschaftliche Missstände (Mangelwirtschaft, Patriarchat, dysfunktionale Familie) zu überwinden versuchen. Falls das gerade wie eine Soziologie-Vorlesung klingt: genau so hat sich der Film für mich angefühlt. Gesellschaftskritisch, sozial höchst relevant, und dabei von einer fast unerträglichen emotionalen Sterilität. Vielleicht haben mich die beiden permanent unmotiviert dreinblickenden Darstellerinnen genervt. Vielleicht die Tatsache, dass Emotionen zwar vorkamen, aber mich als Zuschauer nicht ergriffen. Vielleicht waren es die häufigen Griffe in die Klischeekiste des Familiendrama-Arthouse: die linear verlaufende Reifung der beiden Mädchen zu erwachseneren Menschen, ihr Außenseiterstatus an der Schule, der betrunkene Vater am Essenstisch, die holzschnittartigen Macho-Charaktere und nicht zuletzt das mit einem überdimensionierten Vorschlaghammer eingetrichterte „offene Ende“. In einem Moment droht eines der beiden Mädchen in völlige Raserei und zornige Hysterie zu verfallen, aber sie tut es nicht, weil es sich wohl für einen sauberen Film, der Festivalpreise einheimsen möchte, nicht gehört. In einem anderen Moment tanzt eines der beiden Mädchen auf einer Hochzeitsgesellschaft solo. Was anderswo zu einem herrlichen emotionalen Overkill hätte werden können, gefriert hier zu einer fast gruseligen Leblosigkeit. Fast so gruselig wie die Tatsache, dass ausgerechnet dieser Film den Festival-Hauptpreis gewonnen hat!


Eine enttäuschende letzte Vorstellung im Apollo dieses Jahr. Beim Sprinten zum Caligari zurück ein Müsliriegel verputzt und gleichzeitig noch ein Telefonat erledigt. Rechtzeitig angekommen, wenn auch nur für die zweite Sitzreihe.


20.00 Uhr, Caligari FilmBühne
NEBESNYE ŽENY LUGOVYCH MARI (CELESTIAL WIVES OF THE MEADOW MARI)
Regie: Aleksej Fedorčenko
Russland 2012, 106 Minuten, DCP

 goEast Filmfestival
Erotische Hexereien, gruselige Totenbeschwörungen, zärtliche Rendezvous, derbe Sexwitze, brüllend komische Missgeschicke und vieles mehr. 22 wundervolle erotisch-humorige Episoden, in denen jeweils eine Mari-Frau die Hauptrolle spielt, deren Vornamen mit dem Buchstaben „O“ beginnt. Einige der Sequenzen sind nicht einmal zwei Minuten lang und dermaßen verkürzt und reduziert, dass sie wie abstrakt-poetische Impressionen wirken. Andere wiederum dauern über zehn Minuten und entwickeln eine eigene Spannungskurve. So zum Beispiel eine Episode, in der eine Sängerin ein Studienstipendium für die Großstadt gewinnt. Ihr etwas lästiger Verehrer will sie nicht gehen lassen und von der Zurückweisung beleidigt hetzt er ihr deshalb einen Untoten an den Hals. Derweilen bandelt die junge Frau in der Stadt mit ihrem kleinwüchsigen, über 50-jährigen Gesangslehrer Herr Gennadij an, den sie beim Sex auch mal „Genni“ nennen darf. Der Untote wird schließlich von einem Polizisten mit einer magischen Perlenkette aufgehalten und geht zu seinem Beschwörer zurück – und auf ihn los...
In NEBESNYE ŽENY LUGOVYCH MARI, fast komplett in Mari-Sprache gedreht, passieren überhaupt Sachen, die nicht mit gesundem Menschenverstand und noch nicht einmal mit der inneren Logik von Volksmärchen zu erklären sind. Das Unerwartbare wird zum Programm erhoben und so entzieht sich Fedorčenkos Film jeglicher narrativer Konvention: jede Szene interessant, wenngleich oft nicht verständlich. Ein Experimental-Werk von einer unbändigen  und leichtfüßigen Energie, die das Klischee vom bleischwer-depressiven osteuropäischen Autorenkino mit Verve Lüge straft. 


22.00 Uhr, Caligari FilmBühne
RANI RADOVI (EARLY WORKS)
Regie: Želimir Žilnik
Jugoslawien 1969, 87 Minuten, 35mm

„Irgendwie anstrengend“, dachte ich nach spätestens etwa einer Viertelstunde: ein paar junge Kommunisten ziehen Marx-zitierend durch die Gegend und wollen ihre frohe Kunde unter die Menschen bringen. „Irgendwie anstrengend“ ist dafür natürlich keine besonders tiefgründige oder analytische Wertung, zugegeben. Der Film wirkte Ende der 1960er Jahre mit seiner zerfaserten Machart sicherlich provokant. Heutzutage dürfte ich nicht der einzige Zuschauer sein, dem RANI RADOVI ein Gähnen hervorlockt. Mir haben die Bilder nichts gesagt. Dass ab und zu was in die Luft gesprengt wird (u. a. ein Auto) hat mich sporadisch zu milden Lächeln animiert. Ansonsten war er verkrampft in seinem Bemühen, durchgeknallt zu sein und berechnete Verrücktheit wirkt nunmal oft bleischwer, um mal das Wort „prätentiös“ zu vermeiden. Irgendwie anstrengend halt. Als linksradikale Kritik an und aus einem realsozialistischen Staat erscheint Žilniks Film als zeithistorisches Kuriosum mit allenfalls musealem Wert.


Vor RANI RADOVI wurde angekündigt, dass der neueste Film Žilniks im Anschluss gezeigt werden würde. Beginn wäre kurz vor Mitternacht gewesen. Dass der erste Film mir nicht gefallen hatte, erleichterte mir die Entscheidung, auf den zweiten zu verzichten. Außerdem wäre ich wahrscheinlich vor Müdigkeit und/oder Hunger im Sessel eingeschlafen oder umgekippt. Nach einem späten Abendessen aus einem selbst gemachten Landjäger-Sandwich und einer Dose friesischen Biers bin ich zu meiner Übernachtungsgelegenheit fast zurückgekrochen, dankbar darüber, dass sie nur drei Steinwürfe vom Caligari entfernt war.


Dienstag, 16. April 2013


Eigentlich wollte ich im Sichtungsraum mit POSLEDNIJA POSTAJA (THE LAST STOP) von Jože Babič und VRANE (CROWS) von Goran Mihić und Ljubiša Kozomara das Festival abschließen. Aber ersterer hatte in der Screener-Fassung nur serbische Untertitel für slowenische Dialoge und kündigte sich als schwer dialoglastiger Film an, und zweiterer war überhaupt nicht als Screener verfügbar. Dann also Schwarze Welle Schwarze Welle sein lassen und wieder zu Janscó.

ca. 10.15 Uhr, Sichtungsraum im Festivalzentrum (Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft)
SZERELMEM, ELEKTRA (MY LOVE ELEKTRA)
Regie: Jancsó Miklós
Ungarn 1974, 76 Minuten, Screener

Tanzende Menschenmassen, Reiter, halbnackte Frauen und einige Sprechrollen werden in unendlichen Plansequenzen in der ungarischen Steppe choreografiert. Irgendwie geht es zwar ein bisschen um die Elektra-Sage, aber wen interessiert das ernsthaft. Genauso wenig wie die Tatsache, dass es in MÉG KÉR A NÉP (RED PSALM) irgendwie um einen Bauernaufstand ging. In SZERELMEM, ELEKTRA sind freilich die Plansequenzen noch länger, und die durchschnittliche Einstellungslänge soll gemäß imdb rekordverdächtige 350 Sekunden betragen.
Möglicherweise hatte Jancsó seit MÉG KÉR A NÉP nichts mehr zu sagen, denn aus narrativer Perspektive ist auch SZERELMEM, ELEKTRA eine einzige Schnarchnummer. Aber wie Jancsó das ganze nicht sagt, sieht schon richtig toll aus! Menschliche Schauspieler gibt es zwar auch, aber der Hauptdarsteller, das sind die Bewegungen der Kamera, die die Massenchoreografien einfangen. Ein Film, der selbstzweckhaft und zugleich mit Genuss auf sein eigenes Medium zurückgeworfen ist. Fast möchte man sich fragen, wie ein von Jancsó inszeniertes Musical ausgesehen hätte.


Weiter mit Jancsós ÍGY JÖTTEM (MY WAY HOME). Leider stellte sich auch hier heraus, dass in dem Film zwar gesprochen wird, jedoch der Screener über keinerlei Untertitel verfügte. KELIJ FEL, KOMÁM, NE ALUDJÁL! (WAKE UP MATE, DON‘T YOU SLEEP!) hätte ich dann gerne gesehen, aber der war nicht als Screener vorhanden – und der wäre gestern zur Sichtungszeit von RANI RADOVI im Apollo-Kino gelaufen (es ist einfach zum Schreien!). Dann also etwas aus der „Beyond Belonging“-Sektion.


ca. 11.30 Uhr, Sichtungsraum im Festivalzentrum (Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft)
W SYPIALNI (IN A BEDROOM)
Regie: Tomasz Wasilewski
Polen 2012, 72 Minuten, Screener

Edyta, eine Frau, die scheinbar aus dem Nichts kommt, prostituiert sich über das Internet. Der Akt wird aber nie vollzogen, denn sie betäubt ihre Freier, um sie auszurauben und sichert so ihren Lebensunterhalt. Eines Tages trifft sie den Kunstfotografen Patryk, mit dem sie zunächst das gleiche Spiel abzieht. Doch sie bleibt bei ihm, und versucht, eine ernsthafte menschliche Beziehung aufzubauen.
Unfassbar steril sind die Bilder aus der urbanen Peripherie Warschaus: kalte Straßenschluchten, neon-beleuchtete Autobahntunnels, leblose Suburbia-Wohnungen. Das zieht den Zuschauer ziemlich herunter und wird auch schnell repetitiv. Doch nach über zwanzig Minuten hat sich die Geduld gelohnt, als plötzlich so etwas wie Leben, Wärme, Sympathie durch diese Eiskruste durchbricht, um sich der Sonne zuzuwenden. Doch W SYPIALNI verwehrt sich einer linearen Entwicklung: keine Entwicklung vom „Tod“ zum „Leben“, sondern vielmehr kurze Wachmomente in einem schweren Winterschlaf. Wenn Edyta und Patryk bekifft an einem Flussufer liegen und sich dämlich kichernd des Tages erfreuen – dann hat sich schon nur für diesen Augenblick dieser sperrige Film gelohnt.

Es ist heiss, ich schwitze, ich bin müde, meine Zeiteinteilung war viel zu großzügig geplant, mein Rucksack ist schwer und es gibt auf der Welt schönere Orte als die Bahnhofsstraße und der Bahnhof Wiesbadens. Aber es hat sich gelohnt! Ich komme wieder!


Zum Abschluss die Filme noch einmal in Wertungslisten zusammengefasst.

Wettbewerbsfilme

1 DOMESTIC (5/5)
2 ROCKER (5/5)
3 NEBESNYE ŽENY LUGOVYCH MARI (4,5/5)
4 IZMENA (4,5/5)
5 STROITELI (3,5/5)
6 KRUGOVI (3/5)
7 MÓJ ROWER (3/5)
8 GRZELI NATELI DGEEBI (1,5/5)
9 POUPATA (0,5/5)
10 PANIHIDA (0/5)

Aktuelle Filme außerhalb des Wettbewerbs

1 TIGRE V MESTE (5/5)
2 POKŁOSIE (4,5/5)
3 SEENELAÏK (4/5)
4 DESPRE OAMENI ŞI MELCI (4/5)
5 W SYPIALNI (3,5/5)
6 SZOVIET-MAGYAR KOPRODUKCIÓ (2,5/5)
7 EASTALGIA (1,5/5)
8 CSAK A SZÉL (0,5/5)


Retrospektiven-Programm (Schwarze Welle / Janscó Miklós / Kroatische Kinemathek)

1 TRI (5/5)
2 LAKAT KAO TAKAV (5/5)
3 CSILLAGOSOK, KATONÁK (5/5)
4 ISTEN HÁTRAFELÉ MEGY (4/5)
5 SZERELMEM, ELEKTRA (3,5/5)
6 RDEČE KLASJE (3/5)
7 JUTRO (2,5/5)
8 LISICE (2,5/5)
9 RANI RADOVI (1/5)

Donnerstag, 11. April 2013

Die Volksfront, acht Regisseure und ein Oberregisseur

LA VIE EST À NOUS (DAS LEBEN GEHÖRT UNS)
Frankreich 1936
Regie: Jacques Becker, Jacques-Bernard Brunius, Henri Cartier-Bresson, Jean-Paul Le Chanois, Maurice Lime, Marc Maurette, Jean Renoir, Pierre Unik, André Zwoboda (oder Zwobada, wie er eigentlich hieß)
Gesamtleitung: Jean Renoir
Darsteller in Spielszenen: Jean Dasté, Jacques-Bernard Brunius, Charles Blavette, Max Dalban, Georges Spanelly, Eddy Debray, Gaston Modot, Julien Bertheau, Nadia Sibirskaïa u.a.
als sie selbst: Marcel Cachin, Jacques Duclos, Maurice Thorez, Paul Vaillant-Couturier u.a.

Wie schon im Artikel über LE CRIME DE MONSIEUR LANGE geschrieben, war Jean Renoir in den 30er Jahren politisch ziemlich weit links. Während MONSIEUR LANGE in erster Linie ein überzeugendes Drama und nur nebenbei ein politisches Lehrstück ist, handelt es sich bei LA VIE EST À NOUS um einen Propagandafilm. Um genau zu sein: Es ist ein Wahlkampffilm von gut einer Stunde Länge, der geschickt Spielszenen und dokumentarische Aufnahmen kombiniert. Er wurde für die im Mai 1936 anstehende Wahl zur Nationalversammlung gedreht; Auftraggeberin des Films war die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF). Bei der Wahl 1936 trat erstmals (und einmalig) eine linke Volksfront (Front populaire) an, ein Bündnis der drei großen Linksparteien der Kommunisten, Sozialisten und Radikalsozialisten. Die Partei der Sozialisten trug damals den etwas komplizierten Namen Section française de l'Internationale ouvrière (SFIO, dt.: Französische Sektion der Arbeiter-Internationale). Erst 1969 ging daraus die heutige Sozialistische Partei hervor, die Partei von Mitterrand und Hollande. Die Partei der Radikalsozialisten mit dem ebenso komplizierten Namen Parti républicain, radical et radical-socialiste oder kurz Parti radical war, anders als es der Name vermuten lässt, innerhalb der Koalition am wenigsten links. Es handelte sich um eine gemäßigt linke Partei, die vor allem Angestellte, Selbständige und sonstige Kleinbürger vertrat. Sie hatte zuvor schon sowohl mit den Sozialisten als auch mit Mitte- und Rechtsparteien koaliert und mehrfach den Premierminister gestellt. Von den drei Parteien neigte Renoir 1935/36 den Kommunisten zu. Weniger aus ideologischen Gründen - er war zwar links, aber kein Marxist -, sondern weil er der Überzeugung war, dass die PCF in Frankreich (und international die Sowjetunion) am entschiedensten dem Faschismus entgegentrat - und damit hatte er wohl Recht. Renoir war im Januar 1933 in Berlin und erlebte die Machtergreifung der Nazis mit, und deutsche Freunde wie Carl Koch, Lotte Reiniger und Bert Brecht informierten ihn über die weitere Entwicklung. Er wusste, um was es ging.

Schulkinder fragen sich, wo Frankreichs Reichtum abbleibt
Dass sich erstmals die PCF mit anderen Linksparteien zum Front populaire zusammenschloss, hatte innen- wie außenpolitische Gründe. Als Anfang der 30er Jahre die Weltwirtschaftskrise auch Frankreich ereilte und außerdem Skandale wie die Stavisky-Affäre das Land erschütterten, bekamen rechtsradikale Gruppierungen, von denen einige schon seit den 20er Jahren existierten, aber vorerst bedeutungslos blieben, neuen Aufschwung. Vor allem die paramilitärische Organisation Croix-de-Feu unter ihrem Führer Colonel de La Rocque war besorgniserregend. Die "Feuerkreuzler" unterhielten uniformierte Kampftruppen, die an die SA erinnerten, und veranstalteten regelmäßig martialische Umzüge. De La Rocques genaue Pläne blieben im Dunkeln, aber nicht wenige befürchteten, dass er einen faschistischen Umsturz plante. Die Zahl seiner Anhänger ist umstritten. Für 1936 werden Zahlen von bis zu 2 Millionen genannt. Auch wenn es weniger gewesen sein sollten, dürften es auf jeden Fall einige Hunderttausend gewesen sein. Daneben gab es weitere Gruppierungen und Milizen, von denen sich einige offen als faschistisch bezeichneten. Die Ereignisse kulminierten am 6. Februar 1934. Die rechtsradikalen Gruppen gingen in Paris auf die Straße, es kam zu gewalttätigen Ausschreitungen, und ein Teil der Demonstranten versuchte, zum Parlamentsgebäude vorzudringen, um es zu stürmen. Die Polizei machte von der Schusswaffe Gebrauch, um das zu verhindern, und am Ende gab es 17 Tote und über 2300 Verletzte. Am nächsten Tag trat die Linksregierung aus Sozialisten und Radikalen zurück und wurde durch eine Mitte-Rechts-Regierung ersetzt. Auch wenn die Ereignisse vom 6. Februar vermutlich kein koordinierter Umsturzversuch waren (ausgerechnet Croix-de-Feu nahm zwar auch teil, hielt sich aber auffallend zurück), musste es damals vielen Beobachtern so erscheinen, und Gegenmaßnahmen schienen dringend nötig. Am 9. und am 12. Februar kam es zu großen Gegendemonstrationen und einem Generalstreik, zu denen die Kommunisten und die Sozialisten getrennt aufgerufen hatten, die sich dann aber zu gemeinsamen Veranstaltungen entwickelten. Eine Volksfront der linken Kräfte schien ebenso greifbar wie notwendig.

Ein Vorstandsvorsitzender (Jacques-Bernard Brunius)
Dazu kam für die Kommunisten Rückenwind aus Moskau. Bis 1934 hatten die KPdSU und von ihr abhängige Kommunistische Parteien in Europa Sozialdemokraten und andere nichtkommunistische Linke als "Sozialfaschisten" verunglimpft und oft sogar als Hauptgegner betrachtet. Aber diese Politik war grandios gescheitert. Nicht nur in Deutschland und Italien gab es faschistische Diktaturen, sondern auch in Portugal, Österreich und in diversen ost- und südosteuropäischen Ländern. Die Zersplitterung der linken und liberalen Bewegungen hatte den Aufstieg des Faschismus zwar nicht verursacht, aber erheblich erleichtert. So kam es ab 1934 zur Kehrtwende, und den in der Kommunistischen Internationale organisierten Parteien wurden Bündnisse mit Sozialdemokraten und sogar bürgerlich-liberalen Parteien anempfohlen. Offizielle Doktrin der Komintern wurde das erst 1935 unter ihrem Vordenker, dem stalintreuen Bulgaren Georgi Dimitrow. "Jetzt haben die arbeitenden Massen nicht länger die Wahl zwischen bürgerlicher Demokratie und Diktatur des Proletariats, sondern nur noch zwischen bürgerlicher Demokratie und Faschismus." (Dimitrow). So wurde also im Sommer 1934 ein loses Bündnis zwischen Kommunisten und Sozialisten geschlossen, das ein Jahr darauf unter Einbeziehung der Radikalsozialisten konkreter gefasst wurde, und für die Wahl im Mai 1936, für die Siegchancen prognostiziert wurden, wurde im Januar des Jahres ein gemeinsames Wahlprogramm ausgearbeitet. Zu dieser Zeit entstand die Idee zu LA VIE EST À NOUS.

Match Cut: Reiche Müßiggänger beim Rumballern und Faschisten bei echten Schießübungen
Jacques Duclos, ein führender PCF-Funktionär, hatte den Einfall, einen Wahlkampffilm in Auftrag zu geben, und angeblich war es der Schriftsteller Louis Aragon, der Renoir dafür vorschlug. Auf jeden Fall war Renoir eine naheliegende Wahl. Durch LE CRIME DE MONSIEUR LANGE und etliche Zeitschriftenartikel hatte er sich als ein Sprachrohr der Linken im französischen Film etabliert, und seine fachliche Meisterschaft war unbestritten. Renoir nahm gerne an, hatte aber sogleich die Idee, das Kollektivprinzip, das schon bei MONSIEUR LANGE zum Tragen kam, noch weiter auszubauen: Nicht er selbst, sondern seine etwas jüngeren Mitarbeiter und Techniker sollten jeweils bei kleinen Teilen des Films Regie führen, und er würde nur als Produzent die Gesamtleitung übernehmen. Aufgrund der etwas chaotischen, unter Zeitdruck stehenden Produktion hat dann aber auch Renoir selbst einen Teil gedreht. Wer genau was inszeniert hat, wurde nicht bekanntgegeben - es sollte ja eben eine Kollektivarbeit sein. Entsprechend schwer tat sich die Nachwelt mit der Zuordnung, und verschiedene Autoren von Renoir-Büchern haben unterschiedliche Angaben dazu gemacht. Es ist auch nicht ganz klar, ob alle oben genannten Regisseure diese Bezeichnung überhaupt verdienen. Mal wird Maurice Lime weggelassen, mal Marc Maurette, und im kleinen, aber feinen Büchlein "Jean Renoir und die Dreissiger" gelten überhaupt nur Renoir, Becker, Le Chanois und Zwoboda als Regisseure, und die anderen fünf als Regieassistenten. Der Titel dieses Artikels ist also mit etwas Vorsicht zu genießen. Ebenso ist nicht ganz klar, ob Paul Vaillant-Couturier, ein weiterer PCF-Funktionär, am Drehbuch mitschrieb oder nicht. Aber auch wenn das der Fall gewesen sein sollte, genossen Renoir und seine Mitstreiter volle künstlerische Freiheit, wie Jean-Paul Le Chanois anlässlich der Wiederaufführung des Films 1969 betonte: "Wir hatten einige Unterhaltungen mit Jacques Duclos, der uns die Position der Partei in der Volksfront und im Wahlkampf erläuterte. Aber niemand zwang uns irgendwelche Richtlinien auf." Bei der Gelegenheit äußerte sich Le Chanois auch sehr eindeutig zu der Frage, ob man LA VIE EST À NOUS aufgrund des Modus seiner Entstehung überhaupt als Renoir-Film bezeichnen kann: "Mein Gefühl zu dieser Frage ist sehr klar; es war wirklich Renoir, der den Film machte."

Croix-de-Feu
Alle Beteiligten arbeiteten umsonst, und einige mussten nebenbei andere Jobs ausüben, was teilweise für den Zeitdruck verantwortlich war. Natürlich gab es Kosten für Filmmaterial, Entwicklungslabor etc. - insgesamt kostete LA VIE EST À NOUS etwa ein Zehntel dessen, was bei einem französischen Film dieser Länge üblich war. Das Geld wurde bei Wahlkampfveranstaltungen der PCF eingeworben. Die Anhänger der Kommunisten waren üblicherweise nicht gut betucht, aber Kleinvieh macht auch Mist. Le Chanois erinnerte sich 1969, dass einmal ein ganzer Kartoffelsack voller Kleingeld angeliefert wurde, das er und Zwoboda dann einen ganzen Tag lang zählten und sortierten. Die Dreharbeiten fanden im Februar und März 1936 statt und wurden vom Wahlsieg einer linken Volksfront in Spanien im Februar ideell beflügelt. Nachdem die Aufnahmen im Kasten waren, verließ Renoir das Team, um sich mit seinem nächsten Film PARTIE DE CAMPAGNE zu befassen. Die Endfertigung überwachten Jacques-Bernard Brunius und Renoirs regelmäßige Cutterin und damalige Lebensgefährtin Marguerite Renoir (eigentlich Marguerite Houllé, sie waren nicht miteinander verheiratet). Renoir selbst bekam den fertigen Film 1936 überhaupt nicht zu Gesicht. Es wurde gelegentlich behauptet, dass LA VIE EST À NOUS von der Zensur verboten wurde. Aber Le Chanois bestritt, dass er überhaupt der Zensur vorgelegt wurde, weil eine kommerzielle Verwertung überhaupt nicht vorgesehen war, und weil ohnehin keine Chancen auf eine Freigabe bestanden. Wie dem auch sein mag, jedenfalls lief der Film nicht in den französischen Kinos, aber wie vorgesehen bei Wahlkampfveranstaltungen, wofür eine Freigabe der Zensur nicht notwendig war.

Februar 1934: Aufruf zum Generalstreik
LA VIE EST À NOUS lässt sich grob in drei Teile gliedern. Am Anfang referiert eine Stimme aus dem Off über Frankreich: Über seine landschaftlichen Schönheiten, seine landwirtschaftlichen Erzeugnisse, seine Industrie. Dazu passende dokumentarische Bilder, dynamisch montiert, illustrieren die Worte. Nach einiger Zeit bekommt die Stimme ein Gesicht: Ein Lehrer (Jean Dasté) hält den Vortrag vor seiner Schulklasse. Er fährt fort, nennt statistische Zahlen, betont mehrfach die Spitzenstellung Frankreichs auf diversen Gebieten. Nach Ausführungen zu Architektur und Kunst landet er schließlich bei Paris, der "meistgeliebten Stadt der Welt", einer Hauptstadt des Geistes ebenso wie einer Hauptstadt der Luxusgüter. Dann entlässt er die Schüler. Wozu diese Glorifizierung? Damit der Kontrast umso größer ausfällt, wenn sich die Schüler auf dem Heimweg fragen, wo denn der ganze Reichtum bleibt. Wieso sind sie und ihre Eltern so arm, wenn Frankreich ein so reiches Land ist? Die Antwort folgt auf dem Fuß: Es liegt an der ungleichen Verteilung, daran, dass die führenden "200 Familien" der Großkapitalisten die Gewinne einstreichen - so skandiert es eine Kommunistin, und ein Chorus repetiert die Sentenz mehrfach. Eine Spielszene konkretisiert das unverzüglich: Ein Vorstandsvorsitzender (J.B. Brunius) erläutert im Konferenzzimmer seinen Direktoren, wie man durch künstliche Verknappung von Lebensmitteln und anderen Gütern die Preise und damit die Gewinne hochtreibt, und unter Krokodilstränen verkündet er vertraut klingende Parolen, dass man den Gürtel leider enger schnallen müsse. Dazwischen geschnitten ist eine Sequenz, in der derselbe Vorstandsvorsitzende im Spielcasino ungerührt 2 Mio. Francs verzockt - so wird deutlich gemacht, wer den Gürtel enger schnallen muss und wer nicht. Zurück im Konferenzraum, kündigt er Lohnkürzungen an, und die versammelten Direktoren pflichten ihm einhellig bei. Danach sieht man einige Damen und Herren der Oberschicht, wie sie zum Vergnügen in einem Park mit Pistolen auf Pappkameraden schießen, die Arbeiter symbolisieren. Das geht durch einen Match Cut in Aufnahmen von Croix-de-Feu-Leuten über, die paramilitärische Schießübungen veranstalten. So wird eine recht eindeutige Verbindungslinie Großkapitalismus -> Faschismus gezogen.

Februar 1934: Massendemonstrationen gegen rechte Umtriebe
Die nächsten Minuten behandeln die nationale und internationale faschistische Gefahr. Es gibt Aufnahmen von einem großen Aufmarsch des Croix-de-Feu, mit Colonel de La Rocque an der Spitze, der verhöhnt wird, indem dazu Julius Fučíks Marsch "Einzug der Gladiatoren" ertönt, besser bekannt als "Zirkusmarsch". Auch Hitler wird veräppelt: Man sieht ihn bei einer Rede, hört dazu aber das Bellen eines Hundes. Doch es wird schnell wieder ernst: Aufeinanderfolgende Bilder von Mussolini, von Bombenangriffen im italienischen Kolonialkrieg in Äthiopien und von toten Soldaten evozieren sehr deutlich die Assoziationskette Faschismus - Krieg - Tod. Ebenfalls zu sehen sind Dokumentaraufnahmen von den Unruhen am 6. Februar 1934 und von den eindrucksvollen Gegendemonstrationen am 9. und 12. Februar, sowie dazwischengeschnitten Titelblätter der kommunistischen Parteizeitung L'Humanité, die zu diesen Demonstrationen aufrief. Danach wird die Solidarität mit der Sowjetunion beschworen, und es sind vier kurze Filmschnipsel mit Lenin, Stalin, Dimitrow und dem PCF-Veteranen André Marty zu sehen. Nach diesem kurzen Zwischenspiel war es das weitgehend mit dem Thema Sowjetunion - die PCF schlug zu dieser Zeit durchaus gemäßigt nationale Töne an, statt das Mantra des Internationalismus zu predigen (und im Film kommt die Marseillaise ebenso prominent vor wie die Internationale).

Marcel Cachin; ein Fabrikarbeiter (Charles Blavette); ein Auktionator wird düpiert
(links Gaston Modot, rechts Eddy Debray); der Ingenieur und seine Geliebte
(Julien Bertheau und Nadia Sibirskaïa)
Eine sehr kurze Spielszene leitet zum zweiten Hauptteil des Films über: Drei Croix-de-Feu-Mitglieder überfallen einen Verkäufer der L'Humanité und wollen ihn verprügeln. Doch umstehende Passanten eilen sofort herbei und schlagen die Angreifer in die Flucht - ein Lob auf Solidarität und Zivilcourage. Vom einfachen Zeitungsausträger wechselt die Handlung ins Büro von Marcel Cachin, der 40 Jahre lang Herausgeber der L'Humanité war. 1936 war er schon ein älterer Herr mit väterlichem Erscheinungsbild, wovon der Film geschickt Gebrauch macht. Aus einem Berg (fiktiver) Leserbriefe an ihn fischt (der echte) Cachin drei heraus und liest sie, und ihr Inhalt wird in drei längeren Spielhandlungen ausgebreitet, jeweils umrahmt von Cachin an seinem Schreibtisch. Die drei Sequenzen führen den Wert der Solidarität weiter aus, und sie präsentieren die PCF als Hort dieser Solidarität. Zugleich repräsentieren sie die drei Säulen der Anhängerschaft der Partei: Arbeiter, Bauern, und "Intelligenz".
In einer Fabrik wurde der Akkordlohn gesenkt und ein Vorarbeiter (Max Dalban) installiert, der nichts tut, als die anderen mit seiner Uhr zu überwachen. Als ein älterer Arbeiter die Vorgaben nicht mehr erfüllen kann, wird er gefeuert. Den nun aufwallenden Protest lenkt ein PCF-Mitglied unter den Arbeitern (Charles Blavette) in geordnete Bahnen, organisiert einen Streik, und der Fabrikbesitzer (G. Spanelly) wird gezwungen, alle Maßnahmen rückgängig zu machen.

Eine Familie von Kleinbauern kann ihre Schulden nicht bezahlen, und die Zwangsversteigerung des ganzen Anwesens steht bevor. Doch der Neffe (Gaston Modot), wiederum ein PCF-Mitglied, sorgt mit seinen Parteifreunden mit sanftem Druck dafür, dass kein Interessent ein ernsthaftes Gebot abgeben kann. Er selbst "ersteigert" alles zu einem Spottpreis, zusammen wenig mehr als 100 Francs. Die Schulden sind getilgt, und die Familie bekommt ihr Hab und Gut zurück.

Ein arbeitsloser junger Elektroingenieur (Julien Bertheau) will seiner Freundin (Nadia Sibirskaïa) nicht auf der Tasche liegen und macht sich auf die zermürbende Arbeitssuche. Er nimmt sogar einen Job als Autowäscher an, fliegt aber gleich wieder raus. Vor Hunger und Verzweiflung dem Zusammenbruch nah, wird er von zwei PCF-Genossen aufgelesen und ins nächste Parteilokal gebracht. Dort wird er mit einer warmen Mahlzeit, mit schönem Chorgesang (der Chorale Populaire de Paris probt gerade Arbeiterlieder) und mit ideellem Zuspruch wieder aufgerichtet. Und er bekommt auch gleich etwas Sinnvolles zu tun, nämlich einen großen Scheinwerfer zu reparieren und zu bedienen, der bei einem Parteikongress zum Einsatz kommt.
Dieser vom Filmteam inszenierte Kongress mit echten PCF-Spitzenfunktionären bildet den ersten Teil des letzten Hauptabschnitts von LA VIE EST À NOUS. Unter dem zuhörenden Parteivolk befinden sich auch die Hauptprotagonisten der drei Episoden aus dem vorigen Abschnitt. Die schon erwähnten Marcel Cachin, Jacques Duclos und Paul Vaillant-Couturier sowie PCF-Generalsekretär Maurice Thorez und drei weitere Funktionäre werden jeweils mit kurzen Rede-Ausschnitten gezeigt, wobei jeder ein anderes Thema anspricht. Diese Passage dauert sechs Minuten, also für jeden im Schnitt weniger als eine Minute. So wird ein breites Spektrum abgedeckt, ohne dass der Zuschauer mit nicht enden wollenden Reden (wie etwa in TRIUMPH DES WILLENS) gequält wird. Es fällt der moderate Ton dieser Reden auf. Schon in der Fabrik-Episode standen ordentliche Arbeitsbedingungen auf dem Programm, aber keine gesellschaftlichen Umstürze, keine Enteignung der Kapitalisten, und Gewalt wird ausdrücklich als kontraproduktiv abgelehnt. In den Reden verhält es sich ähnlich. Zwar beschwört Thorez noch einmal verbal Marx, Engels, Lenin und Stalin, aber abgesehen vom zeitgebundenen Aspekt des Kampfes gegen den Faschismus ist es eigentlich kein kommunistisches, sondern ein sozialdemokratisches Programm, das hier präsentiert wird (natürlich kein Programm im Geist der Agenda 2010, sondern eher eines im Geist des Godesberger Programms). Hier zeigen sich sehr deutlich die Kompromisse, die vom Front populaire erzwungen wurden: Weder die neuen Koalitionspartner (insbesondere die Radikale Partei, die in dieser Hinsicht heikler war als die Sozialisten) noch potentielle Wähler aus dem bürgerlich-liberalen Lager durften verschreckt werden. Der Film endet schließlich in einem (ebenfalls inszenierten) Aufmarsch der Massen, die die Internationale singen, und wiederum erkennt man die Gesichter von Blavette, Modot, Bertheau, Sibirskaïa und weiteren Protagonisten der Spielszenen in der Menge (sowie an prominenter Stelle Vladimir Sokoloff, der zuvor im Film nicht in Erscheinung trat), und ganz am Ende gibt es nochmal eine kurze Montage-Sequenz, die an diejenige vom Anfang des Films erinnert. - Wie wirkt LA VIE EST À NOUS nun heute? Das hängt natürlich auch vom politischen Standpunkt des Betrachters ab. Während Renoir sonst Klischees und Stereotypen zu vermeiden trachtete, gibt es hier jede Menge davon. Und die unhinterfragte Heilsgewissheit in den Armen der Kommunistischen Partei kann schon zwiespältige Gefühle auslösen. Aber man kann auch von einem Wahlkampffilm schlecht verlangen, dass er seine eigenen Behauptungen in Frage stellt. Und trotz einer gewissen Ungeschliffenheit, die der schnellen und billigen Produktion geschuldet ist, zeigt LA VIE EST À NOUS nicht nur den politischen Enthusiasmus, sondern auch die künstlerische Imaginationskraft seiner Macher. Er ist ein Propagandafilm, aber sicher einer der interessantesten der 30er Jahre.

Maurice Thorez (das linke Portrait zeigt Georgi Dimitrow)
Und wie ging es nach dem Film in Frankreich weiter? Der Front populaire gewann tatsächlich die Wahlen im Mai. Die Sozialisten und die Radikalen bildeten die Regierung, die von den Kommunisten gestützt wurde, ohne sich mit Ministern daran zu beteiligen. Die Sozialisten waren die stärkste Partei, und deren Vorsitzender Léon Blum wurde Premierminister. Einige kleinere linke Gruppierungen innerhalb und außerhalb des Parlaments unterstützten die Regierung ebenfalls. Man ging mit viel Schwung an die Arbeit: Es wurde erstmals ein Anspruch auf bezahlten Urlaub und die 40-Stunden-Woche eingeführt, das Recht, kollektive Tarifverträge abzuschließen, und es wurde für Lohnerhöhungen gesorgt. Aber die materiellen Verbesserungen für die Arbeitnehmer wurden bald wieder von der Inflation aufgefressen, der Elan der Regierung verpuffte, und ideologische Differenzen traten zutage, vor allem zwischen den Kommunisten und den Radikalen. Zum größten Sargnagel für die Volksfront wurde der Spanische Bürgerkrieg. Auf Betreiben der Radikalen und Teilen der Sozialisten erklärte sich Frankreich für neutral, statt, wie von vielen erhofft, die Republikaner zu unterstützen. Im Juni 1937, nach einem Jahr im Amt, trat Blum zurück, und damit war die Volksfront mehr oder weniger gescheitert, und unter ihren Anhängern machte sich allgemeine Desillusionierung breit. Formal bestand die Koalition weiter, mit zwei Ministerpräsidenten von der Radikalen Partei, und dazwischen noch einmal für einen Monat Léon Blum, aber als Ende 1938 ein Teil der Sozialgesetze zurückgenommen wurde, um die Inflation einzudämmen, war die Volksfront endgültig am Ende. Spätestens seit dem Hitler-Stalin-Pakt, der viele bisherige Anhänger der Kommunisten (auch Renoir) entsetzte, war auch eine Neuauflage dauerhaft ausgeschlossen. Ganz umsonst war das gescheiterte Experiment aber nicht. Es blieb die Tatsache, dass die ideelle Kluft zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum in Frankreich deutlich verringert wurde, und noch ein politisches Ziel wurde erreicht: Gleich zu Beginn wurden die paramilitärischen faschistoiden Gruppierungen verboten. Colonel de La Rocque hatte offenbar damit gerechnet, denn er gründete unmittelbar darauf eine neue Partei, aber die gab sich gemäßigter als die Vorgänger-Organisation und respektierte die parlamentarischen Spielregeln. Einen ernsthaften Umsturzversuch gab es nicht, und Frankreich blieb bis zur Besetzung 1940 eine Demokratie mit bürgerlichen Freiheitsrechten.

Choreographierter Massenaufmarsch am Schluss (l.o. Vladimir Sokoloff)
LA VIE EST À NOUS wurde für den Wahlkampf gedreht, und nach der Wahl wurde er eingemottet. Der Film verschwand so gründlich in der Versenkung, dass er mehr oder weniger verschollen war. Doch 1969 tauchte er wieder auf, und dann lief er erstmals auch in den französischen Kinos. 1973 wurde eine Kopie nach Los Angeles geschickt, und Renoir, der in Beverly Hills wohnte, sah zum ersten Mal den fertigen Film. "Ich war sehr froh, diesen Film endlich zu sehen", sagte er später. "Es freute mich, die Gesichter von so vielen alten Freunden zu sehen, von denen jetzt viele tot sind. Und er zeigte mir wieder die Gesichter der französischen Arbeiter. Er ist technisch nicht sehr geschliffen, das ist offensichtlich. Aber für einen Film, der von 20 Leuten in einem solchen Durcheinander gemacht wurde, ist er vielleicht nicht schlecht. Und vielleicht ist so etwas heute interessanter als damals. Wir können die technischen Fehler bei einem alten Film akzeptieren - er ist jetzt zu einem Dokument geworden." - LA VIE EST À NOUS ist in Frankreich auf DVD erhältlich. Englische Untertitel gibt es in den Weiten des Internet zum Download.