Donnerstag, 29. Oktober
17.30 Uhr, Gartenbaukino
DHEEPAN
Jacques Audiard
Frankreich 2015
100 Minuten, DCP
Der Soldat der Tamil Tigers Dheepan, der eigentlich anders heißt, gibt sich als Ehemann einer ihm unbekannten jungen Frau und Vater eines kleinen Mädchens aus, um fliehen zu können. Mit Yalini und Illayaal, die eigentlich auch anders heißen und sich bis kurz vor der Flucht ebenso wenig kannten, reist er nach Frankreich und nimmt einen Job als Hausmeister in einem von Drogenbanden kontrollierten Pariser Vorort an. Dort lernt er seine „Frau“ und seine „Tochter“ langsam lieben, gerät aber auch in die Fronten eines Bandenkriegs.
DHEEPAN hat beim Cannes-Festival die Goldene Palme gewonnen. Mit seiner Flüchtlingsthematik greift er ein gerade vieldiskutiertes Sujet auf. Der richtige Film zum richtigen Zeitpunkt also? Irgendwie ja. Und auch nein.
Zunächst sei die großartige Schauspielleistung des Hauptdarstellers Jesuthasan Antonythasan gelobt. Als kompletten Laiendarsteller möchte ich ihn nicht bezeichnen, denn er spielte schon 2011 in einem indischen Film mit. DHEEPAN erzählt teilweise die persönliche Geschichte Antonythasans nach, der selbst Soldat bei den Tamil Tigers war. Mit ungeheurer Intensität spielt er diesen kriegstraumatisierten Mann, der aufgrund seiner Sozialisation zu Grobheit und Gewalt neigt und sich dennoch nach Liebe und Anerkennung sehnt. Ich freue mich bereits, ihn möglicherweise bald in einer neuen Rolle zu sehen. Fast verblassen neben ihn Kalieaswari Srinivasan als Yalini und Claudine Vinasithamby als „Tochter“ Illayaal. Das liegt vielleicht auch teilweise daran, dass Audiard sich für die beiden weiblichen Figuren nicht so sehr interessieren mag wie für Dheepan. Und hier sind wir teils auch beim Problem von DHEEPAN: er weiß letztlich nicht, wofür er sich interessieren soll. Was in der ersten Hälfte wunderbar ist, weil der Film dann einfach unbekümmert fließt, sich überhaupt nicht um Plot oder dramaturgische Spannung kümmert und vollkommen in seinen Figuren aufgeht. Nicht so sehr Sozialdrama als intimes Personenportrait – irgendwo zwischen Renoir, Hawks und Rossellini angesiedelt –, das ganz auf Antonythasan Schultern ruhen kann. In der zweiten Hälfte verdichtet sich der Plot. Ein Bandenkrieg zwingt Dheepan zur Positionierung. In einem Aufwasch will Audiard dann Flüchtlingsschicksale, Bandenkriminalität, Geschlechterbeziehungen behandeln und das ganze schlussendlich als reinen Genrefilm auflösen. Das Ende wirkt dann, als hätte sich Michael Winners Geist die Regie unter den Nagel gerissen, um das Finale von DEATH WISH 3 noch einmal in Paris nachzustellen. Audiard hat dann doch nicht den Mut, das stehen zu lassen und tackert noch ein kitschiges Ende hin, das einer Zuschauerverarschung recht nahe kommt. So ist DHEEPAN bewundernswert für seine Darsteller und seine oft tollen Bilder, aber doch insgesamt doch zu unentschieden, mutlos und beliebig.
20.00 Uhr, Gartenbaukino
MARNIE
Alfred Hitchcock
USA 1964
130 Minuten, 35mm
Mööööp!
Die Viennale 2015 begann für mich mit einer riesengroßen Enttäuschung! Der Film, auf den ich mich am meisten gefreut habe, sollte ich nicht sehen. Hitchcocks MARNIE, den ich (eine baldige private Neusichtung auf DVD wird bald meine Meinung bestätigen – oder ggf. widerlegen) für den größten Film des Meisters halte, lief in einer wahrscheinlich wunderschönen 35mm-Kopie ohne mich, denn gezeigt wurde er im Rahmen einer Galaveranstaltung, die nur für geladene Gäste, nicht aber für Pressevertreter lief.
Stattdessen also...
21.00 Uhr, Metro-Kino, Historischer Saal
DIE TOTEN FISCHE
Michael Synek
Österreich 1989
83 Minuten, DCP
Ein abgerissen aussehender Mann kriecht durch eine Dschungellandschaft und fischt aus brodelnden Quellen Briefmarken. Mit der U-Bahn fährt er zurück zu seinem Chef, doch störrische U-Bahn-Fahrer, verwinkelte Gänge, eine Rattenplage und ein bürokratischer Ticket-Kontrolleur stellen sich ihm in den Weg. Dann verweigert ihm sein Vorgesetzter auch noch die versprochene Kost und Logis. Rachesüchtig nächtigt der Briefmarkenjäger auf einem verlassenen Dampfer und denkt sich alle möglichen Grausamkeiten aus, während anderswo weitere bizarre Dinge geschehen.
© Viennale |
Wenn man der IMDb glauben mag, dann ist Michael Synek (der bei der Vorführung anwesend war und danach Rede und Antwort stand) ein idealtypischer „auteur maudit“. Nach einer Tour durch verschiedene Festivals bekam der Film keinen Verleih und ruinierte den Autoren, Produzenten und Regisseur. Syneks erster blieb zugleich sein letzter Film.
DIE TOTEN FISCHE, gedreht in mysteriösem Schwarzweiß, lief im Rahmen der Retrospektive „Aus Fleisch und Blut. Austrian Pulp“ und erscheint tatsächlich singulär. Er ist eine Adaption von Boris Vians gleichnamiger Kurzgeschichte und verbindet Surrealismus, Slapstick, schwarzen Humor, postapokalyptische Science-Fiction und Bodyhorror zu einem wahrhaft bizarren, teils undurchdringlichen Werk. Er erscheint manchmal als gallige politische und gesellschaftliche Satire, bisweilen sogar fast schon als linkes Agitationskino. Der Briefmarkenjäger, der sich wie einst Captain Willard durch feindliches Dschungelgebiet kämpfen muss, um seine Briefmarken (seinen Colonel Kurtz) zu suchen, findet das wahre Herz der Finsternis nicht im Urwald, sondern in der technologischen Zivilisation, die zugleich auf maximale Ausbeute des (miserabel bezahlten) Arbeiter ruht. Er muss sein Leben riskieren für müde 50 Mark, während sein Boss (der Briefmarkensammler) noch nicht mal bereit ist, in ein neues und besseres Netz zu investieren („Wer nutzt denn das Netz jeden Tag ab? Sie oder ich?“). Auch ein latenter Faschismus durchzieht diese postapokalyptische (?) Gesellschaft. Unter den Briefmarken, die der Jäger jagt, tragen einige auch Hitlers Konterfei. Tagsüber, während sein Jäger im Urwald Leib und Leben riskiert, tötet der Boss weiße Ratten und türmt ihre Leichen zu monströsen Haufen. Soldaten bewachen jeden Schritt, und fast jeder Raum wirkt wie ein Gefängnis. DIE TOTEN FISCHE machen es dem Zuschauer dennoch nicht einfach. Der böse Boss wird von einer mysteriösen Frau mithilfe von Pfefferkörnern verführt. Schließlich verbrennt er bei lebendigem Leib, als sie ihren Rock hebt und er ihre Scham erblickt. Der Briefmarkenjäger jedoch, so bemitleidenswert er ist (er muss sich sogar Teile der Gesichtshaut wegreissen, an denen sich eine heimtückische, offenbar lebendige Briefmarke festgesaugt hat), wird dennoch zu einer zweifelhaften Figur: während die Verstümmelung der Leiche seines Bosses noch halb-verständlich ist, überschreitet er tatsächlich Grenzen, als er einen kleinen Jungen erwürgt (mit dem er zuvor in einer höchst unangenehmen, weil latent erotisch aufgeladenen Szene, das Bett geteilt hat).
Es ist glaube ich deutlich geworden: tonal kennen DIE TOTEN FISCHE keine Grenzen. Unangenehmes, das einem Schauer des Grauens über den Rücken jagt, wechselt sich ab mit urkomischen Szenen, die etwas von Monty Python haben. Etwa im allerersten Dialog des Films (ich schätze, nachdem schon ungefähr 25-30 Minuten Laufzeit vorbei sind), als sich der Briefmarkenjäger mit einem Ticketkontrolleur streitet, weil die U-Bahn-Gesellschaft nicht nur echte Tickets (aus Holz), sondern auch gefälschte Tickets (aus Pappe) verkauft – nur, um „ekelhafte Menschen“, die es wagen, „offizielle“ gefälschte Tickets zu nutzen, härter zu bestrafen. Hier weist DIE TOTEN FISCHE auch über alles hinaus, was man gemeinhin als „politische Reflektion“, „Gesellschaftskritik“ etc. bezeichnet. Sicher kann man Syneks Film mit David Lynchs kaputten Welten oder mit David Cronenbergs Bodyhorror vergleichen: es bleiben lediglich approximative Assoziationen für einen singulären Film.
23.00 Uhr, Metro-Kino, Eric-Pleskow-Saal
THE HITCH-HIKER
Ida Lupino
USA 1953
71 Minuten, 16mm
Roy und Gilbert wollen eine kleine Angeltour machen. Sie nehmen auf dem Weg einen Autostopper mit, der sich als der Serienkiller Emmett Myers entpuppt. Die beiden unglücklichen Touristen sollen Myers zu einem mexikanischen Hafen fahren, wo dieser sie dann zu töten beabsichtigt.
© Viennale |
THE HITCH-HIKER war genau der richtige Film für ein bisschen spätabendliches Mitternachtskino-Feeling, gleichwohl er für mich mit einer Prise Vertrautheit daherkam (ich kannte ihn bereits). Die sichtlich mehrfach gebrauchte 16mm-Kopie war vielleicht keine 35mm wert, schlug aber erwartungsgemäß dennoch jegliche youtube-Fassung.
Lupinos Film gilt als erster film noir, der von einer Frau inszeniert wurde, und es ist ein Film, den Paul Schrader wohl in die späte, „psychotisch-suizidale“ Phase des Stils einordnen würde. Thematisch und ästhetisch hat er eine gewisse Ähnlichkeit mit Ulmers DETOUR, auch aufgrund des niedrigen Budgets (der sich in vielen Szenen mit Rückprojektionen niederschlägt – was dem Film eine jenseitige, fast halluzinatorische Qualität verleiht). Er ist aber actionreicher. Immer wieder zeigt er, wie das entführte Auto durch eine gespenstische, karge, menschenverlassene Steppenlandschaft rast, was dem Film eine große Dynamik, Dringlichkeit und auch Bedrücktheit bringt. Eine besonders frappierende Szene: der Mörder zwingt Gilbert, Roy aus großer Distanz eine Bierdose mit einem Jagdgewehr aus der Hand zu schießen.
Edmond O‘Brien ist gewohnt gut und überzeugender als Frank Lovejoy. Fantastisch ist jedoch William Talman als Serienkiller, der ein gelähmtes Auge hat, das er nicht schließen kann (was besonders praktisch ist, um zu schlafen, ohne, dass seine Opfer wissen, ob er wirklich schläft). Mit seinen strengen Gesichtszügen, und vielleicht durch die Assoziation mit dem verletzten Auge, erinnerte er mich ein wenig an Nicholas Ray. Ein großartiger noir-Bösewicht in einem „nur“ soliden Beitrag zum Stil.
Freitag, 30. Oktober
ab 10.00 Uhr, Haydn-Kino
SPECTRE (Pressevorführung)
Sam Mendes
UK / USA 2015
148 Minuten, DCP
10.00 Uhr – im Foyer
Sony Pictures hat sich nicht lumpen lassen und gibt der versammelten Presse nicht nur den Kaffee an der Theke aus (was bei Pressevorführungen üblich ist), sondern auch ein großes Büffet mit köstlichem Fingerfood. Die Goodie-Tüte war auch nicht schlecht: nebst einem Omega-Bond-Spezialkatalog, mehreren Postkarten und der Soundtrack-CD gab es auch ein Fläschchen polnischen Vodka und einen Omega-Kugelschreiber (ich habe es noch nicht geschafft, ihn zum Explodieren zu bringen, aber vielleicht sind explodierende Kugelschreiber, wie in SKYFALL schon angedeutet, passé). Vor dem Eingang in den Saal gab es keine Handyabgabe-Prozedur, keine Körperabtastung und keine Metalldetektoruntersuchung, sondern lediglich noch Wasser und Saft in 0,5-l-Flaschen zum Mitnehmen. Eine Pressevorführung, die wahrlich gut beginnt!
11.30 Uhr – im Saal
James Bond macht sich auf die Suche nach dem Kopf der Verbrecherorganisation „Spectre“ und trifft dabei auf einige neue Gesichter und viele ungelöste Probleme aus seiner jüngeren Vergangenheit.
SPECTRE ist leider ein Film geworden für Leute, die eine Geschichte erst dann zu würdigen bereit sind, wenn sie bis in den hintersten Winkel und bis zum Erbrechen auserzählt worden ist. Oder: wo A QUANTUM OF SOLACE („Ein Quantum Toast“, wie nicht nur ich ihn gerne nenne) CASINO ROYALE noch unbedingt auserzählen musste, da fühlt sich SPECTRE jetzt gezwungen, unfertige (und meist nicht so interessante) Erzählstränge aus allen drei bisherigen Craig-Bonds noch zu verknüpfen und komplett „zu Ende“ zu erzählen.
Die gute Nachricht: SPECTRE ist ein unterhaltsamer Bond-Film geworden. Die einführende Plansequenz ist atemberaubend, viele Set-Pieces sind extrem atmosphärisch fotografiert. Die Action ist nicht so unübersichtlich wie in A QUANTUM OF SOLACE, aber dennoch weitaus schwächer als in den beiden „großen“ Craig-Bonds inszeniert. Der Film hat außerdem ganze drei Bond-Girls, die allerdings entweder sträflich vernachlässigt (Naomie Harris) und als PR-Gag verbraucht werden (Monica Bellucci) oder aber blass und völlig charismafrei (Léa Seydoux) sind. Christoph Waltz tritt mittlerweile in die Falle, dass er nur noch sich selbst spielt: als Christoph Waltz ist er nett zu sehen, als Bond-Bösewicht am Rande der „campiness“, die den Moore-Bond so oft um die Ohren geschlagen wird – bloß halt nicht so überzeugend.
Nach SKYFALL eine Enttäuschung, für Bond-Fans dennoch sehenswert! Mehr von mir dazu gibt es hier zu lesen.
ca. 14.00-15.00 Uhr
Exkurs
Wie zivilisierte Länder mit Filmen umgehen, oder: Ein Besuch im Wiener Saturn
Wie zivilisierte Länder mit Filmen umgehen, oder: Ein Besuch im Wiener Saturn
Österreich hat einen Teil seiner Medienindustrie auf der Tatsache gegründet, dass in Deutschland der dritte Satz von Art. 5 GG nicht ganz so eng ausgelegt wird, zugleich aber die meisten Zuschauer noch nichtmal mit ihrem Hintern einen Film in einer anderen Sprache ansehen würden als Deutsch. Das kann man verwerflich finden. Bewundernswert aus deutscher Perspektive ist dennoch der größere Respekt für Filme, den man im Herzen des ehemaligen k.u.k.-Zentrums findet. In der DVD-Abteilung des Saturns gibt es zum Beispiel keine FSK-18-Abteilung, die in Deutschland dazu dient, „unrespektable“ Filme auch räumlich so zu separieren, dass die normale Kundschaft damit nichts zu tun hat (gleichwohl verleugnend, dass kein Ort im Laden eine größere Konzentration geschnittener Filme hat!). Nein, es gibt eine Abteilung für „Klassiker“. Eine Abteilung für „Komödien“ (wer hat MAD MAX: ROAD FURY da eigentlich eingeordnet?). Es gibt auch ein „auteuristisches“ Regal, wo DVDs nach Regisseuren geordnet sind (z. B. Kaurismäki, oder Wenders). Und dann gibt es auch die ganz normale A-Z-Abteilung, wo auch Filme darunter zu finden sind, die in Deutschland indiziert oder vielleicht sogar beschlagnahmt sind – zumindest, solange sie keine Horrorfilme sind. Denn auch die haben eine eigene Abteilung. Und die ist für jemand, der an deutsche Filmkultur gewöhnt ist, ein Kulturschock! Natürlich gibt es diese etwas lieblosen Billigeditionen (ich habe mir mal Sergio Martinos TUTTI I COLORI DEL BUIO mitgenommen), aber etwa ein Drittel der DVDs waren wunderschöne Ausgaben: hochwertige Mediabooks, deren reiner Anblick schon ein Genuss ist (und sie in der Hand zu halten erst recht). Endlich einmal ein Ort in Österreich, wo „Schmutziges“ ganz offen und platzeinnehmend präsentiert wird.
16.00 Uhr, Filmmuseum
Vorfilm
TIER OHNE FEIND UND FURCHT
Michael Grzimek
Bundesrepublik Deutschland 1953
10 Minuten, 35mm
Als Verteidigung der Institution Zoo konzipiert, wo Tiere „ohne Feind und Furcht“ leben. Klingt als Diskussionsanregung ganz spannend, entpuppt sich dann aber doch als nur „nette“ Aneinanderreihung süßer Tiere in Zoo- oder Wohnungsumgebung.
A ZED AND TWO NAUGHTS
Peter Greenaway
UK / Niederlande 1985
115 Minuten, 35mm
Zwei Zwillingsbrüder, die in einem Zoo als Tierverhaltensforscher arbeiten, verlieren ihre jeweiligen Ehefrauen beim selben Autounfall. Die Fahrerin des Autos hat hingegen ein Bein verloren. Zusammen versuchen die drei Personen nun, den Verlust und die Trauer zu verarbeiten und entdecken dabei ihre Faszination für verfaulende Tierkadaver und die Nachstellung von Vermeer-Gemälden.
A ZED AND TWO NAUGHTS vereint alle Themen, die man mit Peter Greenaway assoziiert: die Verbindung von Sex, Gewalt, Tod und Essen, die Faszination mit der Malerei, die Poesie des Zerfalls, die Beschäftigung mit körperlichen Verstümmelungen, Deformationen und Modifikationen. Ein idealer Einstieg in die Filmwelt des Briten – oder vielleicht auch nicht?
Inwiefern die extrem unbequemen Sitze des Österreichischen Filmmuseums mir den Zugang zu einem Film erschwert haben oder nicht, werde ich mich im weiteren Verlauf der Viennale immer wieder fragen. Auch in einem bequemen Kinositz wäre A ZED AND TWO NAUGHTS keine einfache Kost. Fast zwei Stunden lang folgen wir eher einem Zustand als einer dramaturgischen Entwicklung, sehen Personen beim Diskutieren von Vermeer-Malerei, beim Erörtern der Genese von Zebrastreifen sowie zwischendurch immer wieder time-lapse-Videos verfaulender Tierkadaver. Mehr als bei THE COOK, THE THIEF, HIS WIFE & HER LOVER, THE PILLOW BOOK und 8 ½ WOMEN hinterlässt mich dieser Film ratlos – aber zugleich auch mit mehr bleibenden Eindrücken. Greenaway entpuppt sich mehr als in seinen anderen mir bekannten Filmen als „malerischer“ Regisseur, der oft eher Gemälde als photographische Bilder erschafft. Die Schönheit der Bilder (etwa eine lange Kamerafahrt durch den Raum, in dem die Boxen mit den faulenden Tierkadavern liegen – die eher wie ein bewegtes Gemälde als wie Film wirkte) steht in einem starken Gegensatz zur extremen Kälte von Greenaways Visionen. Seine Filme handeln nicht von Menschen, sondern von abstrakten, humanoiden Wesen, die zufällig eine gewisse Ähnlichkeit mit Menschen haben, aber ebenso gut exotische Tiere sein könnten. Das macht A ZED AND TWO NAUGHTS zu einer ambivalenten Herausforderung (mehr als die vielen Tabubrüche).
Hinzufügen würde ich, dass der Komponist Michael Nyman wahrscheinlich genauso gut als „auteur“ des Films bezeichnet werden kann wie Greenaway. Sein Soundtrack ist schlicht fantastisch. Ohne ihn würden die Bilder wohl nicht im Ansatz eine solche Wucht entfalten können. Man höre dieses wiederkehrende Thema und dieses kontrapunktisch eingesetzte Stück. (Achtung: letzterer Link enthält im zur Musik geschnittenen Video einige drastische Kostproben Greenaway‘schen Expressionismus‘; Spoiler, wenn man so will – besonders für Leser, die diesen Beitrag beim Frühstück lesen).
ab 20.00 Uhr, Filmmuseum
Vorfilm
GLIMPSES OF BIRD LIFE
Oliver Pike
UK 1910
7 Minuten, 35mm
Einige Vogelarten werden in einem kurzen (vielleicht aber auch unvollständig erhaltenen) Dokumentarfilm vorgestellt.
THE BIRDS
Alfred Hitchcock
USA 1963
120 Minuten, 35mm
Aggressive Vögel überfallen Bodega Bay.
© David Leuenberger |
In einem leider viel zu ausgedehnten Q & A, bei dem allerdings nur der Festivaldirektor am „Podium“ Fragen stellte, plauderte Tippi Hedren über ihren Weg zur Schauspielerei, über die Schwierigkeiten beim Dreh und teils auch über das Ende des Studiosystems in Hollywood. Sie blieb nicht zur Sichtung des Films, was auch gut so war, denn einer 85-jährigen Person solche Sitze zuzumuten...
Meine Beziehung zu THE BIRDS begann zunächst konflikthaft. Die Erstsichtung 2008 war zwar nicht besonders unerfreulich, blieb aber im Bereich des „was haben denn alle mit diesem Film“? Hans Schmids ausführlicher und wunderbarer Text zu Hitchcock, THE BIRDS und der Nutzung des Vogelmotivs in Hitchcock-Filmen hat mich zu einer großartigen Neusichtung und Neuentdeckung des Films im November letzten Jahres animiert. Die Drittsichtung im Filmmuseum war leider wieder etwas weniger befriedigend. Waren es wieder die lästigen Sitze? Oder sind Hitchcock-Filme generell von der Tagesform abhängig? Genossen habe ich auf jeden Fall die wunderschöne und kristalline 35mm-Kopie, die wahrhaftig beweist, dass das Format 35mm nur ökonomisch, aber nicht ästhetisch passé ist!
Noch Kneipe mit meinem Festivalgefährten luzifus, seinem Gastgeber und dessen Freunde. Unter diesen befindet sich unter anderem Gerald Jindra, einer der beiden Regisseure des Dokumentarfilms CARL ANDERSENS UNDERGROUND DER LIEBE über den österreichischen Regisseur Carl Andersen, der einige Tage vor dem eigentlichen Beginn der Viennale in der Schiene „Austrian Pulp“ lief.
Interessant, dass auch in den schäbigsten Lokalen (wobei ich in diesem Fall eine sympathische Schäbigkeit meine) das Bier mindestens 3,80 Euro kostet. Als die Sperrstunde des Lokals um 2.00 Uhr erfolgt, sind luzifus und ich an unserem Tisch bereits allein. Wir ziehen in das Lokal auf der anderen Straßenseite. Gemütliche Schäbigkeit, 3,80-Euro-Bier, aufgedrehte Heizung. Wir bleiben bis etwa 3.30 Uhr...
Samstag, 31. Oktober
Ich spaziere mit meinem Gastgeber ein wenig durch den Park und entdecke dabei, passend zur Tier-Retrospektive, den sogenannten Vogeltränkebrunnen zur Ehre der Pinguine. Wir sacken luzifus ein, der bereits einen Film geschaut hat (in den wegen „Ausreservierung“ ich nicht reingekommen bin) und besuchen dann das Schwarzenberg-Café. Der Ober fragt, ob der Kaffee „mit Schlag“ serviert werden soll. Ich habe einen Augenblick darüber nachgedacht „Nein danke, ich stehe nicht auf S & M“ zu antworten, beließ es aber beim ersten Teil. Österreichischer Kaffee schmeckt nämlich auch ohne Schlagsahne hervorragend.
13.30 Uhr, Stadtkino im Künstlerhaus
THE DEVIL‘S CANDY
Sean Byrne
USA 2015
90 MInuten, DCP
Ein christlicher Fundamentalist, der in seinem Kopf die Stimme Satans hört, bringt seine Mutter um. Das Haus, in dem er wohnt, wird später von einer kleinen Familie übernommen: Vater Maler, Tochter Schülerin, Ehefrau irgendein ernsthafter Bürojob, erstere beide große Heavy-Metal-Fans. Das Haus ist verflucht, und der Maler beginnt ebenfalls, in seinem Kopf Stimmen zu hören und furchterregende Visionen zu erblicken. Und bald steht der mordende christliche Fundi wieder vor der Tür.
„Solide Genre-Kost“ ist eigentlich ein furchtbarer Begriff, weil er ein „vergiftetes“ Kompliment ist und zugleich nur sehr unscharf definiert. Aber für THE DEVIL‘S CANDY scheint er geradezu erfunden worden zu sein. Handwerklich ist er gut gemacht, die Darsteller sind überzeugend, das Drehbuch gab es anderswo schon schlechter – aber so richtig ist der Funke bei mir nicht übergesprungen (im Gegensatz zu meinem Reisekollegen luzifus). Angenehm ist ihm sicher anzurechnen, dass Byrne tatsächlich nichts weiter als einen kleinen Schocker in Aussicht hatte, und als solcher ist THE DEVIL‘S CANDY ganz effizient (als „Des Teufels Leckereien“ bezeichnet der Mörder übrigens die Kinder und Teenager, die er angeblich im Auftrag Satans ermordet). Negativ ist mir die Holzhammer-Inszenierung aufgefallen, bei der jeglicher spannender Moment mit einem lauten Knall unterstrichen wird (und das nicht zwei oder drei, sondern eher 20 bis 30 Mal): Dröhnen, bis die Ohren platzen, damit auch der taubeste Zuschauer begreift, dass etwas Gruseliges passiert. „Scare Thunder“ zum Prinzip erhoben. Ein netter kleiner DTV-Schocker, aber in Sachen „religiöse Fundis machen gruselige Sachen“ hat Ti Wests THE SACRAMENT wesentlich mehr Wiedersichtungspotential.
16.00 Uhr, Filmmuseum
Vorfilm
THE PRIVATE LIFE OF A CAT
Alexander Hammid, Maya Deren
USA 1945
29 Minuten, 35mm
Eine Texttafel zu Beginn von THE PRIVATE LIFE OF A CAT ließ zunächst ein verstecktes pazifistisches Manifest vermuten: da war davon die Rede, dass dieser Film den Katzen gewidmet sei, einer Art, die im Gegensatz zum Menschen friedlich sei.
Der Titel hielt dennoch, was er versprach: eine Dokumentarfilm über das Leben einer Hauskatze, die durch die Wohnung wandert, einen schönen Kater kennenlernt, kleine Kätzchen gebärt und sie dann großzieht. Am interessantesten waren die Versuche, den Point-Of-View der Katze mit der Kamera nachzuahmen. Einige sehr, sehr, sehr (sehr, sehr, sehr) ausgedehnte Tableaus, in denen die Mutterkatze ihre Jungen sauber leckt, haben allerdings den Geduldsfaden auf die Probe gestellt. „Das soll ein Film sein?“ fragte einer der jüngeren Zuschauer, der offenbar für BAMBI mitgenommen worden ist. Ja, auch das ist ein Film. Und vielleicht ein Vorläufer beliebter youtube-Katzenvideos?
BAMBI
David Hand et al.
USA 1942
70 Minuten, 35mm
Die Coming-Of-Age-Geschichte eines Rehs.
Gesehen in einer etwas fragwürdigen „2015er-Viennale-Fassung“. BAMBI wurde 1942 wie die meisten Filme seiner Zeit in 1.33:1 gedreht. In den 1970er Jahren wurde er bei der Wiederaufführung an das Widescreenzeitalter angepasst und in neuen Kopien oben wie auch unten maskiert, zu 1.66:1, oder 1.78:1 oder 1.85:1, wobei natürlich Bildinformationen verloren gingen, deren Verlust beim Dreh nicht wirklich eingeplant war. Im Filmmuseum wurde eine solche Widescreenkopie gezeigt. Damit die Zuschauer aber den Film im „Originalformat“ sehen können, wurden wiederum die Ränder so weit maskiert, bis der gezeigte Film wieder ein Format von 1.33:1 hatte – der mit dem tatsächlichen Originalformat nicht mehr wirklich viel zu tun hatte und mit, oh Wunder, noch mehr Bildverlust.
Das ist filmeditorisch sehr bedauerlich. Überaus deutlich wurde dabei dennoch, wie unglaublich zentriert BAMBI in der Bildkomposition arbeitet, da der Film auch in dieser „2015er-Viennale-Fassung“ halbwegs gut zu verfolgen war (auch wenn in manchen Szenen doch deutlich zu spüren war, dass da etwas abgeschnitten wurde).
Zu BAMBI selbst mag ich nicht so viel sagen. Als Kind mochte ich andere Disney-Filme (LADY AND THE TRAMP, THE JUNGLE BOOK, THE ARISTOCATS) lieber, und das ist auch so geblieben. Meine Bewunderung ist tatsächlich eher intellektuell als emotional und gilt zuvorderst den wunderbar gezeichneten Bildern, die teilweise auf beeindruckende Weise die Tiefenunschärfe einer fotografischen Kamera nachahmen, der wunderbaren Verbindung von Bild und Musik, die BAMBI (wie die meisten Disney-Filme) zu einem verkappten Musical macht und der erzählerischen Ökonomie (wie etwa der Tod der Mutter nur mit suggestiven Worten und dem bedrückenden Schneefall verdeutlicht wird).
Ambivalent faszinierend fand ich, wie das Stinktier Flower homosexuell „kodiert“ wird. Der sogenannte „Bambi-Effekt“ (im gängigen Sprachgebrauch grob gesagt der Widerspruch gegen die Tötung süßer Tiere) bezeichnet im LGBT-Slang das Experimentieren Homosexueller mit Heterosexualität und geht dabei von einer homoerotischen Verbindung zwischen Bambi und Thumper aus, die aufgelöst wird, als beide sich heterosexuell verlieben – obwohl eigentlich gerade Flower sich zu einer „Vernunftsehe“ entscheidet (in einer Zeit großer Homophobie ein sicherlich extrem unangenehmer, aber wohl angesichts der Umstände leider vernünftiger Schritt). Insofern sollte man doch eigentlich eher vom „Flower-Effekt“ reden, zumal Bambi selbst, soweit ich mich erinnere, fast gänzlich asexuell dargestellt wird. Im Gegensatz zu Thumper, der sich von seiner Liebsten an seinem langen Ohr streicheln lässt und dabei Thumper-mäßig erregt mit seiner Pfote klopft.
18.30 Uhr, Filmmuseum
BABE: PIG IN THE CITY
George Miller
Australien 1998
96 Minuten, 35mm
Babe hat zwar eben einen Schäferhundwettbewerb gewonnen, doch durch seine Schuld hat sein Herr auch einen schweren Unfall erlitten. Dann stehen auch plötzlich Bankiers vor der Tür. Da heißt es Aufbrechen, um in der Stadt bei weiteren Wettbewerben Geld zu sammeln. Dort landet Babe mit seiner Herrin in einem Hotel voller Tiere, die im Vaudeville-Geschäft tätig sind – und lernt obdachlose Vierbeiner, brutale Polizisten, gruselige Tierärzte und skrupellose Köche kennen.
© Viennale |
Sowohl mein werter Gastgeber wie auch mein Reisekollege luzifus machten sich mehr oder weniger milde über mich lustig, weil ich SCHWEINCHEN BABE 2 gucken wollte. Für mich handelte es sich um einen meiner meisterwarteten Filme der Viennale. MAD MAX: FURY ROAD offenbarte mir George Miller, von dem ich bislang nur THE WITCHES OF EASTWICK kannte, und den ich nun nach und nach mit vier weiteren Filmen (den ersten drei MAD-MAX-Beiträgen sowie LORENZO‘S OIL) als einen neuen Anwärter für meinen persönlichen Pantheon der Lieblingsregisseure entdeckt habe.
Erneut erlebte ich das, was ich als meinen persönlichen „Miller-Effekt“ bezeichnen würde: ich hatte in der ersten halben Stunde einige Mühe, in den Film hineinzufinden – nur, um danach umso stärker gepackt zu werden. Woher diese Mühe in der ersten halben Stunde kommt, wird mir wohl erst einmal schleierhaft bleiben, zumal er bei Zweitsichtungen (so bei MAD MAX 2 und 4 erlebt) verpufft. Ist es das hohe Maß an Abstraktion, das solche Sachen wie Exposition, klassische Figureneinführung, säuberliche Plotentwicklung etc. schlicht verweigert? Also sozusagen weil jeder Miller-Film einfach „mittendrin“ anfängt?
BABE: PIG IN THE CITY ist nicht nur ein toller Kinderfilm, sondern auch eine (trotz animalischer Protagonisten) humanistische Erzählung über soziale Außenseiter und über multiple Formen sozialer Ausgrenzung – und wie diese zumindest teils überwunden werden können. Der Gegensatz zwischen Land und Stadt ist am deutlichsten, geht es doch um ein Landschwein in der großen Stadt. Doch Miller betreibt keine rückwärtsgewandte Landromantik, sondern zersplittert auch die Stadt als Ort vielseitiger ausgrenzender Differenzierung. Die Bewohner der City stehen hier gegen Suburbiabewohner. Die tierischen Bewohner des Hotels stemmen sich zunächst gegen die obdachlosen Tiere, die Asyl suchen (und wehren sie mit einer „Das Boot ist voll“-Rhetorik ab). Im Hotel selbst können wiederum Affen die Katzen nicht leiden, diese die Hunde nicht und umgekehrt, während die Tiere wiederum als geschlossene Front gegen Polizisten, experimentelle Tierärzte und Köche stehen. In diese komplexe Konfliktsituation kommt dann Babe rein, der, man sei erinnert, nicht nur ein naives „Landei“ ist, sondern auch ein traumatisierter Charakter, der durch ein Missgeschick fast seinen Boss getötet hat. Doch dieses kleine Schweinchen löst etwas aus, was man wohl als eine Utopie der großen Vergebung und Versöhnung bezeichnen könnte.
Vergebung und Versöhnung sind große wiederkehrende Themen bei George Miller. Babe wird kurz nach seiner Ankunft in der Stadt von den Vaudeville-Affen in eine Falle gelockt, die dazu führt, dass er von einem brutalen Bull Terrier verfolgt wird. Der Bull Terrier, der eine abgerissene Kette hinter sich führt, stolpert dann irgendwann auf einer Brücke, hängt an der Kette kopfüber in einer solcher Weise in den Fluss, dass er bald ertrinken wird. Alle Tiere, die die Verfolgungsjagd beobachtet haben, nehmen das zur Kenntnis und wenden sich gelangweilt ab (ein unfassbar brutaler und schockierender Moment, der es wie durch ein Wunder in die bereits „bereinigte“ Fassung von BABE: PIG IN THE CITY geschafft hat – Millers Urfassung war wohl insgesamt noch brutaler und düsterer und musste auf Druck von Universal nach einer Testvorführung umgeschnitten werden). Alle Tiere wenden sich also ab, nur Babe springt ins Wasser, um den Hund zu retten, indem er ein Boot unter ihn schiebt. Der Bull Terrier unterwirft sich nach der Rettung Babe, bietet ihm sogar sein Halsband an und – die Unterwerfung bleibt so dennoch ambivalent – ernennt sich eigenmächtig zu Babes Sprecher (ein exzentrisches Sprachrohr sah man schon in MAD MAX 2). Babes Akt der Vergebung bleibt dabei implizit: er spricht sie nicht aus, er rettet den Hund einfach nur, und behandelt ihn dann auf natürliche Weise als ebenbürtig. So implizit ist die Vergebung auch in MAD MAX: FURY ROAD, wo der War Boy Nux dann einfach vom Feind des Teams Furiosa-Max-Wives zu dessen Bestandteil wird. Auf die Parallele zwischen BABE: PIG IN THE CITY und MAD MAX: FURY ROAD hat übrigens Outlaw Vern in einem seiner etwa halben Dutzend Reviews des vierten Abenteuers Max Rockatanskys hingewiesen. Auch THE WITCHES OF EASTWICK endet mit einem Akt der Vergebung, als die „Hexen“ Daryl verziehen, ihm eine Kommunikation über Videokonferenz zugestehen (gleichwohl sie ihn an der Reissleine halten). Vergebung ist in LORENZO‘S OIL geradezu ein überordnendes Prinzip: ein Film, der keine der Konfliktparteien als richtig oder falsch beurteilt, sondern deren Handeln als logische Folge eines jeden Einzelfalls akzeptiert.
Im Grunde ist BABE: PIG IN THE CITY auch die Suche der Titelfigur nach der Vergebung seines Herrn. Eine Suche, die eigentlich sinnlos war, da sein Herr ihm niemals etwas vorgeworfen hat – und doch einen Sinn hatte, weil Babe nicht die Welt rettet, aber doch eine erweiterte Gemeinschaft von Tieren zusammenschweißt.
Was Miller nicht löst ist das Problem der individuellen Entfremdung, die auch einen Kern der MAD-MAX-Filme ab dem zweiten Teil ausmacht. Der weise, alte Affe Thelonious ist gewissermaßen der Max Rockatansky von BABE: PIG IN THE CITY: eine einsame, eigenbrötlerische Figur, die die meiste Zeit eine passive Beobachterrolle einnimmt. Gerade, weil sie von ihren Artgenossen entfremdet ist. So fühlt sich Thelonious kulturell eher zum Habitus der Menschen hingezogen. Das mündet in einen der wunderbarsten Momente des Films: die Tiergruppe, die gefangen ist, wurde eben von Babe befreit und macht sich auf, zu fliehen, doch Thelonious lässt alle warten, weil für ihn ein Leben draußen in Freiheit keinen Wert hat, wenn er dabei nicht fein angezogen ist. So zieht er seelenruhig sein Hemd und Jackett an...
P.S.: der Gipfel von Millers utopisch-humanistischer Vision ist vielleicht die Art, wie er einen gehbehinderten Hund als Figur behandelt. Es ist ein Hund mit zwei gelähmten Hinterbeinen, die er an einer Konstruktion mit Rädern hinter sich herzieht. Der Film thematisiert und problematisiert das allerdings nicht. Er liefert keine Erklärung für die Lähmung, er psychologisiert die Figur auch nicht aufgrund ihrer Behinderung. Dieser Hund ist einfach da und eine vollwertige Figur wie jede andere. Es ist mir erst im Nachhinein aufgefallen, wie verhältnismäßig außergewöhnlich das ist und wie sehr Miller von logisch und emotional intelligenten Zuschauern ausgeht.
P.P.S.: BABE: PIG IN THE CITY war der Viennale-Film mit der charmantesten Zuschauer-Störung. Ein junges Mädchen, vielleicht 8 bis 10 Jahre alt, saß hinter mir mit ihren Großeltern. Da der Film im englischen Originalton ohne Untertitel gezeigt wurde, stellte sie ihren Begleitern immer wieder Verständnisfragen. Manchmal wußte die Oma mangels erweiterter Englischkenntisse keine Antwort. Es kann sein, dass sie manchmal auch nicht wußte, wie sie ihrer Enkelin so kurzfristig die Zusammenhänge erklären sollte, die ganz deutlich nur für „erwachsene“ Zuschauer lesbar sein sollten (etwa den hyperaktiven, offensichtlich zugekoksten Drogenfahnderhund, der Babe bei Ankunft am Flughafen entdeckt).
P.P.S.: BABE: PIG IN THE CITY war der Viennale-Film mit der charmantesten Zuschauer-Störung. Ein junges Mädchen, vielleicht 8 bis 10 Jahre alt, saß hinter mir mit ihren Großeltern. Da der Film im englischen Originalton ohne Untertitel gezeigt wurde, stellte sie ihren Begleitern immer wieder Verständnisfragen. Manchmal wußte die Oma mangels erweiterter Englischkenntisse keine Antwort. Es kann sein, dass sie manchmal auch nicht wußte, wie sie ihrer Enkelin so kurzfristig die Zusammenhänge erklären sollte, die ganz deutlich nur für „erwachsene“ Zuschauer lesbar sein sollten (etwa den hyperaktiven, offensichtlich zugekoksten Drogenfahnderhund, der Babe bei Ankunft am Flughafen entdeckt).
Was zum Teufel? Ich laufe durch die Straßen Wiens und überall sind Menschen unterwegs, die aussehen, als wären sie geflohene Statisten aus der Eingangsszene von SPECTRE (die während des mexikanischen Karnevalsumzug zum „Tag der Toten“ spielt): mit Totenkopfmotiven geschminkt, teils mit Kunstblut verschmiert. Ach ja, es ist Halloween. Zum Glück werde ich die „heiße“ Phase dieses Fests im Kino bei einem Dreistundenepos verbringen. Aber zuerst...
20.30 Uhr, Metro-Kino, Eric-Pleskow-Saal
TO AGORI TROEI TO FAGITO TOU POULIOU (Boy Eating Bird‘s Food)
Ektoras Lygizos
Griechenland 2012
80 Minuten, DCP
Yorgos lebt alleine in einer Wohnung und muss mangels Geld hungern. Futter für seinen Vogel gehört immer zu den dringendsten Prioritäten. Seine Sparmaßnahmen werden immer extremer, bis er schließlich auf der Straße landet.
Obwohl ich dialogfreie Filme sehr schätze (und Lygizos Film ist über weite Strecken dialogfrei), hat TO AGORI TROEI TO FAGITO TOU POULIOU keine bleibenden Eindrücke hinterlassen. Aufgrund der Ankündigung (sinngemäß eine „Übertragung von Knut Hamsuns Hunger in die griechische Ära der Sparpolitik“) hätte ich mehr erwartet. Der Film ist mit seinen Handkamerabildern immer extrem nah an Hauptdarsteller Yannis Papadopoulos und bleibt doch der Figur fern. Das liegt vielleicht daran, dass Papadopoulos eher solide als wirklich inspiriert spielt, aber vielleicht auch daran, dass Lygizos für etwas, was man wohl auch als „innere Reise“ bezeichnen könnte, nur „äußerliche Bilder“ findet.
23.00 Uhr, Gartenbaukino
XIA NU (A Touch Of Zen)
Hu King
Taiwan 1971
180 Minuten, DCP
Ein Dorfschreiber, seine Mutter, ein abweisender Fremder, eine mysteriöse Schönheit und noch ein paar andere Personen machen... ähm... Sachen... unter anderem kämpfen oder durch die Gegend laufen.
Viennale-Spätvorstellungen mit asiatischen Filmen werde ich in Zukunft meiden (siehe meine Ausführungen zu CHE SAU / MOTORWAY zur Viennale 2012)! Besonders, wenn sie im Gartenbaukino (ergo: im Rückenbrechkino) stattfinden. XIA NU eröffnet mit einer langen Montage aus Naturimpressionen und in gewisser Weise besteht der ganze Film aus Sachen, die lang sind. Die Bilder mögen zwischenzeitlich von ausgesuchter Schönheit sein, meisterlich komponiert in eleganten Kamerabewegungen, aber die meiste Zeit scheint der Film Zeit zu schinden, und das gnadenlos! Eine Szene, in der der Dorfschreiber geheimnisvolle Geräusche im heimischen Garten hört und diesen auf die Spur geht, wird bis zum Erbrechen in die Länge gezogen – ganz nach dem Motto „was drei Stunden dauert muss wichtig sein“ (die Strategie, mit Hilfe von Überlängen Größe vorzutäuschen ist also kein ausschließliches Problem des heutigen Blockbuster-Kinos). So ist es nicht wunderlich, dass ich mit dem Schlaf kämpfte und das Duell irgendwann verlor... Als ich wieder aufwachte, befanden wir uns im zweiten Teil des Films (nach meiner Uhr waren etwa 110 Minuten durch), und die Figuren waren auf Wanderschaft. Die Bilder zogen irgendwie gleichgültig an mir vorbei. Vielleicht bin ich zwischendurch wieder eingenickt. Irgendwann habe ich gelangweilt ein zweites Bier aufgemacht. Die Dose war vor dem Film zu Ende...
Gezeigt wurde übrigens eine frisch restaurierte Fassung. Die Restaurierung wurde komplett von der Hauptdarstellerin Hsu Feng finanziert, die nach Beendigung ihrer Schauspielkarriere 1981 offenbar eine erfolgreiche Produzentin wurde. Doch, oh weh!, was bringt die schönste Restaurierungsarbeit, wenn das ganze doch zu einem Pixel-Mischmasch wird: die DCP-Kopie machte die Bilder über weite Strecken leblos und tot, in den dunklen Nachtszenen wirkte das Schwarz trüb-gräulich und immer wieder gab es zwischendurch Pixel-Tornados.
Es ist kalt draußen. Ich habe den Film nicht nur mit luzifus, sondern auch mit dessen Gastgeber und meinem Gastgeber geschaut. Es kommt heraus: alle sind zwischendurch eingeschlafen. Zusammengenommen haben wir vier also vielleicht den Film komplett gesehen. Statt eine mühsame Rekonstruktionsarbeit vorzunehmen, gehen wir in einen Irish Pub, wo eine tschechische Kellnerin uns auf Englisch bedient und österreichisches Bier bringt. Die anderen Gäste tragen größtenteils Halloween-Kostüme und -Schminke. Ein schwer betrunkener Gast belästigt uns drei Mal. Im kneipen-eigenen Fernseher flimmert NIGHTMARE ON ELM STREET 4 tonlos vor sich hin...
Sonntag, 1. November
Ich befinde mich in einer Stadt, die sich als Metropole bezeichnet, aber es ist die Hölle, an diesem Feiertag eine offene Bäckerei zu finden. Selbst Sonntagsbäckereien, deren Inhaber höchstwahrscheinlich nicht christlich sind, sind geschlossen. Offen sind nur noch after-hours-Schuppen, aus denen müde, Halloween-geschminkte Gesichter schauen. Ich finde doch eine Imbissbude, an der ich einen Börek mit „Faschiertem“ erwerben kann (ja, Rinderhackfleisch, nicht zerhäckselter Nazi).
11.00 Uhr, Stadtkino im Künstlerhaus
FRANCOFONIA
Aleksandr Sokurov
Frankreich / Deutschland 2015
87 Minuten, DCP
Die deutsche Besatzung Frankreichs ist zugleich der Beginn einer merkwürdigen Freundschaft zwischen Jacques Jaujard, Direktor des Louvre, und Franz Wolff-Metternich, Leiter der Kunstschutzabteilung in Paris. Und eine gute Gelegenheit, um über Kunst im Allgemeinen, das Leben... und Napoleon nachzudenken.
Mit seiner Thematik hätte FRANCOFONIA sehr gut eine Art RUSSKIJ KOVČEG 2 werden können, und so eine anderthalbstündige Plansequenz wäre heute sogar etwas leichter zu realisieren als 2002. Aber Aleksandr Sokurov ist natürlich ein zu origineller Regisseur, um einfach RUSSKIJ KOVČEG 2 zu drehen – leider, möchte ich gerne sagen.
In seinen besten, aber nur seltenen Momenten hat FRANCOFONIA die Dichte eines echten Filmessays. In seinen weniger guten Momenten wirkt er wie eine dieser gediegenen, mäßig informativen Historiendokus auf arte. In seinen Untiefen glaubt man sich in eines dieser unsäglichen Dokudramen zu finden, wo Aufklärungspädagogik mit Re-Enactment verbunden wird, damit Hinz und Kunz taxi-mäßig schön da „abgeholt“ werden, wo „sie stehen“. Und an manchen Stellen hätte FRANCOFONIA ebenso gut eine Folge von Galileo Mystery sein können. Ich mochte Sokurovs ELEGIJA DOROGI („Elegy Of A Voyage“) bereits nicht, weil schon da der Russe zu einer Mischung aus Bauchnabelschau und dröhnend vorgetragenen Plattitüden neigte. FRANCOFONIA ist schlimmer. In der Rahmenhandlung zeigt sich Sokurov selbst als Mann, der aus der Ferne, per Skype, mit einem Containerschiff kommuniziert, der in einem Sturm Container voller Kunstwerke nach Frankreich (?) transportieren soll. Die Pausen nutzt er dann, um über den Rest zu sprechen, Hitler in Archivbildern mit nachgesprochenen Komplimenten über französische Alleen zu zeigen, im Erklärbarmodus die Geschichte des Louvres zu erzählen und einen grotesken Napoleon-Nachahmer und eine etwas hilflos reinschauende Marianne durch den Louvre zu hetzen... Sokurov im Filmessay-Modus und ich werden definitiv keine Freunde!
13.00 Uhr, Gartenbaukino
THE END OF THE TOUR
James Ponsoldt
USA 2015
106 Minuten, DCP
David Lipsky, Schriftsteller und Reporter beim Rolling Stone, interviewt mehrere Tage lang David Foster Wallace, Autor des epischen und vieldiskutierten Romans „Infinite Jest“ und begleitet ihn auch auf Lesetour.
© Viennale |
Die Grundkonstellation lässt eigentlich einen Film im schlimmsten Indiewood-Modus erwarten. Gesehen habe ich schlussendlich den besten aktuellen Film der Viennale. Ein wunderbares Portrait zweier Getriebener, Suchender, Besessener. Lipsky, der Reporter im Rolling-Stone-Auftrag, der möglichst einige pikante Geschichten über Wallaces angebliche Heroinsucht herausgraben soll, dabei aber eigentlich nur Wallaces Kumpel sein möchte. Der den Autor von „Infinite Jest“ zugleich als literarischen Konkurrenten und als potentiellen Mentor sieht. Wallace, der seine Literatur im öffentlichen Diskurs von seiner Person trennen möchte und einsehen muss, dass das gar nicht so einfach ist. Ein extrem offenherziger, kumpelhafter Typ. Ein furchterregend normaler Depressiver. Ein rasender Eifersüchtiger, wenn es um Ex-Angebetete geht. Ein fürchterlich einsamer Mensch.
THE END OF THE TOUR ist ein extrem dialogreicher Film, der von vielen gewitzten Pointen lebt, von kleinen Gedanken und Momenten. Was den Film im Kern zusammenhält, ist das wunderbare Spiel der beiden Hauptdarsteller Jesse Eisenberg und Jason Segel. Für sich genommen sind sie schon großartig, aber die wirkliche Magie entsteht aus der Chemie zwischen den beiden. Die Verbindung Segel-Eisenberg bildet die Seele des Films. Immer wieder kann man sich in den langen Dialogen komplett verlieren.
So ist es etwas schade, dass der Film dann doch noch so etwas wie einen Konflikt einführen und zuspitzen muss und sich gezwungen sieht, eine gewisse Richtung einzunehmen. Ein nur kleiner Wermutstropfen bei einem solch tollen Schauspielerkino.
Übrigens zeigte die Projektion, dass DCP nicht nur eine Sackgasse sein muss. Der Film wurde auf 35mm gedreht, und die Projektion brachte tatsächlich die Körperlichkeit und Lebendigkeit des Materials adäquat rüber. Rücken, Nacken, Knie und Beine taten mir nach dem Film aber trotzdem weh.
15.30 Uhr, Urania-Kino
Oh! Es gibt also doch Kinos in Wien, deren Sitze über Rückenlehnen verfügen UND Beinfreiheit bieten! Na zugegeben, das gab es auch im Haydn-Kino. Potential und Hoffnung sind also vorhanden...
RESULTS
Andrew Bujalski
USA 2015
104 Minuten, DCP
Multimillionär Danny ist gerade an einen neuen Ort gezogen und langweilt sich. Warum nicht trainieren? Etwa mit Kat, die im Fitness-Studio „Power 4 Life“ arbeitet. Die allerdings eine schwierige Beziehung mit ihrem Chef und Ex-Liebhaber Trevor hat...
Andrew Bujalski gilt als „Godfather of Mumblecore“. Was auch „mumblecore“ auch sein soll: RESULTS ist auf jeden Fall so etwas wie Bujalskis Durchbruch zum Mainstream. Allerdings wirkt der Film schlussendlich ein bisschen wie „Woody Allen goes to Austin, Texas“ und zwar in schlechter Tagesform und ohne Windsor-Schrift in den Credits. Für eine romantische Komödie hat der Film kein romantisches oder humorvolles Herz. Als Dekonstruktion der romantischen Komödie (als die er teils gefeiert wird) ist er wie auch als Satire über Selbstoptimierungswahn zu handzahm. Für Schauspielerkino enthält er außer dem tollen Kevin Corrigan als stets schwitzenden, rotgesichtigen und oft kiffenden und fressenden Danny nicht wirklich Schauspieler (als besten Nebendarsteller würde ich die rote Edelstahltrinkflasche wählen, die Guy Pearce immer mit sich trägt). Und für einen potentiell fluffigen Wohlfühlfilm ist er 20 Minuten zu langatmig – mindestens.
18.30 Uhr, Filmmuseum
KOIYA KOI NASUNA KOI (The Mad Fox)
Uchida Tomu
Japan 1962
109 Minuten, 35mm
Im Zuge einer Intrige am Hof verliert ein junger Mann nicht nur seine Geliebte, sondern auch seinen Verstand und lebt fortan in einer parallelen Fantasiewelt. Die Begegnung mit der Zwillingsschwester seiner Geliebten macht ihn wieder glücklich. Die Enkelin einer als Mensch getarnten Füchsin verliebt sich in ihn und nimmt die Gestalt der Zwillingsschwester der Geliebten an. Der Verrückte und die Füchsin ziehen zusammen in den Wald und gründen eine Familie...
Meine Kenntnisse des japanischen Kinos sind leider zu lückenhaft, aber ich vermute trotzdem, dass KOIYA KOI NASUNA KOI auch in diesem Kontext ein singulärer Film ist: Theater- und reine Fantasie-Dekore, theatralische Narration, Musical-Elemente, animierte Sequenzen erzählen eine Geschichte vom Wahnsinn und von der Liebe zwischen einem Menschen und einer Füchsin.
Wenn die Exposition etwas konventionell wirkt, abgesehen vom sehr expressiven Spiel der Darsteller, so kippt das ganze mit dem Wahnsinn der Hauptfigur, die plötzlich in einem Meer aus gelben Blumen und Schmetterlingen vor gelbem Horizont aufwacht und dann die nächsten zehn Minuten vor diesem stilisierten Dekor die Handlung nur mittels Ausdruckstanz vorantreibt, begleitet von einem expressiv gesungenen Off-Kommentar.
Die Füchse selbst sind erkennbar an ihren weißen Holzmasken, die sie bisweilen ablegen, wenn sie die Form von Menschen annehmen. Die Familienidylle zwischen dem Wahnsinnigen und der Füchsin spielt schließlich auf einer Bühne mit Pappmaché-Aufstellern, die rudimentär ein Haus und einen umliegenden Wald andeuten. Auch hier folgt eine lange Sequenz mit Off-Gesang und expressivem Tanz.
Die Füchsin verabschiedet sich schließlich wieder in den Wald. Bevor sie das tut, sperrt sie sich im Wohnzimmer ein. Durch die transluzente Papierabschirmung schreibt sie in einer stummen Szene ihrem „Ehemann“ eine Liebeserklärung in Schwarz mit Pinsel – mein wohl poetischster Filmmoment der ganzen Viennale. Mit einem Knall verabschiedet sie sich dann: die Bühne explodiert, fällt in sich zusammen und der junge Mann verwandelt sich offenbar in einen Stein...
Eine lohnende, wenngleich sehr harte Herausforderung von einem Film (leider haben weder die Filmmuseumssitze noch die Sitznachbarin, die alle zwanzig Sekunden dämlich gekichert hat, wirklich geholfen).
21.00 Uhr, Metro-Kino, Historischer Saal
NOT WANTED aka THE WRONG RUT
Ida Lupino, Elmer Clifton
USA 1949
91 Minuten, Digi-Beta
Die junge Sally ist eher schüchtern und naiv, lässt sich aber trotzdem auf eine Affäre mit dem Barpianisten Steve ein. Als dieser in eine andere Stadt, folgt sie ihm ohne groß nachzudenken (zumal sie eh ständig in Konflikt mit ihren Eltern steht). Im Bus dorthin trifft sie Drew, der ihr eine Wohnung besorgt. Nachdem Steve sich definitiv in Richtung Südamerika verabschiedet, wendet sich Sally mit ihrer Liebe an Drew. Doch dann kommt ein Schwächeanfall und die Nachricht: sie ist schwanger. Panisch flieht sie in ein Heim für unverheiratete Mütter und gibt dort ihr Kind weg...
© Viennale |
Ida Lupinos Regiekarriere begann mit Elmer Cliftons Herzinfarkt. Für NOT WANTED agierte sie eigentlich als Autorin und Produzentin, doch als Regisseur Clifton besagten Herzinfarkt erlitt, wurde Lupino, die sich als Schauspielerin schon einen Namen gemacht hatte, mit der Regie beauftragt. Sie verzichtete allerdings von sich aus auf einen Credit dafür.
Herausgekommen ist ein außergewöhnlicher Film: mit absolut sicherer, meisterlicher Hand inszeniert – keine Spur von Regiedebütantin. Völlig unaufgeregt in der Art, wie er ein de-facto-Tabuthema behandelt, trotzdem höchst emotional im Umgang mit seinen Figuren. Auf maximalen emotionalen Effekt und trotzdem ohne Sensationsgier inszeniert. Anklagend gegenüber einer repressiven Gesellschaft, dabei aber auch verständnisvoll für alle Menschen, die ihr entspringen. Ein „Problemfilm“, der mehr auf lyrische Impressionen denn auf pädagogische Erklärung setzt.
Obwohl NOT WANTED im Kern ein Melodrama ist, wird er oft wie ein film noir inszeniert, in einem Schwarzweiß voller dunkler Schatten, bedrückender und beengender Innenräume, mit einer Unglücksverkettung für die Hauptfigur, die sie zu einem hilflosen Fatalismus treibt.
Die Überlieferung von NOT WANTED für die Viennale ist nicht so faszinierend wie der Film selbst, aber doch erwähnenswert. Der Film wurde für die Ida-Lupino-Retrospektive eingeplant, bevor eine Kopie vorhanden war. Es kam aber heraus, dass in Europa keine aufzutreiben war. So begann eine Suche nach US-amerikanischen Verleihen, die den Film einmal in Umlauf gebracht haben. Die Viennale-Mitarbeiter stießen auf „Something Weird“, einem unabhängigen Verleih, der in den 1960er und 1970er Jahren Exploitationfilme in Drive-In-Kinos vertrieben hat. Damit es dort auch Double-Features zu sehen gibt, suchte der Verleih auch nach vergangenen Filmen mit mehr oder minder „heißer“ Thematik, die als Vorfilm gezeigt werden konnten. NOT WANTED wurde als geeignet dafür gesehen. Die Werbung für den Film, der in THE WRONG RUT umbenannt wurde, sollte kaschieren, dass es sich eigentlich um ein ernsthaftes Melodrama handelte und nicht um einen Erotikfilm. Damit es auch schon vor dem Hauptfilm des Double Features etwas Sensationelles und Saftiges zu sehen gab, fügte der Verleih eine dokumentarische Szene mitten in den Film hinein. Als Sally auf einer Bahre in den Kreißsaal geschoben wird, unterbricht ein eingeschobener Zwischentitel die Geburtsszene (ein unscharf gefilmter Point-Of-View Sallys auf die umstehenden Ärzte und Schwestern) und erklärt, dass Komplikationen einen Kaiserschnitt nötig machten. Es folgen dann etwa 3 Minuten farbige (!) Aufnahmen eines realen Kaiserschnitts. Damit war die Sensationslust des Drive-In-Publikums bedient (oder auch nicht), wenngleich, wie ich und andere Zuschauer sehen konnten, nicht unbedingt dem Rhythmus von Lupinos Film. Jedenfalls erreichten die Viennale-Mitarbeiter die Witwe des kürzlich verstorbenen „Something Weird“-Chefs Mike Vraney und sie hatte tatsächlich noch eine Kopie des Films. Sie war sogar bereit, sie zu einem geringen Preis zu verkaufen. Gesagt, getan. Als die Kopie in Wien ankommt, gibt es eine kleine Überraschung. Nein: kein Essig-Cocktail. Sondern eine Nitrokopie! Die auf dem Weg von Seattle bis nach Wien gefühlt 10.000 Mal in Flammen hätte aufgehen können (zum Beispiel im Flugzeug) – es aber glücklicherweise nicht tat. Die Zeit reichte nicht, um den Film auf normalen 35mm-Film umzukopieren. Deshalb war eine Digi-Beta-Kopie zu sehen, die übrigens qualitativ erstaunlich gut war (wenn nicht sogar besser als manch DCP).
Mit luzifus noch ein wenig in der Lounge des Metro-Kinos sitzen. Noch zwei Bier. Dann raus.
Montag, 2. November
am späten Nachmittag
Epilog am Prager Hauptbahnhof
Ein fahrender DVD-Händler hält einige wunderbare Delikatessen für den reisenden Cinephilen aus Deutschland bereit. Hierzulande von Staatsanwälten und Jugendschützern nur ungern gesehene Kannibalen-Exploitation aus Italien (CANNIBAL HOLOCAUST, LA MONTAGNA DEL DIO CANNIBALE, CANNIBAL FEROX) gab es ebenso wie INFERNO, SHOWGIRLS und DEAD HEAT zum Schnäppchenpreis von jeweils 10 tschechischen Kronen zu erwerben (also umgerechnet 40 Cent). Zugegeben nur umhüllt von einer lieblosen Papphülle. Und okay, DEAD HEAT ist bestenfalls „open matte“, wahrscheinlich aber einfach nur in einer seitlich beschnittenen Fassung. Und ja, INFERNO funktioniert in meinem Player irgendwie nicht. Und ja, SHOWGIRLS gibt es nur in diesem komischen 2.05:1-Format, der sich auch auf den deutschen DVDs befindet. Und ja, überall gibt es nur tschechische Untertitel, was bei den italienischen Leckerbissen ein Ausweichen auf die englische Synchro zumindest bei der Erstsichtung nötig macht. Aber hey: in ehemaligen k.u.k.-Provinzen ist Kino, das hierzulande verfemt und teils sogar juristisch verfolgt wird, schon wenigstens an einem symbolträchtigen Ort angekommen, nämlich am Bahnhof...
Meine persönlich Viennale-Rangliste
1 THE BIRDS
2 NOT WANTED
3 BABE: PIG IN THE CITY
4 THE END OF THE TOUR
5 KOIYA KOI NASUNA KOI (The Mad Fox)
6 DIE TOTEN FISCHE
außer Konkurrenz SPECTRE
7 BAMBI
8 THE HITCH-HIKER
9 A ZED AND TWO NAUGHTS
10 DHEEPAN
11 THE DEVIL‘S CANDY
12 TO AGORI TROEI TO FAGITO TOU POULIOU (Boy Eating Bird's Food)
– RESULTS
14 FRANCOFONIA
– XIA NU