Donnerstag, 9. Februar 2017

Marginalien zu Frits Fronz

Fangen wir mal von hinten an. Im Herbst 2016 wurde auf eBay für 199 Euro die Ordenskette eines vor mehr als einem Vierteljahrhundert verstorbenen Großmeisters des internationalen Ritterordens Ordines Internationales Pro Concordatia Populorum zum Kauf angeboten - ein "einzigartiges Stück von historischer Bedeutung", wie es im eBay-Angebot hieß. Die Brustplakette dieser Ordenskette ziert ein rot emailliertes Kreuz, und auf der Rückseite der Plakette ist Folgendes eingraviert:
SEINER EXZELLENZ
HANDELSRAT PROFESSOR
FRIEDRICH FRONZ-FRUNDSBERG
GROSSMEISTER
INT. PRO CONCORDATIA-ORDEN
War dieser Handelsrat Professor Friedrich Fronz-Frundsberg, Großmeister eines Ritterordens, etwa ein Verwandter von Frits Fronz, dem Regisseur schlüpfriger Filme wie MÄNNER IN DEN BESTEN JAHREN ERZÄHLEN SEXGESCHICHTEN und SEXREPORT BLUTJUNGER MÄDCHEN? Weit gefehlt - er war es selbst.

Frits Fronz in VIA EROTICA 6 (1967)
Der österreichische "Schundfilm" der 60er und frühen 70er Jahre, dessen bekannteste Vertreter wohl Eddy Saller und Frits Fronz waren, führte ein durchaus interessantes Dasein, doch außerhalb der Alpenrepublik sind seine Vertreter nach der Blütezeit des Genres weitgehend in Vergessenheit geraten. Eddy Saller wurde schon 1991/92 teilweise "wiederentdeckt", doch als 2012 in Deutschland die beiden DVDs Frits Fronz Collection 1 und Collection 2 erschienen, die zusammen vier Filme präsentieren, bekannten selbst Genre-Connaisseure, bislang nichts von Fronz gehört zu haben. Von 1967 bis 1972 inszenierte Fronz fünf Sexfilme, weil sie aber fast alle in Österreich und Deutschland unterschiedliche Titel hatten, ist die "gefühlte" Zahl höher. Fronz spielte in dreien davon unter dem Pseudonym Frank Roberts selbst mit, und ein gewisser Marcel Troussant, der ebenfalls in drei der Filme als Drehbuchautor genannt wird, war auch Fronz selbst. "Primitiv ersonnenes Filmchen", "unsägliche Primitiv-Produktion der sechziger Jahre, haarsträubend dilettantisch", "indiskutabler Sex- und Sittenplunder", "wüste Kolportage", "veralteter Sexfilm" - so schmäht das sittenstrenge Lexikon des internationalen Films der Reihe nach die aus heutiger Sicht recht harmlosen, aber nicht uninteressanten Werke. Doch im Weiteren soll es hier gar nicht mehr um die Filme gehen, sondern darum, was Fronz sonst noch so gemacht hat. Frits Fronz, der Regisseur fehlt also bei den folgenden Überschriften.

Friedrich Fronz, der Widerstandskämpfer?


Fronz wurde 1919 geboren - soviel ist allgemein anerkannt. Doch dann geht es schon los: Ein Teil der Quellen nennt als seinen Geburtsnamen Friedrich Oskar Fronz, der andere Teil plädiert für Friedrich Otto Fronz. "Oskar" erscheint mir glaubwürdiger (sein Vater war der Theaterdirektor Oskar Fronz jr.), aber ganz sicher bin ich mir nicht. Eine mögliche Interpretation der verwirrenden Lage wäre, dass tatsächlich "Friedrich Oskar Fronz" stimmt, und dass er selbst das später in seinem öffentlichen Auftreten in den "Otto" umgebogen hat, weil ihm das besser gefiel - aber das ist erst mal nur eine Spekulation von mir. Wie dem auch sein mag - Otto oder Oskar, Hauptsache Italien! Einigen wir uns also auf Friedrich O. Fronz.

Im Web findet man einige vage Hinweise darauf, dass Fronz im Widerstand gegen die Nazis gewesen sein soll. Im oben erwähnten eBay-Angebot findet sich auch eine (mit Vorsicht zu genießende) Kurzbiografie von Fronz (im Folgenden "eBay-Biografie" genannt). Diese enthält die einzige etwas konkretere Schilderung, die ich finden konnte: "Zum Jahreswechsel 1944/45 befand er sich bei seiner, wegen der Bombenangriffe nach Oberösterreich verschickten Familie auf Heimaturlaub. Er beschloss nicht mehr einzurücken sondern sich der oberösterreichischen Widerstandsbewegung, die sich dann beim Erhalt der Brücke in Linz-Urfahr so auszeichnete, anzuschließen." Eine unabhängige Bestätigung dafür konnte ich nicht auftreiben. Beim Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, der zentralen Anlaufstelle für solche Fragen, liegen anscheinend keine Erkenntnisse über Fronz vor (jedenfalls taucht er in diesem Register nicht auf), doch das muss nichts heißen. Ich war schon geneigt, die Widerstandsgeschichte zu glauben, aber dann bin ich auf das gestoßen:
Der Sohn von Oskar Fronz junior, Friedrich Fronz, hat übrigens 1947 um eine Varietekonzession bei der Gemeinde [Wien] angesucht, die negativ beschieden wurde, da er "Mitglied der ehem. NSDAP., Ortsgruppenpropagandaleiter der Ortsgruppe Viadukt und Mitglied der SA" gewesen ist. Friedrich Fronz hat dagegen Berufung eingelegt, da er "weder Mitglied noch Anwärter der NSDAP., noch Mitglied der SA", sondern vielmehr "seit 1944 Mitglied der Widerstandsbewegung [war], wo er mit den Herren Hörbiger, Lehmann, Eysler und Wachsler zusammengearbeitet hat." Die Einvernahmen Hörbigers und Eyslers lesen sich anders: Nach ihren Aussagen wäre Fronz gar nicht in der Widerstandsbewegung gewesen. Ermittlungen der Polizeidirektion ergaben, dass Fronz während der NS-Zeit seine Parteizugehörigkeit bei verschiedenen Gelegenheiten durchaus ins Treffen geführt hatte um seine Angelegenheiten für ihn günstig zu regeln. Gegen Fronz wurde ein Verfahren wegen Verdachts auf Nichtregistrierung als Nationalsozialist eingeleitet. Eine Konzession hat Fronz nicht mehr erhalten. Vgl. WStLA, M.Abt. 350 A6/8.

Mirjam Langer: Wiener Theater nach dem "Anschluss" 1938 im Fokus nationalsozialistischer Arisierungsmaßnahmen dargestellt am Beispiel des Bürgertheaters (Diplomarbeit, Universität Wien 2009), Fußnote 155. (WStLA ist das Wiener Stadt- und Landesarchiv, die Zeugen waren Paul Hörbiger und der jüdischstämmige Operettenkomponist Edmund Eysler.)
Oha. Anscheinend doch kein Widerstandskämpfer, sondern ein Nazi - denn es handelt sich hier tatsächlich um "unseren" Friedrich Fronz. Dass er der Sohn von Oskar Fronz jr. war, hat er freundlicherweise selbst bestätigt (denn sonst fand ich diese biografische Information nirgends): In einem kurzen autobiografischen Text (der stark mit Übertreibungen und Flunkereien angereichert ist), den eine Klosterneuburger Zeitung anlässlich seines Todes abdruckte, geht er auch auf seine Verwandtschaftsverhältnisse ein. Kurios: Fronzens Hang zum "Ausschmücken" (um das mal freundlich zu formulieren) machte auch vor seinem Vater nicht halt. Oskar Fronz jr. war, wie zuvor schon dessen Vater Oskar Fronz sen., Direktor des Wiener Bürgertheaters. Doch Friedrich Fronz "beförderte" den Herrn Papa kurzerhand zum Direktor und Erbauer (!) des weit bedeutenderen Burgtheaters. Seine Nonchalance in diesen Dingen ist schon verblüffend. Höhepunkt dieser "Mini-Memoiren" ist aber zweifellos, dass sich Fronz darin selbst zum Mitglied der Académie française erklärt. Man reibt sich verwundert die Augen, doch es steht wirklich da: "ich wurde zum Mitglied der Academie Francaise ernannt". Angesichts solcher Aufschneiderei sollte man Fronzens Behauptung (die sich in der eBay-Biografie wiederfindet), er habe in seinen jungen Jahren das Reinhardt-Seminar besucht und sei Burgschauspieler gewesen, mit einer gehörigen Portion Skepsis entgegentreten, solange nicht jemand an diesen Institutionen Nachforschungen anstellt und das bestätigen kann (ich habe in diese Richtung keine Recherchen unternommen).

Frank Roberts, der Sänger


Als "Frank Roberts" trat Fronz nicht nur in seinen Filmen auf, sondern unter diesem Pseudonym verfolgte er in den Jahren von 1955 bis 1965 auch eine (nur mäßig erfolgreiche) Karriere als Schlagersänger. Nun ja, vielleicht sollte man besser "Schlagersprecher" sagen, denn die Mehrzahl der Aufnahmen (oder vielleicht alle?) zeichnet sich durch einen eigenwilligen Sprechgesang aus. "Maloja", die B-Seite der Single "Jonny" (1957), fand Eingang in Vol. 1 der vor einigen Jahren auf CD und Vinyl erschienenen Anthologie Schnitzelbeat (es gibt auch ein Begleitbuch) und ist derzeit auch auf YouTube zu finden - unbedingt mal anhören! Im Bonusmaterial der Fronz-DVDs (es ist auf beiden Scheiben identisch) finden sich gar sieben Titel mit einer Gesamtlänge von 21 Minuten. - Für den Soundtrack der Rahmenhandlung von ROULETTE D'AMOUR aka BARON PORNOS NÄCHTLICHE FREUDEN ist Fronz noch einmal zum Sprechgesang zurückgekehrt, ebenso wie für VIA EROTICA, wo auch ein bisschen echter Gesang von Fronz (zusammen mit einer Eva Bardos) zu hören ist (und das klingt - mit Verlaub - ziemlich bescheiden).

Parallel zur Schlagerkarriere betätigte sich Fronz in dieser Schaffensphase (oder vielleicht auch schon vorher) auch als Autor von Groschenheftromanen, oder, wie es auf einer Seite des Filmarchiv Austria heißt, als "Schundheftlautor". Welche Namensvariante er dafür benutzte, ist mir nicht bekannt.

Friedrich Fronz und die Wiener Gartenschauen


1964 und 1974 fanden nach dem Vorbild der deutschen Bundes- und Landesgartenschauen die beiden Wiener Internationalen Gartenschauen (WIG 64 und WIG 74) statt, und Fronz war an beiden organisatorisch beteiligt. Was genau er 1964 gemacht hat, weiß ich nicht, er war aber sicher nicht der Chef oder der Hauptorganisator der Veranstaltung (wie es die eBay-Biografie suggeriert), denn das war der Stadtgartendirektor Alfred Auer. Seinen eigenen Bekundungen nach hat er wohl als Angestellter der Wiener Stadthallen-Betriebsgesellschaft diverse Sonderausstellungen, Modenschauen und dergleichen im Rahmen der Gartenschau organisiert.

Die WIG 74 fand am Südosthang des Laaer Bergs statt. Dort hatte einst in den frühen 20er Jahren der Großproduzent Sascha Kolowrat einige Kolossalfilme drehen lassen, darunter SODOM UND GOMORRHA von Michael Curtiz (damals noch Mihály Kertész), und in den 50er Jahren drehte hier Kurt Steinwendner die Episode ANNI seiner WIENERINNEN. Auf diesem filmgeschichtsträchtigen Areal also wurde die zweite (und bis jetzt letzte) der Wiener Gartenschauen ausgerichtet, und Friedrich Fronz (den "Frits" benutzte er nur als Regisseur und vielleicht als Heftautor) wurde damit betraut, mit der von ihm dafür gegründeten Erholungs-Veranstaltungs-Ausstellungsgesellschaft (EVA GmbH, etwas später hieß sie dann wohl Ausstellungs- und Veranstaltungsgesellschaft, AVG) den in die Gartenschau integrierten Vergnügungspark zu betreiben. Fronz hatte Großes vor. In der österreichischen Zeitschrift Profil konnte man 1973 in einem Vorbericht Folgendes lesen:
Fronz führt in Eigenregie den 70.000 Quadratmeter großen Vergnügungspark. "Unser größter Stolz ist Arabien", freut sich Fronz, "wir bieten einen ägyptischen Nachtklub mit Bauchtanz und auch einen Bazar mit lauter Negern im Nachthemd." [...] Neben einem Vergnügungspark mit Riesenrad bietet Fronz ein "kulinarisches Festival der Nationen", bei dem Nationalspeisen in Bauten, die ein Filmarchitekt entworfen hat, angeboten werden.
1974 hieß es in einem weiteren Artikel im Profil:
Professor Fritz Fronz (Freunde sagen, er habe sich eines Tages selbst dazu ernannt) war endlich auch Direktor. Fast ein kleiner Messe-Direktor, als er - wie er überall kundtat - vom mächtigen Wiener Stadtgartenamtsdirektor Alfred Auer "ersucht wurde, die Leitung des Vergnügungsparks zu übernehmen". Fronz: "Ich war ja auch der einzige, der auf der WIG 64, die eine finanzielle Katastrophe war, für die Gemeinde 8,5 Millionen Schilling Gewinn erwirtschaftet hat." Sein WIG-74-Auftrag, den er "auf Grund guter Beziehungen" (Fronz) auch als Gemeindebediensteter mit Sondervertrag und gutem Gehalt hätte durchführen können, lautete: Organisation eines Vergnügungsparks mit angeschlossenem Campingplatz. Fronz zog - blühende Geschäfte vor Augen - Eigenverantwortlichkeit mit der AVG vor.
Doch der Vergnügungspark wurde von technischen Pannen geplagt, was erheblichen Unmut unter den Schaustellern auslöste, der sich gegen Fronz richtete. Und trotz der "Neger im Nachthemd" kamen weit weniger zahlende Gäste als erhofft, und der Vergnügungspark schlitterte in ein finanzielles Debakel. Fronz wurde denn auch später des Öfteren als "WIG-Pleitier" bezeichnet. In der Zeitschrift Wochenpresse war 1982 zu lesen: "In einer ellenlangen Epistel an die WOCHENPRESSE beteuert er, "niemals ein Pornofilmer" und ebensowenig "WIG-Pleitier" gewesen zu sein. Seine gewundene Interpretation: Der wahre WIG-Pleitier wäre die Gemeinde Wien [...]". Die österreichische Justiz mochte sich dieser Sichtweise aber nicht anschließen. Denn 1979 (also mit einiger Verspätung) stand Fronz wegen dieser Angelegenheit vor Gericht. Im selben Artikel in der Wochenpresse konnte man lesen:
Vor den Kadi kam er jedenfalls 1979 als Spätfolge der verunglückten Wiener Internationalen Gartenschau (WIG) 1974. Dort hatte Fronz den Maitre de plaisier gegeben. Und war durchgefallen, "weil das Wetter so schlecht war, so daß nur ein paar Rotznaserln zum Ringelspiel [Karussell] gekommen sind" (Fronz). Der Vergnügungspark ging pleite. Wegen fahrlässiger Krida setzte es zehn Monate bedingt [also auf Bewährung] für den verhinderten Spaß-Macher.
Was übrigens den "Pornofilmer" betrifft, so ist Fronz mit Gegendarstellungen und mindestens einmal mit einer Klage wegen übler Nachrede gegen die Wochenpresse dagegen vorgegangen, so bezeichnet zu werden. Wie das Verfahren ausging, ist mir nicht bekannt. - Eine weitere Begründung für das Scheitern des Vergnügungsparks konnte man schon 1976 in der Wochenpresse lesen:
"Zuletzt", so Fronz, der stets vom Unglück zu Unrecht Betroffene, "ist noch der Bundespräsident Franz Jonas gestorben, da ist dann überhaupt keiner mehr gekommen, und wir mußten aus Pietätsgründen auch alle Veranstaltungen absagen."
Aus Ausgaben der Kronen Zeitung und der Klosterneuburger Zeitung vom September 1979 erfährt man weitere interessante Details über den WIG-Prozess. Nicht nur Fronz stand vor Gericht, sondern auch seine Frau und seine Geschäftspartner Alfred Josef und Viktor Marischka, und es gab weitere Anklagepunkte, darunter den skurrilen Tatbestand "Baumdiebstahl". In den meisten dieser weiteren Punkte erfolgten keine Verurteilungen, teilweise allerdings nur, weil die Delikte inzwischen verjährt waren. Bei der WIG-Pleite wurde Fronz konkret zur Last gelegt, dass er viel zu wenig Eigenkapital eingebracht habe: Nur 100.000 Schilling bei nötigen Investitionen von rund 20 Mio. Schilling. Der Wechselkurs von Schilling zu Mark war ungefähr 7:1, das Eigenkapital betrug also umgerechnet ca. 14.000 DM - auch inflationsbereinigt ein mickriger Betrag für ein Projekt dieser Größenordnung.

Für uns interessant ist bei diesem Prozess noch die ebenfalls verhandelte Pleite der Marischka Film Ges.m.b.H. Die Fronz-Filme wurden von einem Firmengeflecht aus Marischka Film, Süd-Ost Film und Belvedere Film produziert und vertrieben. Viktor Marischka, ein Mitglied des verzweigten Marischka-Clans (Ernst, Hubert, Georg, Franz etc.) war "offizieller" Produzent der Filme, aber Fronz war finanziell auch an den Firmen beteiligt und somit "stiller" Co-Produzent (in den Credits taucht er in dieser Funktion nicht auf). Weil die Süd-Ost Film und die Marischka Film irgendwann um 1970 herum pleite gingen, warf man Fronz und Marischka ebenfalls fahrlässige Krida wegen zu geringen Eigenkapitals vor. Darüber hinaus wurde ihnen zur Last gelegt, die Gläubiger geprellt zu haben, indem sie Vermögenswerte an die neu gegründete Europa Film Ges.m.b.H. transferierten, die Alfred Josef, dem Produktionsleiter der Fronz-Filme, und Fronz' Frau gehörte. Frau Fronz, Alfred Josef und Ernst Marischka wurden mangels haltbarer Anklagepunkte freigesprochen, aber Fronz wurde möglicherweise nur durch die inzwischen eingetretene Verjährung vor einer noch schwereren Strafe gerettet, und wenn er sich korrekt verhalten hätte, dann hätte es seine letzten beiden Filme vielleicht gar nicht gegeben. - Seine Filme haben "ganz schön viel Geld eingespielt", sagte Fronz einmal in einem Interview mit der Zeitung Kurier, aber die Firmenpleiten wecken gewisse Zweifel an dieser Darstellung.

Als kleine vorgezogene Wiedergutmachung für die Schmach der Krida-Verurteilung gab es einen Orden von unerwarteter Seite:
Die Brust von Professor Friedrich O. Fronz, Direktor des Vergnügungszentrums der WIG 74, blieb nicht lange ungeschmückt. Am vergangenen Wochenende überreichte der Botschafter Panamas, Irwin Gill, dem verdienten Lustbarkeitsgestalter den panamesischen Verdienstorden "Eloy Alfaro". Laut einhelliger Meinung der bei dem Festakt anwesenden Prominenz seien die Beziehungen Panamas zur WIG 74 ausgezeichnet.
(Profil, 1974)

Fronz in einer der Rückblenden in ROULETTE D'AMOUR (1969)

Friedrich Fronz, der Ordensritter


"Seine Exzellenz, Handelsrat Professor Friedrich Fronz-Frundsberg" - klingt eindrucksvoll, oder? Doch wir erinnern uns: "Freunde sagen, er habe sich eines Tages selbst dazu ernannt". Und wiederum 1982 in der Wochenpresse liest man:
Dieser, der Klosterneuburger Gemeinderat Fritz Fronz, hat eine bunte Vergangenheit: als Regisseur pikanter Streifen und WIG-Pleitier. [...] [Er] garniert sich gern mit dem Titel "Professor", den ihm, völlig unakademisch, eine "Akademie für europäische Politik" mit Sitz in Brüssel geliehen hat [...]
Das Professorenproblem wurde sogar amtlicherseits behandelt. Wie man im oben schon zitierten Wochenpresse-Artikel von 1976 lesen konnte, ging bei einem zuständigen Ministerialrat im Bundesministerium für Unterricht und Kunst eine Anfrage zum auf Fronzens Visitenkarte prangenden Professorentitel ein, und der Beamte antwortete wie folgt:
Ich bestätige den Erhalt Ihrer obbezogenen Schreiben in der Angelegenheit des Titels 'Professor' des Herrn Direktors Friedrich O. Fronz, wohnhaft ..., und muß Ihnen mitteilen, daß im hierortigen Ressortbereich keine Anhaltspunkte zu finden waren, die Herrn Direktor Fronz berechtigen, den Amtstitel oder Berufstitel 'Professor' zu führen.
Über den "Handelsrat" habe ich nichts Konkretes gefunden, aber es würde mich nicht im Geringsten wundern, wenn sich Fronz auch diesen Titel selbst verliehen hätte. Und der "Frundsberg"? Ich habe nirgendwo einen Hinweis darauf entdeckt, dass Fronz diesen Namenszusatz auf legalem Weg (also etwa durch Heirat oder durch eine gekaufte Adoption) erworben hat. Außerdem trat Fronz außerhalb des Ordenskontexts auch in seinen späten Jahren als "Fronz" und nicht als "Fronz-Frundsberg" auf den Plan, und selbst innerhalb des Ordens tritt der "Frundsberg" nicht immer in Erscheinung - er fehlt z.B. in der im übernächsten Absatz erwähnten Urkunde. Man kann wohl getrost davon ausgehen, dass der "Frundsberg" frei erfunden ist.

Und was ist nun mit diesem Orden selbst? Der Ritterorden "Ordines Internationales Pro Concordatia Populorum", wie er zeitweise hieß (der Orden wurde ein- oder zweimal umbenannt und umstrukturiert), hat sich der Völkerverständigung und karitativen Aktivitäten verschrieben. Laut offizieller Timeline auf seiner englischsprachigen Website wurde der Orden 1961 in den USA (!) von Antoni G. Zyngale gegründet - das ist ein sehr mysteriöser Herr, an dem sich Google die Zähne ausbeißt. Wir werden den Grund dafür gleich kennenlernen. Ebenfalls laut Timeline trat Fronz 1973 in den Orden ein und gründete die österreichische Generalpräfektur. Und schon 1976 wurde er Großmeister (also Chef) des gesamten Ordens. Im selben Jahr gab es (wiederum laut Selbstauskunft des Ordens) eine Art Anerkennung durch den damaligen UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim (der später als österreichischer Bundespräsident wegen seiner NS-Vergangenheit eine schwere Belastung für das Land wurde), sowie einen apostolischen Segen durch den Papst - allerdings durch Papst Paul II., und der amtierte im 15. Jahrhundert. Nun ja, gemeint ist natürlich Paul VI.

"Das Generalkapitel der Generalpräfekten Europas hat bei seiner Sitzung am 21. Oktober 1989 in Schwyz einstimmig beschlossen der Stadtgemeinde Klosterneuburg als erster Stadt Europas den Titel Stadt der Völkerverständigung zu verleihen. Gegeben zu Schwyz, den 21. Oktober 1989". So heißt es in einer pompös gestalteten Erhebungsurkunde, und als Zeugen werden darin der Großmeister (also Fronz), der Großkanzler und die neun weiteren Generalpräfekten des Ordens aus verschiedenen Ländern aufgeführt. Die niederösterreichische Kleinstadt Klosterneuburg, nicht weit von Wien entfernt und Fronzens Wirkungsstätte in seinen späten Jahren, ist nicht nur die erste, sondern die bislang einzige Stadt, der diese Ehre zuteil wurde.

Wolfgang Bäck, der stellvertretende Leiter des Klosterneuburger Stadtarchivs, veröffentlichte in der Ausgabe 7/2014 des Klosterneuburger Amtsblatts auf S. 29 einen kurzen, aber aufschlussreichen Artikel zum 25-jährigen Jubiläum dieses "erhebenden" Ereignisses. Und in diesem Artikel steht Erstaunliches:
Nach dem plötzlichen Ableben von Großmeister Prof. Fronz im August 1990 durchlebte der IPC Orden eine innere Umstrukturierung. Recherchen der neuen Ordensleitung ergaben, dass die europäischen Präfekturen und auch der amerikanische Gründer des elitären Ordens nur Fantasiegebilde waren.

25 Jahre später scheint es fast, als sei dieses noble Ansinnen der Verleihung des Titels "Stadt der Völkerverständigung" ein wenig erfolgreicher Werbefeldzug für den lokalen Fremdenverkehr gewesen zu sein. Der lokale Vertreter der Internationalen Esperanto Bewegung pflegt als Einziger seit 1990 die Verbreitung dieses Titels unserer Babenbergerstadt.
Hoppla! Da wäre also schon mal die Identität des mysteriösen amerikanischen Ordensgründers geklärt - es gab ihn gar nicht. Die sich daraufhin aufdrängende Vermutung, dass in Wirklichkeit Fronz selbst den Orden gegründet und sich selbst zum Großmeister ernannt hat, hat Wolfgang Bäck auf meine Anfrage hin zwar nicht explizit bestätigt, weil die Ordensgründung für ihn nebulös ist, aber aus Presseartikeln, die mir Herr Bäck freundlicherweise gemailt hat, geht schon recht deutlich hervor, dass Fronz selbst den Orden gegründet hat. Das scheint damals auch allgemein bekannt gewesen zu sein, geriet aber anscheinend im Lauf der Zeit etwas in Vergessenheit. Laut dem oben zitierten Wochenpresse-Artikel von 1976 erfolgte die Gründung 1975. Es kann auch nicht später gewesen sein, denn im WIG-Prozess wurde nebenbei auch über nicht oder nur verspätet bezahlte Rechnungen für kulinarische Festivitäten des Ordens verhandelt, und die datieren auf November und Dezember 1975. Die Ernennung zur "Stadt der Völkerverständigung" hat Fronz wohl mehr oder weniger im Alleingang beschlossen. Und wie steht es eigentlich mit Waldheim und dem Papst? Ich weiß es nicht sicher, denn auf Recherchen bei der UNO und im Vatikanischen Geheimarchiv habe ich verzichtet, aber wahrscheinlich ist das auch nur Humbug. Auf jeden Fall beschlich mich irgendwann der Verdacht, dass der Orden zumindest in seiner Anfangszeit nur so etwas wie eine ganzjährige Faschingsveranstaltung von einigen Leuten mit einem Faible für Pomp und Brimborium war.

Nach der Ordensgründung gab es ein bisschen Gegenwind von zweierlei Seiten. Einerseits von den "echten", also schon länger bestehenden Orden, die da einen Möchtegern-Orden am Werk wähnten. "Das ist eine Täuschung von gutgläubigen Leuten, die annehmen, daß sie einem Orden beitreten und tatsächlich einem Geselligkeitsverein angehören", giftete ein Vertreter des "Ordens des Heiligen Lazarus von Jerusalem". Nun ja, man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass Ritterorden im 20. und 21. Jahrhundert generell bizarre Anachronismen sind, aber das soll hier nicht weiter erörtert werden. Ein kleines Gegenlüftchen kam auch von behördlicher Seite. Fronz wurde in die Wiener Polizeidirektion zitiert, wo man ihn belehrte, dass weltliche Ritterorden in Österreich per Gesetz seit 1919 aufgehoben sind. Fronz sah sich genötigt darauf zu verweisen, dass sein Verein ja eigentlich nur eine "Gesellschaft für Völkerverständigung" sei. Das hielt ihn in der Folge aber nicht davon ab, eben doch den Charakter als Orden mit Großmeister, Zeremonien etc. zu zelebrieren. Es scheint aber bei dem einmaligen Rüffel geblieben zu sein, jedenfalls ist mir von ernsthaften Schwierigkeiten des Ordens mit den Behörden nichts bekannt.

Angestoßen wurde Fronzens Großmeisterkarriere möglicherweise durch seine Bekanntschaft mit dem österreichischen Tierarzt Friedrich Perko, dem Gründer und "Ordensgeneral und Souverän" des Abendland-Ordens. Allerdings habe ich zwei recht unterschiedliche Versionen dieser Geschichte gelesen. Laut Wochenpresse war Fronz kurzzeitig Mitglied im französischen Zweig der "Lazarit(t)er" in Österreich, wurde aber aus einem im Artikel nicht genannten Grund bald wieder hinauskomplimentiert. "Da haben sie mir die 10.000 Schilling Aufnahme-'Opfer' wieder zurückzahlen müssen", meinte Fronz in der Wochenpresse-Version der Geschichte. In dieser Version war Perko zunächst ein Freund von Fronz und hat ihm bei der Gründung des Vereins geholfen und war sogar selbst Mitglied und "Ehrenpräsident", ist dann aber gekränkt wieder ausgeschieden, weil Fronz der Polizei gegenüber wohl Perko dafür verantwortlich machte, dass der Orden wie ein Orden auftrat.

Die andere Version der Geschichte steht in einem recht sarkastischen Artikel über Perkos Abendland-Orden in einer Ausgabe des Profil von 1977. Darin wird dieser Orden als eine Versammlung von gut betuchten eitlen Herren in Operettenuniformen, die sich gegenseitig die Ämter und Würden zuschanzen oder sich die Titel praktischerweise gleich selbst verleihen, geschildert. Laut Profil war auch Fronz kurzzeitig Mitglied im Abendland-Orden. Es wird in dem Artikel nicht explizit gesagt, aber der Eindruck erweckt, dass Fronz nach ein paar Monaten im Orden wieder rausflog, weil man erst dann seine Vergangenheit als Sexfilmer entdeckte. Falls das wirklich so war, könnte er frei nach Bert Brecht gedacht haben, was ist schon die Mitgliedschaft in einem Orden gegen die Gründung eines Ordens? Aus seinem eigenen Orden konnte ihn jedenfalls keiner rauswerfen.

Vielleicht gab es aber auch einen anderen Grund für die Ordensgründung als Lust an Prunk und Bombast oder gekränkte Eitelkeit nach einem Rauswurf. Die Arbeiter-Zeitung kolportierte im Februar 1990, wenige Monate vor dem Tod des Großmeisters, das Folgende:
In einer Hinterhofwohnung auf der Landstraße 33a im dritten Wiener Gemeindebezirk etablierte er [Fronz] seinen Orden. An einer überdimensional langen Tafel versammelt Großmeister Fronz seine Getreuen zur Sitzung der Ordensregierung. Auf goldlackierten Modeschau-Stühlchen sitzend, umgeben von Hunderten Farbaufnahmen diverser Ritterschläge, lauschen die Auserwählten den Ausführungen des Meisters. Dabei geht es um mystische Visionen und natürlich um den Sinn des Lebens. Obwohl sie es immer wieder heftigst dementieren, wollen Gerüchte nicht verstummen, derlei Firlefanz würde den Rittern eine Stange Geld kosten. Man spricht von 60.000 bis 100.000 Schilling Aufnahmegebühr und einem jährlichen Mitgliedsbeitrag von mindestens 5000 Schilling.
Nach dem Tod von Fronz zerfiel der Orden in zwei konkurrierende Nachfolge-Orden, jeweils mit eigenem Großmeister. "Wir sind historisch betrachtet der einzig legitime Nachfolger der Vereinigung", meinte ein Vertreter der einen Seite im Februar 2009 in einem Bezirksblatt, und auf der Gegenseite (die mit der englischsprachigen Website) sieht man das sicher genau andersrum. Es sei hier ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese beiden Konkurrenzorden nicht mehr unbedingt viel mit den Verhältnissen zu Fronzens Zeiten zu tun haben müssen. Irgendwann haben anscheinend beide mit echten karitativen Aktivitäten begonnen, ich bin dem aber nicht weiter nachgegangen.

Friedrich Fronz, der grüne Politiker


"1975-1990 Politiker, Gründervater der Partei 'Die Grünen Österreichs - Partei der Unzufriedenen'" - so steht es in Fronz' Kurzbiografie im Bonusmaterial der beiden DVDs. Das interpretierte der eine oder andere Blogger oder Journalist dahingehend, Fronz sei der Gründer der Grünen in Österreich gewesen. Dazu muss man allerdings wissen, dass die österreichischen Grünen nicht mit einem Knall auf die Welt kamen und dann in der heutigen Form existierten, sondern über Jahre hinweg aus vielen kleinen und sehr kleinen Parteien, Bürgerinitiativen und sonstigen Gruppierungen entstanden sind. Und das ging nicht ohne politischen Richtungsstreit und Verdrängungswettbewerb. Den Gründer der österreichischen Grünen konnte es unter diesen Umständen gar nicht geben. Und das Spektrum der damals aktiven Parteien, die "grün" im Namen hatten, reichte von links-alternativ über bürgerlich-konservative Umweltschützer bis zum rechten Rand - einige der Gruppen waren mehr braun als grün. (Das war in Deutschland auch nicht anders, man erinnere sich an so völkische Gestalten wie Baldur Springmann.) Somit stellten sich mir die Fragen, wo in diesem Spektrum von links bis rechts Fronz angesiedelt war, und wie groß sein Beitrag zur Formierung der heutigen Grünen tatsächlich war.

In einem Artikel im Spiegel vom Januar 1983 kommt das Blatt auf aktuell 36 "grüne" Parteien. Die von Fronz wird immerhin unter den wichtigsten fünf aufgeführt, und sie heißt hier ebenfalls "Die Grünen Österreichs - Partei der Unzufriedenen", was die Angaben auf den DVDs zu bestätigen scheint. Das Problem dabei ist allerdings, dass dieser Name in einer offiziellen Liste des österreichischen Innenministeriums über alle Parteienregistrierungen seit Mitte der 70er Jahre gar nicht auftaucht (und auch keine andere Partei mit irgendwelchen "Unzufriedenen"). Die schon existierenden Altparteien wie SPÖ, ÖVP, FPÖ und KPÖ wurden damals aus irgendeinem Grund auch alle nochmal registriert, das bietet also kein Schlupfloch. Auch in der österreichischen Presse jener Jahre scheinen die "Unzufriedenen" nicht aufzutauchen, jedenfalls findet Google nichts. In der offizellen Liste gibt es aber vier andere Parteien, die "Die Grünen Österreichs" (jeweils mit einem anderen Namenszusatz) hießen, und drei davon wurden 1982 registriert - vielleicht war eine davon die von Fronz (mehr darüber gleich weiter unten).

Klarheit herrscht dagegen darüber, dass Fronz von 1980 bis 1990 im Gemeinderat von Klosterneuburg saß, und zwar zunächst für eine von ihm geführte Liste. Doch bei deren genauer Bezeichnung beginnt schon wieder die Unklarheit - mal ist von "Grüne Liste" die Rede, mal von "Grüne Mitte" und mal von einer "Liga für Umweltschutz". Damit war Fronz einer der ersten im weiten Sinne grünen Mandatsträger in Österreich, aber nicht der erste (wie gelegentlich zu lesen ist). Die Bürgerliste, die Schauspieler Herbert Fux mit zwei Mitstreitern gegründet hatte, gewann schon 1977 zwei Gemeinderatssitze in Salzburg (deren einen Fux selbst wahrnahm), und Josef Buchner, später Vorsitzender der bürgerlichen Vereinte Grüne Österreichs (VGÖ), wurde 1979 für eine Umweltschutz-Bürgerinitiative Vizebürgermeister in Steyregg. Trotzdem, man kann Fronz durchaus noch als einen Pionier grüner Lokalpolitik in Österreich bezeichnen.

Und wo stand er nun im Spektrum von Links bis Rechts? Werfen wir kurz einen Blick in die eBay-Biografie:
Parallel dazu begann er sich mir der aufkeimenden Ökologiebewegung zu beschäftigen. In kurzer Zeit gehörte er zu den prominenten Vertretern der sogenannten "Bürgerlichen Grünen" - jenem vernünftigen Teil der Grünbewegung, der in den Achtzigerjahren endgültig von den linkslinken Chaoten in dieser Partei ausgemerzt wurde. Friedrich Fronz war Präsident der von ihm mitbegründeten Österreichischen Liga für Umweltschutz und ab 1980 Gemeinderat der Grünen in Klosterneuburg. Von den andauernden Grabenkämpfen zwischen Vernunft und bolschewistischer Indoktrination innerhalb der frühen Grünbewegung angewidert zog er sich immer weiter zurück und beschränkte seine umweltbewegte Tätigkeit auf die journalistische Ebene.
Das legt erstens nahe, dass Fronz nicht zu den Gründern der heutigen Grünen in Österreich gehört, und zweitens verortet es ihn im konservativen Teil des grünen Lagers (und ins konservative Lager - ob nun grün oder nicht - gehört offensichtlich auch der Schreiber dieser Biografie). Alle erreichbaren Hinweise bestätigen das, und Fronz selbst sagte mal "ich war mein ganzes Leben ein Bürgerlicher" von sich, wie man 1982 in der Wochenpresse lesen konnte.

In diesem Jahr 1982 strebte Fronz nach Höherem als der Lokalpolitik (und das ist der Grund für die verstärkte Berichterstattung über ihn). Im schon mehrfach zitierten Wochenpresse-Artikel aus diesem Jahr liest man:
Fritz Fronz ist wieder wer.
Am vergangenen Wochenende wurde der Exschauspieler, Exregisseur und Exausstellungsmanager zum Bundesobmann des Dachverbandes der "Grünen" gewählt.
Der eloquente Zweiundsechzigjährige - Fronz: "Gegen Kreisky und Reagan bin ich ja a Lausbua!" - schaffte es, seine Klosterneuburger "Liga für Umweltschutz", für die er seit 1980 im Gemeinderat der Babenbergerstadt auftritt, mit der "Grün"-Riege des Wiener Juristen und ehemaligen Entwicklungshelfers Johann Wallner und dem "Grünen Forum" der ehemaligen ÖVP-Katastrophenfrau Elisabeth Schmitz unter einen Hut zu bringen.
Das ist offensichtlich die im Spiegel erwähnte Partei, die offiziell vielleicht "Die Grünen Österreichs" (mit irgendeinem Namenszusatz) hieß. Es fällt auf, dass das "Grüne Forum" von Elisabeth Schmitz vom Spiegel im Januar 1983 noch als eigenständige Partei aufgeführt wird. Entweder war der Spiegel da nicht ganz auf dem aktuellen Stand, oder die Vereinigung von 1982 war so kurzlebig, dass sich Frau Schmitz mit ihrer Gruppierung schon wieder selbständig gemacht hatte. Wie auch immer - irgendein politischer Erfolg war der von Fronz geführten Partei nicht beschieden, und bei der Nationalratswahl 1983 trat sie gar nicht erst an. Dagegen kandidierten hier die VGÖ und die links-alternative Alternative Liste Österreichs (ALÖ). ALÖ-Mitglied Fritz Zaun begründete schon 1982 die Kandidatur u.a. damit, dass man "das Feld nicht Papiertigern wie Schmitz, Fronz, Wallner und Co. überlassen" dürfe, und Alexander Tollmann, VGÖ-Chef vor Buchner, distanzierte sich ebenfalls schon 1982 "ausdrücklich" vom "Fronz-Verein". Elisabeth Schmitz wiederum bezeichnete Tollmann als einen "völlig apolitischen Wissenschaftler [er war Geologe] mit Platzhirschgebaren", und Herbert Fux, zunächst noch in der VGÖ, war laut Schmitz "für anständige Frauen nicht wählbar", denn er sei "ein präpotenter Bumser", der "mit seinem Spitzeneinkommen und seiner ausschweifenden Lebensweise genau das Gegenteil eines grünen Alternativen" sei. Dazu muss man wissen, dass es damals in einer Zeitschrift eine Schmutzkübelkampagne gegen Fux mit erfundenen Geschichten über sein Sexleben gab. Fux wurde daraufhin aus der VGÖ ausgeschlossen und wollte entnervt die Politik aufgeben, machte dann aber doch weiter. Es herrschte also ein ziemliches Hauen und Stechen damals, nicht nur zwischen Links und Rechts in der Grün-Bewegung, sondern auch zwischen verschiedenen bürgerlichen Fraktionen. "Linkslinke Chaoten" und "bolschewistische Indoktrination", wie es in der eBay-Biografie heißt, brauchte es dafür gar nicht.

VGÖ und ALÖ verfehlten 1983 beide den Einzug in den Nationalrat deutlich, machten jedoch weiter, und nach etlichen Querelen und Misserfolgen bei Landtagswahlen bildete man bei der nächsten Nationalratswahl 1986 eine gemeinsame Liste, die mit acht Abgeordneten (darunter Herbert Fux) in das Parlament einzog. Daraus wurden dann nach weiteren Geburtswehen die heutigen Grünen.

Fronz hatte sich bis dahin schon längst neu orientiert. 1984 vermeldete Profil süffisant:
Fritz Fronz, Hansdampf in allen Polit-Gassen, notorischer Ordensgründer und derzeit grüner Gemeinderat von Klosterneuburg, startet zu einer neuen Karriere: Er wird Umweltkonsulent von Niederösterreichs Landeshäuptling Siegfried Ludwig. Im Klosterneuburger Gemeinderat kolportiert man dazu Schlüssiges: Ludwig sei auch schon an Fronzens Orden interessiert.
Honi soit qui mal y pense ... Klosterneuburgs langjähriger Bürgermeister Gottfried Schuh (ÖVP) wurde 1989 tatsächlich zum Ordensritter unter Großmeister Fronz geschlagen. Man beachte übrigens, dass auch Landeshauptmann Ludwig der ÖVP angehörte. Überregionale politische Ambitionen mit einer Grünpartei, die mit diesem Posten bei Siegfried Ludwig wohl kaum vereinbar gewesen wären, hat Fronz also offenbar spätestens 1984 aufgegeben. Fronz' neue Tätigkeit hat wohl auch eine generelle Annäherung an die ÖVP widergespiegelt. Seine zweite Amtszeit im Gemeinderat, also 1985 bis 1990, errang er gar nicht mehr als Kandidat irgendeiner Grünpartei, sondern für eine parteiunabhängige "Klosterneuburger Wahlgemeinschaft". Und in einem Nachruf konnte man lesen: "Für Dr. Paul Weber [den Vorsitzenden der Klosterneuburger Wahlgemeinschaft] war er ein stets loyaler Partner, für die ÖVP nach dem Verlust der absoluten Mehrheit im Gemeinderat praktisch der 21. Mann (Geheimwort "Jolly Joker")[...]". Fronz hatte auch enge Beziehungen zum prominenten ÖVP-Politiker Josef Höchtl, der gemeinsam mit ihm im Gemeinderat von Klosterneuburg saß.

Um noch mehr über Fronz' grüne Phase zu erfahren, habe ich die gefragt, die es wissen sollten, nämlich die Grünen. Die haben auch freundlich geantwortet, wussten aber doch nicht so viel, wie ich gehofft hatte. "Spontan sagte mir der Name [Fronz] nichts, aber das will nichts heißen", schrieb mir Monika Bargmann vom Grünen Archiv. Immerhin fand sich im Archiv noch die Information, dass Fronz 1982/83 eine Zeitschrift herausgab, die zuerst Grüne Mitte Österreichs für Wien, Niederösterreich und Burgenland und dann Grünes Österreich hieß, und ich bekam die Links zur Parteienliste des Innenministeriums und zum Stadtarchiv Klosterneuburg.

Als Fazit von Fronzens Polit-Karriere lässt sich festhalten:
- Fronz war ein früher Vertreter der Umweltbewegung in Österreich, stand damit aber nicht allein auf weiter Flur
- innerhalb des grünen Spektrums stand er im bürgerlich-konservativen Lager
- er war 1980-90 Gemeinderat in Klosterneuburg und damit ein früher (aber nicht der erste) grüne Mandatar in der österreichischen Lokalpolitik
- 1982 vereinigte er seine Liste mit zwei anderen zu einer größeren Partei unter seiner Führung, die jedoch erfolglos blieb
- Fronz gehörte nicht zu den Gründern der heutigen Grünen Partei in Österreich

Fronz in der Rahmenhandlung von ROULETTE D'AMOUR
Friedrich Fronz starb 1990 mit 71 Jahren in Klosterneuburg an einer Blutung der Aorta, wohl Folge eines Aneurysmas. Er wusste um diese Gefahr, scheint aber sonst bei guter Gesundheit gewesen zu sein, denn sein Tod wurde als "plötzlich" und "überraschend" bezeichnet. - Wenn man über Fronz recherchiert, dann stößt man auf ein Gewirr von unklaren, widersprüchlichen und falschen Informationen, und die meisten Nebelkerzen hat Fronz selbst gezündet. Und man stößt auf Fakten, die man sich mühsam aus alten Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln zusammenklauben muss. Ein Artikel wie dieser, der nur auf Recherche per Google und Email beruht, muss da Stückwerk bleiben. Für einen Fronz-Biografen (falls sich mal einer findet) gäbe es da viel zu tun, es würde sich aber auch lohnen, denn Seine Exzellenz Handelsrat Professor Dr. h.c. (vermutlich auch erfunden) Friedrich Oskar (oder Otto) Fronz-Frundsberg alias Frits Fronz, der für einen seiner Filme den "Goldenen Büstenhalter" zugesprochen bekam, war schon eine schillernde Figur.

Donnerstag, 26. Januar 2017

Mit Höchstgeschwindigkeit durch New York

SPEEDY („Los – Harold – los“ / „Straßenjagd mit Speedy“)
USA 1928
Regie: Ted Wilde
Darsteller: Harold Lloyd (Harold „Speedy“ Swift), Ann Christy (Jane Dillon), Bert Woodruff (Pop Dillon), Babe Ruth (Babe Ruth)


New York in den 1920er Jahren – eine schnelllebige Stadt für schnelllebige Leute. Abseits der großen Boulevards gibt es aber auch Oasen der Ruhe, wo es etwas gemächlicher zugeht. So etwa im der Tram des alten Pop Dillon, die von Pferden gezogen wird. Doch diese Idylle ist in Gefahr. Ein Magnat will für kleines Geld das altmodische Unternehmen aufkaufen, um für einen großen Schienen-Trust Platz zu machen. Als Dillon sich weigert, wird er mehr oder weniger offen von dem Magnaten bedroht. Dieser will sich eine Klausel in den Vereinbarungen zwischen der Stadt New York und Dillon zunutze machen: die Pferde-Tram muss mindestens einmal alle 24 Stunden fahren, sonst verliert Dillon seine Genehmigung. Der Magnat plant also, ein paar schwere Jungs vorbei zu schicken, die Dillon für 24 Stunden kidnappen und seine Bahn wegräumen sollen. Die bösen Buben haben allerdings nicht mit den Händlern des Viertels gerechnet, die jeden Abend die ruhende Tram als Treffpunkt nutzen und bereit sind, sie mit ihrem militärischen Knowhow aus Bürgerkriegszeiten zu verteidigen; und auch nicht mit Harold, dem Verlobten von Dillons Enkelin, ein unverbesserlicher Baseball-Fanatiker und leidenschaftlicher Liebhaber des puren Geschwindigkeitsrauschs auf den Straßen New Yorks: ein Mann mit dem Spitznamen „Speedy“, der bereit ist, die langsame Gemächlichkeit Pop Dillons engagiert und in Höchstgeschwindigkeit zu verteidigen.

SPEEDY ist Harold Lloyds letzter Stummfilm und sein wahrscheinlich puristischster Film: ein Werk, das die Freude am Geschwindigkeitsrausch und die Glückseligkeit kleiner Momente zelebriert und zum eigentlichen Inhalt macht. Wer Filme nur auf das Erzählen von Geschichten reduziert, wird mit SPEEDY sicherlich nicht glücklich werden. Nicht weniger als sieben Autoren (Harold Lloyd, der wahrscheinlich entscheidenden Input geleistet hat, nicht eingerechnet) haben das Drehbuch geschrieben, so dass seine dramaturgische Zerfahrenheit (oder positiver ausgedrückt: Lockerheit) kein Zufall ist. In der ersten Viertelstunde werden der Grundkonflikt etabliert (Pferdetram-Opa bedroht von bösem Magnat) und die Hauptfiguren eingeführt. Dann „bricht“ SPEEDY einfach den Lauf der Geschichte „ab“ und gönnt sich eine dramaturgisch völlig unnütze, wunderbar ausgelassene, urkomische und anrührende 20-Minuten-Sequenz im Vergnügungspark Luna Park auf Coney Island. Quasi ein eigener Film im Film, nach dessen Ende nicht etwa der rote Faden wieder aufgegriffen wird: nein, vielmehr erleben wir dann den Tag danach, in dem Harold, der seine Jobs immer wieder verliert, um dann neue zu versuchen, sich als Taxifahrer verdingt, durch die Umstände wieder einmal versagt und zwischendurch Baseball-Star Babe Ruth in einem halsbrecherischen Tempo zum nächsten Spiel kutschiert. Wieder ein etwa 20-minütiger Film-im-Film – an dessen Ende dann „endlich“ der rote Faden der Exposition wieder aufgegriffen wird.

Rauschhaftes Vergnügen in Coney Island.
Unten rechts hat sich eine lebende Krabbe in Harolds rechter Jackentasche versteckt und
die Handtaschen fremder Damen geplündert – was Harold später Ärger einbringt.

Gut die Hälfte verbringt der Film also damit, Sachen zu zeigen, die dramaturgisch „irrelevant“ sind. Produktionstechnisch kann man mutmaßen, dass hier möglicherweise mehrere Kurzfilmideen zu einem abendfüllenden Film zusammen „gekittet“ wurden. Da hätten wir also einen Film, in dem Harold die Pferdetram seines Schwiegeropas gegen böse Magnaten verteidigt (die Rahmenhandlung sozusagen), einen Film, in dem Harold mit seiner Verlobten Coney Island besucht und dort Lustiges (mehr für den Zuschauer als für ihn selbst) erlebt und einen Film, in dem Harold als Taxifahrer jobbt und dabei nicht davor scheut, halsbrecherische Geschwindigkeitsrekorde aufzustellen.
Dennoch wirkt SPEEDY wie aus einem Guss. Filmische „Verkittungen“ sieht man etwa Chaplins Filmen (auch wenn ich mit dieser Meinung auf einsamer Flur stehe) wesentlich mehr an. SPEEDY ist auch der Harold-Lloyd-Film mit der wahrscheinlich höchsten Gag-Dichte: ein Feuerwerk an brillanten Ideen, die sich gegenseitig die Klinke in die Hand geben und zur nächsten tollen Idee führen – hier zahlten sich die sieben bzw. acht Autoren aus. SPEEDY schafft den Spagat zwischen einer extremen dramaturgischen Entspanntheit und dieser Mischung aus Gag-Feuerwerken und Geschwindigkeitsrausch. Er ist gleichzeitig beruhigend und anregend.
Zumindest ersteres liegt nicht zuletzt daran, dass Harold „sein Mädchen“ hier schon gleich von Anfang an „hat“ und es nicht darum geht, wie er trotz widriger Umstände den Tag rettet und nebenbei noch ihr Herz erobert (in HOT WATER von 1924 spielt Harold Lloyd zwar einen glücklich verheirateten Mann, der allerdings sich selbst, seinen Besitz und seinen Verstand vor dem Treiben einer extrem anstrengenden Schwiegerfamilie retten muss). Nein, Harold und Jane haben gar die romantische Anfangsphase ihrer Beziehung schon längst hinter sich: da wird zwischendurch lustig gerauft, Ellbogen werden munter in die Rippen gerammt, kleine Streiche in der U-Bahn gemeinsam gefeiert und Fastfood wird hemmungslos zusammen in rauen Mengen vernichtet. Harold muss sich nicht mehr beweisen. Am Ende der Coney-Island-Sequenz wollen beide heiraten, nur Jane möchte warten, bis Pop seine Probleme mit der Tram in den Griff bekommt – natürlich ein zusätzlicher Anreiz für Harold, seinen künftigen Schwiegeropa beim Kampf gegen den Magnaten zu unterstützen. So, wie er mit Pop allerdings auch vorher umgeht, wird allerdings klar, dass er dies auch ohne diesen Anreiz tun würde.

Fastfood-Genüsse für ein Paar, das sich voreinander nicht mehr geniert, doch viele Gefahren lauern auf Harolds brandneuen Anzug.
Unten rechts: die "obscene gesture", mit der Harold seinem Spiegelbild das Missfallen über die Verschmutzung des Anzugs signalisiert,
war eigentlich auch in pre-code-Zeiten undenkbar in einem Film. Zensoren haben diesen kurzen Moment allerdings einfach übersehen.

Die Coney-Island-Sequenz, in dem sich ein Liebespaar vergnügt (er sich aber auch zwischendurch zünftig ärgert), erinnert entfernt ein wenig an die Vergnügungen des zuerst entfremdeten, dann doch versöhnten Paares in Friedrich Wilhelm Murnaus bahnbrechendem SUNRISE. Wo dort jedoch alle städtischen Szenen im Studio entstanden, wurde SPEEDY mehrheitlich in New York on location gedreht. Die Szenen im Vergnügungspark wurden offenbar teils mit versteckter Kamera gefilmt, damit nicht allzu viele Leute mitbekommen, dass hier Harold Lloyd gerade dreht – ein Star im Höhepunkt seines Ruhms. Die gefühlte Modernität von SPEEDY ergibt sich nicht nur im Vergleich zu SUNRISE. Ein luftig-leichter Film, figurenzentriert, mehr an kleinen Momenten als an der großen Geschichte interessiert, gefilmt auf den Straßen statt im Studio – das gibt dem SPEEDY zwischendurch beinahe so etwas wie ein verfrühtes nouvelle-vague-Feeling. Aber vielleicht ist das auch nur mein Gefühl, weil LES 400 COUPS (den ich knapp zwei Wochen nach der Erstsichtung von SPEEDY wieder sah) auch einen Moment enthält, in dem die Hauptfigur ein sehr denkwürdiges Karussell benutzt.

Ich glaube, in einem Video-Blog die These gehört zu haben, dass Lloyd, mehr als Keaton und Chaplin, auch ein Dokumentarist seiner Zeit und seiner Orte war. SPEEDY ist in diesem Sinne auch ein historisches Dokument von New York in den 1920er Jahren. Die Slums, die im letzten Drittel des Films gezeigt werden, wurden in einem Studio in Hollywood nachgebaut, der größte Teil des Rests zeigt die Weltmetropole jedoch in echt. Zu sehen sind nicht nur sind nur der Luna Park in Coney Island (der nicht mehr existiert), die Brooklyn Bridge, das Yankee Stadium und der Washington Square Arch beim Washington Square Park, sondern auch viele „anonyme“ Ansichten New Yorker Straßen. Die Macher von SPEEDY hatten offensichtlich großen Spaß daran, in New York zu drehen. Immer wieder werden Straßenzüge länger gezeigt als dramaturgisch „notwendig“, und der Gagfluss wird dann für kurze Zeit für New Yorker Straßenimpressionen unterbrochen, oft gefilmt aus einem fahrenden Auto.

Prominente New Yorker Wahrzeichen: Luna Park in Coney Island, das Yankee Stadium
Washington Square Arch, Brooklyn Bridge...

...und weniger offensichtlich bekannte Straßen und Orte in Filmimpressionen.

Durchaus auch im Geiste der Zeit, nämlich der USA in der „progressive era“ der 1890er bis 1920er Jahre, ist die (gleichwohl eher milde) Kapitalismuskritik von SPEEDY. Auch wenn viele Europäer das nicht so auf dem Schirm haben oder wahrhaben möchten, so hat Kapitalismuskritik durchaus eine eigenständige Tradition in der US-amerikanischen politischen Kultur. Die „progressive era“ war eine Zeit der industriellen Entwicklung, in der viele Wirtschaftszweige (am prominentesten Eisenbahn und Öl) begannen, sich in großen „Trusts“ zu konzentrieren – große Kombinate, die die Manufakturen und Familienunternehmen des „kleinen Mannes“ zu zerstören drohten. Das Feindbild des großen Trusts und ihrer „robber barons“ war durchaus mehrheitsfähig, die Vorschläge politischer Gegenmaßnahmen waren allerdings uneinheitlich: sie reichten von „trust busting“ (Zerschlagung großer Kombinate und forcierte Anti-Kartell-Gesetzgebung) bis hin zur Verstaatlichung von Trusts über zumindest eine gesetzliche Regulierung der Unternehmen (beispielsweise in Form des Pure Food & Drug Act von 1906, einem frühen Verbraucherschutzgesetz, das in Reaktion auf Upton Sinclairs Roman „The Jungle“ über die horrenden Arbeitsweisen der Fleischindustrie erlassen wurde). Jedenfalls stellt SPEEDY sehr deutlich diesen Gegensatz her zwischen der auf überschaubare Zusammenhänge ausgerichteten Wirtschaft von Kleinunternehmern, personifiziert durch den sympathischen Pop und seinen Kumpels, die kleine Geschäfte betreiben, und dem skrupellosen Gebaren der Trusts, personifiziert durch den groben, selbstgefälligen Boss, der kleinkriminelle Schlägertypen als Handlanger beschäftigt. Beim Konflikt, um den es hier geht, steht nicht weniger als eine der Säulen der amerikanischen Republik auf dem Spiel: nach dem Besuch des Magnaten reibt Harold seinem Schwiegeropa den versteiften Nacken aus Versehen nicht mit medizinischem Öl, sondern mit einem Catsup der Marke „Liberty“ ein.
Ich habe mir mal einen kleinen Exkurs in die politische Kultur der USA des frühen 20. Jahrhunderts erlaubt. Die Kapitalismuskritik von SPEEDY, die im Ideal des autark wirtschaftenden Kleinunternehmers durchaus anschlussfähig an antimodernem Konservatismus war, läuft aber schlussendlich ins Leere, als Pop am Ende dann doch den Scheck des Magnaten entgegen nimmt – es sich aber auch nicht nehmen lässt, ihn vorher noch öffentlich zu demütigen.

Ein Großunternehmer und seine finsteren Gesellen bedrohen Pops Kleinunternehmen,
doch der Pferdebahn-Fahrer und seine Kleinhändler-Freunde erweisen sich als wahrhaft.

Zurück also zum eigentlich Hauptthema des Films: dem puren Rausch der Geschwindigkeit. Es ist sicherlich kein Zufall, dass einige der Screenshots, die ich für den Film gemacht habe, durch Bewegungsunschärfe etwas verschwommen wirken, denn der „rote Faden“ der Geschichte ist in SPEEDY tatsächlich das einzige, was an Ort und Stelle stehen bleibt.
Die wunderbare Coney-Island-Sequenz ist sicherlich von großer Dynamik, flott und rasant inszeniert. Doch richtig Gas geben SPEEDY und „Speedy“ dann am Tag nach Coney Island, als Harold Taxi fährt. Hartnäckige „out of order“-Schilder, blockierende Türen, unfreiwillige Abschleppaktionen und potentielle Kunden, die erst einsteigen können, wenn sie eine Prügelei überstanden haben, sorgen zunächst für mangelnde Kundschaft. Polizisten auf Verfolgungsjagd geben Harold dann grünes Licht: mit ihnen als Passagiere gäbe es keine Geschwindigkeitsbegrenzung. Das lässt sich Harold nicht zweimal sagen und rast durch die Straßen New Yorks, dass einem ganz schwindlig wird (sehr zum späteren Missfallen eines Verkehrspolizisten merkt Harold leider den Austausch seiner Kundschaft zwischendurch nicht). Ohne Fahrtgeld, aber mit Strafzettel, gewinnt Harold durch Zufall den Star-Baseballspieler Babe Ruth als Gast. Der ermuntert seinen Taxifahrer, zügig zum Yankee Stadium zu fahren – eine Entscheidung, die der Sportler rasch bereut, als Harold mit selbstmörderischem Tempo rast und es sich dabei nicht nehmen lässt, mit seinem berühmten Gast zu locker zu plaudern, ohne groß darauf Acht zu geben, welche Autos gerade frontal auf ihn zufahren. „If I ever want to commit suicide I‘ll call you.“ verspricht Ruth dem Taxifahrer eine Handvoll Nah-Toderfahrungen und einigen Dutzenden Fast-Unfällen später.

Harold freut sich riesig, Babe Ruth kutschieren zu dürfen. Für diesen wird allerdings die Fahrt mit dem Raser,
der nicht auf den Verkehr achtet, eher unentspannt.

Im letzten Teil des Films kommt es schließlich zu einer langen Verfolgungsjagd, bei der Harold die Tram seines Schwiegeropas von dem Hangar, zu dem sie die Bösewichte gebracht haben, wieder zu Pop fährt, bevor die 24-Stunden-Deadline verfällt – ohne dabei irgendwelche Schienen zu nutzen.
Hier kommt es zu einem interessanten Effekt. Einzelne Momente der Verfolgungsjagd sind eindeutig als rumpelige Rückprojektionen identifizierbar – meist jene, in denen man Harold frontal von vorne oder direkt von hinten den Wagen manövrieren sieht. Diese Rückprojektionen – das CGI der expressionistischen Ära – lassen den Rest allerdings noch wesentlich realer aussehen: hier wurde tatsächlich ein Tramwagen durch die Straßen New Yorks gefahren. Klar, meistens läuft der Film leicht beschleunigt ab, so dass das ganze etwas dramatischer aussieht, als es wohl war. Nichtsdestotrotz: die Illusion klappt. Schier unfassbar ist der völlig unerwartete Crash: mitten in der Verfolgungsjagd knallt die Tram hart gegen einen Stützpfeiler der Hochbahn. Hier erreicht SPEEDY fast die Dramatik des großen Zug-Brücken-Crashs in THE GENERAL, doch im Gegensatz zu Keatons Crew hatten Lloyd und Co. den Unfall nicht geplant. Niemand wurde verletzt, die „verpatzte“ Szene blieb dennoch im Film. Der Einfall, das zerbrochene Rad durch einen Gullydeckel zu ersetzen, war improvisiert.

Finale Verfolungsjagd. Oben links vor Rückprojektion – alle anderen auf den New Yorker Straßen.
Unten rechts der ungeplante Crash.

Nicht unerwähnt bleiben soll natürlich die große Massenschlägerei, bei der eine Gruppe von Senioren zusammen mit Harold einigen harten Straßenschlägern ordentlich den Hintern versohlt. Doch wie gesagt ist SPEEDY ein Film, bei dem Momente der Ruhe ebenso wirkungsvoll sind wie die vielen Kicks des Geschwindigkeitsrausches. Die Coney-Island-Sequenz endet damit, dass Harold und Jane bei einem Kumpel Harolds, einem Umzugsfahrer, im Wagen hinten mitfahren. Dort steht allerlei Gerümpel, den es eben so bei einem Umzug so gibt. Nicht besonders gemütlich; tatsächlich nur eine unbequeme Mitfahrgelegenheit. Doch Harold und Jane lassen sich nicht unterkriegen. Mit nur wenigen Handgriffen verwandelt Harold den unbequemen Umzugswagen in ein gemütliches Wohnzimmer – so gemütlich, dass man da sogar die zukünftigen Kinder in der Wiege sehen kann. Aus nichts mit wenigen Handgriffen eine Illusion basteln – die pure Freude des Filmemachens in einem Bild zusammengefasst...

Vom vollbeladenen Umzugswagen zum gemütlichen Wohnzimmer

Im Gegensatz zu Chaplin und Keaton (letzterer teilte sich meist die Regie-Credits) ließ sich Harold Lloyd nie als Regisseur und Autor seiner Filme nennen, auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass er die kreative treibende Kraft seiner eigenen Star-Vehikel war. Er hatte auf jeden Fall einen harten Kern an festen Mitarbeitern und Gagschreibern, denen er die Regie-Credits trotz, wie man manchmal lesen kann „streibarer Regiebeiträge“, überließ. Ted Wilde jedenfalls war kein einfacher „ghost director“, sondern ein integraler Bestandteil von Harold Lloyds Crew. Er war Autor und Gagschreiber von WHY WORRY?, GIRL SHY, THE FRESHMAN, FOR HEAVEN‘S SAKE und THE KID BROTHER – für letzteren, Lloyds schönster Film neben SPEEDY, war er auch der nominelle unter ganzen fünf inoffiziellen Regisseuren. Der gebürtige New Yorker hatte wie Lloyd selbst auch für Hal-Roach-Produktionen debütiert und inszenierte nach SPEEDY noch zwei weitere Filme unabhängig von Harold Lloyd. Mit nur 40 Jahren starb Wilde Ende 1929 an den Folgen eines Herzinfarkts. An der Kamera gab es keine personellen Überraschungen: Walter Lundin saß schon 1915 bei den ersten Filmen „Speedys“ hinter der Kamera, fotografierte alle Lloyd-Klassiker der 1920er Jahre und machte mit dem großen Slapstick-Komiker auch den Übergang zum Tonfilm in die 1930er Jahre mit.
Bert Woodruff war beim Dreh von SPEEDY 71 Jahre alt und damit im richtigen Alter, um einen überzeugenden Pop Dillon zu spielen. Der Vaudeville-Darsteller versuchte sich ab den 1910er Jahren (als er bereits um die 60 Jahre alt war) im Film und spielte für namhafte Filmemacher wie Tod Browning, Frank Borzage und John Ford. Ann Christy ist keine Mildred Davis und schon erst recht keine Jobyna Ralston, spielt aber dennoch eine überzeugende Jane. Sie drehte ihre ersten Filme (darunter ironischerweise einer mit dem Titel THE KID SISTER) 1927, bevor der Slapstickstar sie für SPEEDY engagierte. Doch wie bei ihren beiden Vorgängerinnen als Lloyd-Partnerin endete auch ihre Karriere recht früh: nach SPEEDY bekam sie keine namhaften Rollen mehr und hing 1932 das Schauspielen an den Nagel.

SPEEDY findet sich auf der siebenten Scheibe der „10-Disc-Harold-Lloyd-Collection“, die selbstverständlich in jeden gut sortierten Haushalt gehört. Die Box war auf gängigen Plattformen 2010 für nur 16 Euro verfügbar. Heute kostet sie mindestens das Vierfache – aber die Investition lohnt sich. Die einzelnen Discs der Collection (bei THE FRESHMAN, Disc 5, und SAFETY LAST, Disc 3, weiß ich es bestimmt) sind wohl auch einzeln erhältlich. SPEEDY ist auch als DVD und als blu-ray bei der Criterion Collection in den USA erschienen. Eine blu-ray-Lizenz-Ausgabe davon gibt es in Großbritannien.
Auf allen genannten Edition findet sich der schlichtweg fantastische Score von Carl Davis. Die Scores der Komponisten und Arrangeure Carl Davis und Robert Israel begleiten praktisch alle Filme der Lloyd-Collection und sind fast allesamt gut bis sehr gut. Doch bei SPEEDY hat sich Carl Davis selbst übertroffen. Sein jazziger Score gehört zu dem Besten, was ich bislang im Bereich der Stummfilmmusik erlebt habe. Er wirkt nicht wie eine Begleitung, wie etwas von außerhalb, sondern wie ein unzertrennlicher Bestandteil des Films.

Donnerstag, 19. Januar 2017

Was macht man mit einem Nagelbrett, wenn man kein Fakir ist?

Man macht damit Filme - was sonst? So sahen das jedenfalls Claire Parker und Alexandre Alexeïeff. Sehen wir uns zunächst den ersten und vielleicht bekanntesten Film der beiden an:

UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE (EINE NACHT AUF DEM KAHLEN BERGE)
Frankreich 1933
Regie: Alexandre Alexeïeff und Claire Parker



Die Musik, die dem Film seinen Titel und sein Thema gab, ist die sinfonische Dichtung "Eine Nacht auf dem kahlen Berge" von Modest Mussorgski, hier in einer Orchesterbearbeitung von Nikolai Rimski-Korsakow. Es geht in der Musik (und somit auch im Film) um eine Art Hexensabbat auf dem slowenischen Berg Triglav. Es passieren die wildesten Dinge in dieser Nacht, und man sollte als gewöhnlicher Sterblicher besser nicht in der Nähe sein, aber am nächsten Morgen ist der Spuk vorbei. Damit ist das Stück thematisch mit "Danse macabre" von Camille Saint-Saëns verwandt, das auch mehrere filmische Interpretationen erfuhr. Zu Mussorgski sollten Parker und Alexeïeff noch zweimal zurückkehren.

Alexandre Alexeïeff und Claire Parker 1960 (À PROPOS DE JIVAGO)
Alexandre Alexeïeff (1901-1982), ursprünglich Alexander Alexandrowitsch Alexejew, war ein Russe im französischen Exil. Einige Jahre seiner Kindheit verbrachte er in Istanbul, wo sein Vater Militärattaché war. Nach dem Besuch einer Kadettenanstalt in Sankt Petersburg emigrierte er 1921 und landete schließlich in Paris - Französisch hatte er auf Betreiben seiner Mutter schon als Kind gelernt. 1923 heiratete Alexeïeff die Schauspielerin und Zeichnerin Alexandra Grinevsky (oder, nach russischer Konvention, Grinevskaya), die uneheliche Tochter eines russischen Würdenträgers, der sie schon als Kind nach Paris abgeschoben hatte. Mit Alexandra hatte Alexeïeff eine Tochter, die Malerin Svetlana Alexeieff-Rockwell (1923-2015) - sie ist die Mutter des Regisseurs Alexandre Rockwell. Während der 20er Jahre betätigte sich Alexeïeff als Bühnenbildner und Kostümdesigner für Theatergrößen wie Louis Jouvet und Georges Pitoëff sowie als Buchillustrator - sein zeichnerisches Talent wurde schon in der Kadettenanstalt gefördert, und er hatte sich zum Graveur weitergebildet. Das Spektrum der von Alexeïeff illustrierten Autoren reichte von Gogol, Puschkin und Dostojewskij über Poe und Cervantes bis Apollinaire, Baudelaire und Malraux. 1931 lernte er die wohlhabende amerikanische Kunststudentin Claire Parker (1906-1981) kennen, die schon ein technisches Studium am Massachusetts Institute of Technology absolviert hatte und nun nach Paris gezogen war. Nach Alexeïeffs Scheidung 1940 oder 1941 (die Quellen sind sich nicht ganz einig) wurde Parker seine zweite Frau. Parker und Alexeïeff waren aber schon bald nach ihrer Bekanntschaft ein Liebespaar, und Alexandra Grinevsky arrangierte sich irgendwie mit der Situation.

Alexeïeff und Parker bei der Arbeit an Illustrationen zu "Doktor Schiwago" (À PROPOS DE JIVAGO)
Irgendwann Ende der 20er oder Anfang der 30er Jahre verspürte Alexeïeff den Wunsch, die Bilder im Stil seiner Buchillustrationen in Filmen zum Leben zu erwecken. Die feinen Graustufen, Schattierungen und plastischen Wirkungen, die man mit Lithografie, Aquatinta und ähnlichen Techniken hervorrufen konnte, und die Alexeïeff schätzte, waren aber mit der klassischen Zeichentricktechnik der cel animation kaum zu erreichen, und was er keinesfalls machen wollte, waren Filme im Cartoon-Stil. Deshalb ließ er sich etwas anderes einfallen - etwas ganz anderes. Und damit kommen wir zum Nagelbrett (auf Englisch meist pinscreen, gelegentlich auch pinboard genannt, auf Französisch écran d'épingles). Zunächst mit Unterstützung von Alexandra Grinevsky, dann mit Parker, entwickelte Alexeïeff das Verfahren, zeitweise arbeiteten auch alle drei zusammen daran. Die technisch begabte Claire Parker hatte möglicherweise den größten Anteil, jedenfalls lief das 1935 erteilte französische Patent auf ihren Namen. Künstlerisch scheint Alexeïeff der Kopf der Gruppe gewesen zu sein. Bei den fünf eigenständigen Filmen sowie dem Prolog zu Orson Welles' LE PROCÈS, die mit dem Nagelbrett realisiert wurden, arbeiteten Parker und Alexeïeff als Animateure und Regisseure eng zusammen, so dass man sie alle als gemeinsame Werke der beiden bezeichnen muss. Grinevsky war daran nicht mehr beteiligt, aber bei etlichen der Werbefilme, die die Gruppe zum Broterwerb drehte (ohne Nagelbrett, was viel schneller ging), wirkte sie aktiv mit.

Die Hauptrichtungen des Dreiecksmusters werden sichtbar, wenn man das Nagelbrett frontal anstrahlt
(dieses und die nächsten vier Bilder: PIN SCREEN von Norman McLaren)
Wie funktioniert das Ding nun also? Das haben Parker und Alexeïeff selbst am besten erklärt. 1972 hielten sie auf Einladung von Norman McLaren am National Film Board of Canada (NFB) ein Seminar vor den dort tätigen Animationsfilmern, die auch selbst an einem mitgebrachten Nagelbrett unter Aufsicht der beiden Altmeister experimentieren durften (Ryan Larkin war auch mit dabei). McLaren machte daraus einen 40-minütigen Film, der laut Anfangscredits vollständig THE ALEXEIEFF-PARKER PIN SCREEN bzw. L'ÉCRAN D'ÉPINGLES ALEXEIEFF-PARKER heißt, aber meist nur kurz PIN SCREEN genannt wird. Der Film war wohl hauptsächlich als Lehrmaterial für zukünftige Studenten am NFB gedacht, aber heute bildet er auch (neben ihren Filmen natürlich) ein Vermächtnis von Parker und Alexeïeff. Daneben gab es weitere Dokus, z.B. den kurzen und ohne Worte auskommenden À PROPOS DE JIVAGO von 1960 (die beiden hatten damals mit dem Nagelbrett Illustrationen für eine Ausgabe von Boris Pasternaks "Doktor Schiwago" erstellt), und einen noch kürzeren mit dem Titel TROIS THÈMES, der sie an der Arbeit zu ihrem gleich betitelten letzten Film zeigt. Die Bilder hier sind alle aus diesen Filmen.

Seminar vor kleinem, aber exquisitem Publikum; rechts das "kleine" Modell
mit 240.000 Nägeln und seine beiden Schöpfer
Das Nagelbrett ist eine vertikal stehende Tafel mit einem regelmäßigen Dreiecksmuster von Löchern. Und zwar sehr vielen Löchern - das erste einsatzfähige Exemplar hatte ungefähr eine Million davon. In den Löchern stecken spitze Metallstifte, die länger sind als die Dicke der Tafel. Die Stifte sind beweglich, können also so verschoben werden, dass sie entweder auf der Vorder- oder der Hinterseite der Tafel herausragen, oder eine beliebige Zwischenstellung einnehmen. Eine bestimmte Schmierflüssigkeit sorgt dafür, dass die Nägel weder zu leicht noch zu streng gleiten, so dass man sie nur mit einem gewissen Krafteinsatz verschieben kann. Der Clou ist nun, dass die Vorderseite der Tafel weiß ist, während die Nägel mehr oder weniger schwarz sind. Die Vorderseite der Tafel wird nun von einer starken Lichtquelle von der Seite her beleuchtet. Je nachdem, wie weit die Stifte hervorstehen, werfen sie einen mehr oder weniger langen Schatten. Während ein einzelner Nagel praktisch keinen wahrnehmbaren Effekt hat (er ist quasi ein einzelnes Pixel in einem hoch aufgelösten Bild), ergibt die Summe der Nägel in einem Gebiet der Tafel je nach ihrer Stellung eine beliebig einstellbare Mischung von beleuchteten und beschatteten Stellen auf der Tafel, und damit aus der Entfernung betrachtet (oder mit einer Filmkamera in Einzelbildschaltung aufgenommen) beliebige Grauabstufungen.

Das Prinzip wird am vergrößerten Modell erklärt
Damit das funktioniert, ist es wichtig, dass der Lichteinfall aus der richtigen Richtung erfolgt. Die jeweils benachbarten Löcher bzw. Stifte bilden gleichseitige Dreiecke. Wenn das Licht parallel zu einer der drei, um 60° gegeneinader gedrehten, Dreiecksseiten einfallen würde, dann würden sich "Korridore" ergeben, die nie beschattet werden, egal wie weit die Stifte herausstehen. Die Richtung des Lichteinfalls muss also um einen gewissen Winkel zu den drei "Hauptrichtungen" gedreht sein. Wenn dann die Stifte nur leicht herausstehen, wirft jeder einen isolierten Schatten. Wenn die Stifte weiter herausstehen, vereinigen sich diese einzelnen Schatten zunehmend zu einem zusammenhängenden Gebilde, das bei maximal hervorstehenden Stiften schließlich die ganze Fläche in diesem Bereich der Tafel bedeckt und so für Schwarz sorgt.


Um die Stifte für eine Aufnahme zu positionieren, wurden sie mit Gegenständen aller Art in die richtige Stellung gedrückt, und zwar von beiden Seiten der Tafel, je nach gewünschter Wirkung. Wenn man beispielsweise eine weiße Linie in eine dunkle Fläche "zeichnen" wollte, oder aber umgekehrt, so musste man im einen Fall zuerst alle Nägel dieser Fläche von hinten nach vorne drücken und dann die Nägel an der vorgesehenen Linie wieder von vorne nach hinten drücken - oder im anderen Fall genau spiegelbildlich vorgehen. "Gedrückt" wurde mit allen möglichen Gegenständen, etwa Linealen, Messern und Löffeln, und vielen weiteren Utensilien, die man in einem Haushalt findet, aber auch mit speziellen Anfertigungen von Alexeïeff und Parker. Vor allem kamen Rollen unterschiedlicher Breite und Form zm Einsatz, mit denen man Linien und Streifen beliebiger Breite in die "Matte" aus Nägeln walzen konnte. Wenn diese Rollen keine glatte Rollfläche hatten, sondern ein bestimmtes Muster darin aufwiesen, so konnte man dieses Muster in der Art eines antiken Rollsiegels auf die Nägel übertragen.


Im praktischen Einsatz war es so, dass Alexeïef als künstlerischer Kopf die Bilder auf dem Nagelbrett schuf (und zwar frei, also ohne Storyboard oder dergleichen), während Parker dabei assistierte und die Kamera bediente, so dass sich nach dem Stop-Motion-Prinzip nach und nach der Film zusammensetzte. War schon die Entwicklung des Nagelbretts eine komplizierte und nicht ganz billige Angelegenheit, so galt das auch für das Drehen von Filmen damit. Es war hohe künstlerische und technische Fertigkeit von Nöten, hohe Konzentration und vor allem viel Geduld. Die Arbeit an UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE begann 1931 und dauerte eineinhalb Jahre. Nach der Premiere in Paris gab es viel Lob von Künstlern und von der Kritik, doch dann stellten Parker und Alexeïeff das Nagelbrett erst mal in die Ecke und drehten Werbefilme (im Gegensatz zu den Nagelbrettfilmen in Farbe), zusammen mit Alexandra Grinevsky (wie oben schon erwähnt) sowie ein oder zwei angestellten Animateuren. Aber auch hier gaben sich Alexeïeff und seine Mitstreiter künstlerisch und technisch einige Mühe. Ab 1936 gab es auch eine Reihe von Auftragen aus Deutschland, so dass das Studio vorübergehend nach Berlin verlegt wurde. Das Spektrum der beworbenen Produkte reichte vom Loewe Opta Radioempfänger bis zu Klopapier. Anfang 1938 gingen Alexeïeff und seine Mitstreiter zurück nach Paris, und 1940 setzte sich die Ménage-à-trois Parker, Alexeïeff und Grinevsky (samt Tochter Svetlana) in die USA ab. Dort ließ sich Alexeïeff, wie schon erwähnt, von Grinevsky scheiden, die daraufhin eigene Wege ging, während Parker und Alexeïeff nicht nur als künstlerisches Team zusammenblieben, sondern dann auch heirateten.

Die Lichtquelle wird justiert (À PROPOS DE JIVAGO)
Im amerikanischen Exil drehten Parker und Alexeïeff keine Werbeclips, aber dafür den zweiten Nagelbrettfilm, und zwar beim NFB. Norman McLaren, der beim NFB die Animationsfilmabteilung aufgebaut hatte und für Jahrzehnte leitete, hatte UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE irgendwann in den 30er Jahren gesehen und war schwer beeindruckt, und er hatte wohl Wind davon bekommen, dass sich Parker und Alexeïeff in den USA aufhielten. 1944 produzierte McLaren am NFB eine Reihe von kurzen Animationsfilmen unter dem Sammeltitel CHANTS POPULAIRES, in denen jeweils ein franko-kanadisches Volkslied mit Bildern versehen wird, und er lud Parker und Alexeïeff ein, auch einen Beitrag dazu abzuliefern. Das Ergebnis war der (ohne den Serienvorspann) nicht mal eineinhalbminütige EN PASSANT. Da er als fünfter Film der Serie erschien, findet man ihn auch unter dem Titel CHANTS POPULAIRES N° 5.

Auf den Einfallswinkel des Lichts kommt es an: links oben ganz schlecht, dann zunehmend
besser, aber noch nicht perfekt (PIN SCREEN)
Nach dem Krieg kehrte das Paar nach Paris zurück und nahm Anfang der 50er Jahre zunächst seine Tätigkeit als Werbefilmer wieder auf. Alexeïeff erdachte in dieser Phase ein Verfahren, das er "Totalisation" nannte. Dabei wird eine Lichtquelle, die pendelt, rotiert oder sich sonstwie annähernd regelmäßig bewegt, mit sehr langer Belichtungszeit aufgenommen, so dass die Lichtspur festgehalten wird. Das kombinierte er mit konventioneller Stop-Motion-Technik und weiteren Verfahren und erzielte damit interessante Wirkungen, so dass sein Studio, wie schon in den 30er Jahren, großen Anklang bei den Werbekunden fand. Zwei Werbeclips aus dieser Phase, die bis Mitte der 60er Jahre dauerte, habe ich hier vorgestellt (allerdings beide ohne Totalisation). Bei den Werbefilmen wurde meist Alexeïeff als alleiniger Regisseur benannt, aber Parker beteiligte sich auch daran.

Dieselbe Konfiguration des Nagelbretts bei zwei verschiedenen Lichteinfallswinkeln (À PROPOS DE JIVAGO)
1962 gab es eine weitere Auftragsarbeit für das Nagelbrett: Den Prolog zu Orson Welles' Kafka-Verfilmung LE PROCÈS. Da es sich um eine Abfolge von Standbildern handelt, ist die Sequenz kein Nagelbrettfilm im engeren Sinn. Die Stimme gehört natürlich Meister Welles persönlich, der Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" rezitiert, die einen abgeschlossenen Text innerhalb von "Der Prozess" bildet. 1963 folgte dann der dritte "richtige" Nagelbrettfilm, LE NEZ (DIE NASE), zugleich der längste seiner Art von den beiden. Im Gegensatz zum frei-assoziativen UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE folgt diese Verfilmung der gleichnamigen absurden Parabel von Nikolai Gogol einer klareren Handlungslinie, wenn auch einer ziemlich surrealen: Einem Beamten kommt seine Nase abhanden, die daraufhin ein Eigenleben führt.

Werkzeuge: Verschiedene Rollen, aber auch Matrjoschka-Puppen; unten: eine sehr breite Rolle dient
als "Schwamm" zum Löschen der gesamten "Tafel" (PIN SCREEN)
Die letzten beiden Nagelbrettfilme von Alexeïeff und Parker markieren die Rückkehr zu Mussorgski. TABLEAUX D'UNE EXPOSITION (1972) ist natürlich eine Interpratation von "Bilder einer Ausstellung", ein Jahr nachdem sich Emerson, Lake and Palmer auf ihre Art dieser Musik angenommen hatten. Es spielt der österreichische Pianist Alfred Brendel. Bei diesem Film kommt eine Neuerung zum Tragen: Es werden nicht nur eines, sondern zwei Nagelbretter verwendet. Während das etwas größere im Hintergrund fixiert ist, ist das kleinere im Vordergrund um eine vertikale Achse drehbar gelagert. TROIS THÈMES von 1980 schließlich, wieder mit Brendel am Klavier, ist der Schwanengesang des Paars. Claire Parker starb 1981, Alexandre Alexeïeff 1982.

Werkzeugkasten (À PROPOS DE JIVAGO)
Das Nagelbrett, das Parker und Alexeïeff 1972 nach Kanada mitbrachten, ist kleiner als das Original aus den 30er Jahren (das sich heute im Centre national du cinéma et de l'image animée in Paris befindet) und hat "nur" ca. 240.000 Nägel. Dieses Exemplar wurde nach dem Seminar sogleich vom NFB erworben, und es ist (als einziges weltweit) noch immer im Einsatz. Für lange Jahre war Jacques Drouin vom NFB der einzige, der die Nachfolge von Alexeïeff und Parker antrat und die nötige Mühe und Geduld für Filme mit dem Nagelbrett aufbrachte. Besonders schön ist etwa LE PAYSAGISTE / MINDSCAPE . Das Motiv der Leinwand, auf der sich der "reale" Hintergrund nahtlos fortsetzt, ist sicher von René Magritte inspiriert. Nagelbrettfilme sind naturgemäß zunächst einmal schwarzweiß, aber natürlich ist es nicht weiter schwer, ihnen eine monochrome Einfärbung zu verpassen, wie in Drouins EX-ENFANT / EX-CHILD. Auch nachdem sich Drouin mittlerweile im Ruhestand befindet, ist die Technik noch nicht tot - Michèle Lemieux hat 2012 mit LE GRAND AILLEURS ET LE PETIT ICI den bislang letzten Vertreter hervorgebracht. Hier erzählt sie etwas über die Entstehung des Films, und man bekommt noch einmal die Technik erklärt und demonstriert. Es kann also weitergehen!

Ein Ring mit einem Profil ähnlich einem Fahrzeugreifen erzeugt beim Abrollen
ein Muster, aus dem Getreide wird (À PROPOS DE JIVAGO)
In den 70er Jahren entwickelte ein Ward Fleming eine Vorrichtung, die dem Nagelbrett von Parker und Alexeïeff sehr ähnlich ist. Die Stifte sind hier nicht aus Metall, sondern Kunststoff, sie sind leichter verschiebbar, und sie sind wohl noch dichter gepackt als beim klassischen Nagelbrett - jedenfalls entstehen hier die Bilder nicht durch den Schattenwurf, sondern durch das dreidimensionale Relief der Stifte selbst. Dennoch ist die Verwandtschaft mit dem ursprünglichen Konzept unübersehbar. Das hielt Fleming nicht davon ab, sich als Erfinder seiner Entwicklung zu betrachten und diese zum Patent anzumelden. Eine kleine Spielzeugversion davon hat sich zig-millionenfach verkauft, Fleming dürfte also ziemlich reich damit geworden sein. Es gibt aber auch sehr große Exemplare, die sich auch für Live-Performances wie diese hier eignen.

Derselbe Ring wie oben erzeugte auch den Stamm und die Zweige
des Weihnachtsbaums (À PROPOS DE JIVAGO)
Alle Nagelbrettfilme von Parker & Alexeïeff (außer dem Prolog zu LE PROCÈS) und eine Auswahl von 20 Werbefilmen sowie À PROPOS DE JIVAGO, McLarens PIN SCREEN, Drouins LE PAYSAGISTE / MINDSCAPE und einige weitere Bonusfilme sind zusammen in Frankreich auf der DVD Alexeïeff - Le cinéma épinglé erschienen. DVD und Booklet sind zweisprachig Französisch/Englisch. Eine amerikanische Lizenzausgabe davon gibt es auch. Wer beim Nagelbrett nicht kleckern, sondern klotzen will, kommt an einer dieser beiden Scheiben nicht vorbei. Die Bildqualität ist selbstredend besser als bei den YouTube-Videos. UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE ist auch im 7-DVD-Set Unseen Cinema. Early American Avant-Garde Film 1894-1941 enthalten, PIN SCREEN auch im 7-DVD-Set Norman McLaren. The Master's Edition. LE PROCÈS ist auf diversen DVDs und Blu-rays erhältlich.

TROIS THÈMES (Kurzdoku): Alexeïeff und Parker bei der Arbeit an ihrem gleichnamigen letzten Film