Sonntag, 19. November 2023

Heiße Leidenschaften, schwitzende Körper und unerhörte stille Örtchen

Bericht vom 20. außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos 


5. Januar 2023 – Beginn des ersten Nürnberger Hofbauer-Kongresses seit Januar 2020. Vorfreude besonders hoch – und wieder mal nicht zu hoch, sondern völlig berechtigt, denn der erste Film, gleich eine Huldigung an den Namenspatron der Veranstaltung, war ein absoluter Knaller, ein wilder Ritt durch zahlreiche Genres innerhalb der Klammer Reportfilm, eine Kino-Offenbarung.



Donnerstag, 5. Januar 2023



ab 15:00 Uhr


HK-Teaser: MAN & WOMAN & ANIMAL. Geschlechterfragen im Spiegel des 70er-Populärkinos


DIE DRESSIERTE FRAU

Regie: Ernst Hofbauer

BRD 1972

35mm, dt. OV

DIE DRESSIERTE FRAU nimmt Esther Villars antifeministisches Buch "Der dressierte Mann" und Hannelore Schütz' und Ursula von Kardorffs Replik "Die dressierte Frau" als Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit Geschlechterbeziehungen in Form eines Reportfilms mit vielen kleinen Episoden.



Zwischen den schwierigen Debatten über Geschlechterbeziehungen wird auch Motorrad gefahren

In meinem lediglich fünften (und vorerst auch bester) Hofbauer zeigt sich der gebürtige Wiener wieder einmal als begnadeter formaler Könner, der aus praktisch jeder Szene ein bestaunenswertes Ereignis voller liebevoller oder skurriler Details und voller pfeffriger Energie zaubert.

Man bestaune nur einmal die Episode mit dem Konfirmandenunterricht, bei dem der lehrende Priester im Klassenzimmer stets so gefilmt wird, dass rechts im Hintergrund ein großes Kruzifix ragt und links ein Poster, das offenbar zum Biologieunterricht dient und unzählige Fische abbildet. Beim Gegenschnitt sieht man dann die Klasse mit den Jungs und Mädels, die sich lautstark und teils sehr vulgär streiten, während im Hintergrund durch die Klassenzimmerfenster ersichtlich ist, dass draußen gerade leise der Schnee rieselt. Vulgarität und Poesie, Derbes und Erhabenes stehen in DIE DRESSIERTE FRAU stets nahe beieinander.

Da gibt es die Episode mit dem Paar, das in der Wohnung lautstark Sex hat, die Nachbarin so stört, dass sie es sich noch lautstärker mit dem Vibrator selbst besorgen möchte, um es den Nachbarn heimzuzahlen – doch oh weh, der Vibrator fällt aus. "Wenn's Gerät ist im Eimer, kommen Sie zu Heimer!" liest die Frau in einer Werbeanzeige für einen Elektriker und ruft dort an – bloß dass der diensthabende Elektriker der Mann im Nebenzimmer ist, der nun die Gelegenheit hat, sich einen kleinen Seitensprung zu gönnen. Warum ein elektrisches Gerät nehmen, wenn es auch ein richtiges Gerät gibt? Ja, Hofbauer zeigt sich hier nicht nur als Meister des Schmiers, wenn die zweite Sexrunde von allerlei Wortwitzen zu Lötstellen und Wackelkontakten begleitet wird, er zeigt hier schon, dass er auch Ansätze zum Slapstick hat...

... die er dann in der großen "Eierszene" vollkommen aufblühen, eskalieren und explodieren lässt! Im weiteren Verlauf des Kongresses blieb diese eines der meistdiskutierten Highlights unter dem Publikum. Wir haben ein Ehepaar, das sich immer streitet, weil er ihr keine Spülmaschine kauft (Hausarbeit – das ginge doch in zwei Stunden pro Tag). Davon hat sie eines Tages die Schnauze voll und verlässt ihn, während er derweilen in seinem eigenen Dreck versinkt, größtenteils in Gesellschaft eines Kumpels, der den Dreck noch potenziert. Als die Ehefrau viele viele Tage später dann doch ihre sehr spontane Rückkehr ankündigt, ist für die beiden Männer klar: die paar dreckigen Teller und das bisschen Schmutz auf dem Boden kriegen sie schon alsbald weg. Was darauf folgt ist nicht weniger als die systematische, restlose Verwüstung der kompletten Wohnung, als beide Männer versuchen, "aufzuräumen": Eimer mit Seifenwasser werden umgeworfen, Porzellan so staubfein zerschlagen, dass es mit dem Staubsauger weggesaugt werden kann, Hosen werden mit dem Bügeleisen durchgeschmort, fliegendes Geschirr lässt Trennfenster zwischen Wohnzimmer und Küche bersten. Das ganze endet schließlich damit, dass der Kumpel, sich an der Gardinenschnur festhaltend, aus dem Fenster im zweiten Stock hängt, hungrig ist und von Rühreiern mit Speck schwärmt, während das Ehepaar (sie ist mittlerweile zurückgekommen und musste schon erste Schneisen der Verwüstung konstatierten) in der Küche hockt, sich etwas befummelt, während die auf dem wackeligen Küchenschrank liegenden Eier Stück für Stück auf ihre Köpfe fallen und platzen.

Diese explosive Lachsalve war aber keineswegs der Höhepunkt von DIE DRESSIERTE FRAU, denn Hofbauer hat seinen Sirk genau studiert und kann auch Melodrama, in einer Episode um einen Konzertpianisten, der sich eine Geliebte in einer separat bezahlten Wohnung hält und irgendwann von seiner Ehefrau zur Rede gestellt wird. Der berühmte erste Satz von Tschaikowskis erstem Klavierkonzert zieht sich als Leitmotiv durch diese Episode. Von zwei Streits mit Geliebter und Ehefrau aufgebracht, fährt sich der Pianist halsbrecherisch ins eigene Verderben: Unfall auf der Straße, Explosion des Autos... mit lauttönender Tschaikowski-Begleitung verschwimmen einzelne Bilder der Episode in einer wilden Montage mit einer animierten Partitur, die sich über die Mehrfachbelichtungen legt. Der erste große Wow-Moment des Kinos dieses Jahr.

Hofbauer kann auch beklemmend, in der Episode, die auch in dem Film direkt als jene der "sexuellen Hörigkeit" betitelt wird: eine Frau himmelt ihren Liebhaber (und dessen sehr bizarr vorstehendes Kinn) an, wird aber von ihm verächtlich, sogar übergriffig behandelt. Nachdem er ihr nach dem Sex, beide nebeneinander im Bett liegend, sehr kalkuliert "nebenei" offenbart hat, dass er nächste Woche heiraten wird, ist sie sichtlich schockiert. Weinend, von seelischem Schmerz sichtlich gequält beginnt sie, ihn zu reiten, und die Kamera weicht nicht von ihr, die sich mit Sex versucht zu betäuben, während sie eigentlich verzweifelt – eine quälend lange, unglaublich abgründige und finstere Einstellung.

Ohne Hofbauer als heimlichen Feministen zu bezeichnen, aber es doch manchmal verblüffend, wie "progressiv" manch vermeintlich "reaktionäre" Sexfilme sind: Frauen sind hier über weite Strecken die mutigen, regelbrechenden und tragischen Figuren, und Männer die feigen, spießigen und schuftig-niederträchtigen Figuren. Vor allem charakterisiert DIE DRESSIERTE FRAU Strukturen von Machtgefällen und Ungleichheit wahrscheinlich wesentlich treffender als so manch ein wohlwollender und "seriöser" Film.

Das Ende mit einem quasi-mustergültigen "gleichberechtigen Ehepaar" nimmt auf gewisse Art und Weise die "triviale" Auflösung von Monty Python's MEANING OF LIFE vorweg: irgendwie liegt es auf der Hand, dass das Leben angenehmer und einfacher wird, wenn man respektvoll und liebevoll miteinander umgeht, jeder mal ein bisschen was für den Haushalt tut und es im Bett um Liebe, Respekt, gemeinsames Lachen und Blödeln geht.



ab 17:00 Uhr


BIRDIE

Regie: Hubert Frank

BRD 1971

35mm, dt. OV

Ein Computer, der dafür programmiert ist, den idealen Partner aufgrund eines ausgefülllten Fragebogens zusammenzubringen, "matcht" die Teenagerin Birdie mit dem Fotografen Frank (oder vielleicht ist das ganze doch nur ein Werbe-Gag oder ein übler Witz von Franks Zeitungsredaktion). Frank, der gerne ein freies Leben führt, ist davon gar nicht begeistert, doch er hat nicht mit Birdies Hartnäckigkeit gerechnet, die mit allen Mitteln versucht, ihn zu verführen.

Als Teil der Hommage des Hofbauer-Kongresses an Eckart Schmidt lief BIRDIE als eine von mehreren kleinen "Sensationsfunden": der Film wurde wohl kurz nach der Premiere vom Distributor Paramount einkassiert und in den Giftschrank eingesperrt. Die gezeigte Kopie war dann auch quasi ungespielt (aber leider rotstichig).

Ob die Liebesgeschichte zwischen einer Teenagerin und einem Anfangdreißiger als zu "heikel" galt, oder die zerfahrene, launig-anarchische Erzählweise des Films (so eher die Vermutung eines Co-Zuschauers) den Film in den Giftschrank brachte, sei dahingestellt. Insgesamt kommt der Film wenig zotig daher, sondern eher wie die bundesdeutsche Variante einer Neo-Screwball-Komödie: er würde eigentlich ganz gut in ein Double-Feature mit WHAT'S UP, DOC? passen (ohne jedoch das irre Gag-Tempo, den treibenden Drive und die exquisite Chemie der beiden Hauptdarsteller aus Bogdanovichs Film zu erreichen).

BIRDIE war ohne Zweifel ein schöner kleiner Gute-Laune-Film, angenehme anderthalb Stunden Filmspaß – höchstens leicht getrübt davon, dass die Titelprotagonistin stellenweise in ihrem obsessiven Bestreben, mit Frank anzubandeln, durchaus Züge einer bedrohlichen, psychisch labilen Stalkerin an den Tag legt (was der Film offenbar nicht beabsichtigt und auch nicht weiter verfolgt) und dass Frank-Darsteller Walter Wilz mit seinem Bart eine irritierende Ähnlichkeit mit Robert Hossein hatte (aber eben nicht Robert Hossein war). Ansonsten ist der Film eine schöne Explosion unzähliger kleiner Einfälle, die meisten schwungvoll inszeniert, viele witzig, vielleicht nicht alle ganz so gelungen. Eine ausgedehnte Schachpartie Birdies mit einem Hund in ihrer Pension bleibt mir als kleiner, "unscheinbarer" Höhepunkt im Gedächtnis. Und der leicht durchgeknallte Filmemacherkollege von Frank, der immer wieder mit verrückten Einfällen um die Ecke kommt und irgendwann seine Idee von Aufklärungsfilmen für den Tiermarkt pitcht ("Wieviele Orgasmen pro Tag braucht ein Hund, um glücklich zu sein?").


BIRDIE war der erste Teil einer kleinen Hommage dieses Hofbauer-Kongresses an Eckart Schmidt (der mit Hubert Frank das Drehbuch schrieb). Schmidt war eingeladen, hatte zugesagt, musste leider aufgrund von Krankheit kurzfristig seine Anreise absagen.



ab 21:00 Uhr


GENERATION Z – DA WAR EIN HIMMEL

Regie: Eckhart Schmidt

Deutschland 2020

digital, dt. OV

Einige Episoden aus dem Leben junger Frauen in München.

Hofbauer-Kommandant Andi erklärte in seiner Einführung, dass Eckart Schmidt in den 2010er Jahren eine Art Renaissance erlebte und bis heute eine extrem produktive Schaffensphase führt, mit weit über Hundert Filmen, meist sehr spontan und kostengünstig digital gedreht.

Ich kann nicht behaupten, dass mich GENERATION Z – DA WAR EIN HIMMEL wirklich begeistert hat, aber der Film hat in seinen besten Momenten die rohe Energie einer Art von Filmemachen, bei der der Prozess wichtiger ist als das Endergebnis und die Sorglosigkeit eines Altmeisters, der die Regeln "guten Filmemachens" mit Schmackes über Bord geworfen hat, um das Kino oder zumindest sich selbst neu zu erfinden (eine Parallele wären wohl die späten digitalen Filme Giulio Questis).

Der Film entstand in Zusammenarbeit mit Schauspielstudentinnen. Die erste Episode dreht sich um eine junge Frau, die sich in der Münchener Innenstadt in einem Monolog zunehmend in Rage redet und von diffusem Weltschmerz allmählich ein Vergewaltigungstrauma aufarbeitet. Es ist die vielleicht schlüssigste Episode des Films, von großer emotionaler Intensität und mit nur wenigen Schnitten gedreht: am späten Nachmittag gedreht bricht die Dämmerung allmählich ein, das Licht ändert sich Stück für Stück, die Straßenlaternen werden irgendwann eingeschaltet.

Die Performances werden auf verschiedenen Straßen und Plätzen Münchens ausgetragen, dadurch schafft der Film einen Sense of Place, weil jeder Moment auch eine "Dokumentation" Münchener Straßenimpressionen ist. Kleine "spontane" Elemente im Hintergrund machen das ganze in den besten Momenten besonders lebendig: ein Bäckereiplakat, das ein Brot mit 92% Dinkelanteil als "nussig & saftig" anpreist; Obdachlose im Gespräch bei spirituösen Getränken auf einer Parkbank im Hofgarten; ein "Achtung: Dachlawine"-Schild beim Dianatempel; eine lebhaft-laute Kindergartengruppe, die im Hintergrund im gemächlichen Tempo eine Straße überquert; unzählige Passanten, die manchmal teilnahmlos vorbeilaufen, manchmal aber auch in die Kamera schauen.

Die klassisch-erzählerischen Elemente von GENERATION Z – DA WAR EIN HIMMEL sind vielleicht weniger gelungen als die impressionistisch-poetischen: einige der ziellos mäandernden Monologe (darunter bei einem Spaziergang durch den sonnengefluteten Hofgarten) sind wesentlich mitreissender als einige der längeren Dialoge am Telefon oder der Zwei-Personen-Dialogimprovisationen.



ab 23:55


HK-Teaser: WET BODIES – DER GANZ HEISSE WORKOUT aka #SPÜF: Der sportliche Überraschungsfilm


Vor der Anmoderation wurde zwecks Aufwärmung ein kleiner Musik-Clip digital kredenzt, nämlich "Upside Down" von Vanessa (hier zu sehen, zu bewundern)


PERFECT

Regie: James Bridges

USA 1985

35mm, engl. OV mit finn. & schwed. UT

Adam (John Travolta), Reporter für Rolling Stone, recherchiert einen Artikel über einen inhaftierten Geschäftsmann, der in eine Mafia-Drogengeschichte (möglicherweise auch mit politischem Sprengstoff) verwickelt ist. Als zweite Story arbeitet er nebenbei an einem Artikel über ein Fitness-Studio, das sich auch als idealer Treffort für Singles vermarktet. Verliebt in die Aerobic-Trainerin Jessie (Jamie Lee Curtis) verliert er langsam die Aufmerksamkeit für seine "Haupt-Story".


Aus den End-Credits (Hinweis: Bildformat ist falsch, der Film ist in Scope)

Der erste Film des Tages mit einem klassischen, durchstrukturierten Drehbuch (was vielleicht nicht ideal für Mitternacht war). Oder: Was wäre eigentlich passiert, wenn Alan J. Pakula oder Brian De Palma (letzterer bei BLOW OUT, auch mit Travolta) bei ihren finsteren Paranoia-Thriller-Geschichten... in ein Fitnessstudio gegangen wären?

Der dubiose Geschäftsmann McKenzie und das Fitness-Studio "Sport Connection" (mit der heißen Aerobic-Trainerin Jessie) laufen für Adam größtenteils parallel. Ab und zu nur kreuzen sich die Geschichten, wenn Travolta das heiße Vorspiel mit Curtis und ihrem Tutorial über das Aufwärmen der Muskeln und die erhöhte Blutzirkulation unterbricht, weil er ein Telefonat mit einem Interviewangebot erhält. Zwei Filme laufen also parallel in diesem gleichen Stück Zelluloid – irgendwie bizarr, befremdlich und um halb zwei Uhr morgens nicht ganz schlüssig. Im Nachhinein fügt sich das aber zusammen, und PERFECT erzeugt fast schon ein authentisches Gefühl für die "Abgehacktheit" des Arbeits- und Lebensalltags eines Journalisten, der natürlich mehr als ein Thema auf einmal beackert und irgendwann bei zwei sehr unterschiedlichen Geschichten den Kopf verliert.

PERFECT begibt sich zwischendurch auch auf eine Nebenstraße mit einem längeren Subplot um die Fitness-Studio-Stammkundin Linda, die hinter ihrem Rücken als "The most used piece of equipment at Sport Connection" betitelt wird. Adam interviewt sie in einem Male-Stripper-Club, begleitet sie dann auf einer Geburtstagsfeier, die dann auch aufgrund von zu vielen Drogen und Schnaps eskaliert. Linda war vorher so etwas wie die etwas durchschnittliche Besucherin von Sport Connection, die den Club wirklich als Treffbörse nutzen möchte – und wird in dem ihr gewidmeten Nebenpfad des Films zu einer wahrhaftig tragischen Figur, die verzweifelt nach menschlicher Wärme sucht und deswegen davon träumt, sich ihr Gesicht bei einer ästhetischen OP von einem kalten Skalpell bearbeiten zu lassen. Düsteres gibt es sicherlich bei McKenzie-Geschichte (gefühlt dem ungefilmten vierten Teil von Pakulas Paranoia-Zyklus), aber hier bei Linda blickt PERFECT auf die ganz finstere Seite des Reaganomics-Selbstoptimierungswahns.

Der unvergessliche Höhepunkt von PERFECT und sicherlich der Hauptgrund, warum dieser Film bei einem Hofbauer-Kongress lief, ist aber die schier U-N-F-A-S-S-B-A-R-E Aerobic-Trainings-Montage-Sexersatzszene, mit einem verschwitzten, voll Wunder, Freude, Anstrengung und Geilheit völlig gesichtsentgleisten John Travolta in (let's say: gemächtbetonten) kleinen Trainingsschlüppis, der in einer größeren Gruppe von Teilnehmnerinnen und Teilnehmern laszive Beckenbewegungen selig grinsend durchführt, während ihn aus einiger Entfernung Jamie Lee Curtis als Gruppentrainerin, die die Bewegungen und den Rhythmus vorgibt, ihn mit feurigen Blicken und nicht-hörbarem, aber dennoch auch ohne Worte spürbarem Dirty Talk anfeuert. Das ganze auf großer Leinwand und in Scope (hier ein Ausschnitt auf Youtube, leider im falschen Bildformat: totale Unfassbarkeiten ab 2:03)! Wow!


Der angeteaserte ganz heiße Workout (Hinweis: Bildformat ist falsch, der Film ist in Scope)




Freitag, 6. Januar 2023


ab 12:30 Uhr


LOVE'S PLACES – PLÄTZE DER LIEBE

Regie: Eckhart Schmidt

Deutschland 2019

digital, dt./engl./ital. OV

Impressionen aus dem zeitgenössischen Leben junger Frauen in Nürnberg, Frankfurt, Berlin und München, erzählt mit mythologischen, fantastischen, politischen und dadaistischen Backstories.

Die erste Stunde des Films hat mich ehrlich gesagt komplett abgehängt. Lange monologisierende Episoden mit jungen Frauen, die durch die genannten Städte laufen, mit jeweils etwas anderem Fokus hier und da: in Nürnberg geht es in die mythologisch-fantastische Richtung, in München leicht historisierend (der Hauptteil spielt an bei einem Münchner Prachtbauwerk aus dem 18. Jahrhundert, das ich nicht mehr benennen kann) in Berlin wird es irgendwie politischer, weil da gleich auch noch eine Demo mitgefilmt wird.

Wie bereits weiter oben erwähnt: ich glaube Eckhart Schmidts neuere Filme sprechen ich am meisten in den Momenten an, in denen sie sich ganz in ihren experimentellen Ansatz reinwerfen und die letzten Überreste klassischer Narration hinter sich lassen. In LOVE'S PLACES – PLÄTZE DER LIEBE passierte für mich dann die Magie in den letzten zwei Episoden (Berlin und Frankfurt?): die letzte Episode, bei der die junge Dame durch einen Innenhof (einen Schulinnenhof?) wandelt, habe ich als leichtfüßigen, für Quatschiges offenen, von Narrationsballast komplett ungebundenen Filmspaziergang empfunden.



Ab 14:45 Uhr


HK-Teaser: Ein saftiges Sittenbild aus Edos Opiumhöhle


PORUNO JIDAIGEKI: BOHACHI BUSHIDO ("Boachi Bushido: Code of the Forgotten Eight")

Regie: Ishii Teruo

Japan 1973

35mm, jap. OV mit engl. UT

Der Selbstmordversuch des Ronins Shino (Tanba Tetsuro) schlägt fehl, als er vom Clan der Bohachi gerettet wird. Die Bohachis leiten Edos Rotlichtviertel mit eiserner Hand und Terror und können Shino als Handlanger gut gebrauchen. Der findet schnell Geschmack an den sexuell-gewaltsamen Terror-Methoden der Bohachi.


Kampfsequenz im Prolog (hier in Farbe)


Ein ordentlicher Tritt ins Schienbein alles Anständigen, eine comichafte, psychedelische Feier von sexuellen oder mindestens stets sexuell konotierten Gewaltexzessen. Ein Herzstück des Films sind sicherlich die in Manier einer Trainings-Montage dem Neuankömmlich Shino erzählten Codizes der Bohachis, die ein wenig aussehen wie ein Regelwerk, das der Marquis de Sade bei einem imaginären Japan-Urlaub den Oberzuhältern von Edo geschenkt hätte: Verrat, Missgunst, bestialische Folter, sexuelle Unterwerfung und Erniedrigung.

Ishii drückt schon ordentlich auf die Tube, auf dass der geneigte Kongressbesucher stets etwas zu bestaunen hat. Ich kann nichts anderes sagen: ich hatte schon Spaß. Wirklich nachhaltig wirkte das ganze nicht, weil es mir dann vorkam, dass doch etwas zu viele Figuren austauschbar und die Hauptfigur (gespielt von Tanba Tetsuro, im Westen bekannt als Tiger Tanaka im Bond-Film YOU ONLY LIVE TWICE) eher rudimentär holzschnittartig und merkwürdig charismaarm wirkte. Vielleicht schwerwiegender ist, dass die gezeigte Kopie rotstichig war und die wahre Farbenpracht des Films nur erahnen ließ: gegen Ende wird Shino von einer Prostituierten mit Opium betäubt – er erlebt einen psychedelischen Farbenrausch, den man in dieser Aufführung nur erraten konnte.



Ab 17:00 Uhr


HK-Teaser: Eine Trouvaille aus dem Kleiderschrank der Verlorenen


SCARF OF MIST, THIGH OF SATIN

Regie: Joseph W. Sarno

USA 1967

35mm (Interpositiv), engl. OV

Intrigen und doppelte Spiele in der New Yorker Modeszene...

...na ja, besser gesagt: einer Hinterhof-Klamottenklitsche. Abgesehen von einem Opening Shot, in dem tatsächlich ein klein wenig New York im Winter zu sehen ist, spielt SCARF OF MIST, THIGH OF SATIN ausschließlich in einem leeren Studio, bei dem die Darsteller vor der gefühlt immer gleich flach ausgeleuchteten Studiowand agieren. Nur ein paar spärliche Möbel und die eine oder andere Wand-Deko (ein Gemälde mit galoppierenden Pferden bleibt da als kleiner kreativer Marker im Gedächtnis) zeigen an, dass die Räumlichkeit sich geändert hat.

SCARF OF MIST, THIGH OF SATIN ist mein dritter Sarno-Film, und sicherlich der schwächste. A TOUCH OF GENIE sticht thematisch und atmosphärisch heraus in einer sehr bizarren Mischung aus jüdischem Borscht-Belt-Humor mit Slapstick-Elementen und Hardcore-Porno (er ist irgendwie faszinierend, nicht unbedingt in einem nur positiven oder nur negativen Sinne). DEEP INSIDE ("Das Strandhaus") ähnelt SCARF OF MIST, THIGH OF SATIN in der eher ungelenken Inszenierung reduzierter Räume (gleichwohl die Lichtsetzung mir etwas kontrastreicher erschien), hat mich aber durch seine einlullende Abhäng-Atmosphäre gefallen: DEEP INSIDE will nichts Großes erzählen, sondern präsentiert nur ein paar Leute, die in einem Ferienhaus trinken, Karten spielen und Sex haben.

Hier scheint zumindest für mich das große Problem von SCARF OF MIST, THIGH OF SATIN zu liegen: er versucht, eine halbwegs klassische A-Movie-Erzählung innerhalb eines B-Movie mit den inszenatorischen Fähigkeiten eines Z-Movie zu erzählen. Heißt: die Figuren erzählen in tristen Sets die Handlung in qualvoll langen Expositionsdialogen, manche Szene mit noch mal mehr Expositionsdialogen wird nur eingefügt, um die vorangegangene Szene dramaturgisch auszuerklären. Die Kamera bewegt sich im ganzen Film gefühlt vielleicht zwei bis drei Mal: die Figuren laufen in das Bild hinein, wenn sie reden müssen und entfernen sich aus dem Bild, wenn ihre Zeilen aufgesagt sind. In dieser immergleich bleibenden Form hat mich der Film ehrlich gesagt sehr schnell ziemlich genervt – wer geneigt ist, kann das auch als eine Form von Dilettanten-Avantgarde wahrnehmen, was ein nicht unbeachtlicher Teil des Publikums dann auch gemacht hat. Daher lade ich auch dazu ein, die größtenteils positiven Bewertungen einiger Kongressbesucher bei letterboxd hier zu lesen. SCARF OF MIST, THIGH OF SATIN war eine der großen archivalischen Entdeckungen dieses Hofbauer-Kongresses: der Film galt bis dato als verschollen, eine Interpositiv-35mm-Kopie wurde allerdings bei einem deutschen Filmarchiv vom Hofbauer-Kommando aufgespürt (insofern schmerzt es mich schon etwas, dass ich ihn nicht mag, aber ich wertschätze natürlich trotzdem, dass er gezeigt wurde).



ab 21:00 Uhr


WO DER WILDBACH RAUSCHT

Regie: Heinz Paul

BRD 1956

35mm, dt. OV

Der reiche Bauer Muralt, bei dem die meisten Dorfbewohner Schulden haben, liebt die Magd Maria. Doch diese liebt den Sohn des Bürgermeisters Lorenz und ehelicht ihn dann auch. Gekränkt schenkt Muralt dem Brautpaar eine übermäßig prunktvolle Kutsche und erscheint betrunken und pöblend zur Hochzeitsfeier. Muralts Ansehen im Dorf könnte nicht tiefer sinken – doch dann stürzt Lorenz bei einem Streit mit ihm auf einer Brücke über dem Wildbach in den Tod. Nach 20 Jahren Gefängnis kehrt Muralt zurück ins Dorf.

WO DER WILDBACH RAUSCHT war der diesjährige Vertreter des klassischen deutschen Heimatfilms auf dem Kongress – ein Genre, das vom Hofbauer-Kommando besonders geschätzt wird, weil es eben auch darum gehen soll zu zeigen, dass das gängige Urteil des Filmkanons (Heimatfilm = seichte idyllische Welten, die filmästhetisch eh nicht der Beachtung wert seien) auch überprüft gehört.

Und tatsächlich ist WO DER WILDBACH RAUSCHT nicht weniger als ein ebenso bretthartes wie meisterhaft inszeniertes Melodrama. Manche Zuschauer bezeichneten den Film in der darauffolgenden Pause sogar als bayerischen Western. Für mich noch auffälliger sind die Szenen in Muralts prachtvollem Haus, die weniger nach Heimatfilm oder nach Western aussehen als dass sie mit ihrer alles in intensive, dunkle Schatten tauchenden Low-Key-Fotografie irgendwo zwischen Gothic-Horror und Film Noir schwanken. Ein gemeinsames Abendessen mit Muralt und seinem Oberknecht Wolf könnte, wenn man sich die beiden Männer in großstädtischen Anzügen und nicht in bayerischen Trachten denkt, auch die Besprechung zweier Gangster in einem amerikanischen Noir sein.

Was den Gothic-Horror betrifft: eine Pferdekutsche, die Muralt der Braut als protziges Geschenk vorfahren lässt, wird von den Dorfbewohnern aus dem Dorf ins freie Feld gekarrt. Dort steht es herrenlos in der Dämmerung – eine einzelne Einstellung voller unterschwelliger Bedrohlichkeit, die sich erbarmungslos in den Kopf einbrennt (solche Einstellungen von omimösen "leblosen" Gegenständen, die bedrohlich in der Gegend rumstehen, kennt man besonders von John Carpenter – der das über zwanzig Jahre später gemacht hat).

Muralt, der arrogante "Geld-Adelige" des Dorfes, ist trotz einer gewissen Lächerlichkeit, auch trotz einer gewissen Bedrohlichkeit am Ende vor allem eine sehr tragische Figur. Im Laufe des Films wurde er (trotz seiner Schwächen, Fehler und zweifelsohne seiner Abgründigkeiten) für mich zum Helden, oder zumindest zum großen tragischen Anti-Helden des Films: trotz seines ganzen Gelds ein Außenseiter, ein "Freak". Die Dorfgemeinschaft hingegen: an der Oberfläche freundlich, idyllisch, "einfach" lebend – und wenn das Blut hochkocht ein wilder zorniger (Lang'ianischer) Lynch-Mob, das den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus offensichtlich nicht wieder gekittet hat. Einige Szenen zeigen auch, wie die "autochtonen" Einheimischen einen zugezogenen italienischen Dorfbewohner (aufgrund seines handwerklichen Könnens – war er der Dorfschneider? – eigentlich ein unverzichtbares Mitglied der Gemeinde) absolut aus dem Nichts als "Spaghettifresser" beschimpfen. Eine Szene, die möglicherweise als eine Art Comic-Relief gedacht war, aber das Profil der Dorfgemeinschaft als Missgunst-Gemeinschaft schärft.

Vergewaltigung, eine von Paranoia, Hass, Rassismus und toxischer Männlichkeit zerfressene und zersetzte Dorfgemeinschaft, die jegliche Abweichung erbarmungslos bestraft oder mit Gewalt verfolgt, unterschwellig inzestuöses Begehren, Lynchfantasien – zumindest WO DER WILDBACH RAUSCHT ist keineswegs die eskapistisch-seichte Friede-Freude-Eierkuchen-Unterhaltung mit idyllischem Dorfleben, auf die der Heimatfilm immer wieder reduziert wird. Die Erzählstruktur von WO DER WILDBACH RAUSCHT ist gleichzeitig sehr episch und elliptisch, eine Zeitspanne von zwanzig Jahren wird tatsächlich mit nur einem einzigen Schnitt und ohne jegliche Texttafel, Voice-Over oder sonst irgendwelche chronologischen Marker überbrückt. Einige Co-Kongressniki fanden das erzählerisch nicht besonders elegant gelöst, ich fand es auf eine faszinierende Weise bizarr, fast schon leicht exzentrisch. Passend zu diesem kleinen Prachtstück, einem der großen Höhepunkte dieser Kongress-Edition.



Speaking of Höhepunkte...



ab 23:15 Uhr


HK-Teaser: DEUTSCHLAND INTIM: WENN DIE SEKTKORKEN KNALLEN aka #SCHMÜF: Der außerordentlich schmierige Überraschungsfilm


Man könnte auch sagen: ein infernalisches Double-Feature aus Weihwasser und Sperma, Messwein und Natursekt


Kurzvorfilm:

CHRISTEN UND KIRCHEN: DIE TAUFE

Regie: Jürgen Grünler

BRD 1983

16mm, dt. OV

Was bedeutet eigentlich eine Taufe? Was ist die Konfirmation? Eine Gruppe jugendlicher Christen geht in diesem kurzen Dokumentarfilm diesen Fragen auf den Grund.

Bundesdeutscher 80er-Trist-Mief bildet das Hauptaroma dieses irgendwie charmanten Bildungs-Kurzfilms rund um Jugendliche, die in Konfirmationsvorbereitungskursen diskutieren. Eine gleichzeitig sehr unpassende und dann doch wieder sehr sehr passende Einführung zum Hauptfilm.

Die logische Überleitung: was machen denn diese Konfirmanden und Konfirmandinnen nach ihrer Konfirmation? Vielleicht... ausreißen?


Hauptfilm:

BIGGI – EINE AUSREISSERIN

Regie: Charles Köhn

BRD 1980

35mm, dt. OV

Biggi reisst aus und erlebt bei einem reichen Ehepaar, später in einem Bordell einige erotische Abenteuer.

Die Ankündigung "außerordentlich schmieriger Überraschungsfilm" war keineswegs zuviel versprochen, denn diese völlig unfassbare filmische Total-Eskalation namens BIGGI – EINE AUSREISSERIN lieferte eine der denkwürdigsten und sicherlich die verstrahlteste Vorstellung des 20. Hofbauer-Kongresses. Ein völlig wahnsinniger Film, dem mit gängigen Rezeptionsmitteln wohl kaum beizukommen ist. Ein beachtlicher Teil des Publikums tobte geradezu vor schierer Freude, vor totaler Unfassbarkeit, vor ungläubigem Staunen (oder feuerte Biggi auch mal begeistert an, wenn sie auf ihre Sexpartner*innen urinierte) während ein anderer Teil mit Brechreiz und Gehirnkernschmelze kämpfte.

Die Schublade "Porno" ist auf jeden Fall zu klein für BIGGI – EINE AUSREISSERIN. Der Film ist eher eine Odyssee durch den versifften Unterleib des bundesdeutschen 80er-Trist-Miefs, ein Eintauchen in Dreck, Schmier, Vulgarität und literweise, wenn nicht gar hektoliterweise Pisse – und das ganze auch nicht als existentialistisch-transgressive Depri-Nummer, sondern als eine sich vergnügt, frisch-frech-fröhlich und lachend gebende Riesen-Gaudi (inklusive eines "Happy-Ends", bei dem Biggi wieder von ihren Eltern in einer tristen Straße mit grauen Reihenhäusern empfangen wird, der Vater, am hellichten Tag, stilecht mit einem geöffneten Bier in der Hand).

Teenagerinnen, die es mit fetten alten impotenten Männern mit Mikropenissen treiben, ein etwas potenterer Butler mit schweren Flatulenzen, Gruppensex im Handwerkerkeller mit diversen Farben die so aussehen als wären sie nicht gerade gut für die Haut und die durcheinandergemischt nur ein unappetitliches Matschebraun (auch trotz beigemischtem Urin) ergeben, eine Kneipe mit einem Oberkellner der einfach in das Sektglas pinkelt um aufzufüllen – und das ganze ist nur die Bildebene. Die Tonspur (komplett nachsynchronisiert und in der Lippensynchronität nur selten präzise, was die bizarre Atmosphäre des Films noch steigert) ist eine Dauerbeschallung aus sexuellen, aber durch und durch unerotischen Vulgaritäten, ein Vokabular fast aus einer Parallelwelt, in der alles nur noch in Bezug zu harter Fickerei (von Sex kann kaum noch gesprochen werden) gesetzt wird. "Was für ein schöner Diamantenring, den er mir schenkt" – würde es in einer normalen Welt heißen, aber hier wird daraus "Da steckt der mir doch echt einen Diamanten auf meine Wichsgriffel". Man könnte wohl nur anhand dieses Films ein Lexikon der vulgärsten Sexbegriffe zusammenstellen. Nur an einer Stelle wurde es undeutlich: eine Schimmelbeschädigung hatte einen Teil der Tonspur angegriffen, so dass für einige Minuten die Dialoge zu einem kleinen, stockenden und rauschenden Musique-Concrète-Experimentalstück verfremdet wurden – "Schimmel-Avantgarde" sagte voller Begeisterung einer der Hofbauer-Kommandanten!

Wie haben denn eigentlich Besucher halbseidener Pornokinos damals, 1980, auf diesen Film reagiert? Haben sie sich empört die Hose wieder zugeknöpft und haben an der Kasse ihr Eintrittsgeld zurückverlangt? Oder sind sie in eine Art Trance oder Hypnose gefallen angesichts dieser Unfassbarkeiten? "Ein dadaistisches Meisterwerk" lautete das Fazit eines Hofbauer-Kommandanten direkt nach dem Film. Dem würde ich nicht viel entgegensetzen.

Vielleicht nur hinzufügen: ein außerordentlich denkwürdiger Moment ist der Beginn einer lesbischen Sexszene auf der Toilette in der Villa des gutbetuchten alten Lustmolchs mit dem winzigen Penis. Da in Deutschland Ordnung herrscht, hängt da auch eine Tafel mit einer Toilettenordnung mit fein säuberlich angeordnten, durchnummerierten Punkten. Keine zwei Minuten später sind die beiden Damen in der Badewanne und urinieren sich gegenseitig an, in völliger Missachtung der vorher sehr markant gezeigten Toilettenordnung. BIGGI – EINE AUSREISSERIN mag durchaus sehr anarchisch sein, aber das war eine Stelle, wo man doch vermuten musste: der Wahnsinn hat System!



Samstag, 7. Januar 2023


ab 14:15


DER KONGRESS TANZT

Regie: Erik Charell

Deutschland 1931

35mm, dt. OV

Die Wiener Handschuhmacherin Christel verliebt sich in ihrer Heimatstadt anno 1815 in einen äußerst charmanten Mann – der zufälligerweise der russische Zar Alexander I. ist. Metternich sieht in dieser Liebelei Potential, um seinen Gegenspieler von den Verhandlungen beim Wiener Kongress abzulenken. Doch die russische Gesandtschaft hat auch einen Zaren-Doppelgänger im Köcher. Turbulenzen und Liebe, Lachen und Weinen folgen, wie es das "nur einmal gibt".


Metternich (Conrad Veidt) lässt sich die Morgennachrichten direkt ans Bett bringen


DER KONGRESS TANZT dürfte einer der "kanonisiertesten" deutschen Filme sein, die jemals auf dem Hofbauer-Kongress liefen. Die Programmierung beim Kongress hob natürlich noch mal die archäosleazologischen Aspekte (aka "Frühschmier") hervor und ermöglichte, diesen ohnehin wunderbaren Film noch mal in einer wunderbaren Form, also im Kino und auf einer exzellenten 35mm-Kopie zu erleben: die fetzigen oder wahlweise bittersüß-romantischen Musiknummern ("Das gibt's nur einmal" – natürlich mehr als einmal vorgetragen, "Wien und der Wein"), die spritzig-perlende Lilian Harvey als verliebte Handschuhverkäuferin, ein herrlich schmieriger Conrad Veidt als intrigant-gerissener Metternich, Willy Fritsch wahlweise als romantisch-verträumter Zar Alexander oder als entweder gelangweilter oder in Zarenkostüm überforderter Sicherheits-Double Uralsky, das heimliche Herz des Films Otto Wallburg als Zarensekretär Bibikoff (mit seinem Begehren, Leute immer auspeitschen und nach Sibirien verfrachten zu lassen), und nicht zu vergessen die absolut fantastische Kamera (Carl Hoffmann), die absolut federleicht durch gigantische Komparsenszenerien gleitet und tänzelt (und das nicht nur in der atemberaubenden "Das gibt's nur einmal"-Kutschenfahrt).

DER KONGRESS TANZT sah ich zum ersten Mal bei einem geselligen Adventsabend des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte an der Uni Jena 2007 – der Film wurde von der Vertretungsprofessorin im Rahmen ihrer Vorlesung zu kulturgeschichtlichen Annäherungen an russische Diplomatiegeschichte vom 18. bis 20. Jahrhundert ausgewählt. Ein vergnüglicher Abend mit netten Kommilitoninnen und Kommilitonen, Glühwein und Plätzchen und DER KONGRESS TANZT auf dem Röhrenfernseher eines Seminarraums. Die Professorin wertschätzte im Anschluss auch den Wert der filmästhetischen Attraktionen über die trockene Faktenlage (in etwa: "In den Fakten nicht sehr akurat, aber trotzdem sehr unterhaltsam und schön... Nein, GERADE deswegen!").

DER KONGRESS TANZT ist auch ein Lichtblick des späten Weimarer Kinos bevor die Nazis der Freude ein Ende setzten. Ein großer Anteil der an zentralen Positionen vor und hinter der Kamera beteiligten Personen waren jüdischer Herkunft und mussten 1933 vor den Nazis fliehen. Bibikoff-Darsteller Otto Wallburg und Co-Drehbuchautor Robert Liebmann waren nicht weit genug bis ins sichere Hollywood geflohen und wurden in Auschwitz ermordet.



ab 16:45 Uhr


HK-Teaser: HEISSE SEHNSUCHT, KALTE KASTE. Schulmädchen-Liebesschicksale im indischen Ozean


GEHENU LAMAI ("The Girls")

Regie: Sumitra Peries

Sri Lanka 1978

35mm, singhalesische OV mit engl. UT

Ein junges Mädchen verliebt sich in einen Klassenkameraden aus einer höheren Klasse. Dieser wechselt nach seinem Abschluss die Seiten und wird Lehrer seiner Verehrerin – und schließlich auch ihr Geliebter. Die heikle Lehrer-Schülerin-Situation wird noch dadurch verschlimmert, dass sie zu einer niedrigeren sozialen Schicht gehört. 

Eine aus einer Retrospektive des Berliner Arsenal zu weiblichen Regisseurinnen mitgebrachte Rarität. Sumitra Peries arbeitete nach ihrem Abschluss an der London School of Film Technique (wo sie wohl die einzige Frau in ihrem Studiengang war) als Cutterin, unter anderem für die Filme ihres Ehemanns, dem Regisseur Lester James Peries. Ihr Debütfilm als Regisseurin GEHENU LAMAI war wohl erste von einer Frau inszenierte Film in Sri Lanka. In den 1990er Jahren arbeitete sie (ähnlich wie eine andere weibliche Pionierin ihres Kinolandes, Lana Gogoberidze) als Diplomatin in Europa, inszenierte aber weiterhin Filme bis Ende der 2010er Jahre. Die beim Kongress gezeigte Kopie stammte aus Peries' Privatbesitz und ist wohl besonders selten (vielleicht die einzige Kopie des Films). Wie mit der Kopie nach dem Kongress verfahren wurde, ist mir unbekannt: Sumitra Peries starb nämlich 12 Tage nach dieser Vorführung im Alter von 87 Jahren. Es ist also wahrscheinlich, dass dies die letzte öffentliche Vorführung dieses Films zu ihren Lebzeiten war.

Die Kopie war ehrlich gesagt "schwierig" und machte die Sichtungssituation auch eher sub-optimal: sie war sehr verwaschen, das Schwarzweiß extrem kontrastarm, die fest eingebrannten weißen Untertitel hatten keine Outline und verschwanden über weite Teile des Films in den fast immerzu blendend weißen Oberteilen der Figuren – wenn die Untertitel überhaupt erschienen, denn hier war wohl nach dem Motto "Wir fassen nur das wichtigste grob zusammen" verfahren worden und bestimmt ein Drittel, wenn nicht gar die Hälfte der Dialoge waren untertitelfrei. Manche Zuschauer gaben ganz auf und verließen die Vorstellung. Andere Zuschauer gaben dann wohl irgendwann die Mühe auf, den Untertiteln Aufmerksamkeit zu schenken und schauten den Film dann nur noch rein audiovisuell ohne Textverständnis – so zumindest ich nach wohl etwa 30 Minuten.

Und zu entdecken gab es in diesem leise (aber dennoch dialogreich erzählten) Liebesfilm visuell so einiges: eine extrem dynamische Kamera, die in langen Schwenks den Figuren folgt, durch Dickichte von Ästen oder kunstvollen verzierten Fenstergittern oder in Spiegelungen filmt, dazwischen immer wieder Zooms. Einige wenige ausgesuchte Closeups sorgten für besonders emotionale Momente. Das klingt nicht nach viel, aber trotzdem ich vor dem Film bei nicht mal der Hälfte in Sachen Textverständnis kapitulieren musste, hat mich der Film emotional immer wieder gepackt.

Ein Foto aus einer Vorführung des Films war auf dem Postkarten-Titelbild dieser Kongress-Edition vertreten, inklusive des perfekt zum Kongress passenden Untertitels "May be rubbish to you – but meaningful tu us."



ab 21:00 Uhr


HK-Teaser: DIE SPELUNKE DER FEURIGEN TRIEBE aka #BRÜF: Der brünftige Überraschungsfilm


AMARELO MANGA

Regie: Cláudio Assis

Brasilien 2002

35mm, port. OV mit UT

Leben, Essen, Lieben, Träume, Begehren, Obsessionen und Sterben verschiedener Hotel- und Kneipen-Wirte und -Gäste in einem Armenviertel von Recife.


Die resolute Kneipenwirtin Lígia und der zwielichtige deutsche Ex-Militär Isaac


Man stelle sich vor, Robert Altman hätte einen seiner Ensemblefilme nicht in der Country-Szene von Nashville, in den kleinbürgerlichen Vorstädten von Los Angeles oder in der Mode-Szene von Paris, sondern in den Elendsvierteln von Recife gedreht – und hätte sich vor Beginn jedes Drehtags noch einen starken Joint und eine halbe Pulle Cachaça reingepfiffen...

Die Struktur von AMARELO MANGA ("Mangogelb" – eine Haartönung, die man in diesem Film-Recife beim Straßenfriseur ordern kann) teilt sich mit Altmans Ensemblefilmen die lose, impressionistische, an zielgerichteter Narration wenig interessierte Erzählweise. Im Grunde ein "All character, no plot"-Film – und was für einer!

Warum nicht über die Figuren ein wenig diesen hochenergetischen, elektrisierenden Film erschließen? Es gibt zum Beispiel Lígia, die Besitzerin einer Eckkneipe, die uns in den Film einführt, deren Interaktionen mit ihren Gästen irgendwo zwischen warmer Herzlichkeit und einem sehr bestimmtem Abwehren sexueller Übergrifflichkeiten schwankt. Es gibt Wellington aka "Der Kannibale" (im Viertel so genannt, weil er wohl einmal einen Mann getötet hat), der Fleischereiarbeiter, der regelmäßig ein halbes Rind in das "Hotel Texas" liefert und eine Affäre mit der Kioskverkäuferin Daisy hat, von der seine Frau Kika, ein gläubiges Mitglied einer radikalen evangelischen Sekte, die Anfang der 2000er Jahre in Brasilien florierten, nichts weiß. Im "Hotel Texas" wohnt Isaac, ein "Deutscher" mit unklarer und dubioser Vergangenheit (in einem kurzen Kameraschwenk durch sein Zimmer, na ja, seine Absteige, sieht man eine Armeeuniform an der Wand hängen: NVA? Stasi?) und einem bizarren Hobby, das eine Pistole und aus dem Leichenschauhaus geschmuggelte Leichname benötigt. Eine andere Bewohnerin ist Dona Aurora, eine ältere Dame, die mit chronischen Lungenproblemen zu kämpfen hat und immer wieder auf ihr Zimmer muss, um dort an einem Sauerstoffgerät durchzuatmen. Gastronomisch verköstigt werden sie von Dunga, dem Hotelkoch, ein sehr exaltierter schwuler Mann, der offensichtlich ein Auge auf seinen Fleischlieferanten Wellington geworfen hat. Zum Essen kommt auch immer wieder ein "arbeitsloser" Priester, dessen "traditionelle" Kirche geschlossen wurde aufgrund der "Konkurrenz" durch radikale evangelische Sekten.

Wenn Lígia, die Kneipenwirtin, das Rückgrat des Films ist (mit ihr beginnt der Film und schließt der Film in einer Art Kreisbewegung im Epilog ab), dann ist Dunga, der Koch (und De-Facto-Geschäftsführer des "Hotel Texas" in Abwesenheit des eigentlichen Chefs – und dieser wird dann im Laufe des Films dann auch sehr "abwesend" sein) das emotionale Herz von AMARELO MANGA. In den ersten Momenten fast ein wenig eine "Tunten-Witzfigur", entwickelt er sich im Laufe des Films zu einer emotional sehr berührenden, charismatischen Hauptfigur, vielleicht auch, weil Darsteller Matheus Nachtergaele für mich ganz besonders herausstach – wohlgemerkt in einem fantastischen Ensemble von Darstellern.

Ein wichtiger Darsteller von AMARELO MANGA ist auch Recife: eine Stadt, die ich bislang nur vom Namen her kannte, und die mir nach dem Film wesentlich plastischer erscheint. AMARELO MANGA ist nicht nur ein Charakterfilm, sondern auch ein Stadtfilm, der immer wieder en passant das Gewusel auf den Straßen, die Architektur der Stadt und die beeindruckenden Panoramasichten (von einer eher ärmlichen Siedlung auf einem Hügel aus gesehen) zeigt – wenn er sich nicht gleich aus der "eigentlichen" Filmhandlung für eine Weile einfach mal komplett ausklinkt, um in semi-dokumentarischen Bildern vom pulsierenden Leben der Stadt oder in einzelnen individuellen Portraits von echten Charakterfressen der Straße zu schwelgen, deren Geschichte er vielleicht auch erzählen könnte...

In der englischen Wikipedia wird AMARELO MANGA als Low-Budget-Film bezeichnet, das sieht man ihm allerdings keineswegs an, mit seinen immer wieder spektakulären, schwebenden Overhead-Shots, die über Raumwände hinweggehen, seinen langen, kunstvollen Fahrten durch überfüllte Straßen oder durch die verschlungene Architektur des "Hotel Texas" – ein großartiges Filmset, das ein eigenes kleines Universum eröffnet.

Die Verbindungslinie ziehe ich daher bewußt zu Robert Altman, der einen sehr pessimistischen Blick auf die Menschheit hat, wenngleich er seine einzelnen Figuren auch in ihren Schwächen liebt – und nicht zum zynisch-kalten Post-Tarantino/Tarantino-Ripoff'ism-Kino (mit dem einige den Film fälschlicherweise assoziieren könnten). AMARELO MANGA ist keine Freak-Show, keine technokratische Fingerübung, sondern trotz einiger Härten ein warmer, ja warmherziger und auch ein sehr optimistischer Film. Die Essen im "Hotel Texas" sind bestimmt keine 5-Sterne-Büffets, werden aber voller Liebe zu den Figuren und zu kleinen Details gefilmt. Bei einem dieser Abendessen bekommt Aurora einen Hustenanfall: der "arbeitslose" Priester packt sie von hinten in einer Art Heimlich-Griff, aber offensichtlich nimmt er die Gelegenheit wahr, um ihre Brüste zu betatschen. Das anschließende Gespräch erhellt uns, dass Aurora wohl beim Essen immer wieder solche Anfälle hat – als chronisch lungenkranke Frau (sie muss in ihrem Zimmer regelmäßig Sauerstoff aus einem Gerät atmen) ist das nicht völlig abwegig, aber es scheint fast angedeutet zu sein, dass hier ein kleines Ritual der körperlichen Nähe und emotionalen Anteilnahme zwischen zwei einsamen Seelen in dieser Abstiege gefeiert wird. Und das Ende schließlich: Eine junge Frau, die sich offensichtlich aus den Griffen einer evangelischen Sekte ebenso gelöst hat wie aus einer tristen, kalten Ehe, läuft rasch und sehr bestimmt durch die Straßen, greift sich dabei an die Hand, streift ihren Ehering ab und wirft ihn weg, und (ohne auf den Klang zu reagieren, den der Ring macht, als er auf den Asphalt fällt – welch großartiges Detail!) läuft weiter schnurstracks auf ihr Ziel weiter... Was für ein Bild von neuentdeckter Lebenslust nach einer Zeit des persönlichen Stillstands.


Claudio Assis war 42 Jahre alt, als AMARELO MANGA seine Premiere hatte. Der Regisseur der Filme im nächsten Filmblock war etwa doppelt so alt...


ab 23:30 Uhr


Bruno-Sukrow-Programm


HEITER BIS WOLKIG

Regie: Bruno Sukrow

Deutschland 2010

digital, dt. OV

Sukrow filmt sich selbst in seiner Wohnung, also sprich: in seinem persönlichen Filmstudio. Er tritt in Dialog mit animierten Figuren, die er über seinen Couchtisch gehen lässt oder auch mit sich selbst: manchmal sprechen zwei Bruno Sukrows miteinander (wenn er sich doppelt), oder aber nur zwei halbe Sukrows, wenn der schwebende, beinlose Oberkörper sich mit dem "oberkörperfreien", sich auf der Wohnzimmercouch fläzenden Rumpf streitet. Dazwischen immer wieder kleine Inserts mit Naturimpressionen.


DIE WAHRE TITANIC

Regie: Bruno Sukrow

Deutschland 2010

digital, dt. OV

Die Titanic treibt in einem Bruno-Sukrow-Rhythmus durch einen blauen Pixel-Animationsrausch. Strandschönheiten sonnen sich am Deck, Heizer prügeln sich fröhlich im Heizraum und Abends steppt auf dem Parkett des Ballsaals der Bär, während sich der Eisberg immer mehr nähert... gibt es Rettung für ihn?


DER ALTE MANN UND DAS MEER

Regie: Bruno Sukrow

Deutschland 2010

digital, dt. OV

Welch perfekt programmierter Film, knapp ein Tag nach WO DER WILDBACH RAUSCHT. Die Geschichte der Freundschaft eines jungen Mannes zu einem älteren Fischer – der von der Dorfgemeinschaft (diesmal nicht in den bayerischen Alpen, sondern an einem tropischen Strand – aber alle Figuren sprechen ein sehr dialektal eingefärbtes Deutsch) verstoßen wird, als eine junge Frau plötzlich verschwindet und er des Mordes beschuldigt wird. Lynchmobs formieren sich, während nur der junge Freund und die Wirtin der Dorfkneipe (ach... die ganzen Kneipenwirtinnen bei diesem Kongress!) zu ihm halten.

Die eigensinnige Poesie Bruno Sukrows dringt in diesem dritten Film des Abends in immer größeren Dosen zum Bewußtsein durch: unfassbare Tableaus mit sich in einer Art hypnotischen Trance-Zustand bewegenden Figuren, zusammengesetzt aus teils animierten Bildern, teils aus Real-Standbildern – an den Kanten immer etwas roh (das Freistellen mancher Bildelemente ist nicht immer perfekt) und dabei doch voller Herz.


GROLSCH

Regie: Bruno Sukrow

Deutschland 2018

digital, dt. OV

Im Weltall empfängt eine Gruppe von Aliens in ihrem Raumschiff ein Funksignal von der Erde. Der geübte deutsche Erdbewohner erkennt mühelos eine Bierwerbung der Marke Grolsch, die Aliens erkennen nur, dass das wohl ein ganz tolles Zaubergetränk ist, das sie auch mal ausprobieren müssen. Gesagt, getan: Kurs auf die Erde. Doch oh weh... aus Versehen legt das Raumschiff beim Flug gen Erde die Stromversorgung der Welt lahm.

Acht Jahre nach den vorher gezeigten Filmen gezeigt wirkte GROLSCH im kleinen Rahmen dieses Programms für einen Sukrow-Neuling wie mich wie sein Opus Magnum (es war ein mittellanger, etwa dreiviertelstündiger Film): der Humor, die Liebe, die Zärtlichkeit, die Poesie – vollkommen ausgereift zu einer singulären Handschrift. GROLSCH ist ein Alien-Sci-Fi-Film, eine Art Re-Imaginierung von INDEPENDENCE DAY, eine Screwball-Komödie, eine Anarcho-Komödie irgendwo zwischen Marx Brothers und Helge Schneider, eine Militär-Satire, ein Essayfilm über die Unbekümmertheit der Natur im Angesicht menschlicher Katastrophen, ja sogar ein Western steckt da drin! Liebevolle kleine Miniaturen und Sketche rund um die Welt (es geht ins Weiße Haus ebenso wie nach Polen, über Japan, Russland, das Ruhrgebiet und Hollywood) über die Menschen im Angesicht dessen, dass es keinen Strom mehr gibt: wenn man nicht kochen kann, kann man ja einen Obsttag einlegen, aber was ist mit dem Fernsehen? Während die Menschen in totale Ratlosigkeit versinken, bleibt die Natur davon unbekümmert: das sieht man besonders an den Enten, die es einmal als Real-Film-Insert gibt – und später als unbeholfen watschelnde Animationswesen.

Dabei ist es wirklich großartig, wie Sukrow im Grunde die latente Spannung über den ganzen Film erhält mit der Prämisse, nämlich: werden die Aliens an das Bier rankommen? Und wenn ja, wie? Und wie wird die Verkostung? So viel sei gesagt: Einer der großen magischen Momente dieses Kongresses war zu sehen, als die vier Aliens in einem tänzelnd-elastischen Gleichschritt marschierend Bierkästen zu ihrem Raumschiff tragen.



ab 1:30 Uhr (reale Startzeit irgendwann nach 2:00 Uhr)


HA LLEGADO UN ÁNGEL ("Ein steiler Zahn")

Regie: Luis Lucia

Spanien 1961

35mm, DF

Das Waisenkind Marisol (Marisol, bürgerlich Josefa Flores González) reist nach dem Tod ihrer Eltern in die Großstadt, um dort mit ihren nächsten Verwandten, also der Familie ihres Onkels, zu wohnen. Diese heftig zerstrittene Familie (der Onkel ist unter der Knute seiner tyrannischen Ehefrau, der älteste Sohn verbockt sein Studium weil er nur an Parties denkt, die Tochter geht mit einem Mann aus der ungefähr so alt aber wesentlich schmieriger ist als ihr Vater, mit dem Geld allgemein ist eher mau) ist von diesem "Glück" eher negativ überrascht, denn Marisol lässt keine Gesangseinlage verstreichen, um die Familie wieder auf den rechten Weg zu bringen. Und ihre Teilnahme an Kino und Gesangswettbewerben soll auch das mit dem Geld richten.


Marisol bezirzt auch harte Professorenherzen mit ihrer Stimme


In einer besseren Welt wäre Marisol nach Italien gegangen, um dort als Sidekick bei einem Film mit Franco Franchi und Ciccio Ingrassia mitzuspielen (am besten von Lucio Fulci inszeniert), denn eines ist sicher: mit ihren grotesken, ultraelastischen Gesichtsverrenkungen hätte sie neben Franchis mimischen Total-Eskalationen durchaus eine ganz gute Figur gemacht.

Einen populären Schlagerfilm aus Spanien in der Hochzeit des Franquismus zu sehen, war schon faszinierend: eine antiautoritäre, fast anarchische Brise und ein autoritärer Mief, totale Selbstauflösung in Spiel, Spaß, Freude und ein heftiger sozialer Druck in Richtung Konformität und Wohlordnung, eine Sympathie für Empowerment von Außenseitern und ein mit "traditionell" noch nett umschriebenes Verständnis von Geschlechter-Beziehungen stehen sich immer wieder gegenüber. Marisol ist schon ein kleiner Wirbelwind von Lebensfreude, Spaß und Ausgelassenheit, aber wenn sie ein kreischend hohes Lied frühmorgens anstimmt, um alle im Haus zu wecken und besonders ihren noch leicht angetrunkenen bzw. schon leicht verkaterten Cousin, der eben erst ins Bett wollte, dann wirkt sie eben auch gleichzeitig wie ein eisener Besen der strengen (in einem deutschen Kontext würde man sagen: "preußischen") Ordnung. Die Szene, in der Marisol zusammen mit einer Gruppe von musikaffinen Studenten (die sie im Prolog im Zug getroffen hat), in das Haus eines emeritierten Professors einfällt, um ihn mit schmissigen Songs zu erweichen, ist schon herzallerliebst und ein Höhepunkt des Films (ein Still aus dieser Szene war auch das zentrale Anteaserungsbild für den Kongress). Ein weiterer Höhepunkt ist Marisols gesangliches Nachsynchronisieren des familiären Fernsehers, nachdem eines der Familienmitglieder durch zu viel Rumspielen an den Geräteeinstellungen den Ton lahmgelegt hat. Gleichzeitig gibt es eine Szene, in der Marisols Cousin seiner Schwester ins Gesicht schlägt (vielleicht sogar mehrmals?) und der Film findet das offensichtlich ganz ungeheuer witzig – das ist dann schon eher bestialisch.



Sonntag, 8. Januar


ab 14:30 Uhr


HK-Teaser: Geheimnisvolle Qualen der Erotik


VON HAUT ZU HAUT

Regie: Hans Schott-Schöbinger

BRD 1970

35mm, dt. OV

Nicki (Sophia Kammara) und Karen (Dagmar Lassander) sind Zwillingsschwestern, die eine telepathische Verbindung haben. Das ist nicht immer von Vorteil, wenn die eine in einem vielleicht nicht ganz passenden Moment spürt, wie die andere mit ihrem Partner (Karen) bzw. ihrer Partnerin (Nicki) Sex hat. Richtig unangenehm wird es aber, als Nicki von einem mysteriösen Mann verfolgt wird.

Eins vorweg: es machte mir tatsächlich mehr Spaß, über den Film im Nachhinein nachzudenken bzw. in Erinnerung an die Atmosphäre zu schwelgen als den Film tatsächlich zu sehen. Das muss aber nichts Schlechtes sein, denn wenn ich über Vergleichsreferenzen nachdenke, würde mir Aldo Lados LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO aka MALASTRANA einfallen: auch ein Atmosphären-Film (ein "Giallo") in einer alten mitteleuropäischen Stadt, die aufgrund ihrer Gruseligkeit für die Figuren zu einer Art riesigen Freiluft-Gothic-House wird. VON HAUT ZU HAUT wurde in Passau gedreht, einer Stadt, die ich persönlich nicht kenne, die mir aber als eine Art eigenständiger Charakter im Film sehr nahe gebracht wurde. Mit seinen wunderbaren Scope-Bildern der oft größtenteils entvölkerten Altstadt-Gässchen erschafft Schott-Schöbinger eine ganz eigene, unheimliche Atmosphäre, die den ganzen Film ansteckt: natürlich bei spannungsgeladenen Verfolgungsjagden, aber gerade eben auch, wenn die beiden Protagonistinnen einfach nur durch diese Gassen schlendern. Wie Prag (bzw. Zagreb und Ljubliana) für MALASTRANA scheint auch Passau einen natürlichen Gothic-Horror-Einschlag zu haben, der sich voll und ganz auf die Zuschauer überträgt, wenn man ihn nur richtig mit der Kamera einfängt.

Der große, fantastische Höhepunkt des Films bezieht sich darauf, wie unpassend es manchmal ist, durch Telepathie den Sex der Schwester mitzubekommen (und mitzuspüren): eine der Schwestern steigt in einen Bus ein (stilecht mit einer Jägermeister-Werbung), fährt zunächst nichtswissend mit, beginnt dann zu stöhnen, weil ihre Schwester zeitgleich Sex hat, zieht die Aufmerksamkeit der anderen Mitfahrer auf sich und bekommt schließlich einen Orgasmus. Hier explodiert die Szene in eine Nahaufnahme ihres vor Lust verzerrten Gesichts, die von einem psychedelisch animierten Blätterornament überlagert wird.



ab 16:15 Uhr


HK-Teaser: HOW I COME


SHARON'S ROSEBUD

Regie: Richard Wilton

USA 1976

16mm, OV

Die Porno-Darstellerin Sharon Thorpe erzählt in einem intimen Interview von ihren Fantasien.

"Cinéma vérité goes porn" – so ungefähr beginnt SHARON'S ROSEBUD, mit einer sehr langen ungeschnittenen Einstellung, in der Sharon sich mit dem Off-Kamera-Interviewer unterhält. Die Steigerung der "ungeheuren Gefühle", um jetzt mal ein Bonmot des Hofbauer-Kommandos zu benutzen, war am Anfang sehr langsam, graduell, in kleinen Häppchen voranschreitend – und dadurch erst recht extrem sexy, gerade weil die Befragte sehr lange Zeit bekleidet bleibt und nur durch ihre Erzählung und suggestive Blicke Erotik erzeugt. Dann wurde Sharons Wortwahl zunehmend explizit, sie entkleidete sich langsam, dann kam der "Helfer", um sie zu lecken und schließlich ließ sie die Zuschauer an ihren Fantasien mittels eigener Filmepisoden teilhaben. In diesem langen Prolog entwickelt SHARON'S ROSEBUD eine unglaubliche Unmittelbarkeit und Intimität – die vierte Wand wird praktisch aufgelöst. So konnte ich auch nicht anders, als von "ungeheuren Gefühlen" selbst etwas tangiert zu werden.

Danach wird der Film leider etwas zu routiniert, entwickelt sich zu einer reinen Nummern-Revue und wirkte im Rahmen dieses Kongress-Wochenendes in der Anhäufung von Sexszenarien mit strammem Dirty-Talk wie die stilvollere und elegantere Ausführung von BIGGI – EINE AUSREISSERIN. Die Einheit von Zuschauer, Interviewer, Helfer, Interviewten und ihren Fantasien löste sich und baute wieder eine gut spürbare vierte Wand ein. Eher verstörend war das Auftauchen eines Nebendarstellers, der wie der verlorene Zwillingsbruder von Herbie Hancock aussah. Eher amüsant hingegen dass ich ab jetzt "Die Nadel im Heuhaufen suchen" durch "Die Karotte im Heuhaufen suchen" ersetzen werde – nachdem die Karotte in der Inzest-und-Gärtner-Fantasie beim Liebesspiel im Heuschober gefunden und kreativ in die Aktivitäten eingebunden wurde, wird sie danach dann auch praktischerweise als After-Sex-Snack verspeist.



ab 21:00 Uhr


LUJURIA TROPICAL ("Tropische Sinnlichkeit")

Regie: Armando Bó

Argentinien 1963

35mm, DF

Die freigeistige Norma (Isabel Sarli) lässt sich in einem Fischerdorf nieder und heiratet dort den lokalen Kneipenwirt. Das hindert sie nicht daran, sich auch mit dem lokalen Strand-Beau (gespielt von Regisseur Armando Bó) einzulassen. Der will Norma jedoch komplett für sich allein haben und stößt damit eine Spirale der zunehmend gewaltsamen Eskalation an.

Nach einer sehr zärtlichen Einführung von Hofbauer-Kommandant Christoph zum Filmzyklus des argentinischen Regisseurs Armando Bó und seiner Hauptdarstellerin und Ehefrau Isabel Sarli ging es an den südamerikanischen tropischen Strand, um Melodrama-Leidenschaften, unerschütterliche weibliche Selbstbehauptung im Angesicht männlicher Dummheit und natürlich die Pracht von Isabel Sarlis Körper zu erleben.

Im englischen Wikipedia-Eintrag wird der Film als "verschollen" bezeichnet, aber das ist ja ganz offenbar Quatsch, wenn wir ihn beim Kongress gesehen haben – allerdings muss man sagen in einer schon recht lädierten Kopie, die die leuchtenden, satten, tropischen Farbenpracht nur noch in Resten durch einen Schleier von Rotstich in sehr diversen Ausprägungen approximativ erahnen ließ (manchmal intensiver, manchmal kaum bemerkbar, als wäre die Kopie aus Kopien in unterschiedlichen Verfallsstadien zusammengestückelt worden). Das hat das völlige Eintauchen in den Film angesichts der fortgeschrittenen Kongressdauer und der damit einhergehenden Müdigkeit doch etwas für mich erschwert. Die zweite Hälfte des Films war für mich leider etwas stockend und anstrengend, ich habe aber die Vermutung, dass die leichte Trägheit durch das Abendessen eine unheilige Allianz mit der allgemeinen Müdigkeit nach vier Festivaltagen einging.

Insofern war es auch etwas einfacher, sich ganz auf ein, ja das wichtigste Element des Films zu konzentrieren: auf Isabel Sarli. Sie ist keine besonders expressive Darstellerin, aber was sie außer ihrer Schönheit mitbringt ist ein alles zerfetzendes Charisma, eine alles einnehmende Leinwandpräsenz, die alles um sie herum an die Wand drückt. Wie sie die Männer (die mehr oder weniger alle erbärmliche Würstchen sind) um sie herum zur Sau macht, wenn sie ihr blöd kommen, ist die reinste Freude. Eine absolute Naturgewalt, und wie Christoph in seiner Einführung sehr schön erklärt hat: die Kamera bestaunt sehr wohl voyeuristisch ihren Körper, aber den Film auf "male gaze" zu reduzieren, greift zu kurz. LUJURIA TROPICAL ist für einen Film von 1964 und einen Film aus einem katholisch geprägten Land, das man als eher traditionell-patriachalisch einschätzen würde, verblüffend progressiv, um nicht zu sagen geradezu anarchisch in einem Verständnis von Geschlechterbeziehungen. Sarli hält nicht die andere Wange hin, wenn man sie (körperlich oder metaphorisch) schlägt, sondern haut beherzt zurück. Und einige Jahre, bevor es en vogue wurde, ist es ein Film, der Monogamie (und zwar für ALLE Beteiligten) als eher dubioses (zumindest aber nicht alleinseligmachendes) Konzept der Lebensgestaltung ansieht. Alle Männer in dem Film wollen Sarli "besitzen" und LUJURIA TROPICAL zeigt zweifelsohne, dass sie alle erbärmliche Würstchen sind. Nur der Ehemann, der macht im Laufe des Films einen Lernprozess durch, möchte sie am Ende nicht mehr nur "besitzen".

Hätte wahrscheinlich ein tolles Double-Feature mit DIE DRESSIERTE FRAU gegeben.



ab 23:15 Uhr


HK-Teaser: Eine Lustreise durch die Aborte der Republik


DAS BUMSFIDELE HÄUSCHEN

Regie: Marijan Vajda

BRD 1971

35mm, dt. OV mit finn. & schwed. UT

Schulmädchen-Report, Hausfrauen-Report, Ehemänner-Report, Lehrmädchen-Report, Krankenschwestern-Report – die können alle schön einpacken, denn jetzt kommt der... Toiletten-Report! Wasserlassen, Stuhlgang, Rauchen, Selbstbefriedigung, Nacktheit und sonstiges Freudiges rund um das stille Örtchen.

Ein Freund des Hofbauer-Kommandos sah ein Plakat zum Film... in einer Toilette in Finnland! Empfehlung weitergeleitet, Kopie in Finnland recherchiert und ausfindig gemacht – und bereit ist der schmissige, bizarre, brüllend komische und verblüffende Rausschmeisser dieses Kongresses. Und schloß genre-mäßig den Kreis zum Reportfilm, der diesen Kongress eröffnete.

Gemäß der Einführung von Hofbauer-Kommandant Felix wurde Marijan Vajda (1920-1997) in seiner jugoslawischen Heimat aus dem Berufsverband der serbischen Regisseure hinausgeworfen wegen Geschmacklosigkeit und Inkompetenz. Vajda war gemäß den Daten bei IMDb schon seit 1951 tätig, vornehmlich als dokumentarischer Kurzfilm-Regisseur (von Filmen mit eher "trockenen" Titeln wie "Jugoplastika", "Die Industrie von Novi Sad", "Automechanik in Split", "Volksmuseen in Belgrad", "Nuklearreaktoren"), mit einer hohen Produktionsfrequenz, zwischen 1960 und 1962 gibt es drei Langfilme. Nach ganzen sieben Dokumentar-Kurzfilmen 1963 gibt es eine Lücke bis DAS BUMSFIDELE HÄUSCHEN 1971 (1976 dann sein letzter Film, die bundesdeutsch-schweizerische Koproduktion MOSQUITO DER SCHÄNDER). Auch wenn ich keine gesicherten Angaben dazu finde, scheint Marijan David Vajda, gebürtig 1950 in Belgrad, sein Sohn zu sein und war selbst als Regieassistent (u. a. bei Vajdas MOSQUITO DER SCHÄNDER, aber auch bei so unterschiedlichen Leuten wie Franklin J. Schaffner, Raúl Ruiz, Nicolas Roeg, James Mangold) und Regisseur tätig (OTTO – DER AUSSERFRIESISCHE sowie viele Filme und Episoden für das Fernsehen, u. a. POLIZEIRUF 110).

Wenn wir bei Vajda Sr. wieder zurückkehren zu Rausschmiss wegen Geschmacklosigkeit und Inkompetenz: für die Geschmacklosigkeit – sehr verdientermaßen! Und für die Inkompetenz: schwer verständlich. Was Vajda in DAS BUMSFIDELE HÄUSCHEN macht ist schon sehr erstaunlich: eine extrem gut gemachte Parodie des damals noch recht jungen Reportfilm-Subgenres, die so gut funktioniert, weil sie eben die Regeln und Funktionsweisen eines guten Genre-Vertreters vollkommen verinnerlicht hat; die Absurdität der Prämisse, Abenteuer durch verschiedene Klos Deutschland zu erleben, wird so weit getrieben und eskaliert, dass der Film teilweise fast schon die Anmutung eines Avantgarde-Films bekommt – der äußerst bizarre und absurde Humor, der Pointen manchmal verweigert und irgendwo zwischen Helge Schneider und einer tatsächlich recht osteuropäischen Form von Groteske schwankt, trägt seines dazu bei; und nicht zuletzt – Vajdas langjährige Erfahrung als Dokumentarfilmemacher kommt hier wohl zugute – wirkt der Film auch immer wieder wie eine Dokumentation bundesdeutscher Tristesse Anfang 1970er, nicht nur mit seinen dreckigen, schmuddeligen Klos, sondern auch mit verrauchten Eckkneipen, gänzlich unsanierten Hinterhöfen, maroden Zügen (na gut, das gibt es auch heute, aber in anderem Design), dazu – in besagter Kneipe – die faltigen Opa-Charakterfressen, die nicht nur lüstern jedem Rock hinterherschauen, sondern von früher, vom Krieg schwärmen.

Letzteres führte dann in einer kleinen Rückblende auch zu einer Episode, die das bereits leicht von den frühen Abreisen ausgedünnte Publikum zu rasendem Tosen brachte: das Gemeinschafts-Scheissen auf den Feld-Latrinen an der Front des (Ersten) Weltkriegs (ein Schild über den Latrinen verkündet "Für Kaiser, Volk und Vaterland"). DAS BUMSFIDELE HÄUSCHEN ist in der Erinnerung aufgrund seiner Programmierung als letzter Film nach einem langen Festival etwas verblasst, Details nicht mehr so präsent, aber diese Episode bleibt natürlich hängen! Eine Verfolgungsjagd, bei der Polizisten versuchen, Wildpinkler zu fangen, ist aufgrund des Pointen-Bonmots auch gut hängen geblieben: "Auch ein Hippie muss mal Pipi". Und besonders schön: eine unbekleidete Frau, die in ihrer Wohnung abhängt, eine Platte auflegt und dann mit einem roten Plastikvogel spielt, das von der Decke an einer Feder hängt – dieses einfach endlos auf- und abwippen lässt.

Sonntag, 27. August 2023

Endliche Ehen und unsterbliche Liebe: Bericht vom 9. Festival des italienischen Genrefilms Terza Visione


Mittwoch, 19. Juli 2023


ab 19:15 Uhr

Das 9. Terza Visione fing mit einem ungewöhnlichen Format an. Da ein Umstieg mit der Bahn auf der Herfahrt statt geplanten 9 Minuten schlussendlich 3 Stunden dauerte, verpasste ich den ersten Film des "inoffiziellen" Eröffnungstags, Dario Argentos L'UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO. Dafür gab es als Einstieg ein Regisseursgespräch im Foyer des deutschen Filmmuseums. Der Gast, ja Stargast, war... Dario Argento, der für zwei Tage in Frankfurt am Main verweilte, um die ihm gewidmete Retrospektive des Filmmuseum Frankfurt zu besuchen. Diese schloss sich in einem Synergieeffekt mit dem Terza zusammen.
Es war die zweite Gesprächs-Session, und Argento sprach unter anderem über die Zusammenarbeit mit Ennio Morricone (der Score zu seinem ersten Film L'UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO wurde von Morricone und einigen seiner engsten Mitarbeiter recht spontan improvisiert), darüber, wie er als Gast und stiller Beobachter im Haus des Drehbuchautors Sergio Amidei (u. a. ROMA, CITTÀ APERTA und PAISÀ) das "Handwerk" lernte (die Essenz liegt darin, dass das Autorenteam zunächst mit "Smalltalk" sich menschlich synchronisiert, bevor es an die "harte" Arbeit geht), über seine Einflüsse (im Gegensatz zur gestellten Frage eher seine auf andere Regisseure, und nicht umgekehrt), über seine besondere Wertschätzung für Michelangelo Antonioni, über seine Begegnung mit Rainer Werner Fassbinder (den er als schweigsamen, aber extrem nervösen Mann wahrnahm) und über sein erstes prägendes Kinoerlebnis (die Stummfilmfassung von "Das Phantom der Oper").

Wie jedes Jahr wurde auch dieses Terza exklusiv mit analogen Filmkopien bestritten, geliehen aus über einem Dutzend Institutionen aus sieben Ländern.


ab 21:00 Uhr

IL FANTASMA DELL'OPERA ("Das Phantom der Oper")
Regie: Dario Argento
Italien 1998
98 Minuten, OmU
Paris, gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Ein von Ratten aufgezogenes Findelkind haust in den Eingeweiden der Pariser Oper und meuchelt hier und da neugierige Kanalarbeiter weg. Das "Phantom" (Julian Sands – im Gegensatz zu anderen Varianten des Stoffs ohne Verstümmelung/Maske) verliebt sich dann aber in die Nachwuchssängerin Christine (Asia Argento) und ist nur allzu bereit, deren Karriere-Hindernisse aus dem Weg zu räumen...
Das gängige Narrativ zu Dario Argento ist, dass seine Regiekunst nach den 1980er Jahren einen allmählichen Niedergang erlebte, mit Variationen in der Frage, ob PHENOMENA und OPERA noch zu den "Guten" gehören. Wie schön, dass es mit Terza Visione auch immer den Blick über den Tellerrand gibt. IL FANTASMA DELL'OPERA, den ich 2019 beim Italo-Horrorfilmwochende in Nürnberg schon zum ersten Mal sah, erwies sich bei der Zweitsichtung sogar als etwas stärker als vor vier Jahren. Argento lehnte es im Filmgespräch zwar ab, ihn als "Liebesfilm" bezeichnet zu sehen, aber tatsächlich kommt er dem in Argentos Werk wohl am nächsten, gleichwohl es sicherlich keine besonders "gesunde" Liebe ist. Zumindest ist Christine hin- hergerissen zwischen einer "gesunden", gesellschaftlich respektablen aber offenbar eher sex- und keimfreien und zumindest bis zum letzten Drittel eher "kalten" Liebe zum Baron Raoul und der "ungesunden", gesellschaftlich verachteten, gefährlichen, latent von Gewalt geprägten aber eben auch extrem geilen und dreckig-animalischen Liebe zum Phantom.
Ein Liebesfilm steckt in IL FANTASMA DELL'OPERA, aber auch andere Atmosphären stecken drin: gerade in der Nebenfigur des operneigenen, unfassbar dreckigen und schmierigen Rattenjägers (gespielt von dem renommierten ungarischen Theaterschauspieler Bubik István) lebt Argento offensichtlich auch eine geheime Liebe zum Slapstick aus und erinnert daran, wieviel Humor er eben auch hat. Bubik wirft sich voll rein in die Rolle, und es macht unglaublich Spaß, die kleinen Subplots um den Rattenfänger zu sehen: Höhepunkt ist die Jungfernfahrt des steampunkig-retrofuturistischen Gefährts mit Staubsauger und rotierenden Klingen, das er durch die unterirdischen Gänge der Oper steuert, um diese von Ratten zu befreien. Diese Liebesgeschichte, und dann noch dieser Humor: das hat der Gorebauer-Fraktion unter Argentos Fans sicherlich nicht gefallen.
Noch weniger dürfte ihnen gefallen haben, wie sehr gerade im letzten Drittel und im Showdown sich ein Wille zum entfesselten Melodrama zeigt, der schon sehr faszinierend ist: mit der Verfolgungsjagd auf das Phantom, der inneren Zerrissenheit Christines zwischen ihren beiden Liebhabern und der anschwellenden Musik Morricones zielt Argento direkt auf Herz und auch auf die Tränendrüsen der Zuschauer. Der Showdown straft alle Lügen, die ihn nur als seelen- und emotionslosen Technokraten perfekt choreografierter Gewaltszenen sehen wollen.
Zwei Details hatte ich von der Nürnberger Sichtung vergessen: die extravagante und unfassbare Szene in dem Hallenbad-Edelbordell. Da scheint sich ein Stück Jess Franco oder Joe D'Amato in den Film reingeschlichen zu haben, wenn da halbnackte oder ganz nackte Männer und Frauen (und eine Trans-Frau? ich bin nicht mehr ganz sicher) in einem Luxusbad essen, trinken, turteln und sich vergnügen. Der Baron, der nach einer Abfuhr von Christine sich dort auf andere Gedanken bringen möchte, entpuppt sich als Verzichter, aber auch als ungehobelter Krawallmacher: als eine junge Dame, die sich "bocca di velluto" (Samt-Mund) nennt, ihm mit eindeutigen Zungenbewegungen eindeutige Zeichen macht, sieht der Baron plötzlich Christine das machen – eine zu wilde Vision für ihn, weshalb er dann als Party-Pooper anfängt, zu randalieren.
Ganz vergessen hatte ich auch die großbürgerlichen Creeps, die mit teuren Pralinen versuchen, die Aufmerksamkeit von ungefähr 10-jährigen Ballettschülerinnen zu gewinnen (der Film wendet hier für kurze Zeit die Mechanismen des Rape-And-Revenge-Genres an, als einer dieser Creeps eine Schülerin zu tief in die unterirdischen Gänge der Oper verfolgt und es dort vom Fantom heimgezahlt bekommt).
Die Vorstellung lief im Rahmen der Argento-Retrospektive, war zugleich aber auch eine Hommage an den viel zu früh, Anfang 2023 verstorbenen Julian Sands: ein faszinierender Darsteller, dem immer etwas Jungenhaft-Verträumtes anhängt. Scheinbar unpassend für gewalttätige Dämonenfiguren wie hier (oder als Warlock) – und dabei doch passend, seine Figuren immer leicht verundeutlichend, ihre dunkel-abgründige Romantik betonend.


Donnerstag, 20. Juli 2023


ab 13:00 Uhr

URLATORI ALLA SBARRA
Regie: Lucio Fulci
Italien 1960
83 Minuten, OmU
Die "Schreier" des Titels sind eine Gruppe von Rock'n'Rollern (Joe Santieri, Adriano Celentano, Mina): protegiert und gastlich empfangen von einem Senator a.D., angeworben von der Jeans-Industrie zu Werbezwecken, teils angefeindet und angeworben von einem quotengeilen TV-Produzenten – aber immer mit einem flotten Song in petto.

I brutos: Auftritt als ländliche Sängertruppe

Ursprünglich war Fulcis OPERAZIONE SAN PIETRO aka "Die Abenteuer des Kardinal Braun" programmiert: eine Heist-Komödie mit Heinz Rühmann, Lando Buzzanca, Jean-Claude Brialy und Edward G. Robinson (sic!). Ich bin nicht mehr sicher, warum die Kopie unpässlich war (starker Rotstich?), jedenfalls war angesichts der Fülle an gedrehten Filmen ein Ersatz aus Lucio Fulcis früher Komödienphase rasch zu finden. Zur Erinnerung: Der "Godfather of Italian Gore Cinema" hat wesentlich mehr Komödien als Horrorfilme in seiner Karriere inszeniert. In seiner Einführung betonte der (pausierende) Ex-Terza-Co-Organisator Christoph, dass die erste Werksphase sehr zu unrecht vernachlässigt oder gar als unwichtig abgetan wird: das Narrativ, Fulcis echte Bestimmung sei der Horror gewesen und alles vorher könne man skippen, sei komplett falsch. Komödien waren für den Drehbuchautoren, Regieassistenten und schließlich Regisseur Fulci knapp 15 Jahre lang das zentrale Metier, in dem er auch seine Meisterschaft entwickelte.
Der geneigte Terza-Stammzuschauer wusste davon bereits einen Teil und erinnerte sich wohlig an LE MASSAGGIATRICI bei der Festival-Ausgabe von 2018. URLATORI ALLA SBARRA war Fulcis dritter Film und war sicherlich nicht so großartig wie LE MASSAGGIATRICI, aber dennoch ein launischer Start in den "offiziellen" oder "Post-Argento-Besuch"-Teil des Terza Visione. Nach einem Prolog, der in zwei Minuten eine Kulturgeschichte des Schreiens humoristisch darlegt, geht es auch mit den ersten Musiknummern los. Adriano Celentano ist dabei (die Premiere knapp einen Monat nach LA DOLCE VITA, in dem er nur einen kurzen Cameo hatte) sowie Mina und Joe Sentieri, zu dieser Zeit wohl größere Stars als Celentano. Besonders bemerkenswert für Jazz-affine Zuschauer: in der Rolle eines dauermüden oder schlafenden Amerikaners, der Teil der musizierenden Jugendtruppe ist, gibt es den Trompeter Chet Baker zu sehen, schon offensichtlich stark lädiert von seiner Heroinsucht.
Es gibt keinen Zweifel daran, dass URLATORI ALLA SBARRA ein schöner Gute-Laune-Film ist, zu Weihen à la LE MASSAGGIATRICI reicht es nicht. Vielleicht zersplittert er sich zu sehr in zu viele Episoden mit zu vielen Figuren und Subplots. Joe Sentieri war so etwas wie eine der Hauptfiguren: ich finde ihn aber intuitiv irgendwie antipathisch, und dass er fünfzehn Jahre älter ist als sämtliche anderen Mitglieder der Jugendbande ist und man dies auch sieht, wirkt seine Figur bestenfalls unglaubwürdig, schlimmstenfalls leicht creepy. Eine viel bessere Hauptfigur wäre da Turi Pandolfini als alter Senator a.D. mit eindeutigen Sympathien für die "Urlatori" (er ist sowieso schwerhörig, da sollen sie doch ruhig lauter spielen), die er bei sich in der Wohnung beherbergt. Auf der Antagonisten-Seite gibt es Mario Carotenuto als schmierig-intriganter TV-Sender-Chef, der zuerst Stimmung gegen die "Urlatori" macht, bevor er herausfindet, dass er sie auch einfach kommerziell ausbeuten kann: eine Figur, die man zu hassen einfach nur liebt!
Am Ende ist URLATORI ALLA SBARRA vor allem eine schöne Nummern-Revue. Besonders hervorzuheben dürfte Minas Nummer "Whisky" sein, in der sie in einer stilisierten Bar voller geifernder Verehrer die Vorzüge des Trinkens besingt. Pastoraler wurde es bei einer anderen Nummer: ein Cameo der Sänger- und Komiker-Gruppe "I Brutos" (darunter ein junger Aldo Maccione), die bei einem Picknick der Urlatori auf dem Land als singende Schäfer zu sehen sind und mit ihrem eskalierenden Minenspiel den Saal in eine Raserei aus freudigem Toben und lauten Lachkreischern brachte.






ab 15:30 Uhr

METTI, UNA SERA A CENA (wörtlich: "Sagen wir mal, eines Abends beim Abendessen", im Programmheft: "Warum nicht eines Abends bei Tisch")
Regie: Giuseppe Patroni Griffi
Italien 1969
125 Minuten, OmU
Der Autor Michel (Jean-Louis Trintignant) schreibt gerade an einem neuen Stück: darin soll es um eine mögliche Affäre zwischen seiner Frau Nina (Florinda Bolkan) und seinem besten Freund Max (Tony Musante) gehen. Ohne Michels Wissen gibt es diese Affäre schon lange. Doch auch Max' ehemaliger Liebhaber Rick (Lino Capolicchio) kommt ins Spiel und beginnt eine Affäre mit Nina – während Michel mit der entfernten Bekannten Giovanna (Annie Girardot) ins Bett landet.
Über historische Erfolge und Misserfolge von Filmen nachzudenken, ist manchmal schon interessant, gerade auf einem Festival wie dem Terza Visione. 2022 stellte sich bei LE CINQUE GIORNATE die Frage, was wohl aus Dario Argento geworden wäre, wenn sein Slapstick-Komödien-/Period-Politdrama erfolgreich gewesen wäre und nicht ein fulminanter Flop. 2023 stellte sich für viele im Publikum wohl eher die Frage, wie der von Argento geschriebene METTI, UNA SERA A CENA einer der erfolgreichsten italienischen Filme von 1969 werden konnte (und ein Film, der gerade Dario Argento als Co-Autor zum heißesten Scheiß auf dem Kinoautorenmarkt werden ließ)? Dario Argento war schließlich damals ein Nobody und würde erst ein paar Jahre später ein Superstar des italienischen Kulturlebens werden. Das Theaterstück, auf dem der Film basierte, war auf den römischen Bühnen ein Hit, aber reichte es, um das Kinopublikum zu ziehen? Jean-Louis Trintignant dürfte zu dem Zeitpunkt der berühmteste Schauspieler des Casts gewesen sein, aber ein Massenpublikumsmagnet, gerade in Italien? Die deutsche Wikipedia erwähnt die Musik von Ennio Morricone als Faktor für den Erfolg...
Wie die Antworten auch immer lauten: METTI, UNA SERA A CENA wurde von einem bedeutenden Teil des Terza-Publikums als Flop des Festvials gesehen, und ich geselle mich durchaus dazu (gleichwohl ich prinzipiell ein Freund davon bin, das Terza Visione mit "Grenzgängern" am Rande des klassischen Genre-Kinos zu erweitern). Im Grunde erzählt der Film eine recht simple Vierer-Beziehungsgeschichte mit einem fünften Rad, der das Gefüge noch mehr durcheinander bringt. Mit an den großen Kinoerneuerungsbewegungen geschulten Erzählweise zerlegt der Film die Chronologie, um das ganze Stück für Stück zusammenzusetzen. Nicht per se völlig unspannend, aber tatsächlich bleiben sämtliche fünf Hauptfiguren des Films eher reine Drehbuch-Behauptungen, durch überlange und sehr steife Dialoge nur notbehelfsmäßig zusammengehalten, als dass echte Charaktere lebendig wurden. Die achronologische, elliptisch-puzzleartige Erzählweise lässt alles noch eher steifer und konstruierter wirken, als dass es Dynamik bringt. Dass hier (mit Ausnahme des fünften Rad am Wagens, des von Lino Capolicchio gespielten Künstlers) allesamt gutbürgerliche Figuren ihr Ennui zwei Stunden lang spazieren führen und über Probleme der Ehe sich sehr, sehr verbos austauschen, lässt auch nicht gerade große Gefühle zu, besonders nicht, weil der Erkenntnisgewinn der langen Dialoge eher minimal ist. Ein bisschen hat mich das strukturell an Roman Polanskis CARNAGE erinnert: ein theaterhaftes (weil zu sichtbar von einem Theaterstück adaptiertes) bürgerliches Selbstvergewisserungsdrama.
Faszinierend dabei ist, dass die fünf tollen Darsteller da wenig ausrichten konnten. Jean-Louis Trintignant trägt ja grundsätzlich immer ein wenig Ennui in seiner Mine mit sich – in den meisten Rollen schafft er es aber, das produktiv einzusetzen: nicht hier, wo er wirklich nur gelangweilt aussieht. Annie Girardot kämpft gefühlt die ganze Zeit gegen ihre schlecht geschriebene Figur und wirkt, als würde sie im falschen Film spielen. Lino Capolicchio, so wunderbar als Hobbyermittler in Antonio Bidos Venedig-Giallo SOLAMENTE NERO, wandelt wie ein aufgezogenes Stehaufmännchen durch den Film (aber sein gequälter Künstler, der viele Marotten hat, unter anderem eine Hakenkreuzfahne als Decke, ist schon ein sehr weinerliches Klischee). Nur Tony Musante und Florinda Bolkan ließen manchmal ihre Brillanz durchscheinen: wer beide aber in einer wirklich spektakulären, symbiotischen Chemie zusammen spielen sehen möchte, sollte lieber das wunderbare Venedig-Melodrama ANONIMO VENEZIANO mit den beiden als Protagonisten schauen.
Die Sichtungsumstände waren natürlich dem Film auch nicht sehr wohlgesonnen: die Kopie war mechanisch sehr mitgenommen (weil als Hit wohl extrem oft gespielt) und ein ziemliches Inferno aus Klebestellen und Fehlstellen. Die Live-Untertitelung hatte deshalb kaum eine Chance, über längere Zeit synchron zu bleiben, zumal angesichts des kaskadenartigen Schwalls an Dialogen: bei Rollenwechseln wurde zwei (oder drei?) Mal pausiert, um wieder Untertitelung und Film synchron zu bringen. Eine besonders dicke und/oder schlecht gemachte Klebestelle brachte dann auch die Kopie zum Stillstand: bei einem Einzelbild stehen geblieben, schmorte die Projektionslampe das stehengebliebene Einzelbild an, und nach der Manier von TWO-LANE BLACKTOP verbrannte ein Teil der Kopie vor unseren Augen – das Bild löste sich auf, und der entstehende Rauch war dabei deutlich auf der Leinwand mitprojiziert (und wirkte finster und bedrohlich). Als Sichtbarmachung von Materialität des Kinos (und ihrer Fragilität) war das ohne Zweifel ein besonderes Erlebnis. Es ist schon ein wenig schade, wenn dieser Vorfall quasi das Beste am Film war. Aber nein, so ganz stimmt das nicht, denn der große Show-Stehler des Films ist Ennio Morricones fantastischer Score, der aus einem wohl nur täuschend einfachen Motiv ein ganzes Gefühlsuniversum aufbaut (hier reinhören). METTI, UNA SERA A CENA war für diese Terza-Ausgabe allerdings auch der Startpunkt für eine ganze Reihe von Filmen, die problematische und krisenhafte Ehen thematisieren.


ab 20:00 Uhr

BUIO OMEGA (dt. Verleihtitel: "Sado – Stoß das Tor zur Hölle auf")
Regie: Joe D'Amato
Italien 1979
93 Minuten, OmU
Es war einmal in den Alpen... Francesco (Kieran Canter) ist unsterblich in seine Verlobte Anna (Cinzia Monreale) verliebt, doch diese ist leider allzu sterblich und erliegt einer akuten Erkrankung – möglicherweise von Francescos besitzergreifenden Haushälterin Iris (Franca Stoppi) mit der beauftragten Voodoo-Hexerei einer lokalen Hexe ausgelöst. Der leidenschaftliche Tierpräparator wendet seine Kenntnisse der Leichenkonservierung auf seine ausgegrabene Geliebte an. Doch allzuviele Menschen wollen das selige Liebesglück zwischen ihn und Anna stören und müssen deshalb ins Jenseits befördert werden...

Liebe bis zum Tod – und auch danach: Francesco rettet seine tote Geliebte aus dem Friedhof

BUIO OMEGA ist ein berühmt-berüchtigtes Artefakt der Zensurgeschichte, vielfach zensiert, verstümmelt, verboten, beschlagnahmt. Gegner sehen ihn als schlechten B-Movie-Splatter-Schund, die lautstärksten Befürworter hingegen waren hingegen jahrelang die Gorebauer-Fraktion.
Seine "Freigabe" aus dem Kerker der deutschen Video-Nasties (die Indizierung wurde im Frühjahr 2023 aufgehoben) bietet nun die Möglichkeit, sich etwas unaufgeregter diesem Stück Kino- und Zensurgeschichte zu nähern. Das Terza Visione war der ideale Rahmen, um BUIO OMEGA als das zu entdecken (für viele im Publikum auch: wieder entdecken), was er wohl im Grunde immer war: ein kleines Meisterwerk, gleichzeitig derangiert-abseitiger Horrorfilm und dunkelromantisch-morbider Liebesfilm.
Die wunderbare, längere Einführung von Terza-Co-Organisator Sven und Joe-D'Amato-Spezialist Arthur war für D'Amato-Junioren und Buio-Jungfrauen wie mich wahrscheinlich ebenso erhellend wie für größere Kenner des Films und seines Regisseurs und Kameramanns. Sven erhellte die Ursprünge des Stoffs im traditionellen Gothic-Horror und in der filmischen Vorlage IL TERZO OCCHIO mit Franco Nero, geschrieben und inszeniert von Mino Guerrini (dessen Remake BUIO OMEGA ist). Arthur verwies auf die vielfältigen Motive und Themen des Films: auf seine Qualitäten als emotional ergreifender Liebesfilm über eine bislang nicht "konsumierte" Liebe, auf seine Andeutungen von Klassenkampf, auf die Versuche des Protagonisten nicht im engeren Sinne nekrophil tätig zu werden sondern andere Personen als "Proxys" für den (ersten!) Sex mit der geliebten Anna zu benutzen, auf die "dynastische" Dimension der Geschichte im Rahmen eines Adeligenhauses, auf die Bedeutung der vielen im ganzen Haus verteilten ausgestopften Tiere, von denen zwei als "nicht-heimisch" hervorstechen, auf die eigensinnige Erzählstruktur, die den Zuschauer immer mehr dazu auffordert, Leerstellen selbst zu befüllen. Und was ich persönlich sehr hilfreich fand: der Hinweis, auf das Medaillon zu achten, das als einer von mehreren roten Fäden sich durch die Hälfte des Films zieht.
Sven und Arthur wiesen darauf hin, dass BUIO OMEGA ein untypischer Horrorfilm sei. Wahrscheinlich ist es eh richtiger, von einem Hybrid aus Horror-Schocker, schwelgerisch-verträumtem, zärtlichem Liebesfilm, schwarzer Komödie, absurder Groteske, rohem Sleaze, Essay über Adel und Dekadenz sowie berauschendem Melodrama zu sprechen. Das Herausragende dürfte wohl darin liegen, dass alle Elemente funktionieren. Wenn Francesco riesige Säureflaschen ("Salzsäure" und "Schwefelsäure" deutsch beschriftet) wie Penisverlängerungen vor sich haltend in die Badewanne schüttet, während Iris daneben die Leiche der unglücklichen Autostopperin in Stücke hackt, dann ist das in seiner schieren ekligen Bestialität so unfassbar wie grotesk. Wenn die Leichenrestepampe dann im Gartenloch verbuddelt ist und Iris in der Küche dann erst mal zwei Suppenteller aus dem Regal holt, zeigt sich BUIO OMEGA von seiner schwarzhumorigsten Seite (nach getaner Arbeit erst mal gut futtern!) – ein Lacher ging durch den Saal, der gleich im Halse erwürgt wurde, als dann Iris den liebevoll zubereiteten Gulasch auf eine so viehische Weise verschlingt, dass selbst Bud Spencer und Terence Hill im Vergleich wie feine Pinkel wirken. Auch das feierliche Verlobungsdinner mit den offenbar schwer inzestgestörten Familiengästen (einer nimmt sein Gebiss raus und säubert es mit dem Taschentuch) ist von einer Komik und einer wilden Bissigkeit, die Buñuels Bourgeoisie-Satiren hinter sich lässt. Daneben gibt es immer wieder die Momente, in denen Francesco in schwelgerischer Liebe selbstvergessen mit seiner (toten) Anna verbringt: liebevolle Blicke, kleine Gesten der Zärtlichkeit (ein schönes Detail: Iris, als sie der frisch verstorbenen Anna noch wohlgesonnen ist, lackiert ihr die Fingernägel). Irgendwo dazwischen Francesco, der sich von Iris in einem Moment verzweifelter Trauer die Brust geben lässt (ein Motiv, das auch in D'Amatos IL PIACERE wiederkehren würde) oder der zur rasenden Bestie geworden der Autostopperin anfängt, einzeln die Fingernägel auszureissen. Paradox eigentlich: D'Amato-typisch schreitet der Film in einem meditativen, kontemplativen Rhythmus vor sich hin – und ist doch auch eine wilde Achterbahn der Gefühle.
Dass BUIO OMEGA sich mit Filmen wie L'ANTICRISTO und COSA AVETE FATTO A SOLANGE? den Kameramann teilt, sieht man ihm auch an: er ist elegant fotografiert, in vielen Szenen hat er fast was von Postkartenmotiven – die idyllische südtirolische Berglandschaft voller satter Grüns, malerischer Panoramen, pittoresker Waldflecken und schmucken Häusern reibt sich wunderbar an den unfassbaren Vorgängen. BUIO OMEGA ist auch ein Film, der die Wirkmächtigkeit des Kuleschow-Effekts mithilfe einer toten Figur aufzeigt: während Anna im mütterlichen Bett regungslos liegt (sie ist ja schließlich tot!), macht sich Iris an Francesco ran und holt ihm einen runter, während Francesco eher von Annas Präsenz als von Iris Tätigkeiten wirklich angeregt wird; eine Montage von Anna, dann Francesco, der einen Orgasmus bekommt und dann wieder Anna lässt die Zuschauer glauben, dass die verblichene Geliebte von Francescos Höhepunkt zu einem seligen Lächeln gebracht wird. Pure Kinomagie.


ab 22:45 Uhr

EVA MAN
Regie: Antonio D'Agostino
Italien/Spanien 1980
78 Minuten, OmU
Eva (Eva Robin's) ist sowohl Frau als Mann – und daher die ideale Testperson für Professor Popovs (Ramón Centenero) neu konzipierten "Sexmaker", der das Lustempfinden auf Knopfdruck steigern kann. Doch auch üble Gangster haben es auf die Maschine abgesehen und wollen Eva entführen. Mit der Kampfbereitschaft Evas und ihrer wackeren Freundin Ajita (Ajita Wilson) haben die Böswatze allerdings nicht gerechnet!

Ajita und Eva beschützen gemeinsam den Sexmaker

Trans-Personen, die im italienischen Genre-Kino der 1970er Jahre marginalisiert waren (und eigentlich auch im internationalen Kino sämtlicher Couleurs), bekommen in EVA MAN eine liebevolle Bühne als zentrale Protagonistinnen, als positive Heldinnen, als charismatische Ikonen, als durchschnittlichen Sterblichen bei weitem überlegene Sex-Göttinnen.
EVA MAN ist ob seines niedrigen Budgets ein durchaus rumpeliger Film: im Gegensatz zu Eva, die sowohl als Frau wie auch als Mann bestens performt, funktioniert er nicht in all seinen Facetten. Der Versuch, einen SciFi-geprägten Thriller mit Gangster-Subplot zu erzählen, geht ziemlich gehörig in die Hose, denn für Spannung und Action und auch für solides narratives Erzählen hatte Antonio D'Agostino offenbar überhaupt kein Händchen. Da trübt der Film in teils sehr steifen Szenen mit Expositionsdialogen zum Füßeeinschlafen vor sich hin, und ein Portrait von Sigmund Freud an der Wand im Büro als Marker dafür, dass Professor Popov wirklich ein Wissenschaftler ist, versprüht zwar einen netten Charme, vermag den stocksteifen Erzählstil aber nicht wirklich zu kaschieren.
Als relaxter Sexfilm, als entspannter Abhängfilm und als filmische Bühne für die Style- und Sexikonen Eva Robin's und Ajita Wilson ist EVA MAN absolut großartig. Wenn beide in Zeitlupe, begleitet von einem loungigen Score des ehemaligen Morricone-Gitarristen und -Pfeifers Alessandro Allessandroni händchenhaltend und halbnackt durch einen mediterranen Garten Freudesprünge machen und dann in den Pool tauchen, um dort minutenlang voller Lebensfreude herumzutollen und zu planschen, dann ist der Film ganz bei sich.
Als Exploitationfilm ist EVA MAN von Didaktik und Thesenkino natürlich meilenweit entfernt und trotzdem hat er auch etwas Utopisches: die Art und Weise, wie er das (nicht nur) sexuelle Charisma seiner beiden Trans-Hauptdarstellerinnen feiert, so völlig unverkrampft und ohne jegliche thematische Schwere, dürfte zu dieser Zeit recht einzigartig gewesen sein. Die, die hier bloßgestellt und lächerlich gemacht werden, sind die transphoben Gangster und Handlanger. Der "Fiancé" Evas macht irgendwann nach zwei Dritteln der Laufzeit die Entdeckung, dass seine Geliebte einen Penis hat und von dem Dreier, den Ajita und Eva ihm vorschlagen, schreckt er zunächst zurück. "Kümmer du dich doch um die weiblichen Teile, dann kümmere ich mich um die männlichen" schlägt Ajita sinngemäß vor – und der "Fiancé" legt sein Zurückschrecken ab und gibt sich dann mit Eva und Ajita dem sinnlichsten und schönsten Sex im ganzen Film hin.


Freitag, 21. Juli 2023


ab 12:30 Uhr

LA CONTROFIGURA (wörtl. "Der Stellvertreter", "Der Double", dt. Verleihtitel: "Liebe ist wie ein Sturm")
Regie: Romolo Guerrieri
Italien 1971
89 Minuten, dF
Bei einem Urlaub in Nordafrika wollen sich Giovanni (Jean Sorel) und Lucia (Ewa Aulin) eigentlich entspannen. Doch der Architekt wird immer wieder von Eifersuchtsanfällen geplagt, wenn der hübsche Amerikaner Eddie (Sergio Doria) sich zu sehr in der Nähe befindet. Kurze Ruhepausen von seiner Eifersucht findet Giovanni in einer gewaltsamen Affäre mit Lucias Mutter Nora (Lucia Bosé). Zeichen eines drohenden, tödlichen Unheils kündigen sich an und verstärken sich nach der Rückkehr nach Rom.
Giallo ist eben auch viel mehr als Serienkiller mit schwarzen Lederhandschuhen – wie der herausragende LA CONTROFIGURA demonstrierte. Der Prolog* – Jean Sorel fährt in eine Garage, wird von einem Mann angeschossen, fällt in Zeitlupe um und beginnt sich zu erinnern – schafft eine erwartungsvolle Grundstimmung, aber besonders im ersten Drittel ist der Film vor allem erst einmal ein Ehekrisen-Drama, ausgetragen von Jean Sorel und Ewa Aulin an einem malerischen und einsamen marokkanischen Badestrand. Er, Giovanni, ist vor allem ein Arschloch, der seiner Frau die ganze Zeit versucht einzureden, dass sie dumm sei, sie, Lucia, vor allem eine Frau, die offenbar Mühe hat, ihren Urlaub in Präsenz eines solchen Mannes zu genießen (verständlicherweise). Taucht auf: ein mysteriöser und sehr attraktiver fremder Mann am Strand; eine anderes Ehepaar (Silvano Tranquilli und die wunderbare Marilù Tolo); und Lucias Mutter (Lucia Bosé). Das bringt nicht nur Jean Sorels Hormonhaushalt durcheinander (und offenbart seine rapey Tendenzen), sondern zersplittert auch den Film rasch in ein großes Puzzle aus Erinnerungs- und Fantasie-Fragmenten, das sich weder für chronologische oder geografische Kontinuität interessiert noch dafür, ob es sich um Realität, Erinnerung, paranoide Einbildung oder Wunschfantasie handelt.
Im Grunde genommen also etwa das, was METTI, UNA SERA A CENA auch macht, bloß als "richtiger" Genrefilm mit mehr nackter Haut, mehr Sex-Szenen und mehr blutiger und tödlicher Gewalt – und vor allem wesentlich virtuoser und fesselnder inszeniert. All das zusammengehalten von Armando Trovajolis wunderbarem Score, der im Gegensatz zu Morricones in METTI, UNA SERA A CENA nicht nur wunderschön ist, sondern auch dramaturgisch gekonnt eingesetzt: Trovajoli arbeitet mit einer Palette, die wunderschöne Lounge-Musik am Rand des Kitsches und verstörende Dissonanzen umfasst – beide Atmosphären kommen stellenweise gleichzeitig zum Zuge, um die unter der Idylle der nordafrikanischen Sonne lauernden Abgründe zu illustrieren. Jederzeit kann die Stimmung umkippen, genauso wie dissonante Klavierakkorde den sanft einlullende Lounge-Klangteppich "beschmutzen".
LA CONTROFIGURA dürfte wesentlich komplexer erzählt sein als METTI, UNA SERA A CENA, ohne dabei verkopft-bleiern zu wirken. Die Vorführung beim Terza hielt allerdings eine besondere Überraschung bereit: die letzten zwei Akte wurden vertauscht angeliefert und abgespielt, die puzzle-artige Struktur des Films wurde noch weiter aufgebrochen und durcheinander geworfen mit wohl einigen interessanten Effekten. Ein industrieller Ofen in einer Ziegelei wurde so sofort zum makabren Ort der Entsorgung einer Leiche – und war später "wieder" harmlos und doch "aufgeladen" bei der "normalen" Tagestätigkeit zu sehen (während in der richtigen Reihenfolge der Ofen zunächst als "trivialer" Produktionsort präsentiert wird, der später "produktiv" zur Leichenentsorgung verwendet wird). Eine oder zwei Sequenzen waren nun noch weniger klar als "Realität" oder "Fantasie" auszumachen. Der erste Aktwechsel führte ohne jegliche Exposition die Figuren Tranquillis und Tolos ein, so dass nicht nur ich, sondern viele andere Zuschauer das Gefühl hatten, hier bereits einen Akttausch schon erlebt zu haben – während der "wirkliche" Akttausch für mich und für viele andere zunächst unbemerkt blieb und erst aufgedeckt wurde, als dem "gefühlten" Ende des Films (rein visuell, ohne die Musikbegleitung, nur als kurze Schwarzblende ohne "Ende"-Einblendung oder Credits bemerkbar) mehr Film folgte.
*Interessantes Detail: die gezeigte deutsche Kopie enthielt im Vorspann nur den deutschen Titel des Films "Liebe ist wie ein Sturm", sämtliche Credits fehlten komplett. Es scheint so, als hätte man im Kopierwerk vergessen, die deutschen Credits einzufügen, was dazu führte, dass wir eine etwa dreiminütige, ungeschnittene Einstellung auf die Motorhaube eines fahrenden dunkelblauen Citroën DS sahen, mit zahlreichen Spiegelungen vorbeirauschender Gebäude auf der Motorhaube und mit Armando Trovajolis meisterhafter Musik untermalt.


ab 16:00 Uhr

UN AMORE (wörtlich: "Eine Liebe", dt. Verleihtitel: "Junge Haut")
Regie: Gianni Vernuccio
Italien/Frankreich 1965
95 Minuten, OmU
Antonio (Rossano Brazzi), ein wohlhabender Architekt, der auch jenseits seines 40. Geburtstags noch bei Mutti lebt, verliebt sich in die Tanzschülerin Laïde (Agnès Spaak), die er über ein... Institut zur Anbahnung von Bekanntschaften kennenlernt. Als Antonio mehr als nur eine Gelegenheitsbekanntschaft will, wird es kompliziert, denn Laïde scheint mehr als nur einen Verehrer zu haben.

Laïde und Antonio: kein Traumpaar

 
UN AMORE ist eine Variation des Themas "Junge Frau verführt reiferen Mann in die Narrerei". Ich muss zugeben, dass mich der Film ein bisschen kalt gelassen hat. Das Terza Visione ist aber zum Glück auch ein Ort des vielseitigen Austauschs und beim anschließenden Gespräch am geselligen Abendessentisch eines Frankfurter Apfelwein-Restaurants erläuterte ein Co-Zuschauer in sehr schlüssigen Argumenten, warum er den Film so toll fand:
Zunächst war da einmal die Stärke, dass der Film seinen Figuren viel Raum zu Ambivalenzen lässt, wenig Schwarzweiß und dafür viele Grauschattierungen lässt: UN AMORE ist kein Film über ein Flittchen, das einen armen alten Herrn ins Verderben führt noch ein Film über einen alten Wüstling, der ein unschuldiges Mädchen verführt – beide durchleben eine Dynamik von Situationen, die für beide Unangenehmes beinhaltet. Es ist auch ein Film, der letztendlich nicht an eindeutigen Klärungen interessiert ist: wieviel von dem, was Laïde Antonio auftischt, wirklich wahr oder erlogen ist, interessiert ihn weniger als tatsächlich das fragile Gefüge ihrer Beziehung, und wie beide FIguren mit der Situation umgehen. Dabei hat UN AMORE besonders ein Talent für Situationen der "social akwardness": die Silvesterfeier im Dreier mit Laïde, ihrem "Cousin" Marcello (Gérard Blain) und ihrem "Onkel" Antonio nimmt in ihrer Schmerzhaftigkeit fast schon Züge eines schwarzen Horrorfilms an.
Dann ist UN AMORE auch ein wirklich toll fotografierter Film. Besonders hervorstechend sind Visionen und Träume Antonios, bei denen Figuren durch ein komplett mit weißem Licht durchflutetes Nichts wandeln und Gegenstände (etwa die Armlehne eines Stuhls) nur sichtbar werden, wenn sich Antonio im dunklen Anzug davor platziert.
UN AMORE ist auch ein Film der vielen kleinen Ideen – und hier etwas, was ich schon während des Films super fand: Laïde lässt Antonio für ein Mittagessen einfach stehen, und übergibt ihren kleinen Schoßhund in seine Obhut, damit sie sich mit ihrem "Cousin" Marcello vergnügen kann. Antonio ist also versetzt worden für das Mittagessen. Dann halt eben Mittagessen mit dem Hund So sitzt er dann auch einsam in einem Restaurant, auf einem Stuhl neben ihm das Schoßhündchen. Ein extravagant großes Steak wird vom Kellner auf einem mobilen Grill fertig gebraten: Antonio gönnt sich offenbar was Schönes. Das Steak wird auf ein Teller gehievt, und das Ganze dann dem Schosshündchen vor die Nase platziert. Der Hund ist mit dem Stück Fleisch, das etwa zwei mal so breit ist wie er selbst, sichtlich überfordert.


ab 20:00 Uhr

PIZZA CONNECTION
Regie: Damiano Damiani
Italien 1985
116 Minuten, dF
Der Mafia-Hitman Mario (Michele Placido), der als Tarnung einen Pizzaladen in New York führt, bekommt den Auftrag, in der alten Heimat, in Palermo, einen Staatsanwalt zu ermorden. Dort versucht er, seinen jüngeren Bruder Michele (Mark Chase) für seinen Attentatsplan zu rekrutieren.

Brüder und Rivalen beim Männlichkeitstest: wird Michele auf das Pony schießen?

 

Nachdem ich mit UN AMORE nicht so ganz warm geworden bin, hielt sich meine Begeisterung bei PIZZA CONNECTION leider noch etwas mehr in Grenzen. Allerdings bin ich generell eher nicht ein guter Ansprechpartner, wenn es um italienische Polizei- und Mafiafilme der 1970er geht, die Subgenres des italienischen Genrekinos, mit denen ich wahrscheinlich im Allgemeinen am wenigsten anfangen kann (auch wenn ich wohl gerade die sehr "extremen" Vertreter goutiere: sei es Deodatos UOMINI SI NASCE POLIZIOTTI SI MUORE, Fulcis LUCA IL CONTRABBANDIERE oder Bianchis QUELLI CHE CONTANO).
PIZZA CONNECTION hat sich für mich wie ein wenig gelungener Hybrid aus melodramatischem Familien-Drama und ultratrockenem Mafia-Procedural angefühlt. Angereichert mit einigen rohen Sleaze-Spitzen (der Subplot um die Zwangsprostitution von Micheles Teenager-Liebe durch ihre drogenverseuchte Familie) für den Melo-Teil und sehr arm an Action-Attraktionen für den Procedural-Teil (um nicht zu sagen, dass da teilweise sogar durch Ellipsen bewußt alle Thrills abgeblockt werden). Beide Hauptfiguren haben mich auch eher kalt gelassen.
Sehr bizarr: der Prolog und der Epilog spielen beide in New York City. Und beide dürften wohl meine liebsten Teile des Films sein, vielleicht, weil beide Teile für sich kleine geschlossene Perlen des Spannungskinos sind, mit jeweils einem Auftragsmord, der langsam vor unseren Augen vorbereitet und durchgeführt wird.


ab 22:45 Uhr

STRIDULUM (US: THE VISITOR, dt. Verleihtitel: "Die Außerirdischen")
Regie: Giulio Paradisi
Italien/USA 1979
101 Minuten, EF
Das Böse from outer space versucht, die Erde zu knechten. Barbara (Joanne Nail) kann das Böse vererben, ohne selbst böse zu sein, und deshalb soll Raymond (Lance Henriksen), deren Lebensgefährte, Manager eines Basketball-Teams und Henchman des irdischen Stakeholders (Mel Ferrer) der außerirdischen Macht, mit ihr den Antichristen zeugen. Dieser soll zusammen mit seiner bereits achtjährigen großen Schwester Katy (Paige Conner), einem echten Satansbraten vor dem Herren, das auf Geburtstagsfeiern schon für makabre "Unfälle" sorgt, das Böse in der Welt verbreiten. Doch Jerzy Colsowicz (John Huston), der nicht aus Warschau oder Krakau kommt, sondern von den außerirdischen Absolut-Guten, steigt auf die Erde hinab, um gegen das Böse zu kämpfen, unter anderem mit der Unterstützung von Barbaras Haushälterin (Shelley Winters).

Katy: Süßes Gesicht, mörderische Absichten

 
Ein sehr bizarrer Cocktail aus Star-Power (John Huston, Mel Ferrer, Lance Henriksen, Shelley Winters, Glenn Ford, Sam Peckinpah, Franco Nero), Rip-Off-Elementen (THE EXORCIST, THE OMEN, ROSEMARY'S BABY, CARRIE, THE FURY, CLOSE ENCOUNTERS OF THE THIRD KIND und Strukturelemente der Polit-Paranoia-Thriller der 1970er Jahre stecken drin), einem faszinierend teurem Look (in dem Film steckte wohl viel mehr Geld drin als bei den meisten anderen Filmen dieses Terzas), völlig wahnsinnigen Ideen (u. a. Franco Nero als Jesus-Double from outer space mit einer knallgelben Wikinger-Damenperücke) und einer kompletten Ungerührtheit dabei – ja, das mögen vielleicht etwas zu viele Zutaten sein, damit das wirklich rund wird, aber faszinierend war STRIDULUM doch auf jeden Fall.
Die wirklich hart verstrahlten Elemente konzentrieren sich vornehmlich auf den Prolog. John Huston als eine Art Gottfigur beschwört Wolken in einer Art Outer-Space-Wüstenlandschaft und erzählt dann einer Gruppe von glatzköpfigen Kindern in weißen Uniformen (sie sollen "gut" sein, sehen aber eher wie eine Gruppe von gehirngewaschenen potentiellen Selbstmord-Attentätern aus) eine komplizierte Geschichte über den Kampf zwischen Gut und Böse, die wohl nicht nur ich, sondern wahrscheinlich auch niemand sonst im Saal im Detail verstanden hat, weil sie so verschlungen-verzweigt und mit unzähligen Namen vollgestopft war. Das darauffolgende Basketballspiel, bei dem Barbara und Katy sowie Raymond eingeführt werden, ist da wieder etwas weltlicher und baut sehr geschickt eine sehr ominöse Spannung auf: dass Katy das vorher von Huston beschworene Böse ist, wird an ihrem Blick klar. Die Auflösung, der Twist der Szene allerdings ist wieder... bizarr? Mel Ferrer wird dann später als weltlicher Vertreter des intergalaktischen Bösen präsentiert – als Vorsitzender einer Gruppe ominöser Geschäftsmänner, die Lance Henriksen in einem riesigen, prunkvoll-pompösen Verschwörungsgruppen-Saal erwarten und von ihm fordern, endlich Barbara zu begatten, damit das Böse sich potenzieren kann.
"Ripoffs" haben oft den Vorteil, dass sie ihren Stoff komplett verdichten können, bis es anfängt zu krachen. Das würde es am übernächsten Tag bei LADY TERMINATOR zu sehen geben, wo die Südseekönigin auf Rachefeldzug jeglichem Terminator das Fürchten lehren sollte und auch hier ist es so: Paige Conners Katy lässt Damien aus THE OMEN (oder auch die bereits besessene Regan aus THE EXORCIST) im direkten Vergleich wie ein süßes kleines Kind wirken, dem man den Kopf tätscheln und einen Keks in die Hand drücken möchte. STRIDULUM ist Terrorkinder-Kino der Extraklasse und das ist vielleicht der klarste rote Faden des Films. Katy sagt nicht nur zu Polizisten (gespielt von Glenn Ford) liebreizende Sätze wie "Go fuck yourself", schlägt nicht nur ihrer Mutter vor, "mit Raymond Liebe [zu] machen, damit ich bald einen kleinen Bruder bekomme" (und schleicht sich dafür zu später Stunde an das mütterliche Bett), sondern schlägt auch ganz alleine eine Bande von Halbstarken auf einer Mall-Schlittschuhbahn, lässt einige von ihnen gar durch die Fenster nahe gelegener Restaurants krachen.
Es gibt etwa 15 bis 20 Minuten vor Ende die vielleicht merkwürdigste Szene im ganzen Film, ganz ohne extravagante Dekors und total verrückten Ideen: es ist einfach nur ein etwas längerer Dialog zwischen John Huston und Shelley Winters. Hier kommt raus, dass die Haushälterin offenbar durchaus irgendwie mit den Kräften des Guten verbündet ist. Ein etwas überraschender Twist, aber das ist es nicht: der Dialog zwischen Huston und Winter ist von einer fast jenseitigen Zärtlichkeit, eine elektrisierende Chemie ist spürbar, als würden sich hier zwei austauschen, die schon seit Jahrzehnten intim sind. Sie sprechen ziemliche Banalitäten, die irgendwie von Abschied handeln, aber durch die Präsenz und das Mimenspiel der beiden Darsteller wird hier fast eine Art romantischer Sub-Liebesfilm innerhalb des Films angedeutet. Andere Co-Zuschauer sahen darin sogar ein Verhandeln von Altern im Hollywood-Starsystem. Wie dem auch sei: auf eine eigensinnige Weise war diese nur scheinbar banale Szene wohl der magischste Moment von STRIDULUM.


Samstag, 22. Juli 2023


ab 14:00 Uhr

LA CORONA DI FERRO ("Die eiserne Krone")
Regie: Alessandro Blasetti
Italien 1941
109 Minuten, OmU
Der mittelalterliche Tyrann Sedemondo (Gino Cervi) versucht nach seinem Putsch die Territorien zu konsolidieren und muss dabei sowohl eine legendäre Krone wie auch seinen eigenen kleinen Sohn in eine weit entfernte Todesschlucht verbannen. Die Krone ist tief versunken und der kleine Junge totgeblaubt – doch dieser kehrt 20 Jahre später als junger Mann (Massimo Girotti) zurück, um an einem Tournier zur Verlosung der Hand von Sedemondos Tochter teilzunehmen.
LA CORONA DI FERRO wurde vor der "großen" Ära des italienischen Genrekinos produziert, die im Mittelpunkt des Terza Visione steht. Ein Vorläufer des Peplums mit einigen Motiven des Mantel- und Degenfilms und einigen mystisch-mythologischen Fantasy-Elementen – das ganze vornehmlich als Mittelalter-Schlachten-Epos, der seine Entstehungszeit in der faschistischen Ära zwar nicht ganz zu verstecken vermag, andererseits viel Pathos und Pomp durch lockere Verspieltheit, Freude an witzigen Ideen, purem Quatsch und einer Begeisterung für schiere Schauwerte zu vermeiden weiß.
 Skepsis und Freude hielten sich bei mir etwas die Waage. Trotzdem die Erzählung wahrscheinlich nicht sonderlich kompliziert sein sollte, wirkte sie für mich verwirrender als manch ein verschlungener Giallo. Viele Texttafeln (grafisch schön aufbereitet als aufgeklapptes Buch, um die märchenhafte Stimmung zu betonen) arbeiteten manchmal sehr oberflächlich, manchmal überakribisch detailliert Exposition ab. Die Dramaturgie des Films navigierte sehr brüsk zwischen harten Ellipsen und vielen Szenen, die mühsam (aber nicht immer schlüssig) eine Brücke zwischen verschiedenen Sinneinheiten bilden sollten. Kurz: ich hatte große Mühe, der Geschichte zu folgen – dadurch aber auch viel Muße, um mich an den vielen schönen Setpieces zu erfreuen. LA CORONA DI FERRO war schon ein "Blockbuster", ein Prestige-Projekt der Zeit und das viele Geld, das in diesen teuren Film gesteckt wurde, sieht man ihm auch durchaus an: opulente, detailreiche, glitzernd-verführerische Set-Designs, denen dem Ton des Films entsprechend weniger daran gelegen ist, ein "realistisches" Bild des Mittelalters zu zeichnen als viel mehr eine kleine Traumwelt zu erschaffen.
Auf der Schauspielerseite auch ein wenig Ambivalenz. Einerseits fand ich den Haupthelden, Arminio, gespielt von Massimo Girotti, eine ziemlich nervtötende Figur und auch die Königin eher blass gespielt von Elisa Cegani. Aber das macht nichts, wenn dafür Gino Cervi (bekannt als Peppone aus den französisch-italienischen Don-Camillo-Filmen mit Fernandel) den König Sedemondo als ruppig-rabiaten und unkultivierten Raufbold spielt, der ständig seine Umgebung mit der Beschimpfung "bestià" bedachte (beispielsweise seine Dienerschaft "Dammi da bere, bestià!" anschnauzend, wenn er zwischendurch jetzt, sofort (!) saufen möchte). Und eine noch bemerkenswertere Darstellung gibt es von Luisa Ferida als militante Kämpferin und "henchwoman" Tundra, die in langen Stiefeln und kurzen Hotpants eine Prise Domina und eine Messerspitze Femme Fatale in ihre Figur bringt. Was für eine wunderbare alternde Grande-Dame hätte sie in der Giallo-Welle der späten 1960er und frühen 1970er werden können, aber sie wurde 1945 zusammen mit ihrem Lebensgefährten Opfer einer summarischen Hinrichtung durch anti-faschistische Partisanen.


ab 16:30 Uhr

NEROSUBIANCO ("Attraction")
Regie: Tinto Brass
Italien 1969
76 Minuten, dF
Barbara (Anita Sanders) wird am Hyde-Park von ihrem Ehemann Paolo aus dem Auto gelassen. Während er noch Geschäfte machen muss, wird ihr Spaziergang durch Swinging London zu einem wilden Trip zwischen Sex, Pop und Politik.

Ein kurzes Cameo des Regisseurs: Tinto Brass als Gynäkologe

 
Mit NEROSUBIANCO feierte das Terza in seiner neunten Ausgabe seine Tinto-Brass-Premiere, und zwar nicht mit einem seiner erotischen Werke der mittleren oder späten Phase, sondern mit einem Film aus seiner frühen Phase, als er noch der experimentellen, avantgardistischen Seite des europäischen Neue-Welle-Kinos nahe stand. Ein Grenzgänger-Film also am Rande dessen, was man noch Genre-Kino (ja gar narratives Kino) nennen kann, eine knapp 80-minütige "Psychedelic Pop Art Experience", wie ein Filmplakat versprach. Ein Film, der wohl leider bei einem großen Teil des Terza-Publikums durchfiel.
Eine gewisse Neigung für Experimentalfilm dürfte wohl nicht schaden, um NEROSUBIANCO zu goutieren. Es ist ein harter, wilder und mit schwindelerregender Intensität geschnittener Ritt durch Swinging London, durch Popart- und Comic-Bilder, durch krieseliges Dokumentar-Found-Footage, begleitet von einem kakophonischen Sound-Design und tranceartige Voiceovers, die ab und zu Platz machen für Song-Einlagen der Band Freedom.
NEROSUBIANCO ist wie gesagt am Rande dessen, was man noch narrativer Film nennen kann, aber Spuren von roten Fäden gibt es dennoch. So steckt auch (schon wieder!) ein Ehekrisen-Drama in diesem Film: Barbaras Ehe mit Paolo ist offenbar erkaltet, nicht unbedingt in abgründige Untiefen als vielmehr in gelangweilte Routine gefangen. Der Spaziergang durch Swinging London bietet ihr die Möglichkeit, mal abseits ihrer Routine nach Eindrücken und Inspirationen zu suchen.
NEROSUBIANCO ist tatsächlich eher eine "Experience" als ein "normaler" Film. Ich bin gerne mit Barbara durch Swinging London gebummelt und habe mich gerne von dem Bilder- und Sound-Strom mitreissen lassen, besonders auf einer großen Kinoleinwand. An vieles kann ich mich schon nicht mehr genau erinnern, dafür ist der Film auch viel zu voll und dicht, aber das ist okay. Wenn Godard sich etwas mehr für nackte Haut, Sex und Erotik interessiert hätte und ein bisschen mehr Spaß und Jux in ihm gesteckt hätte, dann hätten manche seiner Filme vielleicht so aussehen können wie NEROSUBIANCO.


ab 20:00 Uhr

BLINDMAN ("Blindman, der Vollstrecker")
Regie: Ferdinando Baldi
Italien/USA 1971
102 Minuten, dF
Ein blinder Revolverheld (Tony Anthony) ist hinter einer Gruppe von 50 "Mail Order Brides" her, die er zu ihrer Bestimmung eskortieren muss und die ihm von mexikanischen Militärs und amerikanischen Banditen abgeknüpft wurde.

Auch ohne Augenlicht schlägt sich der Revolverheld gegen Banditen und Militärs

 
Wie einst PER UN PUGNO DI DOLLARI sich vor dem japanischen Kino verbeugte (wobei das japanische Vorbild selbst von Dashiell Hammett inspiriert wurde), so transponierte BLINDMAN nun die Figur des blinden Samurais in den wilden Westen. So wie mein Verhältnis zu Leones erstem Western 2017 (kurz vor meinem ersten Terza) erkaltete, konnte ich mich für BLINDMAN leider nicht wirklich erwärmen. Die Titelfigur hat mich weitestgehend kalt gelassen: ob es an der Art, wie die Figur geschrieben war (über weite Strecken scheint der Film mit seiner Blindheit nichts anzufangen) oder am Darsteller (und Co-Produzent und Co-Autor) Tony Anthony selbst lag, der für mich merkwürdig blutleer wirkte – ich bin mir unschlüssig. Auch die Erzählweise des Films, die sich für mich ein bisschen zu sehr wie "Und dann passiert das, und dann das, und dann das, und dann das..." anfühlte, hat mich nicht wirklich mitgerissen. Ist der ganze Film zu zynisch-ironisch-distanziert und hat mich deshalb kaum involviert? Die Mail-Order-Brides schienen mir fast vollkommen belanglos in der Erzählung zu sein, wie ein Element, das halt so im Drehbuch steht – ebenso gut hätte es auch eine Viehherde oder irgendein seltenes Gewehr oder ein Goldschatz sein können. Oder für den Hofbauer-Kongress-Stammgast: das hätte auch eine zünftige Geschichte über Zwangsprostitution im sleazigen Wilden Westen (statt in einer europäischen Großstadt im sleazigen Noir-Ambiente) sein können, aber dann halt nicht (und wozu dazu den blinden Revolverhelden)... Und Ringo Starr als Bruder des Hauptbösewichten scheint mir auch leicht verschenkt.
Nun, irgendwie nicht mein Film, auch wenn das eher Jammern auf hohem Niveau ist: er plätscherte nett vor sich hin. Es gibt jedoch ein kleines Detail, das ich gerne besonders hervorheben möchte. Von dem Gebrüder-Duo der Bösewichte wird knapp nach der Hälfte einer von Blindman getötet. Als der Bruder zusammen mit seinen Schergen die Leiche entdeckt, folgt keine formelhafte Beschwörung von Rache, sondern ein emotionaler Moment der Trauer. Ein Mann hat hier seinen Bruder gewaltsam verloren, ist davon sichtlich gerührt und diese Rührung überträgt sich auch auf seine Schergen und auf die Zuschauer: für eine kurze Zeit steht der Film hier still und räumt der Trauer Platz ein. Das wird mir wohl länger im Gedächtnis bleiben als sämtliche Schießereien und Kämpfe und erzählerischen Wendungen und Kniffe.


ab 22:30 Uhr

PROFUMO (dt. Verleihtitel: "Lorenza")
Regie: Giuliana Gamba
Italien 1987
98 Minuten, OmU
Lorenza (Florence Guérin) hat genug davon, von ihrem allumfassend besitzergreifenden Ehemann Guido (Luciano Bartoli) sexuell erniedrigt und terrorisiert zu werden. Sie flieht und startet ein neues Leben mit dem Gärtner Eddie (Robert Egon Spechtenhauser). Als Guido gewaltsam gegen das frischverliebte Paar vorgeht, täuscht Lorenza ihren Tod vor und heckt einen Racheplan aus, bei dem sie Guido von seinen eigenen Methoden kosten lässt.
PROFUMO war nicht nur für mich eines der großen Highlights des Terza Visione 2023. Mit dem 1980er-Sleaze-Saxofon-Thema (interessante Variation: Altsaxofon statt dem üblichen Tenor-Saxofon – und später davon wieder eine Variation mit Bassklarinette) verführte mich der Film schon, bevor überhaupt das erste Bild zu sehen war und führte uns dann nach den Credits in ein bizarr-groteskes Bordell, bei dem die Grenzen zwischen Kundin / Prostituierte, Security-Angestellter / Freier, Vergewaltigung / Rollenspiel, Körper / Gegenstand ins Strudeln gebracht wurden – ein absolut meisterhafter Prolog, der bereits viele Themen und Motive des Films enthält und in ein... nun, schon wieder, Ehe-Drama führte (und den thematischen roten Faden dieses Terzas seit METTI, UNA SERA A CENA fortspann).
Besonders spannend erscheint mir, wie der Film mit seinen Sets umgeht, man könnte sagen: neureich-dekadenter 80er-Barock, mit Inneneinrichtungen, die allesamt sehr teuer, dabei aber auch erstickend, leblos, leer, seelenlos, minimalistisch um des Minimalismus willen aussehen, hermetisch gegen Tageslicht abgeschirmt, reduziert auf totale Funktionalität (in Guidos riesigem Arbeitszimmer gibt es praktisch nur einen riesigen Schreibtisch mit einem Computer drauf, daneben steht ein Fernrohr, mit dem er die Nachbarn bespannt) oder auf reine Repräsentation (eine Hotel-Lounge mit schweren, erstickenden Teppichen und überteuerten Designer-Möbeln). Lorenza wandelt in ihrem Zuhause und in ihren Hotels durch kalte Landschaften, die sehr gut dem emotionalen Zustand ihrer Ehe entsprechen. Befreiung gibt es hier teilweise am Strandhaus, an dem sie vor ihrem Ehemann entfliehen kann und eine Affäre mit dem tollpatschigen aber süßen Junior-Hausmeister und -Gärtner anfängt, aber wahrscheinlich nur, weil mehr Sonnenlicht zu sehen ist, wenn sie und ihr Toyboy am Strand auf dem nassen Sand Sex haben.
Ich verdanke PROFUMO auch, dass ich in meinem Leben nie wieder eine Dose Coca-Cola mit unschuldigen Augen werde sehen können. Es fängt harmlos an: Lorenza und Edward, am Rand des Pools am Strandhaus, schütteln die Dosen und spritzen sich gegenseitig mit Cola voll, aber die phallische Dose und vor allem ihr Inhalt werden danach von Lorenza auf sehr kreative Weise in ihr Liebesspiel eingebaut. Da kann Christie aus NINJA III: THE DOMINATION ihren V8-Tomatensaft einpacken! Es wird geträufelt und geleckt, dass einem Sehen und Hören vergeht und die Kinnlade runterklappt. Und dann verschwimmen – wie im Prolog angekündigt – wieder die Grenzen und Zehen nehmen die Funktion von Penissen ein...
Motive aus Filmen wie Lucio Fulcis furiosem Melodrama am Rande des selbstzerstörerischen Wahnsinns IL MIELE DEL DIAVOLO, Brian De Palmas Meditation über Voyeurismus und die Inszenierung von Verführung als Performance BODY DOUBLE und Yves Boissets genre- und gender-fluiden Identitäts-Psychogramm LA TRAVESTIE waren für mich bei PROFUMO spürbar: allesamt Filme, die ich letztes Jahr zum ersten Mal gesehen habe, auf unterschiedliche Weisen (aber stets sehr hohem Niveau) für meisterhaft halte und in deren Reihe ich jetzt ohne zu zögern PROFUMO stellen würde. Eine Frau, die von einer latent gewalttätigen Beziehung in die Enge getrieben wird; die performative Inszenierung von Körpern zur Irreleitung sehgieriger Voyeure; das geschlechtsübergreifende Spiel mit verschiedenen Identitäten.
Besonders letzteres führt in der zweiten Hälfte des Films zu schier unglaublichen Momenten, als Lorenza das Geschlecht "wechselt" und sich mit Kurzhaar-Perücke und Maßanzug als Yuppie inszeniert (die Ähnlichkeit mit Nicole aus Boissets LA TRAVESTIE war verblüffend) und Edward mit ein bisschen Makeup und Stöckelschuhen in eine passende "Trophy-Wife" verwandelt wird – und beide ihre Performances zunächst in der Öffentlichkeit ausprobieren, bevor sie dann auch gewalttätigen Sex (Lorenza nimmt Edward hart von hinten) hinter der Gaze des Vorhangs proben, der für Fernrohr-Voyeure das Spektakel verundeutlicht und umso anregender macht.
Die überaus charismatische Florence Guérin legt hier nicht weniger als eine Jahrzehnt-Performance ein und hat weit mehr als ein schönes Äußeres zu bieten. Schade, dass ein Großteil des damaligen (und wohl auch heutigen) Publikums niemals auf die Idee käme, Schauspieltalent in einem kostengünstigen Sexfilm zu sehen. Und wie gut, dass es da eben Terza Visione gibt. Oder kurz: gemeinsam mit BUIO OMEGA war PROFUMO der große, alles überragende Höhepunkt dieses Terzas.


Sonntag, 23. Juli 2023


2022 wurde beim Terza Visione der "internationale Tag" eingeführt: gezeigt wurden Genrefilme nicht-italienischer Produktion. Der Blick "über den Tellerrand" soll die Perspektiven auf das italienische Genrekino erweitern und die transnationalen Verflechtungen des Genrekinos im internationalen Kontext verdeutlichen. Also gewissermaßen den Dialog zwischen Subgenres eines einzelnen Landes erweitern zu einem Dialog des Genrekinos jenseits von Ländergrenzen.
Als Anhänger der Programmierung von italienischen "Grenzgängern" (also Filmen am äußersten Rande dessen, was noch "Genrekino" genannt werden kann) fand ich die Idee schon letztes Jahr sehr schön und gelungen. Dieses Jahr wurde das allerdings sogar noch weiter getoppt, angefangen mit einem "Übergangsfilm", nämlich einer italienischen Bearbeitung der US-amerikanischen Version eines japanischen Films...



ab 12:45 Uhr

GODZILLA
Regie: Luigi Cozzi, Ishiro Honda, Terry Morse
Italien/Japan/USA 1977
97 Minuten, OmU
Am 6. August 1945 wird Hiroshima durch die Atombombe zerstört. Knapp zehn Jahre später ist es ein ungeheuerliches Monster, das Tokyo zerstört. Und der amerikanische Journalist Steve Martin (Raymond Burr) muss das hilflos mit ansehen.

Raymond Burr als ultimative Popart-Ikone des Reaction-Shots

 
GODZILLA, auch als "Cozzilla" bezeichnet (die für den Film geschaffene Produktionsfirma trug tatsächlich diesen Namen), ist ohne Zweifel die bizarrste Entdeckung des diesjährigen Terzas. Luigi Cozzi, großer Liebhaber von US-Monsterfilmen der 1950er Jahre, wollte nach dem großen Erfolg von KING KONG 1976 aus diesem etwas Kapital schlagen und eigentlich "nur" irgendeinen Monsterfilm neu verleihen. Es wurde GODZILLA, doch statt des originalen japanischen Films wurde die US-amerikanische Version genommen, die nachgedrehte Szenen mit Raymond Burr enthielt. Aber ein Schwarzweiß-Film im Jahre 1977 wieder in die Kinos zu bringen, das ging doch nicht – außerdem war der mit 80 Minuten zu kurz. So schnitt Cozzi dokumentarisches Material zu den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki in den Film, dazu noch ein paar Schnipsel aus weiteren japanischen Monsterfilmen und hier und da noch Second-Unit-Material aus anderen Filmen (u. a. aus Frankenheimers THE TRAIN) und in einem umständlichen Verfahren (wohl teilweise mit Einzelframe-Bearbeitungen) wurden mit Gel gefärbte Schablonen genutzt, um aus dem Schwarzweißfilm einen "Farbfilm" zu machen. Und das ganze für den italienischen Markt noch italienisch synchronisiert, zumindest die meisten Szenen – aber nicht alle: einige japanische Dialoge sind unbearbeitet im Film verblieben.
Ein Kommerzprojekt also, das sich vom Erfolg von KING KONG ein schönes Scheibchen abschneiden wollte und die Kolorierung als Prozess mit dem klangvollen Namen "Spectorama 70" vermarktete... und das aus heutiger Sicht eher teilweise wie abstrakte Videoinstallationskunst aussieht. Oder wie das Programmheft beschrieb: wie ein "postmoderner Experimentalfilm".
Luigi Cozzis GODZILLA hat wohl viele Zuschauer im Publikum ganz fürchterlich gelangweilt, und ich kann durchaus verstehen, warum das so ist. Auch die Aussage "Muss ich mir niemals wieder antun" kann ich ein Stück weit nachvollziehen. Mich hat der Film allerdings vollkommen fasziniert. In seiner Einführung erwähnte Sven den Gedankengang, dass GODZILLA in dieser Fassung quasi zu den Ursprüngen des Kinos als Jahrmarktattraktion zurückkehrte. Tatsächlich hatte der Film ein komisches Feeling: teilweise wie ein Artefakt des Ur-Kinos in seinen ersten 20 Jahren; teilweise sehr in seiner Entstehungszeit verankert mit dem Disco-gefärbten Elektroscore (von Vince Tempera und Fabio Frizzi); teilweise wie ein undefinierbares retrofuturistisches Etwas, das unaufhaltsam vor sich hinwaberte und den Zuschauer wahlweise K.O.-mäßig langweilte oder unaufhörlich hypnotisierte.
Die Kolorierung sieht eben nicht aus wie eine Stummfilm-Virage, mit einer einheitlichen Farbe, sondern unterschiedliche Areale des Bilds werden mit gelben, oder grünen, oder blauen, oder magentafarbenen, oder roten Schattierungen eingefärbt, teils einzeln, teils mit drei oder vier Farben gleichzeitig. Das Verfahren führte auch zu einem leichten Schärfeverlust der einzelnen Bilder, machte sie noch etwas weicher. Traumartiger auch: GODZILLA scheint man weniger zu sehen als zu träumen. Auch wenn stellenweise die Einfärbungen dramaturgischen Rahmenbedingungen folgten (ein sagen wir mal teilweise gelblich eingefärbtes Bild wird teilweise in Blau eingetaucht, nachdem eine Figur in einem Raum den Lichtschalter ausknipst) – den größten Teil der Laufzeit tut sie es nicht! Jedes einzelne Bild wird hier zu einem Ereignis gemacht (an dieser Stelle frage ich mich, ob Andy Warhol wohl GODZILLA gemocht hätte) und das machte für mich den Film so spannend: jede nächste Szene, jedes weitere Bild war potentiell eine Überraschung. Verblüffend sind nicht die Bilder mit ihrem Inhalt an sich, sondern eher, dass halbwegs vertraute Bilder mit bekannten Monsterfilmmotiven derartig verfremdet werden (durch die Kolorierung, durch den Score, durch die italienische Synchro), dass etwas komplett Neues entstand, das wesentlich weiter geht als nur elektronische Musik zu einem Stummfilm, sondern vielleicht eher vergleichbar ist mit Bill Morrisons Collagen degradierter alter Filmkopien. Es zählt natürlich für alle Filme, die beim Terza liefen, aber für diesen Film wohl noch mehr: es ist ein Werk, das man definitiv im Kino auf einer guten 35mm-Kopie sehen sollte.
Der Film nimmt durchaus Gesten eines engagierten Plädoyers gegen die Atombombe ein – er tut es mit diskutablen Mitteln, die man je nach Neigung als völlig geschmacklos oder sehr interessant ansehen kann, denn der Prolog zerrt den Subtext des originalen GODZILLA gnadenlos in den Scheinwerfer: eine Einblendung datiert uns auf den 6. August 1945, es folgen dokumentarische Bilder des Atombombenabwurfs auf Hiroshima, inklusive materiellen Zerstörungen und auch Bildern von Schwerverletzten und Leichen, das ganze mit einem Score untermalt, der hybrid zwischen Disco und Industrial schwankt. Der Begleittext im Programmheft spricht von "Mondo-Qualitäten", in der Einführung zum Film wurde die Lust an Gewalt erwähnt. Im Kontext der 1970er Jahre sprechen wir von einer Zeit, in der Bilder von Hiroshima und Diskurse um Hiroshima eher Teil von Subgruppen (Friedensbewegung) oder von "intellektuelleren" Kunstformen (sagen wir dem Autorenkino) waren, und nicht etwas, was in den Mainstream der Popkultur vorgedrungen war.
Und dazwischen Raymond Burr, in der amerikanischen Fassung von GODZILLA so etwas wie der "kulturell nähere" Erzähler, der wahrscheinlich auch dort schon viel vor sich hin starren musste: hier wird er zu einer Pop-Art-Ikone des Reaction-Shots. (Oder zum Meta-Kommentar über die amerikanische Präsenz in Zeiten der Atombombe und des Kalten Kriegs, wie andere Zuschauer danach meinten). Tokyo wird von einem Monster in kleine Stücke kaputt gehauen und getreten, ein Liebes-Dreieck mit großem Melo-Einschlag entfaltet sich vor seinen Augen zwischen zwei japanischen Männern und einer Frau, aber er kann nur fassungslos da stehen und starren, während gelbe, blaue, magentafarbene Schleier ihm durch das Gesicht flimmern.
Der Film endet mit der mahnend-fragenden Einblendung "Fine?" über einem knallroten Bild. Die Antwort war auf gewisse Weise "ja". Am Ende des Kassensturzes war der Film mittelmäßig erfolgreich in Rom und Mailand: kein Flop, aber auch kein richtiger Hit. Cozzi hat mit GODZILLA ein komplett eigenes Subgenre geschaffen – und dessen (wahrscheinlich) einziger Vertreter. Ruggero Deodatos LA MOGLIE DI FRANKENSTEIN, Lucio Fulcis DEVIAZIONE PER L'INFERNO, Umberto Lenzis LA COSA DA UN ALTRO MONDO, Alberto De Martinos IL PENSIONANTE – das wäre doch was gewesen! Später machte wenigstens Dario Argento IL FANTASMA DELL'OPERA, aber der war "nur" ein "normaler" Film.


ab 16:30 Uhr

COŽ TAKHLE DÁT SI ŠPENÁT ("Wie wäre es mit Spinat?")
Regie: Václav Vorlíček
ČSSR 1971
86 Minuten, OmU
Zemanek und Liška sind kleine Fische, die in ihrer Fabrik für organisierte Schieber einmal zu oft stehlen, einige Zeit absitzen und dann schon an den nächsten Coup gelangen: ein Ganove (Jurai Herz, der Regisseur von DER LEICHENVERBRENNER), der auf Friseur umgesattelt ist, möchte eine für die Rinderzucht konzipierte Verjüngungsmaschine als Verjüngungskur für zahlungskräftige Kunden missbrauchen. Leider hat die Verjüngungskur ungeahnte und schwere Nebenwirkungen, wenn die bestrahlten Subjekte vorher Spinat gegessen haben...

Der Geist eines hungrigen Säuglings im Körper einer Erwachsenen in einem Nobel-Restaurant: das kann nicht gut gehen!

 
Wer sich schon immer gefragt hat, wo der Missing Link zwischen Howard Hawks' MONKEY BUSINESS und HONEY, I SHRUNK THE KIDS liegt: in der Tschechoslowakei, genauer gesagt im Barrandov-Filmstudio!
COŽ TAKHLE DÁT SI ŠPENÁT war der Ersatzfilm für den ursprünglich geplanten PANE, VY JSTE VDOVA! ("Mein Herr, Sie sind eine Witwe!") des gleichen Regisseurs (Václav Vorlíček, Regisseur des in Deutschland berühmten Märchenfilms DREI HASELNÜSSE FÜR ASCHENBRÖDEL) und des gleichen Drehbuchautors (Miloš Macourek), deren siebenter gemeinsamer Film. Beide begannen ihre Zusammenarbeit 1966 und konnten nach der Niederschlagung des Prager Frühlings nahtlos weiterarbeiten, um populäre Komödien zu drehen.
Aller Anfang ist schwierig, und so begann "Wie wäre es mit Spinat?" auch eher zäh, mit einer eher schwerfälligen Exposition, die die beiden kleinen Betrüger Liška und Zemanek erst einmal in den Knast bringt, um sie dann auf ihrer neuen Arbeit auf eine Verjüngungsmaschine treffen zu lassen. Daneben werden auch die anderen Charaktere, darunter die Chefin einer argentinischen Rinderzuchtfarm auf Geschäftsreise, eher wenig elegant in den Film geführt. Dann aber fängt es an, für die Figuren richtig schief zu laufen – und der Film selbst beginnt, Fahrt zu nehmen. Nach einer geruhsamen Nacht neben der geliebten Frau bzw. Freundin wachen unsere beiden Gauner als Kinder auf: sie werden nun von Kinderdarstellern gemimt, die von den ursprünglichen Darstellern synchronisiert werden – kleine Jungs also, die mit röhrenden Stimmen und erwachsenem Jargon sprechen.
Im letzten Drittel gewinnt der Film eine Dynamik, eine Beschleunigung, schließlich eine Rasanz, ein Niveau an totaler Eskalation der Gags und der puren Action und der Lust an Chaos und Zerstörung, die sich durchaus mit Hollywood und Hawks messen können. Das Set: Eingangsbereich, Speiseaal und Küche eines Prager Hotels. Die Protagonisten: die zwei nunmehr gealterten Ganoven, ein körperlich aber geistig nicht gealterter weiblicher Säugling, ein jähzorniger Koch und viele Gäste. Die Action: eine komplette Verwüstung des Speisesaals und der Küche, mit Verfolgungsjagden über und unter die Tische, mit Verschüttung und Verschmierung unzähliger creme-haltiger Saucen und Desserts, mit einer obsessiven Jagd nach den letzten Resten von Spinat (notfalls auch vom Jackett-Rücken am Träger, der eben in einen Spinatbottich gefallen ist, abzukratzen und abzulecken), Verwechslungen von bratfertigen Lämmern und Säuglingen und dazwischen werden noch Leute geschrumpft. Eine filmische Lachexplosion erster Güte!


ab 20:00 Uhr

PEMBALASAN RATU PANTAI SELATAN ("Lady Terminator")
Regie: Tjut Djalil
Indonesien 1989
82 Minuten, EF
Es gelingt einfach keinem Mann, die Südseekönigin zu befriedigen. Deshalb murkst sie jeden Sexpartner ab. Nur einer schafft es, ihr die Schlange zwischen den Beinen zu entwinden und daraus einen Dolch zu zaubern. Die Südseekönigin nimmt übel und schwört Rache für in 100 Jahren. Ihr Fluch fällt auf eine Doktorandin der Anthropologie (Barbara Anne Constable), die vom Geist der Königin besessen wird und in den Straßen Jakartas ein Blutbad nach dem anderen veranstaltet. Können der Polizist Max und die Sängerin Erica sie stoppen?

In rasender Zerstörungswut durch Jakarta: Barbara Anne Constable als "Lady Terminator"

 
LADY TERMINATOR gehörte mit seinem verheißungsvollen Plakat ("She mates. Then she terminates" plus Barbara Anne Constable mit großer Wumme gleich fünf mal) und seinem eher exotischen Ursprungsland zu den heiß erwarteten Filmen des internationalen Tags. Die Versprechen wurden mehr als eingelöst: in kompakten, knapp 80 Minuten dürfte der Film mehr knallige Action und blinde Zerstörungswut auffahren als die kompletten sechs Teile von TERMINATOR zusammengenommen – und dazwischen auch mehr ruppigen Sleaze. Die Szene, als die Titelheldin (ja-ja, eigentlich Antagonistin) in ein Polizeirevier einfällt und es Raum für Raum, Korridor für Korridor, Stockwerk für Stockwerk in nicht weniger als eine monströse Schlachteplatte kaputt und tot schießt, war alleine schon der Eintritt wert. Der Film weiß dann auch ganz genau, was er an der charismatischen Barbara Anne Constable hat, die er in ihrer leider einzigen Filmrolle leicht von unten gefilmt in eine Action-Ikone verwandelt, in eine tödliche Göttin der Zerstörung. (Als sie noch nicht besessen ist, mimt sie die tollpatschige, leicht naive Anthropologie-Doktorandin. Nach ihrer Inbesitznahme durch die Südseekönigin ist sie eine komplett andere Person. Bei aller Action ist LADY TERMINATOR zumindest für die Hauptfigur auch Schauspielerkino, gleichwohl Max' Christopher J. Hart wie ein Jeff Daniels mit eingefrorenem Gesicht und vergessenem Text wirkt).
Der internationale Anspruch der Produktion zeigt sich nicht nur in den Darstellern, mit einigen anglo-amerikanischen Protagonisten sowie rein indonesischen Side-Kicks und Komparsen, sondern auch in einigen geschickt eingefügten Second-Unit-Shots von New York (man sieht die Twin-Towers), die die geografische Verortung verundeutlichen: die Discos, Malls, Hinterhofgassen, Straßen und mehrspurigen Schnellstraßen scheinen aber offenbar alle in (Süd)ostasien zu liegen – ihre kalte Großstadtdschungel-Anonymität bilden den idealen Boden für rasante Verfolgungsjagden zu Fuß und mit dem Auto.
Faszinierend ist auch, dass PEMBALASAN RATU PANTAI SELATAN (also wörtlich "Die Rache der Südseekönigin") kein reiner TERMINATOR-Ripoff ist, sondern eher Motive aus James Camerons Film in eine mythologische Horror-Märchengeschichte einbaut. Und die ersten paar Minuten erinnern dann auch eher an Softerotik-Sleaze-Hobel italienischer Provinienz als an US-SciFi-Action der Zeit: glitschig-schmieriger Sex, fotografiert in edel glitzernden (aber doch sichtbar billigen) Dekoren, mit einem bösen Ende für den von der Südseekönigin berittenen Mann, der seinen Penis von der Schlange abgebissen bekommt, die sich in ihrer Vagina befindet und dem dann nichts anderes bleibt, als sich selbst mit Blut voll zu spritzen (same procedure as 100 years ago, als dann die besessene Anthropologin schmierige Hotelbedienstete und in Punk-Klamotten gekleidete Halbstarke verführt).
Wenn eines, dann zeigt LADY TERMINATOR dass gutes Exploitationkino international ist. 34 Jahre, eine bewegte Zensurgeschichte mit leicht ummontierter internationaler Fassung und 11.000 Kilometer zwischen Jakarta und Frankfurt am Main ändern nichts daran, dass der Film an diesem Sonntagabend sich ganz direkt in die Herzen des Publikums hineinballerte.


ab 22:15 Uhr

LE FRISSON DES VAMPIRES ("Das Schaudern der Vampire" aka "Sexual-Terror der entfesselten Vampire")
Regie: Jean Rollin
Frankreich 1971
95 Minuten, OmU
Isla und Antoine haben frisch geheiratet und möchten die Cousins der Braut in deren Schloss besuchen. Gerüchte über deren Tod erweisen sich als falsch – oder auch nicht: die beiden Exzentriker sind Vampire geworden und ihr vampiristisches Entourage übt auf Isla einen wesentlich größeren Reiz aus als die Aussicht auf den Vollzug der ersten Ehenacht mit ihrem Gemahl.

Das Brautpaar und die Dienerinnen der Vampire

 
Die letzten Terzas endeten immer auf einer jenseitigen Note: Fulcis L'ALDILÀ und QUELLA VILLA ACANTO AL CIMITERO 2021 und 2019. Dieses Jahr wurde der Ausklang mit Jean Rollin weitergeführt, nachdem LA ROSE DE FER 2022 das Terza im Jenseits eines Friedhofs beziehungsweise am jenseitigen Strand von Pourville beendet hatte. Einen Friedhof gibt es auch in LE FRISSON DES VAMPIRES und er endet auch am Strand von Pourville.
Rollin ist gewissermaßen der Ozu des europäischen Vampirfilms: ein Teil seiner Filme mit ihren vielen ähnlichen Vampir-Titeln wirken zusammengedacht fast wie ein einziger Film, und so hat mich das letzte Drittel von LE FRISSON DES VAMPIRES, den ich 2018 kennengelernt habe, merkwürdig auf dem falschen Fuß erwischt, weil ich wohl Teile mit dem Ende (oder zumindest längeren Passagen) von LE REQUIEM DES VAMPIRES verwechselt habe. So fühlte ich mich im letzten Drittel "wie im falschen Film" – letztendlich ein Meckern auf sehr hohem Niveau, das bestätigt, dass ich LE FRISSON etwas weniger mag als REQUIEM und ihn in Kenntnis von mittlerweile ein paar Rollins nicht mehr zu den Tops zähle.
Aber es ist natürlich immer noch Rollin. Über LE REQUIEM DES VAMPIRES schrieb ich einst: "Karge französische Landschaften, in denen die Figuren ganz klein und verlassen erscheinen; leicht verfallene, mystisch aufgeladene Friedhöfe; ein Schloss, das man ohne Mühe als denkmalgeschütztes historisches Gebäude identifizieren kann, das aber Rollin mit der Kamera in eine Art Paralleldimension hebt. Abgesehen von einem Klecks Kunstblut hier und da und einer gelegentlichen Beleuchtung in Primärfarben entfaltet sich Rollins Vampirmär völlig ohne Spezialeffekte, denn für den Franzosen ist das Kino selbst der Spezialeffekt." Und wo merkt man letzteres besser als in einem Kino?
Völlig außerweltlich war Rollin dennoch nicht. Ihn als politischen Regisseur zu bezeichnen, würde wohl nicht vielen auf den ersten Blick einfallen, aber LE FRISSON DES VAMPIRES zeigt wieder seine Sympathie für die Verstoßenen, die Freaks, die Außenseiter, die Marginalisierten, die außerhalb der gängigen gesellschaftlichen und sexuellen Normen stehen, während die spießigen, geradlinigen Alpha-Männchen mit ihren kleinbürgerlichen und engstirnigen Vorstellungen als Antagonisten wirken – und auch mal bloßgestellt und ins Lächerliche gezogen werden, etwa in der fantastischen Bibliotheksszene, in der Antoine wie von unsichtbarer Hand die ganzen Bücher über den Kopf geworfen bekommt. LE FRISSON DES VAMPIRES war auch der ideale Abschluss für das Thema, das sich, angefangen mit METTI, UNA SERA A CENA, durch das ganze Festival zog: Ehe in der Krise. Denn Rollin erzählt hier auch die Geschichte einer dysfunktionalen Ehe und einer Frau, die außerhalb dieser pappigen und unwürzigen Ehe und ihrer Restriktionen (Antoine ist furchtbar besitzergreifend, auch wenn er seine "erste Nacht" nicht bekommt) von den köstlichen Früchten des nicht-heteronormativen Sex, des Vampirismus und des Lebens außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft kostet.
Des weiteren schrieb ich über Rollin einmal: "Seine Filme fließen wie Träume vorbei. An nicht alles kann man sich erinnern und wenig scheint vernünftig zu sein – aber nach dem Aufwachen scheint die Realität noch etwas öder, und mit dem nächsten Schlaf lockt eine süße Versuchung!"
Und ich bin sicher: das nächste Terza wird mit vielen weiteren süßen Versuchungen locken!

Ende am Strand von Pourville