Mittwoch, 12. März 2014

Aufzeichnungen zu einem verkannten Meisterwerk: MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN („Jagd auf einen Unsichtbaren“)
USA / Frankreich 1992
Regie: John Carpenter
Darsteller: Chevy Chase (Nick Halloway), Daryl Hannah (Alice Monroe), Sam Neill (David Jenkins), Michael McKean (George Talbot), Stephen Tobolowsky (Warren Singleton), Gregory Paul Martin (Richard)


Ein post-alkoholisches Intoxikations-Syndrom ist am einfachsten zu Hause, sitzend oder liegend durchzustehen. Aber wo wäre da die Herausforderung? Nick Halloway jedenfalls sitzt den größten Kater, den er jemals hatte, früh morgens in einer wissenschaftlichen Physik-Tagung (zu deren primären Zielgruppe er nicht gehört) aus. Den Sekundenschlaf will er in der Sauna eines Verwaltungsbüros auskurieren – nur für ein paar Minuten. Als er später aufwacht, ist der größte Teil des Gebäudes um ihn herum verschwunden und er selbst unsichtbar geworden. Aus dem langweiligen Finanzanalysten ist der unsichtbare Mann geworden, der vor dem skrupellosen CIA-Agenten David Jenkins fliehen, nebenbei mit dem Leben als Unsichtbarer klar kommen und zugleich irgendwie die schöne Alice (wegen der er sich ursprünglich betrunken hatte) zurück erobern muss...

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN war sowohl beim Publikum wie auch bei den meisten Kritikern ein fulminanter Flop. Nicht einmal die Hälfte seines Budgets von 40 Millionen Dollar spielte er wieder ein. Stattdessen kassierte er saftige Verrisse. Die Zusammenführung von Exploitation-Meister John Carpenter und Klamauk-Komiker Chevy Chase in ein und demselben Film erschien vielen unpassend.

Memoirs of an Invisible Man isn't a movie. It's an identity crisis. The previews would have you believe it's a zany comedy. But the jokes are too far and few between. And if it's a comedy, why is John Carpenter directing it? This is the man who did Halloween... if Memoirs wants to get serious, why is Chevy Chase in the lead?“

war im Washington Post zu lesen. Das drückt ein ernsthaftes Erwartungsproblem aus: weder Carpenter- noch Chase-Fans bekamen, was sie sich erhofft hatten – und die meisten anderen waren überall dazwischen, außer im grünen Bereich. So sagte ein US-Kritiker, Carpenter sei offensichtlich von Aliens entführt und durch eine seelenlose Imitation seiner selbst ersetzt worden, die den Film gedreht habe. MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN wurde als Mediokrität, als Genre-Mix ohne Kohäsion, als selbstzweckhaftes Spezialeffekt-Spektakel ohne richtiges Drehbuch und Charaktere, als kommerzieller Ausverkauf geschimpft. Auch in Deutschland kam der Film größtenteils nicht viel besser weg. Aber Carpenter hat einmal über sich selbst gesagt: „In France, I'm an auteur; in Germany, a filmmaker; in Britain; a genre film director; and, in the USA, a bum.“ So wurde sein Film dann auch in den Cahiers du cinéma gelobt:

„Der Film wäre nichts ohne Carpenters Stil, der in meinen Augen unnachahmbar und blendend ist: eine Figur durchquert die Straße in einer Totalen, der unsichtbare Mann wird im Regen lichtdurchlässig, oder die langen Verfolgungsjagden in den verlassenen Straßen San Franciscos. So viele Einstellungen, die aus Carpenter einen der letzten großen Stilisten Hollywoods machen, im besten Sinne des Wortes. Er nimmt das Kino ernst, ohne jemals das Bewusstsein darüber zu verlieren, was für ein leichtgewichtiges Thema er hier behandelt. Das reicht, um Memoirs Of An Invisible Man zu einem der verspieltesten, anregendsten und intelligentesten Filme zu machen, die uns das amerikanische Kino in letzter Zeit hat sehen lassen.“

Das schrieb Nicolas Saada (später selber Filmemacher) im Leitmedium der französischen Filmkritik. Recht hat er: MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist einer der sträflich unterschätztesten Filme Carpenters, und meiner Meinung nach auch einer seiner besten. Es besteht (für mich) kein Zweifel: Dieser Film wurde von einem Meisterregisseur im vollsten Besitz seiner Kräfte und Könnerschaft realisiert – auch wenn dieser sich selbst von dieser faktischen Auftragsarbeit (ursprünglich sollte Ivan Reitman Regie führen) distanziert hat, als er ihr den üblichen Zusatz „John Carpenter‘s“ vor dem Titel verweigerte.

Mit einem Mix aus erstaunlicher Erzählökonomie und ausdrucksstarken Bildern arbeitet MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN sein rasantes Drehbuch ab. Keine Schnörkel, nichts Überflüssiges. Ein perfekter Aufbau, makellos durchgeführt. Vom ersten Bild (ein atemberaubender langsamer Kamera-Schwenk über die Skyline San Franciscos) bis zu den End-Credits. Der vielschichtige Umgang mit dem Protagonisten, also mit dem unsichtbaren Mann, ist wohl der größte Genie-Streich des Films: Carpenter macht das Unsichtbare sichtbar. Gerade das wird immer wieder bemängelt, weil das angeblich vor allen Dingen Ausdruck davon sei, dass man den Star des Films immer zeigen „müsse“. Man sähe halt Chevy Chase zu oft. Das kann sicherlich gut sein, und ganz bestimmt standen dahinter auch ganz pragmatische Budget-Überlegungen zur Einsparung von Spezialeffekten (MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN war mit 40 Mio. Dollar damals im gehobenen Budget-Mittelsektor – inflationsbereinigt wäre er heute sogar im hinteren Mittelfeld).

Das Zeigen oder Nichtzeigen des Protagonisten – und die vielen Zwischenstufen: partielles Zeigen oder Verfolgung der Kamera im „leeren“ Raum oder Zeigen von Nicks Einwirkungen oder Einnahme von Nicks point-of-view (letzteres auffällig verschwommen und weichgezeichnet – damit quasi als Traum codiert): damit spielt Carpenter sehr bewusst. Geschickt jongliert er mit dem Wissensvorsprung der Zuschauer, und den Wissenslücken der (sichtbaren) Film-Figuren. So erzeugt er in einer klassischen Hitchcock‘schen Weise Spannung, die sich des öfteren humorvoll entlädt. Darin ähnelt MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN dem vier Jahre zuvor entstandenen THEY LIVE, steht jedoch im Gegensatz zu noch früheren Filmen wie ASSAULT ON PRECINCT 13 oder HALLOWEEN, wo die meiste Zeit Wissensgleichheit zwischen Figuren und Zuschauer herrschte. Das Spiel mit dem Sichtbaren und dem Sichtbarmachen durchzieht den kompletten Film und fordert dabei den Zuschauer stets dazu auf, sich die Illusion der Unsichtbarkeit mitzudenken – MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN mag möglicherweise ein ziemlich dummer Film sein, aber zu keinem Moment hält er die Zuschauer für dumm.

Vielleicht demonstriert dies am deutlichsten die kleine und unscheinbare Szene mit dem Lieferanten: ein junger Mann bringt Lebensmittel vorbei, stellt diese auf den Küchentisch ab, wo er eine Abwesenheitsnotiz findet und daraufhin fängt er an, sich im Haus nach Wertgegenständen umzuschauen. Ist Nick abwesend? Wir wissen es zunächst nicht. Bis ein Kameraschwenk uns verrät, dass er da ist, den Lieferanten skeptisch beobachtet und ihm schließlich folgt. Als der Mann weiterhin in Wertgegenständen wühlt, flüstert ihm Nick von der Seite etwas zu, worauf dieser panisch flieht. Eine sehr schlichte und einfach, aber dennoch sehr effizient gefilmte Szene: ein eigener Act mit dramatischem Spannungsaufbau (der Lieferant weiß nicht, dass Nick da ist, aber wir) und eine kleine Szene, die in nicht einmal zwei Minuten sehr viel über die informellen, aber sehr mächtigen Kontrollfähigkeiten des unsichtbaren Nick.

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist zwar ein Multi-Genre-Film, leidet jedoch nicht eine Sekunde lang an Dissonanzen, wie sie zum Beispiel im oben genannten Zitat aus dem Washington Post erwähnt wurden: die Tonalitäten der verschiedenen Genres gehen flüssig ineinander über.

Natürlich ist MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN zunächst ein Science-Fiction-Film. Als solcher wurde er auch vielfach aufgrund seiner vermeintlichen Logiklöcher kritisiert: in einem Beitrag fragte jemand danach, warum man denn eigentlich den Dreck, der sich unter Nicks Fingernägeln sammelt, nicht sähe. Wie kleinlich. Natürlich sieht man den Mageninhalt Nicks, als er zum ersten Mal nach dem „Unfall“ isst (was zur vielleicht witzigsten Kotz-Szene der Filmgeschichte führt) – und später nicht mehr. Aber die Form folgt hier tatsächlich der Funktion: es geht in dieser ersten Szene darum, das Unbehagen eines Mannes mit seinem „neuen Körper“ darzustellen. Später hat er sich gewöhnt. Dogmatische Glaubwürdigkeitsfragen stünden hier nur der innerlich logischen Weiterentwicklung des Films im Wege.

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN auch ein Neo-Noir, und zu Beginn eine direkte Hommage an DOUBLE INDEMNITY: jeweils ein körperlich angeschlagener Mann zeichnet in einer Art Geständnis seine kürzlichen Erlebnisse auf. Und hinter dieser Aufzeichnung steht ein zunehmend desillusionierter Mann, der aus dem Off verbittert, fast zynisch seine eigenen Handlungen kommentiert. Inwiefern allerdings Alice als „femme fatale“ zu bezeichnen ist, sei dahingestellt (ich denke, eher nicht). Allerdings ist sie auch keine archetypische „Hawks‘ianische Frau“.

Vielmehr ist sie tatsächlich das Objekt einer Romanze, einer tragikomischen Liebesgeschichte, die den Film ebenso vorantreibt wie das Problem der physischen Unsichtbarkeit. Es ist eine Liebe auf den ersten Blick, die sich in eine Liebe des unmöglichen Blicks verwandelt: Nick kann Alice in die Augen schauen, aber nicht umgekehrt – zumindest nicht ohne Hilfsmittel. Die trotz aller Verrisse vielgelobte „Regen-Szene“ ist daher nicht nur ein toller und geradezu poetischer Special-Effect. Der Regen führt auch dazu, dass Alice dem unsichtbaren Mann erstmals richtig in die Augen schauen kann. Vielleicht ist das auch ein Wendepunkt in der Entwicklung der Nick-Figur.

Genauso wie dem Film vorgeworfen wurde, ein Science-Fiction-Film zu sein, wurde ihm auch vorgeworfen, eine Komödie zu sein und trotzdem von John Carpenter inszeniert worden zu sein. Ein hanebüchener Vorwurf: sind doch all seine Filme von Humor durchzogen (zugegeben der schwarzen und teils sehr brutalen Art) und war doch DARK STAR eine Art „gebrochene“ Slapstick-Komödie im Weltall. In MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN manifestiert sich der Slapstick in Form der schwierigen körperlichen und akrobatischen Herausforderungen, die das Leben als Unsichtbarer mit sich bringt. Herausforderungen wie zum Beispiel nachts ein Taxi zu bestellen (nämlich mit einem betrunkenen Mann als Hilfsmittel).

Freilich beherrscht Carpenter nicht nur Slapstick. Die Episode in Georges Haus lässt sich assoziativ als eine Art „gebrochene“ Woody-Allen-Komödie sehen: gutbürgerlich-neureiche Mittelschicht lässt sich bei einem Glas Wein über allgemeine und persönliche Befindlichkeiten aus, und diskutiert dabei über das Schicksal einer abwesenden Person, führt einen Diskurs über sie, na ja: lästert hauptsächlich über sie und verrät damit die allgemeine Flüchtigkeit der zwischenmenschlichen Bindungen, die Nick bis zum Unsichtbarsein pflegte – nur ist eben die diskutierte Person nur scheinbar abwesend.

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist nicht zuletzt auch eine milde Yuppie-Satire. Als Finanzanalyst ist Nick Halloway eigentlich ein eher unwahrscheinlicher Held für einen Film des dezidiert linken Alt-68er-Regisseurs Carpenter. In THEY LIVE (übrigens ein weiterer sträflich unterschätzter Film des Meisters) wäre er wahrscheinlich einer der kapitalistischen Aliens in Nadelstreifen-Tarnanzug gewesen. Zu Beginn hat Nick einen hervorragend bezahlten Job, eine schicke Wohnung, einen leichten und oberflächlichen Lebensstil. Er besucht regelmäßig einen Gentleman-Club für Neureiche, die sich ihres sozialen Status selbst vergewissern wollen (und wo der Barkeeper wohl Billig-Wodka in teuere Flaschen umfüllt). Viel Schein und wenig Sein. Im Rest des Films dreht sich diese Situation allmählich um. Nick hat seinen ganzen Schein verloren – wortwörtlich. Und findet sein Sein. Aber nicht sofort, denn das wäre ja zu einfach. Nach dem „Unfall“, in einer Situation existientieller Bedrohung, flieht er zunächst an bekannte Orte und denkt weiterhin den Kategorien, die er kennt. Daher kommt auch seine Absicht, sozial zurückgezogen ein Leben als millionenschwerer Börsenspekulant aufzubauen (so endet offenbar auch die gleichnamige Romanvorlage H. F. Saints aus dem Jahr 1988). In Georges Haus, und als er merkt, was Alice ihm bedeutet, denkt er schließlich doch um, und wandelt sich. Wird zum Menschen – auch „ohne“ Körper, ohne Schein. Aus dem Finanzanalysten Nick ist im Verlauf des Films ein Mensch geworden, der am Ende den 68er-Traum des „Aussteigers“ lebt (freilich in den Schweizer Alpen und nicht auf der „üblichen“ einsamen Insel). MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN glaubt an die Veränderlichkeit des Menschen, oder zumindest mancher Menschen, und ist damit die mildere „humanistische“ B-Seite des „zynischen“ THEY LIVE, wo die Kategorie (Un-)Sichtbarkeit bereits eine wichtige Rolle spielte.

Jetzt sind wir eigentlich schon bei der Frage, inwiefern der Film mehr als nur eine Sci-Fi-meets-Agenten-Gaudi ist. Abwegige Deutungsangebote gefällig? Wie wäre es damit: ein Film über prekäre Männlichkeit! Immer wieder entspinnt MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN fantastische Bedrohungsszenarien um die Hoden der männlichen Protagonisten. Verliert Nick mit seiner Sichtbarkeit auch seine Männlichkeit? Eine seiner ersten und dringendsten Ängste (er äußert sie, als er am „Unfallort“ in Ohnmacht fällt und kurze Zeit später abtransportiert wird) besteht jedenfalls darin, dass seine Eier bald in einer Petrischale landen könnten (O-Ton). Wem das nicht deutlich genug ist, sieht diese Angst in Nicks Traum manifestiert: sein Ruhmes-Traum (er ist sichtbar und ein allgemein beliebter Musik- und Sportstar) verwandelt sich in ein Alptraum, als Nick sich vor Alice auszieht und dabei offenbart, dass sein Geschlecht (noch?) unsichtbar ist. Jenkins (der am Ende dieses Traums auch plötzlich auftaucht) denkt ebenfalls in Hoden-Kategorien und bedroht seinen formellen Vorgesetzten Warren Singleton damit, dessen Testikeln in das Mittagessen seines bevorzugten Schlägers Morrissey zu verwandeln. Jedenfalls hat Nick, nachdem er seine Identität als oberflächlicher Yuppie abgelegt hat, schließlich seine Männlichkeit wieder gefunden und ein Kind gezeugt (der vielgescholtene Epilog erscheint so durchaus konsistent mit dem vorangegangenen).

Ohne MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN all zu sehr in ein Korsett der Aktualität pressen zu wollen: er ist sicherlich auch ein Film über die Möglichkeiten und Gefahren staatlicher Überwachung. Schließlich zeigt er die Konfrontation zwischen einem Agenten, der alles komplett unter Kontrolle und Überwachung halten möchte (es aber nicht kann und deshalb regelmäßig zu tödlicher Gewalt greift), und einem Unsichtbaren, der kraft seines physischen Zustands manchmal freiwillig, die meiste Zeit aber unfreiwillig zum Überwacher wird (und dem wir dann bei diesem Überwachen auch zusehen können, dürfen und müssen). Ein Film der überkreuzten Überwachungen, sowohl auf staatlicher wie auf privater Ebene. In letzterer verwandelt sich die besondere Beobachtungsgabe in Voyeurismus, und in diesem Bereich ist Nick dann auch durchaus überwachungsfreudiger: als er sich in Alices Zimmer befand und sie sich auszog, habe er sich bestimmt die Hände vor die Augen gehalten, versichert ihr Nick...

Howard Hawks abgöttisch zu lieben hindert nicht daran, Alfred Hitchcock ausgiebig zu huldigen und bei Carpenter sind das stets zwei Ergänzungsoptionen, und keine Gegensätze. MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist nicht nur ein sträflich unterschätzter Film, sondern auch eine vergessene Perle unter den vielen Hitchcock-Hommagen-Film dieser Welt. Er wurde schon als Carpenters persönlicher NORTH BY NORTHWEST bezeichnet, mit Chevy Chase als Cary Grant, Daryl Hannah als Eva Marie Saint und Sam Neill als James Mason. Die Darsteller-Analogien passen vielleicht weniger gut als die Ähnlichkeiten in Erzählform und Geschichte: Carpenters Film ist ebenso eine furiose Hetz-Jagd nach einem (hier: wörtlich) unsichtbaren Mann. Wie in einem guten Hitchcock ist die Hauptfigur kein Held, sondern ein „gewöhnlicher“ Mann, der in widrige Umstände gerät und von Kräften verfolgt wird, die er nicht kontrollieren kann. Wie oft bei Hitchcock gibt auch in MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN einen (sexuell aufgeladenen) Voyeurismus. Vielleicht ist es kein Zufall, dass in seinem unterschätztesten Film Carpenter eine Einstellung aus einem oft vergessenen, weil angeblich so „untypischen“ Hitchcock-Film, namentlich THE WRONG MAN, nachgestellt hat: das Gesicht einer unschuldigen Person verliert sich im Gesicht eines Verbrechers. Bei Hitchcock ist es ein Szenen-Übergang, bei Carpenter eine reflektierende Zugabteil-Scheibe. (Die Einstellung muss nicht nur als Spielerei abgetan werden: verschmelzen doch die Gesichter zweier Personen, die auf sehr dringliche, freilich aber verschiedene Weise Nick begehren)


Bei allen Meriten, die MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN sowieso hat, sollte man nicht vergessen, dass er auch ein hervorragender Schauspieler-Film ist. Den Unkenrufen zum Trotz: Chevy Chase passt perfekt in der Rolle als unsichtbarer Mann und die Chemie mit Daryl Hannah hat zumindest mich überzeugt. Die Unsicherheit, die Hannah teilweise ausstrahlt, kann man natürlich als Schwäche kritisieren, oder aber als glaubwürdige Erdung der Alice-Figur sehen (die eben keine unnahbare „Hitchcock-Blondine" ist, sondern eine Frau mit beiden Füßen auf dem Boden). Sam Neill, damals noch relativ unbekannt – JURASSIC PARK kam ein Jahr später raus –, spielt einen herrlich schmierigen Bösewicht, dem man seine Charme-Offensiven fast glauben möchte: dieses „fast“, das immer durch seine unangenehme und bedrohliche Erscheinung zerstört wird, kriegt er wunderbar hin! Seit jeher komme ich persönlich auch nicht darum herum, Michael McKean in der Rolle George Talbots herrlich komisch zu finden. Nur durch seine Äußerlichkeit: seine entfernte Ähnlichkeit mit einem gewissen langjährigen Premierminister Großbritanniens ist faszinierend.

Vier Facetten des Gregory Paul Martin
Das schauspielerische Sahnehäubchen des ganzen Films bildet jedoch der charismatische Gregory Paul Martin in seiner Rolle als Richard. Diese Figur wird vom Talbot-Ehepaar zusammen mit Alice zu einem Kurz-Urlaub in Georges Wochenendhaus eingeladen – offenbar ist der Hintergedanke dabei, dass Richard eine potentiell gute Partie für Alice sein könnte. Der Aufschneider, der große Töne schwingt, sich gerne in den Mittelpunkt stellt und für absolut toll hält, denkt das wohl auch. Aber daraus wird nichts. Denn schnell wird deutlich, dass sich hinter der Fassade eine gebrochene und fast lächerliche Figur verbirgt. Ein Style-Proll als Yuppie bzw. Yuppie als Style-Proll, dem Carpenter in THEY LIVE wahrscheinlich gnadenlos Nada auf den Hals gehetzt hätte, hier aber letztendlich doch irgendwie sympathisch ist (wenn auch nicht aus den Gründen, die Richard selbst denkt). Es ist eine ziemlich undankbare Rolle, die der Brite Gregory Paul Martin mit großer Bravour und einer „powerful commanding voice“ (O-Ton imdb: sehr treffend!) spielt. Im richtigen Leben scheint Martin ebenfalls ein Original zu sein. Er ist der Sohn des Musik-Produzenten und von manchen Leuten als „fünfter Beatle“ bezeichnete George Martin und ist von Haus aus Theaterschauspieler. Er besuchte Klassen zusammen mit Alan Rickman und stand auf der Bühne neben Daniel Day-Lewis und Ian McKellen. Zu sehen war er auch vor allen Dingen in US-amerikanischen TV-Serien. Daneben hat er auch einige Drehbücher verfasst, ein Bio-Lebensmittelunternehmen lanciert und sich als Astrologe betätigt (ist an einer Stelle die Aufforderung von Georges Frau an Richard, sein Ouija-Brett zu holen und eine Scéance zu halten, vielleicht eine Anspielung darauf?).

Was wäre aber auch ein Carpenter-Film ohne Carpenters Musik? Auch auf diese Frage hat MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN eine klare Antwort: es geht auch ohne den musikalischen Beitrag des Meisters selbst. Komponistin Shirley Walker hat, wenn man imdb glauben will, eine Premiere gefeiert: es war der erste Hollywood-Film mit einem komplett von einer Frau komponierten Orchester-Soundtrack. Später komponierte sie für Carpenter auch die Musik zu ESCAPE FROM L.A. und erreichte ein wesentlich größeres Publikum mit der FINAL DESTINATION-Reihe. Elektronischer Minimalismus à la früher Carpenter war ihr jedoch nicht gänzlich unbekannt: Ihren ersten Film-Credit hat sie als Synthesizer-Spielerin für APOCALYPSE NOW. Wenn sie nicht komponierte, wirkte sie als Dirigentin bei anderen Scores mit (z. B. Burtons BATMAN, BLACK RAIN, DAYS OF THUNDER, CHILD‘S PLAY 2, EDWARD SCISSORHANDS, BATMAN FOREVER). 2006 verstarb Walker mit nur 61 Jahren. Ihr wunderbarer Score für MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN bringt einen Hauch Pathetik, vor allen Dingen unterstützt er aber trefflich die Spannung der Bilder. Er ist dabei weniger hart und rhythmisch pointiert als Bernard Herrmanns Hitchcock-Arbeiten.

Es ist gut möglich, dass ich nunmehr bei MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN schon im zweistelligen Sichtungsbereich liege. Mit jeder weiteren Sichtung verliert der Film nicht nur nichts, sondern gewinnt vielleicht sogar an Wertschätzung meinerseits. Unter anderem diese wollte ich mit dieser Besprechung auch ausdrücken (und die „Aufzeichnungen zu einem verkannten Meisterwerk“ als potentielle Reihe im Blick behalten). Sie ist auch ein Aufruf dazu, gegenüber Sick Boys Lebenstheorie aus TRAINSPOTTING („at one point you've got it, then you lose it, and it's gone forever“) skeptisch zu sein und mit offenen Augen vermeintlich schlechte und nichtige „Spätwerke“ zu entdecken.


MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist zwar wie gesagt kein allgemein geliebter Film, aber dennoch in zahlreichen DVD-Editionen in Deutschland, Frankreich, UK und USA gut erhältlich.

Freitag, 21. Februar 2014

Das Salz des Meeres

Margot Benacerraf und ARAYA

REVERÓN
Venezuela 1952
Regie: Margot Benacerraf

ARAYA
Venezuela/Frankreich 1957/59
Regie: Margot Benacerraf
Darsteller: Familie Pereda, Familie Salazar, Familie Ortiz, weitere Laiendarsteller
Sprecher: Laurent Terzieff (franz. Fassung), José Ignacio Cabrujas (span. Fassung)

ARAYA
Das filmische Œuvre der 1926 in Caracas geborenen und dort aufgewachsenen Margot Benacerraf ist ausgesprochen übersichtlich: Gerade mal zwei fertiggestellte, dazu ein unvollendeter und leider verschollener Film, den sie mit Pablo Picasso drehte. Und doch nimmt sie in der venezolanischen - und darüber hinaus in der lateinamerikanischen - Filmgeschichte einen besonderen Rang ein. - Araya ist eine abgelegene Halbinsel im Nordosten Venezuelas, nicht allzu weit von Trinidad entfernt. Doch karibisches Flair gibt es hier nicht. Im Gegenteil - es ist ein öder, von der Sonne ausgedörrter Landstrich, in dem außer Kakteen, harten Gräsern und etwas Gehölz nichts wächst. Doch es gibt einen natürlichen Schatz: In einer flachen Lagune entsteht durch Verdunstung von Meerwasser Salz in rauen Mengen. Die Spanier entdeckten den Ort um 1500, und damals, als Salz mit Gold aufgewogen wurde, wurden hier enorme Reichtümer abtransportiert. Zum Schutz vor Piraten errichteten die Spanier eine gewaltige Festung - angeblich die zweitgrößte in der ganzen Karibik -, und Araya war (als einziger Ort im Gebiet des heutigen Venezuela) auf allen Karten Westindiens verzeichnet. Die Festung ist längst eine Ruine, doch das Salz wird immer noch abgebaut - und zwar 1957, als ARAYA gedreht wurde, mit weitgehend denselben Methoden wie seit 450 Jahren. Margot Benacerraf hat ihren Film über die Menschen und mit den Menschen gedreht, die an diesem unwirtlichen Ort leben, und sie hat ihnen damit ein Denkmal gesetzt.

ARAYA: Wir befinden uns nicht in Gizeh, sondern in Venezuela
Am modernsten war damals noch der Abtransport des Salzes: in Säcken auf den Ladeflächen offener Trucks zu einem nahegelegenen Hafen. Doch der Rest war Handarbeit. Das Salz wurde in Form großer poröser Platten mit den Händen direkt aus dem nicht einmal knietiefen Wasser der Lagune geholt, in kastenförmigen Kähnen verstaut, mit Stangen zu grobkörnigen Kristallen zerstoßen und noch einmal mit Meerwasser überspült, um es zu reinigen. Dann wurde es an Land gebracht und zum Trocknen ausgebreitet. Nach einem Tag schließlich wurde es mit Schubkarren und auf den Köpfen getragenen Körben zu teilweise riesigen Pyramiden aufgeschichtet. Die kleinsten wirtschaftlichen Einheiten dabei waren die Familien der Salzarbeiter (Salineros), die jeweils auf eigene Rechnung arbeiteten. Dabei gab es eine Arbeitsteilung nach verschiedenen Schichten, ein Teil der Arbeit wurde nachts verrichtet.

ARAYA
ARAYA ist keine Dokumentation im engeren Sinn, bei der eine vorgefundene Realität einfach abgefilmt wird, sondern ein nach einem detaillierten Drehbuch sorgfältig inszenierter Film. Schon vor Beginn der Dreharbeiten verbrachte Margot Benacerraf einige Zeit vor Ort, um sich mit den Bedingungen vertraut zu machen und das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, dann schrieb sie das Drehbuch, das dem Verlauf von 24 Stunden an einem der immer gleichen Tage folgt. Es beginnt mit einer kurzen Exposition, in der die Elemente - Himmel, Meer, die trockene Erde - wortlos vorgestellt werden; in der Mitte des Films (zugleich Mittagszeit des Tages) und am Ende gibt es vergleichbare Sequenzen. Danach folgt eine kurze Einführung in die Geschichte des Ortes, und der Rest des 82-minütigen Films ist einem Tag im Leben der Bewohner gewidmet, von 6 Uhr morgens bis in die Nacht hinein. Benacerraf bedient sich dabei dreier Familien aus drei verschiedenen Dörfern der Halbinsel.

ARAYA
Beltrán Pereda und seine Familie aus Manicuare verrichten die Nachtschicht, die bis 9 Uhr vormittags hinein dauert, tagsüber schlafen sie dann. Die jüngsten Söhne der Familie, die auch schon mitarbeiten müssen, sind noch keine 10 Jahre alt. Beltráns Schwester Luisa ist die beste Töpferin im Ort - und wie die anderen Frauen der Gegend hat sie noch nichts von der Töpferscheibe gehört. Dámaso Salazar und seine Söhne aus dem Dorf Araya am anderen Ufer der Lagune arbeiten tagsüber, von Sonnenauf- bis -untergang; Dámasos Frau Petra ist am Fuß der Pyramiden beschäftigt, wo das Salz mit Schaufeln in die Säcke befördert und abgewogen wird. In El Rincón, das nicht an der Lagune, sondern am offenen Meer liegt, leben keine Salineros, sondern Fischer, darunter Adolfo Ortiz vom Boot La Sensitiva. Auch er arbeitet hauptsächlich nachts. Adolfos Frau Isabel zieht tagsüber in den Dörfern der Salineros von Haus zu Haus, um die gefangenen Fische zu verkaufen; abends muss sie noch ins Gestrüpp, um den knorrigen Bäumen etwas Brennholz abzuringen. Ein unbeschwertes Leben hat (noch) Carmen, die kleine Tochter von Adolfo und Isabel. Sie sammelt am Strand Muscheln und Korallen, um damit mit ihrer Großmutter Gräber auf dem Friedhof zu schmücken - Blumen wachsen hier nirgends. Die Fischer von El Rincón und die Salineros leben in einer Symbiose - die einen beschaffen die Hauptnahrung für alle, die anderen liefern das Salz, mit dem die Fische haltbar gemacht werden. Autark ist die Gemeinschaft dennoch nicht: Trinkwasser wird in regelmäßigen Abständen von einem Tankwagen angeliefert. Verteilt wird es unter Aufsicht der ältesten Frau im Dorf nach einem Schlüssel, der sich nach der Anzahl der Familienmitglieder bemisst. ARAYA folgt in einem sorgfältig abgewogenen Rhythmus dem Lauf des Tages, zwischen den drei Familien wechselnd. Die nötigen Informationen übermittelt der Film nicht durch Dialoge, sondern mittels eines in sehr poetischer Sprache gehaltenen Off-Kommentars.

ARAYA: Petra Salazar beim Wiegen des Salzes
Gegen Ende des Films bricht die Dunkelheit herein. Adolfo Ortiz und die anderen Fischer stechen wieder in See, die Salazars gehen zu Bett, und für die Peredas beginnt eine neue Schicht, wodurch sich der Zyklus schließt. Als Zuschauer zieht man jetzt vielleicht schon ein Fazit dieses wunderbaren Films - da wird man von einer Serie von Sprengungen aus seiner Kontemplation gerissen, und schwere Baumaschinen rücken ins Bild. In Araya wird das Salz zukünftig mit industriellen Methoden abgebaut werden. Wie wird sich das auf die Lebensweise der alteingesessenen Bevölkerung auswirken? Werden die Salineros ein leichteres Leben haben, und werden alte Bräuche und die seit Jahrhunderten tradierten Lieder überleben? Das Voice-over formuliert das am Ende des Films noch als Frage, aber natürlich hat die Geschichte längst die Antwort gegeben: ARAYA beschreibt eine untergegangene Welt. Die Industrialisierung hat der Gegend keinen allgemeinen Wohlstand beschert, nur ein kleiner Teil der Männer wurde weiterhin beschäftigt, und die meisten sind weggezogen, um sich woanders Arbeit zu suchen. Die Erträge an Salz sind auch nicht so gestiegen wie seinerzeit erhofft: Ein Teil der damals errichteten Maschinen steht längst still und wird vom Salz zerfressen. Allerdings muss man nicht allen Aspekten dieser vergangenen Welt nachtrauern. Der Kommentar des Films mag poetisch sein, aber romantisch verklärend ist er nicht. Es wird sehr deutlich gemacht, dass es sich bei der Arbeit der Salineros um eine nicht endende Plackerei handelt. Der Schweiß floss in Strömen, der intensive Kontakt mit dem Salz führte häufig zu Wunden und Hautgeschwüren, und die Entlohnung war mehr als dürftig. Sozialkritisch im engeren Sinn ist ARAYA aber nicht. Dass es irgendwo auch Großhändler oder Konzerne geben musste, die durch das Schuften der Salineros reich wurden, kann man sich zwar denken, aber zur Sprache gebracht wird es im Film nicht. Es hätte auch schlecht ins Konzept eines poetischen Filmessays gepasst, der vor allem die Würde der Menschen von Araya betont.

ARAYA
Wie schon angemerkt, ist ARAYA ein sorgfältig durchinszenierter Film. Kaum eine Szene wurde "einfach so" abgefilmt, sondern immer gab es Regieanweisungen für die Darsteller. Bei den Familien hat Margot Benacerraf auch ein bisschen manipuliert: So war Carmen nicht wirklich die Enkelin von Großmutter Salazar, und Fortunato Pereda und eine junge Frau, die im Film ein Liebespaar sind, konnten sich in Wirklichkeit nicht ausstehen. ARAYA steht somit ein bisschen zwischen den Genres. An Vorläufern kann man einerseits Dokumentationen wie Luis Buñuels LAS HURDES und die Filme von Robert Flaherty ausmachen, insbesondere Flahertys MAN OF ARAN, andererseits mit Laiendarstellern gedrehte neorealistische Spielfilme wie etwa Viscontis LA TERRA TREMA. Margot Benacerraf hat sich wiederholt dagegen gewehrt, ARAYA als Dokumentation zu bezeichnen. Dem kann man aber nur zustimmen, wenn man diesen Begriff sehr eng definiert. Beispielsweise hat gerade Flaherty, der oft als Vater des Dokumentarfilms bezeichnet wird, auch kräftig manipuliert und inszeniert. In MAN OF ARAN etwa hat er aus echten Inselbewohnern eine fiktive Familie zusammengestellt, die nach seinen Regieanweisungen agiert, und er hat die Männer von Aran sogar animiert, eine seit vielen Jahren aufgegebene Tradition (nämlich die Jagd auf Riesenhaie von Ruderbooten aus) für den Film wieder aufzunehmen. In den sich steigernden Spannungsbögen dieses Films ist auch eine sorgsame Konstruktion des Gesamtaufbaus erkennbar. Wenn man akzeptiert, dass Dokumentarfilme immer ein gewisses Maß an Manipulation enthalten, mit einer großen Bandbreite im Ausmaß - Direct Cinema und Cinéma vérité am einen Ende des Spektrums, und Flaherty am anderen -, dann ist auch ARAYA ein Dokumentarfilm, natürlich am Flaherty-Ende. An Nachfolgern von ARAYA ist vor allem Glauber Rochas erster Spielfilm BARRAVENTO zu nennen. Rocha war 1959 als Journalist bei den Festspielen in Cannes, wo ARAYA Premiere hatte, anwesend. Er bewunderte den Film sehr und befreundete sich mit Benacerraf. Später hat Rocha mehrfach betont, dass ARAYA als eine Inspiration für das brasilianische Cinema Novo gedient hat. Ich fühlte mich auch etwas an Kaneto Shindōs DIE NACKTE INSEL erinnert, auch wenn der meines Wissens nicht von ARAYA beeinflusst wurde.

ARAYA
Margot Benacerrafs Eltern waren sephardische Juden aus dem Teil Marokkos, der spanisches Protektorat war. Nicht weniger als drei ihrer Onkel waren mit Französinnen verheiratet, deshalb lebte ein Teil ihrer Verwandtschaft in Frankreich. Der Medizin-Nobelpreisträger Baruj Benacerraf und der Mathematiker und Philosoph Paul Benacerraf waren ihre Cousins aus diesem Zweig der Familie. Wie schon erwähnt, wuchs sie in Caracas auf, wo sie ein Gymnasium und die Universität besuchte. In ihrer Jugend galt ihr Interesse der Literatur. 1944, als sie noch in die Schule ging, gewann sie bei einem staatenübergreifenden lateinamerikanischen Essay-Wettbewerb zum Thema "Einheit Lateinamerikas" den ersten Preis. An der Universität, wo das intellektuelle Klima stark von spanischen Exilanten, die das Land nach dem Bürgerkrieg verlassen hatten, geprägt war, schrieb sie ein Theaterstück mit dem Titel Creciente, das von Federico García Lorca beeinflusst war. Ihre Professoren reichten das Stück ohne ihr Wissen wiederum bei einem Wettbewerb ein, der von einer Regierungsstelle, der Universität und der Columbia University in New York veranstaltet wurde, und wieder gewann sie den ersten Preis. Jetzt hätte das Stück eigentlich in einer Auflage von 5000 Exemplaren veröffentlicht und am Nationaltheater aufgeführt werden sollen, doch das zerschlug sich, weil in Venezuela ein Staatsstreich stattfand und vorübergehend das Chaos ausbrach. Doch die Columbia University hatte als ihren Beitrag zum Preis ein dreimonatiges Stipendium spendiert, das dann sogar noch verlängert wurde. So machte sich Benacerraf also im Frühling 1949 auf nach New York, und ihr dortiger Dozent war kein Geringerer als Erwin Piscator, der an der New School for Social Research einen Dramatic Workshop initiiert hatte. Piscator förderte die gegenseitige Durchdringung von Film und Theater, aber Benacerraf, die aus den Kinos ihrer Heimat nur billige Importware aus Hollywood kannte, blieb zunächst auf Theater fixiert. Als sie aber einer der Filmstudenten, die im Stock über den Dramastudenten untergebracht waren, als Darstellerin für seinen Abschlussfilm requirierte, gab sie ihr Sträuben auf, begann sich für Film zu interessieren und begann auch, die technischen Grundlagen des Filmens aufzuschnappen. Eine Vorführung von Marcel Carnés LES ENFANTS DU PARADIS, die die Filmstudenten organisiert hatten, überzeugte sie schließlich restlos davon, das Filme Kunstwerke sein können.

Margot Benacerraf, l.u. mit Picasso in Vallauris (mit freundl. Genehmigung / courtesy of Milestone)
Als sie nach Abschluss ihres Studiums mit ihren Eltern auf Verwandtenbesuch in Paris war, wurde Benacerraf auf die dortige Filmhochschule IDHEC aufmerksam, bewarb sich, und wurde nach einer selektiven Aufnahmeprüfung angenommen, als eine von zehn Ausländern und eine von drei Frauen unter lauter Männern. Später bekannte Namen dieses IDHEC-Jahrgangs waren der Regisseur Robert Enrico und der Cutter Henri Lanoë. Das erste Jahr an der Filmhochschule, das vom November 1950 bis Juni 1951 dauerte, verlief enttäuschend, weil es nur Theorie gab - dem finanziell schlecht ausgestatteten Institut fehlten die Mittel zur praktischen Ausbildung der Studenten. Benacerraf, die ja schon eine geisteswissenschaftliche Universitätsausbildung hatte, wollte eigentlich die technischen Grundlagen lernen. So langweilte sie sich und schwänzte oft die Vorlesungen, um sich lieber Filme in den Kinos anzusehen. In den Ferien im Sommer 1951 war sie wieder in Caracas, und dort lief sie dem französischen Kulturattaché Gaston Diehl über den Weg, der ein Freund von Alain Resnais war und an einigen von Resnais' frühen Kurzfilmen über Maler und Bildhauer als Autor und bei VAN GOGH auch als Coproduzent beteiligt war. Nun wollte Diehl einen Film über den exzentrischen venezolanischen Maler Armando Reverón machen lassen, eigentlich von Resnais, aber der war mit einem anderen Projekt beschäftigt und lehnte ab. Und so bot Diehl Margot Benacerraf die Regie an.

ARAYA
REVERÓN ist in mancher Hinsicht schon ein Modell im Kleinen für ARAYA. Armando Reverón, der in seinen späten Jahren psychisch krank war, hatte sich schon in den 20er Jahren mit seinem Modell Juanita, die auch seine Lebensgefährtin und ab 1946 seine Frau war, in eine abgelegene Einsiedelei an der Küste zurückgezogen, um dort zu leben und zu malen. Der Ort war nicht ganz so abgelegen wie Araya, aber von Caracas aus nur umständlich zu erreichen. 1951 hatte Reverón schon einen Ruf als El Loco de Macuto (der Verrückte von Macuto). Wie bei ARAYA verbrachte Benacerraf auch hier zunächst einige Zeit bei Reverón und Juanita, um das Vertrauen des Malers zu gewinnen, dann schrieb sie ein detailliertes Drehbuch für den 23-minütigen Film. Für den Mittelteil des Films, der Reveróns Leben und Werk rekapituliert, fotografierte Benacerraf viele seiner Gemälde, und das war schwieriger, als es sich anhört. Reverón war damals ein bekannter Maler, aber noch kein Klassiker, dessen Werke im Nationalmuseum hingen wie heute. Benacerraf musste die Bilder mühsam bei Privatsammlern ausfindig machen, die sie dem Maler oft für ein Butterbrot abgekauft hatten, und mit deren Einverständnis fotografieren. Reverón identifizierte und datierte dann die Werke anhand der Fotos. Das erste und letzte Drittel des Films kreist Reverón sozusagen ein, indem sich die Kamera in zyklischen Bewegungen an das Anwesen und an den Maler selbst annähert und ihn schließlich beim Anfertigen eines Selbstportraits beobachtet. Auch hier folgt die Handlung (wenn man sie so nennen darf) dem Zyklus eines einzigen Tages, und wie die Salineros nahm auch Reverón, der von Film überhaupt keine konkrete Vorstellung hatte, Benacerrafs Regieanweisungen entgegen (und auch hier besteht Benacerraf darauf, dass es sich um keinen Dokumentarfilm handelt). Die eigentlichen Dreharbeiten, bei denen nur Benacerraf und ihr aus Jugoslawien stammender Kameramann Boris Doroslovacki (oder Doroslawaski - die Quellen sind sich nicht einig) zugange waren, waren in zwei Wochen erledigt, trotz der widrigen logistischen Gegebenheiten an diesem Ort, und obwohl Henry Nadler, der von Diehl vermittelte Produzent des Films, sehr mit Filmmaterial knauserte.

REVERÓN: Der Meister malt ein Selbstportrait. Im linken Spiegel sind zwei der Puppen zu sehen.
REVERÓN ist auch eine essayistische Erkundung des Verhältnisses von Wahn und Kreativität, und dafür war Armando Reverón eine geeignete Wahl. Neben seiner Malerei hatte er auch lebensgroße und für ihn beseelte Puppen angefertigt, und in der letzten Nacht vor der Abreise, nachdem Reverón das Selbstportrait vollendet hatte, kam es zu einer denkwürdigen Begebenheit: Benacerraf sollte nach Reveróns Anleitung im Kostüm einer Priesterin den individuell gestalteten Puppen, die auch jeweils einen Namen hatten, "ihre Sünden vergeben" - eine bizarre Mischung aus Wahngebilde, mystischer Zeremonie und künstlerischer Performance. Und Boris Doroslovacki sollte das alles mitfilmen, nach Reveróns Wunsch hätte das den Schluss des Films bilden sollen - doch auf Benacerrafs Anweisung hin tat der Kameramann nur so, als ob er filmte, weil kaum noch Filmmaterial übrig war und für den nächsten Tag noch ein paar Außenaufnahmen geplant waren, und auch, weil sie nicht selbst in ihrem Film auftreten wollte. Später hat sie bedauert, dass diese surreale nächtliche Zeremonie nicht auf Film gebannt wurde. Immerhin gibt es im Film expressive Aufnahmen der Puppen, die Benacerraf und Doroslovacki in einer der Nächte davor ohne Reveróns Anwesenheit machten. - Es gibt noch eine Parallele zwischen ARAYA und REVERÓN: Auch letzterer Film wurde gerade noch rechtzeitig gedreht. 1952 wurde Armando Reverón mit einem akuten Schub von Schizophrenie in eine psychiatrische Klinik eingeliefert und mit Elektroschocks behandelt, 1954 ist er gestorben.

ARAYA
Das Ende der Dreharbeiten war im Dezember 1951, und Benacerraf stand jetzt unter Zeitdruck, weil das zweite Jahr bei IDHEC bereits begonnen hatte und sie schleunigst zurückkehren musste, um nicht ausgeschlossen zu werden. Sie ging also zurück nach Paris, holte den versäumten Stoff nach und machte ihr Examen, und erst danach ging sie (ebenfalls in Paris) an Schnitt und Vertonung von REVERÓN. Einen wesentlichen Beitrag zur Wirkung des Films leistet der dicht strukturierte Soundtrack, für den Benacerraf den französischen Komponisten Guy Bernard gewinnen konnte. Teils exotische Hintergrundgeräusche, die Benacerraf mit einem tragbaren Tonbandgerät vor Ort aufgenommen hatte, werden sehr geschickt mit Bernards Musik gemischt. Im November 1952, fast ein Jahr nach dem Dreh, hatte REVERÓN schließlich Premiere auf einem Festival für Kunst-Dokumentationen, das Gaston Diehl organisiert hatte, und gewann dort den ersten Preis, und im Juni 1953 lief er unter großem Zuspruch des Publikums auf der 3. Berlinale. Festivalleiter Alfred Bauer konnte kaum glauben, dass diese kleingewachsene Frau diesen Film gedreht hatte - er dachte, sie sei die Tochter des Regisseurs, und er bat nach der Vorstellung "Herrn Benacerraf" auf das Podium. Berlin öffnete viele Türen. Benacerraf hatte nicht nur ihr erstes Fernsehinterview (für den NWDR, der damals auch noch für Berlin zuständig war), es waren auch André Bazin und Lotte Eisner anwesend, die begeisterte Artikel in Le Monde bzw. Cahiers du cinéma schrieben, und durch Eisners Vermittlung lernte Benacerraf Henri Langlois kennen, den Mitgründer und Leiter der Cinémathèque française. Die beiden wurden gute Freunde, und mit Langlois' Hilfe wurde REVERÓN auch in der Belgischen Cinémathèque in Brüssel und bei diversen anderen Gelegenheiten vorgeführt.

ARAYA
1953 erhielt Benacerraf durch ihre vielfältigen Kontakte zu Exilspaniern eine Einladung ins Atelier von Pablo Picasso in Paris, und Picasso wiederum lud sie ins südfranzösische Vallauris in der Nähe von Antibes ein, wo er regelmäßig Zeit mit Malen und Töpfern verbrachte. Picasso organisierte in Vallauris eine Freiluftaufführung von REVERÓN, war begeistert, und lud Benacerraf ein, einige Wochen in dem Ort zu verbringen, um einen Film mit ihm zu drehen. Nachdem es schon einige Filme über ihn gab, sollte es jetzt ein Film mit ihm sein, eine Art filmisches Tagebuch. Die Dreharbeiten im Sommer fanden in sehr lockerer und familiärer Atmosphäre statt und standen kurz vor dem Abschluss, doch dann wurde Picasso im September 1953 von seiner Lebensgefährtin Françoise Gilot mitsamt den gemeinsamen Kindern Claude und Paloma verlassen. Die gute Stimmung war dahin, und Picasso hatte anderes im Sinn als den Film. Nachdem Benacerraf einige Zeit untätig herumsaß, beschloss sie, vorerst nach Paris zurückzukehren, obwohl sie von Guy Bernard, der schon länger mit Picasso befreundet war (er hatte auch Resnais' GUERNICA vertont), gewarnt wurde, dass das das Ende des Films bedeuten könnte - und so kam es dann auch. Die verwendete Kamera hatte Picasso gehört, der auch das Filmmaterial bezahlt hatte, deshalb blieben die Aufnahmen bei ihm. Natürlich hatte Benacerraf vor, in absehbarer Zeit zurückzukommen und den Film fertigzustellen, aber die Gelegenheit dazu ergab sich nicht, und als Picasso im Lauf der Jahre mehrmals umzog, verlor sich irgendwann die Spur der Aufnahmen. Nach dem Selbstmord von Picassos zweiter Frau Jacqueline Roque im Jahr 1986 schwanden die Chancen, das Material doch noch aufzufinden, und es blieb bis heute verschollen.

ARAYA
1954 verbrachte Benacerraf ein halbes Jahr an einem von der UNESCO betriebenen audiovisuellen Zentrum in Mexiko (ihr Vorgänger auf diesem Posten war Chris Marker). Zwar war diese Zeit wegen überbordender Bürokratie wenig produktiv (angeblich musste man sogar wegen eines neuen Bleistifts einen Antrag an das UNESCO-Hauptquartier schicken), aber die Zeit war trotzdem von Bedeutung für sie. Erstens entwickelte sie erst in Mexiko ein Gefühl für eine gemeinsame lateinamerikanische Identität, was vorher aufgrund der Herkunft ihrer Eltern und ihres durch Exilspanier geprägten Studiums nicht der Fall war. Und zweitens konnte sie die Freundschaft zu Buñuel vertiefen, den sie schon in Paris kennengelernt hatte. Jedes Wochenende fuhr sie nach Mexiko City, um Buñuel und seine Freunde, viele davon exilspanische Künstler und Intellektuelle, zu treffen. Wieder in Venezuela, entwickelte Benacerraf Pläne für einen neuen Film. Ursprünglich sollte es ein Triptychon werden, ein Film aus drei jeweils ungefähr halbstündigen Episoden, von denen eine in den venezolanischen Anden, eine in der Ebene und eine an der Küste spielen sollte. Die Schauplätze für die ersten beiden Episoden hatte sie bereits gefunden, den für die Küste suchte sie noch, da stieß sie in einer Zeitschrift auf ein Foto von Araya - ein Ort, von dem sie bisher noch nichts gehört hatte. Sie fuhr hin, und bald war das Triptychon vergessen und ARAYA geboren. Damals bereits wusste sie, dass in einem halben Jahr die Industrialisierung in Araya Einzug halten würde, es bot sich also die einmalige Chance, diese Welt vor ihrem Untergang auf Film zu konservieren. Zunächst studierte Benacerraf die Geschichte der Halbinsel. Weil die Archive in Venezuela nichts Brauchbares hergaben, fuhr sie nach Spanien, und im "Indienarchiv" (Archivo General de Indias) in Sevilla wurde sie fündig und erfuhr alles, was sie wissen wollte.

ARAYA
Nachdem Benacerraf und die Einwohner sich gegenseitig miteinander vertraut gemacht hatten, entstand das Drehbuch, und dann wurde gedreht. Wie schon bei REVERÓN, dauerten auch bei ARAYA die eigentlichen Dreharbeiten deutlich kürzer als die Vorbereitungen - nämlich weniger als vier Wochen, im September und Oktober 1957. Und wie bei REVERÓN bestand das Team aus nur zwei Personen, Benacerraf und ihr Kameramann Giuseppe Nisoli, der für wunderbare Bilder sorgte. Anfangs hatten die beiden noch einen Assistenten dabei, aber der war so unorganisiert, dass er nach einer Woche gefeuert wurde. Wieder waren die logistischen Bedingungen schwierig, und wiederum gab es keine große Hilfe von Seiten der Produzenten. Als der Film in Cannes gezeigt wurde, mochte kaum jemand glauben, dass das Team aus nur zwei Leuten bestand. Insbesondere Kran-Aufnahmen über den Salzpyramiden benötigten einen professionellen Kamerakran mit Bedienmannschaft, so dachte man. Tatsächlich aber standen die Kamera und Nisoli auf einer ungesicherten Plattform, die an einem Kran hing, der von einer der bereits anwesenden Baufirmen entliehen wurde. Jeder Beauftragte für Arbeitsschutz wäre bei dem Anblick wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen. In Anbetracht der Umstände ging die Arbeit gut vonstatten, aber eine größere Panne gab es. Eigentlich sollte die kleine Carmen viel mehr Raum im Film einnehmen, aber durch ein technisches Problem wurde ein Großteil der Aufnahmen mit ihr ruiniert, was erst im Kopierwerk in Paris bemerkt wurde, so dass es nicht mehr korrigiert werden konnte. Ein eher skuriller Vorfall war das unangekündigte Auftauchen der Präsidentenyacht mit Diktator Marcos Pérez Jiménez, seinen Konkubinen und sonstiger Entourage an Bord. Viele der Einwohner von Araya lebten ohne offiziellen Trauschein zusammen, und der Herr Präsident hatte es sich in den Kopf gesetzt, das zu ändern, weshalb er auch einen katholischen Priester im Schlepptau hatte, der nun eine Massenhochzeit veranstaltete. Als der Anhang des Präsidenten die Filmausrüstung entdeckte, wurde Benacerraf aufgefordert, die Veranstaltung zu filmen, aber sie lehnte ab, weil wiederum das Filmmaterial knapp war, und wiederum hat sie das später bedauert. Mehr als zehn Jahre später fand diese leicht surreale Episode Eingang in eine Geschichte von Gabriel García Márquez mit dem etwas länglichen Titel "Die unglaubliche und traurige Geschichte von der einfältigen Eréndira und ihrer herzlosen Großmutter".

Crane shots - so geht das auch (mit freundl. Genehmigung / courtesy of Milestone)
Weil es in Venezuela nur zweitklassige Filmlabors gab, wurde das ganze Material nach Frankreich geschickt, und Benacerraf wollte bald hinterher reisen. Doch dann kam es zu Unruhen gegen den eben noch heiratsfördernden Diktator (der übrigens 1954 die "Sonderstufe des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland" - also die höchste Stufe des Bundesverdienstkreuzes - erhalten hatte), Chaos brach aus, und viele Freunde von Benacerraf wurden verhaftet. Diese wollte aus Solidarität jetzt das Land nicht verlassen, und so kam es, dass sie erst Mitte 1958, als sich die Lage nach dem Sturz des Diktators beruhigt hatte, nach Paris reiste und die aufwändige Postproduction in Angriff nahm. Wieder war Guy Bernard für den Soundtrack verantworltlich, der wiederum aus mit Tonband aufgenommenen Geräuschen und traditionellen Liedern und neuer Musik von Bernard zusammengemischt wurde. Zunächst fertigten Benacerraf, Bernard und die Cutterin eine dreistündige Fassung, die nach Ansicht der Beteiligten den internen Rhythmus der Handlung optimal unterstützte. Henri Langlois zeigte diese Fassung Jean Renoir, der daraufhin meinte, Benacerraf solle kein einziges Bild davon herausschneiden. Doch ein dreistündiger Film hätte damals im Verleih schlechte Chancen gehabt, und aus Cannes, wo der Film Premiere haben sollte, kam die Weisung, ihn drastisch zu kürzen, sonst würde er abgelehnt. So machte sich das Team also daran, den Film auf weniger als die Hälfte zu kürzen. Aus Zeit- und Kostengründen wurde dazu die dreistündige Fassung herangezogen, ohne eine Kopie anzufertigen, so dass die lange Fassung verloren ist. Benacerraf hat das später als den größten Fehler ihres Lebens bezeichnet. Weil inzwischen das Geld auszugehen drohte, wurde eine französische Firma als Partner an Bord geholt, so dass ARAYA offiziell eine venezolanisch-französische Produktion ist, obwohl es beim Dreh 1957 noch ein rein venezolanisches Projekt war.

ARAYA
Als letztes wurde der Text zum Voice-over geschrieben und aufgenommen. Den Text verfasste Benacerraf gemeinsam mit dem französischen Dichter Pierre Seghers. Gelegentlich wird Seghers als gleichberechtigter Drehbuchautor bei ARAYA bezeichnet, er war aber nur am Kommentar und nicht am eigentlichen Drehbuch beteiligt. Aus Zeitdruck, um rechtzeitig für Cannes fertig zu werden, wurde nur eine französische Fassung geschrieben und vom Schauspieler Laurent Terzieff gesprochen. Und dann war es schließlich soweit: Im Mai 1959 hatte ARAYA Premiere in Cannes, und er lief gegen Filme wie LES QUATRE CENTS COUPS, ORFEU NEGRO, NAZARIN und HIROSHIMA, MON AMOUR. ARAYA gewann den FIPRESCI-Preis (geteilt mit HIROSHIMA, MON AMOUR) sowie den Grand Prix de la Commission Superieure Technique. Danach lief er 1959 noch mit Besonderen Erwähnungen auf den Festivals von Locarno, Moskau, Edinburgh und Venedig, und es gab noch etliche andere Auszeichnungen. Leider konnte Benacerraf den Schwung der vielen Preise nicht für neue Filmprojekte ausnutzen, denn nach ARAYA wurde sie durch eine mysteriöse Krankheit für eineinhalb Jahre geschwächt und teilweise ans Bett gefesselt. Angebote gab es genug, aber sie musste sie alle ablehnen.

ARAYA
1965, als sie sich gesundheitlich erholt hatte, übernahm Benacerraf widerstrebend die Leitung des gerade gegründeten Venezolanischen Nationalen Instituts für Kultur und Schöne Künste (INCIBA). Sie hatte seit inzwischen sieben Jahren in Paris gelebt und wollte da eigentlich auch bleiben, aber dann ließ sie sich zur Rückkehr nach Venezuela überreden. Eine ihrer ersten Amtshandlungen war es, Landfahrzeuge und zwei Schiffe mit Filmprojektoren in den kulturell wenig erschlossenen Teil Venezuelas südlich des Orinoco zu entsenden, um der dortigen Bevölkerung Diashows und Filme vorzuführen (von denen etliche in dem UNESCO-Zentrum in Mexiko produziert wurden, in dem sie kurz gearbeitet hatte). Diese Aktion erinnert mich etwas an den Filmzug, mit dem Alexander Medwedkin in den 30er Jahren in der Sowjetunion umherfuhr. Benacerrafs nächster Streich folgte 1966: Nach dem Vorbild der Cinémathèque française gründete sie eine nationale Cinemateca in Caracas. Durch ihre Freundschaft mit Henri Langlois und Teilnahme an etlichen Konferenzen internationaler Cinémathèquen-Betreiber war sie genug mit der Materie vertraut, um diese Aufgabe meistern zu können. 1968 wollte Benacerraf wieder einmal einen Film drehen, und sie traf sich dazu in Barcelona mit Gabriel García Márquez, den sie kurz zuvor kennengelernt hatte. Gemeinsam schrieben sie mehrere Drehbuchfassungen zu "Eréndira" (ich beschränke mich jetzt auf die Kurzfassung des Titels), aber nachdem kein Produzent zu Benacerrafs Bedingungen (sie wollte nur in Venezuela oder Kolumbien drehen) den Film finanzieren wollte, veröffentlichte García Márquez den Stoff schließlich 1972 als Kurzgeschichte. Mitte der 70er Jahre schien Carlo Ponti den Film produzieren zu wollen, aber als er wegen eines Devisenvergehens großen Ärger mit der italienischen Justiz bekam, zerschlug sich das Projekt endgültig. In einem neuen Anlauf verfilmte schließlich der Brasilianer Ruy Guerra ohne Benacerrafs Beteiligung den Stoff 1983 in Mexiko (mit deutscher und französischer Beteiligung).

ARAYA: Carmen und ihre Großmutter
Im Lauf der Jahre entfaltete Benacerraf viele weitere film- und kulturpolitische Aktivitäten, die teilweise über Venezuela hinaus in Lateinamerika wirkten. So gründete sie 1991 zusammen mit García Márquez Latin Fundavisual zur Förderung audiovisueller Kunst in Lateinamerika. Für ihre Verdienste erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. ARAYA hatte aber trotz der vielen Preise in vielen Ländern Schwierigkeiten, in den Verleih zu kommen, was an der Schwierigkeit gelegen haben mag, ihn in die richtige Schublade zu stecken. In Venezuela kam er gar erst 1977 in die Kinos, und erst aus diesem Anlass wurde auch eine spanische Version des Voice-over geschrieben und vom Schriftsteller José Ignacio Cabrujas aufgenommen. 2005 wurde ein Versuch unternommen, ARAYA in den USA in die Kinos zu bekommen. Das scheiterte zwar aus finanziellen Gründen, aber die US-Firma Milestone, die auf die Wiederentdeckung alter Filmschätze spezialisiert ist, wurde auf ARAYA aufmerksam und restaurierte ihn aufwändig. Premiere der restaurierten Fassung war im Februar 2009 auf der Berlinale. Und 2011 schließlich erschien diese Fassung bei Milestone auf DVD, mit vorzüglicher Bildqualität, REVERÓN als Bonusfilm, Audiokommentaren (auf Englisch) von Benacerraf zu beiden Filmen und weiterem Bonusmaterial. Und regionalcodefrei ist diese vorbildliche Veröffentlichung auch noch. Hier gibt es eine offizielle Seite zum Film von Milestone mit weiteren Informationen, z.B. ein Press Kit als PDF.

ARAYA: Die Moderne bricht ein

Samstag, 8. Februar 2014

Man müsste Klavier spielen können! Oder lieber doch nicht?

DIE 5000 FINGER DES DR. T. (THE 5,000 FINGERS OF DR. T.)
USA 1953
Regie: Roy Rowland, Stanley Kramer (uncredited)
Darsteller: Hans Conried (Dr. Terwilliker), Tommy Rettig (Bart), Peter Lind Hayes (Mr. Zabladowski), Mary Healy (Mrs. Collins)

Der Erzschurke und sein Widersacher
Der kleine Bart Collins wird von seiner verwitweten Mutter zum Klavier spielen angehalten, doch er hasst das Instrument, und insbesondere seinen Klavierlehrer Dr. Terwilliker. Als er eines Tages beim Üben eindöst, hat er einen Albtraum: Er befindet sich im festungsartigen, von elektrischem Stacheldraht umgebenen Terwilliker-Institut, und der im echten Leben zwar unsympathische, aber sonst normale Dr. Terwilliker ist zu einem Superschurken geworden, zu einer Mischung aus Musiker und Mad Scientist - sozusagen ein Mad Pianist. Sein teuflischer Plan ist es, dem Klavier zur uneingeschränkten musikalischen Weltherrschaft zu verhelfen, mit sich selbst als obersten Maestro. Zu diesem Zweck lässt er alle Musiker, die ein anderes Instrument als Klavier spielen, einfangen und im großen mehrstöckigen Verlies unter dem Institut einkerkern. In der geräumigen Haupthalle des Instituts hat Dr. Terwilliker ein riesiges, bandwurmartig gewundenes Klavier errichten lassen. Als Höhepunkt des dämonischen Plans lässt er 500 Jungen entführen, die bei der in Kürze stattfindenden offiziellen Eröffnung des Terwilliker-Instituts alle zusammen (mithin mit 5000 Fingern) ein natürlich vom Doktor selbst komponiertes Stück zur Aufführung bringen sollen - und Bart ist einer von ihnen. Als ob das noch nicht reichen würde, fungiert seine unter hypnotischem Zwang stehende Mutter als Terwillikers Assistentin, und der Schurke hat auch noch angekündigt, sie demnächst zu heiraten.

Das Bandwurm-Klavier: Nur mit Bart, und voll besetzt
Doch Bart ergibt sich nicht in sein Schicksal. Statt sich in die ihm zugewiesene Zelle zu begeben, entflieht er in die labyrinthischen Gänge des Instituts. Der einzige, der ihm jetzt helfen könnte, ist der sympathische Klempner August Zabladowski, der gerade dabei ist, die Sanitäranlagen des Instituts zu installieren. Doch Zabladowski glaubt Barts Beteuerungen nicht - bis er erfährt, dass er selbst nach Abschluss der Installationsarbeiten in Dr. Terwillikers Desintegrator aufgelöst werden soll. Nach dem Vorbild eines Geruchsabsorbers (den sie im Verlies zur Luftverbesserung einsetzen) konstruieren die beiden einen Musikabsorber, der alle musikalischen Klänge aus der Luft in sich aufsaugt und somit unhörbar macht. So gelingt es, das Zwangskonzert zu sabotieren und Dr. Terwilliker in die Kapitulation zu treiben. Doch der Musikabsorber ist, dem Zeitalter entsprechend, atomic, und er beginnt, verdächtig zu qualmen und Funken zu sprühen ...

Klingonen auf dem Schirm? Nein, das ist nur das Terwilliker-Institut, nicht die Enterprise
THE 5,000 FINGERS OF DR. T. ist ein ziemlich schräges, fantasievolles und surreales Musical. Die Vorlage und die Liedtexte stammen von dem in den USA ungemein populären Kinderbuchautor "Dr. Seuss" (Theodor Seuss Geisel), dessen bei uns bekannteste Kreation der "Grinch" ist. Zusammen mit Allan Scott, der vor allem durch seine Bücher für etliche Fred-Astaire-Filme in Erinnerung geblieben ist, schrieb Dr. Seuss auch das Drehbuch. Die Musik stammt im Wesentlichen von Friedrich Hollaender, aber Heinz Roemheld und Hans Salter trugen auch etwas dazu bei. Weil Regisseur Roy Rowland krank wurde, hat Produzent Stanley Kramer, bekanntlich selbst ein Regisseur von Filmen wie FLUCHT IN KETTEN oder DAS URTEIL VON NÜRNBERG, einen Teil der Szenen gedreht. Dr. Seuss soll sogar behauptet haben, dass das meiste von Kramer inszeniert wurde. Ihren Teil zum Charme des Films tragen die zwar billigen, aber fantasiereichen Kulissen bei. Manche Sets wirken wie eine Disneyland-Version von Dr. Caligaris Cabinet, andere wie eine Reminiszenz an FLASH GORDON (oder ein Vorgriff auf STAR TREK), und auch die Kostüme sind dazu passend gestaltet. Ein erfahrener Routinier war der aus Böhmen stammende Kameramann Franz Planer, der schon vor seiner Emigration in Österreich und Deutschland bekannte Filme wie SODOM UND GOMORRHA, DIE FINANZEN DES GROSSHERZOGS und DIE DREI VON DER TANKSTELLE gedreht hatte. In Hollywood arbeitete er mit Regisseuren wie Ophüls, Siodmak, Litvak, Wyler, Dmytryk, Zinnemann und Huston.


Tommy Rettig war 1953 schon ein gefragter Kinderstar, aber richtig berühmt wurde er erst, als er 1954-57 in den ersten drei Saisonen die menschliche Hauptrolle in LASSIE spielte. Als er im Erwachsenenalter seine Karriere nicht fortsetzen konnte, geriet er vorübergehend in Turbulenzen, aber in späteren Jahren war er ein erfolgreicher Softwareentwickler (u.a. an dBASE, Clipper und FoxPro beteiligt). Seine Lieder in THE 5,000 FINGERS OF DR. T. singt Rettig nicht selbst, sondern er wird von Tony Butala synchronisiert, der als Erwachsener eine Sangeskarriere bei den Lettermen verfolgte. Hans Conried, in Baltimore geborener Sohn eines jüdischen Emigranten aus Wien, war ein vielbeschäftigter Film- und Fernsehschauspieler. Er stand zwar meist nur in der zweiten oder dritten Reihe, dafür verschafften ihm seine stimmlichen Qualitäten auch zahllose Engagements als Sprecher im Radio und bei Animationsfilmen. Die Chance, die sich ihm als Dr. Terwilliker bot, nutzte er mit sichtlicher Spielfreude. Mit seiner exaltierten Darstellung hat er mich etwas an Vincent Price erinnert. Mary Healy und Peter Lind Hayes, die in THE 5,000 FINGERS OF DR. T. wie füreinander geschaffen sind, waren im wirklichen Leben tatsächlich miteinander verheiratet. Anfang der 60er Jahre spielten die beiden die Titelrollen in der Sitcom PETER LOVES MARY, und auch sonst traten sie in ihrer langen Karriere oft gemeinsam auf. Auch ihre Biografie schrieben die beiden gemeinsam.


THE 5,000 FINGERS OF DR. T. war bei Publikum und Kritik ein grandioser Flop, und selbst Dr. Seuss hat den Film als "debaculous fiasco" bezeichnet, und in seiner offiziellen Biografie wird er vornehm verschwiegen. Dabei hat er das überhaupt nicht verdient. Zwar reissen einen nicht alle Musiknummern vom Hocker (zumindest mich nicht), aber als Gesamtpaket sind die 5000 FINGER ein sehr unterhaltsamer Spaß, der sich im Lauf der Jahre eine gewisse Fangemeinde erobert hat. Nach der mißlungenen Premiere wurde der Film um ungefähr eine Viertelstunde auf 89 Minuten gekürzt. Diese gekürzte Version ist u.a. in den USA, Spanien und Frankreich auf DVD erhältlich. Eine in privater Initiative erstellte vorläufige restaurierte Fassung von 102 Minuten kann man hier auf YouTube ansehen. Zur Einstimmung hier der Trailer.

Keine Angst, das ist nur der Liftboy im Fahrstuhl zum Verlies

Montag, 3. Februar 2014

Die Leiden des jungen und erwachsenen und alten W.


RICHARD WAGNER
Deutsches Reich 1913
Regie: William Wauer / Carl Froelich
Darsteller: Giuseppe Becce (Richard Wagner), Manny Ziener (Minna Planer), Miriam Horwitz (Mathilde Wesendonck), Ernst Reicher (Ludwig II.), Olga Engl (Cosima von Bülow/Wagner)


1. Akt: Jugend

Der Schriftsteller, Schauspieler und Maler Ludwig Geyer liegt in seinem Todesbett und stellt die bedeutsame Frage: „Sollte Richard Talent zur Musik haben?“. Der achtjährige Richard spielt daraufhin ein Stück am Klavier, bevor sein Stiefvater dann quasi in seinen Armen verstirbt. Knapp neun Jahre später beginnt Wagner ein Studium der Musik in Leipzig, wo er als außerordentlich begabter Komponist positiv auffällt. In seiner Freizeit lernt er auch, Orchester zu dirigieren, und erprobt es gleich an einer Tanzgruppe aus exilierten polnischen Revolutionären. Wenige Jahre später nimmt er eine Stellung als Kapellmeister an, und verliebt sich in die Schauspielerin Minna Planer. Die beiden verloben sich und ziehen in eine neue – vor allem aber für die Verhältnisse eines Kapellmeisters viel zu teure! – Wohnung.

2. Akt: Reise- und Wanderjahre

Mittlerweile dirigiert Wagner in Riga. Doch die Gläubiger verfolgen ihn bis dorthin, und zusammen mit Minna muss der Musiker eine überstürzte und kühne Flucht aus dem Russischen Reich nach Paris antreten – vorbei an schießwütigen zarischen Grenzwächtern. Auf dem stürmisch schwankenden Schiff nach Frankreich ereilt den genialen Komponisten die Vision seines künftigen „Fliegenden Holländer“. Wagner kommt in Paris an, und erhält vom etablierten Opernkomponist Giacomo Meyerbeer ein Empfehlungsschreiben für die Große Oper – vergeblich. Er sucht deshalb Franz Liszt auf, der ihm allerdings nur schöne Worte zu bieten hat. So verfällt er in Armut, kann sich nicht mal mehr Brennholz leisten (und muss Stühle für das Feuer opfern), kommt aber mit dem „Fliegenden Holländer“ gut voran. Als die Verzweiflung fast schon Überhand nimmt, kriegt er dank des großen Erfolgs von „Rienzi“ eine Anstellung in Dresden. „Der Fliegende Holländer“ fällt dort allerdings 1843 durch, was den Komponisten betrübt. Seine Laune wird nicht gerade heller, als zwei Jahre später auch der „Tannhäuser“ ein Misserfolg beim Publikum wird. Wagner wendet sich daraufhin der Politik zu, trifft sich mit dem russischen Revolutionär Michail Bakunin, hält Reden über „freie Kunst und freies Menschentum“, gerät 1849 in die revolutionären Straßenkämpfe von Dresden und entkommt nur durch Zufall einer Verhaftung. Auf der Flucht gibt ihm Franz Liszt in Weimar Geld und einen falschen Pass, und der steckbrieflich Gesuchte flieht in die Schweiz.

3. Akt: Im Exil

Dort beginnt Richard Wagner mit der Arbeit am „Nibelungen“-Zyklus, und trägt die Verse in lebendigen Worten seinem Freundeskreis vor. Er trifft er sich auch öfter mit Mathilde Wesendonck, der Ehefrau seines Nachbarn, und „bespricht“ mit ihr seine künftige Oper „Tristan und Isolde“, was seine Ehe mit Minna belastet und schließlich zur Trennung führt. Einsam, verlassen und mittellos komponiert Wagner unermüdlich weiter, und im Moment der tiefsten Verzweiflung ruft ihn im Frühling 1864 der bayerische König Ludwig II. an seinen Hof. 

4. Akt: Eine königliche Freundschaft

Richard und Ludwig verbindet eine harmonische Freundschaft. Letzterer darf sogar exklusiv die Generalprobe von „Tristan und Isolde“ begutachten. Doch die Idylle wird durch die hinterlistigen Intrigen der Minister und des katholischen Klerus‘ getrübt. Sie beginnen eine Presse- und Hetzkampagne gegen den Komponisten, und wesentlich schneller, als eine seiner Opern dauert, steht auch schon ein wütender Mob vor dessen Münchener Residenz. Aufgrund massiver Demonstrationen und einer umfangreichen Petition sieht sich Ludwig gezwungen, seinen Freund aus München zu verbannen. Zurück in der Schweiz arbeitet Wagner, schon älter und kränkelnd, an den „Meistersingern“. Trost bieten ihm die gelegentlichen Besuche Ludwigs und seine neue Ehefrau, Cosima Wagner, ehemals von Bülow. Doch es wendet sich alles doch zum Guten: in Bayreuth kann Wagner 1873 sein eigenes Festspielhaus bauen.

5. Akt: Bayreuth

Dort erscheinen drei Jahre später zur Aufführung des „Nibelungen“-Zyklus nicht nur Ludwig II., sondern auch der deutsche Kaiser, Wilhelm I., höchstpersönlich. Mit „Parsifal“ krönt der Meister sein Werk und sein Leben. Am 13. Februar 1883 stirbt er in Venedig.


Ein flottes und witziges Biopic

Wer diese kurze Zusammenfassung von RICHARD WAGNER liest, könnte das Gefühl haben, dass der hier dargestellte Wagner möglicherweise nicht ganz mit dem Wagner übereinstimmt, den man heutzutage so kennt. Aber das macht nichts, denn dieser über 100-jährige Stummfilm ist dennoch höchst vergnüglich zu sehen – oder vielleicht gerade deshalb?

Im Grunde kann man es auf die sehr einfache Formel reduzieren: RICHARD WAGNER ist überaus flott erzählt. Das Drehbuch könnte man als fast atemlos bezeichnen: trotz einer relativ mäßigen Laufzeit von knapp über anderthalb Stunden arbeitet sich der Film durch mehrere Dutzende von Schauplätzen mit mehreren Dutzenden von Figuren hindurch, wechselt kleinere Situationen (Wagner dirigiert ein Orchester) mit größeren und längeren Spannungsbögen ab (Wagners Flucht aus Riga, seine Freundschaft zu Ludwig von der Ankunft bis zur „Verbannung“), und baut zwischendurch auch Erzählungen im Film ein (die Nibelungen, ein Traum, eine Halluzination). Ein abwechslungsreiches Werk, das (und man sieht es ihm deutlich an) mit viel Freude die damaligen Möglichkeiten seines Mediums auslotet.

Traum, Inspiration, Erzählung, Halluzination
RICHARD WAGNER ist über weite Strecken ein Tableau-Film, inszeniert mit überwiegend unbeweglicher Kamera, was 1913 alles noch üblich war. Manche Tableaus dauern tatsächlich auch etwas länger. Doch durch den verhältnismäßig dynamischen Schnitt und der immer wieder geschickten Nutzung der Bildtiefe fällt das nicht negativ auf. Ein weiteres Gestaltungselement, das in RICHARD WAGNER zur Dynamisierung eingesetzt wird, ist die Virage: scheinbar wurde sie „willkürlich“ verwendet. Vielleicht habe ich auch ihre dramaturgische Nutzung noch nicht richtig „decodieren“ können, aber ich vermute, dass sie tatsächlich zwecks Abwechslung, gewissermaßen als „impressionistische“ Palette, eingesetzt wurde: jedes Bild, jedes Tableau wird durch eine eigene Farbe noch einzigartiger gemacht. RICHARD WAGNER ist so gewissermaßen auch ein „Farbfilm“.

Mit Spezialeffekten im engeren Sinne geht das Biopic relativ sparsam um. Zu nennen ist die Vision, oder die Inspiration des Komponisten, als er aus Riga auf einem Schiff flüchtet, und vor seinen Augen ein Geisterschiff (also den „Fliegenden Holländer“) vorüberziehen sieht – ich vermute, dass es sich um eine relativ einfache, aber nichtsdestotrotz sehr effektive Doppelbelichtung handelt. Später, als Wagner an den „Meistersingern“ arbeitet, ist er offensichtlich kränkelnd, und beginnt, um sich herum ehemalige Bekannte und Fantasiefiguren aus seinen Opern herbei zu halluzinieren – jump cuts machen es möglich, und verwirren zugleich den Komponisten zutiefst.

Wie gesagt erzählt RICHARD WAGNER auch eigene Sub-Erzählungen im Rahmen der Haupt-Erzählung. Gleich am Anfang etwa träumt der zehnjährige Richard davon, dass aus den zwei großen Portrait-Gemälde im Schlafzimmer (in das er gastweise bei Onkel und Tante untergebracht ist) die abgebildeten Damen lebendig heruntersteigen, und eine mit ihm anfängt, zu tanzen: ein Traum, der den kleinen Richard stark erschreckt. Wesentlich länger dauern Wagners Erzählungen vom „Nibelungen“-Mythos. Am Ende zollen ihm die Figuren an seinem aufgebahrten Leichnam Tribut.

Inspiration beim Baden
Üblicherweise sind Wagner und Humor zwei Begriffe, die man nicht unbedingt in einem Satz unterbringen würde. Dennoch muss man sagen, dass RICHARD WAGNER auch ein sehr witziger Film ist. Ein Teil des Humors ist sicherlich „unfreiwillig“ oder zumindest nicht im engeren Sinne „intendiert“. Das ist nicht respektlos gemeint und soll auch nicht suggerieren, dass der Film lächerlich sei. Vielmehr weist der Film mit seinem Wagner-Bild immer wieder Dissonanzen zu dem Bild Wagners auf, der heutzutage gängiger ist und gerade aus diesen Dissonanzen heraus kann das eine oder andere Lächeln über die Lippen huschen. Auch der melodramatische Pathos manch einer Szene (wenn etwa Wagner frierend komponiert, einen Stuhl zu Brennholz zerschmettert, sich wärmt, weiter komponiert und dann in einem Zustand genialer Inspiration die Hände gen Himmel streckt) könnte das eine oder andere Lächeln hervorrufen. Das wäre berechtigt, als dass Wagner aus seinen Momenten der Armut, Verzweiflung und Einsamkeit sowieso stets gerettet wird: jemand besucht ihn, oder – häufiger – jemand gibt ihm Geld oder eine Anstellung.

Immer wieder hat RICHARD WAGNER auch einen offen, wenngleich leisen komödiantischen Ton. In einer Szene etwa bekommt Wagner beim Baden eine spontane Inspiration und geht schnurstracks, nur mit einem Badezimmerumhang bekleidet, in sein Klavierzimmer, um zu komponieren. Just in diesem Moment kommen (wieder einmal) drei Gläubiger vorbei, die längst überfällige Rechnungen kassieren wollen, und diese von einem geistig abwesenden, nackten Klavierspieler einfordern wollen. Zur Runde stoßen auch ein älterer Herr und eine ältere Dame hinzu (womöglich andere, bislang unbekannte Gläubiger?), und letztere fällt fast in Ohnmacht, als sie die spärliche Bekleidung Wagners sieht. Ein kunterbunter Tumult bricht aus, bis der Meister im Bademantel alle mit erhobenem Finger rausschmeißt.

Wagner bei Meyerbeer
Ebenfalls sehr witzig ist die Szene, die man gewissermaßen als den „Meyerbeer-Sketch“ bezeichnen könnte. Wagner spielt dem berühmten Opernkomponisten seinen „Rienzi“ am Klavier vor, während dieser im Vordergrund sich offensichtlich langweilt und auch demonstrativ gähnt. Sobald Wagner zu ihm schaut, applaudiert Meyerbeer hingegen begeistert. Da unser Titelheld offenbar noch mehr vorspielen will, bittet ihm Meyerbeer an, ein Empfehlungsschreiben aufzusetzen. Wagner ist begeistert, bedankt sich und geht dann mit dem Brief auf und davon, während Meyerbeer, erleichtert, von der nervenden Musik befreit zu sein, in seinen Sessel sinkt. Als filmische Erzählung ist diese Episode aus RICHARD WAGNER freilich wesentlich amüsanter als die historische Realität: bekanntermaßen verfasste Wagner seinen unsäglichen Essay „Das Judenthum in der Musik“ vor allen Dingen als persönlichen Angriff gegen seinen (damals) wesentlich erfolgreicheren Konkurrenten in Paris.

RICHARD WAGNER, der zu einem überwiegenden Teil in Innenräumen spielt, ist in seinem Set-Design überaus detailverliebt. Gerade ab dem vierten Akt beginnen die einzelnen Szenen immer häufiger, von Portraits und vor allen Dingen von Büsten geprägt zu werden (der Film beginnt mit der Nahaufnahme einer Wagner-Büste). So hat Ludwig II. in seinem Arbeitsraum zwei Komponisten-Büsten stehen: eine von Franz Liszt im Hintergrund, und – logisch – eine von Wagner auf seinem Schreibtisch. Bei der Diskussion Wagners mit Bakunin steht auf dem Klavier, an dem der Komponist dem russischen Revolutionär etwas vorspielt, eine Büste von Beethoven. In seinem späten schweizerischen Häuschen hat Wagner hingegen eine Büste von Franz Liszt im Wohn- und Klavierzimmer aufgestellt. Gegen Ende, als der immer wieder gebeutelte Komponist endlich seinen verdienten Ruhm bekommt, beginnt das Set-Design, selbstreferentiell zu werden: als Wagner zusammen mit (wahrscheinlich) Architekten den Bau seines Festspielhauses diskutiert, hängt im Hintergrund ein Portrait von ihm selbst – es gibt nunmehr keine anderen mehr, sondern nur noch diesen Mann! Für Bewohner von Weimar gibt es übrigens auch etwas zu sehen, denn Franz Liszt, der später mehrmals als Büste, also als „Kopie“ im Film erscheinen wird, hat in seinem eigenen Weimarer Zimmer selbst zwei Büsten stehen: nämlich je eine von Goethe und Schiller.

Das könnte man sicherlich alles weiter ausführen: als Spiel mit der Repräsentation realer Figuren, und der Repräsentation der Repräsentation realer Figuren, die sich gegenseitig im Film doppeln. Letztendlich ist es sicherlich auch ein Wink an kulturinteressierte Zuschauer, die hier einfach viele bekannte Figuren aus der deutschen und europäischen Kultur- und Zeitgeschichte wieder erkennen können. Und die auch als Schauwerte in Form von Darstellern gezeigt werden: Wagner, Liszt, Bakunin, Meyerbeer, Ludwig II., Wilhelm I., und, damals noch real lebend, Cosima Wagner.

Büsten, Portraits und Doppelgänger
Reale Personen im Film zu zeigen, war 1913 schon nichts mehr neues, egal, ob dokumentarisch oder gespielt. Georges Méliès etwa hatte bereits 1899 mehrere Kurzfilme zu Alfred Dreyfus gedreht und inszenierte ein Jahr später einen Zehnminüter zu Jeanne D‘Arc. Mit der Beteiligung von Louis Feuillade und Abel Gance entstand 1909 ein Kurzfilm zum Leben Molières. RICHARD WAGNER ist auch nicht der erste Langfilm-Biopic: der australische Film THE STORY OF THE KELLY GANG aus dem Jahre 1906 gilt mit knapp 1,2 km Länge (= 60 bis 70 Minuten Laufzeit) der erste „full-length feature film“ der Kinogeschichte, und ist daher auch der erste abendfüllende Biopic überhaupt. Allerdings ist das Werk des Australiers Charles Tait heute zu etwa zwei Dritteln verschollen. Insofern ist es nicht zu weit ausgeholt, RICHARD WAGNER als eines der ersten abendfüllenden und noch erhaltenen Biopics der Filmgeschichte zu bezeichnen.

Entgegen der Entwicklung des modernen Biopics, nur gewisse Lebensabschnitte realer Menschen darzustellen und diese dabei in ein Aufstiegs-und-Fall-(und eventuell Wiederaufrappeln-)Modell zu formen, rauscht RICHARD WAGNER fast von der Geburt, zumindest von der frühen Kindheit, bis zum Tod der Titelfigur durch, und arbeitet dramaturgisch eher fragmentarisch mit kleineren und losen Episoden, als einen großen und konzisen Spannungsbogen zu schließen. Inwiefern in letzterem der Stummfilm nicht vielleicht sogar „moderner“ ist als seine in Genre-Konventionen teils erstarrten Nachfolger Jahrzehnte später, ließe sich streiten. Tatsächlich konnte RICHARD WAGNER unmöglich in irgendwelche starre Genre-Muster geraten: es gab sie ja noch nicht.


Der Hauptdarsteller-Komponist und seine Musik

Der Untertitel von RICHARD WAGNER lautet EINE FILMBIOGRAPHIE ANLÄßLICH DES 100. GEBURTSTAGES DES GROßEN MEISTERS. Schön und gut, doch wie passen Komponisten-Biografie und Stummfilm zusammen? Der ursprüngliche Gedanke des Produzenten Oskar Messter war es, den Film bei Aufführungen mit Originalauszügen aus Richard Wagners Musik unterlegen zu lassen – was ja natürlich auch eine nahe liegende Idee ist. Doch das war nicht möglich, und dafür gibt es zwei verschiedene Erklärungen, die sich allerdings nicht unbedingt gegenseitig ausschließen müssen. Die eine Version besagt, dass die Verlagsrechts-Gebühren, um die Musik des Komponisten nutzen zu können, zu teuer waren bzw. Messter nicht bereit war, diese Summen zu bezahlen. Die andere Version besagt, dass die Wagner-Erben nicht die erhabenen Werke ihres Ahnen für ein Medium hergeben wollten, das vor wenigen Jahren noch eine Jahrmarktsattraktion gewesen war. Gerade Cosima Wagner (die man übrigens im Film auch kurz dargestellt sieht) soll wohl einen besonders heftigen Hass gegen das „triviale“ Medium Film gehegt haben. Diese überhebliche Abneigung gegenüber dem Kino passt zwar irgendwie zum Bild, den man sich von einem Teil des „Wagner-Clans“ so macht, war aber 1913 (wie hier und hier in diesem Blog bereits angesprochen) tatsächlich keineswegs eine besonders exzentrische Meinung. Der Meister selbst konnte also die Musik zu „seinem“ Biopic nicht liefern.

Ein expressiver Darsteller: Giuseppe Becce
Dafür konnte es sein Double! Der Hauptdarsteller von RICHARD WAGNER, der Italiener Giuseppe Becce, war nämlich seines Zeichens überhaupt kein Schauspieler, sondern Komponist. Von Hause aus war er sogar eigentlich Geograf, bildete sich aber nebenher auch umfassend im Bereich Musik weiter, und hatte bis kurz vor Produktion des Films bereits Operetten und Opern komponiert. Eine Anekdote besagt, dass Messter den Italiener, der seit 1900 in Berlin residierte, auf der Terrasse eines Cafés begegnete, und ihn aufgrund seiner physiognomischen Ähnlichkeit mit Richard Wagner sogleich als Hauptdarsteller engagierte. Als das ganze Filmprojekt aufgrund des lauten „Niemals mit Wagners Musik!“ aus Bayreuth kurz vor dem Scheitern stand, bot Becce an, die „Wagner-Musik“ für den Film selbst zu „komponieren“. Er arrangierte ein Potpourri aus großen Klassikern, orchestrierte das ganze nach Wagner‘scher Manier, und arbeitete Anklänge an bzw. verfremdete Variationen von Wagner-Motiven in den Musik-Soundtrack ein: dadurch konnte die Musikbegleitung des Films nach Wagner klingen und an Wagner erinnern, ohne Urheberrechte zu verletzen. Über letzteres ließe sich zumindest streiten, denn gerade „Der Fliegende Holländer“ (wenn Wagner das Schiff besteigt und von einer Vision ereilt wird) ist nun doch praktisch eins zu eins vom Original übernommen. Zeitgenossen sprachen von „Wagner-Vermeidungsmusik“. Ansonsten ist Potpourri tatsächlich das richtige Wort, um die Musik des Giuseppe Becce für RICHARD WAGNER zu beschreiben: zu hören sind unter anderem Motive von Rossini mit der „Diebischen Elster“ und „Wilhelm Tell“ (letzteres während der Dresdener Straßenschlacht-Szenen), von Beethovens Sinfonien (besonders der sechsten und neunten). Persönlich habe ich sie nicht rausgehört, aber wohl auch vorhanden sind Anklänge an Haydn und Mozart. Die Marseillaise ist ebenso zu hören wie auch Klänge aus Felix Mendelssohn Bartholdys Violinkonzert in E-Moll – natürlich ein Paradox, wenn man bedenkt, was der reale Wagner für Mendelssohn Bartholdy übrig hatte (nämlich antisemitische Beschimpfungen).

Becces Musik selbst ist lediglich als Klavierauszug erhalten geblieben. Für das Jahr 2013 hat Bernd Schultheis aus diesem Auszug eine Version für ein großes Orchester arrangiert. Diese ist auch auf der neulich erschienenen DVD zu hören (weiteres dazu unten). Es gibt auf Grundlage des Klavierauszuges auch eine Fassung für Salonorchester, die der Komponist, Dirigent und Stummfilmexperte Helmut Imig für das Wagner-Jahr 2013 arrangierte (diese Fassung habe ich im August 2013 beim Kunstfest in Weimar gehört). Dann existiert auch eine Musikbegleitung für den Film von 1983, erstellt zum 100. Todestag Wagners: der schweizerische Komponist Armin Brunner arrangierte hierfür die nunmehr gemeinfreie Musik des Titelhelden für ein achtzehnköpfiges Ensemble zu einer echten Wagner-Collage – womit er gewissermaßen die ursprüngliche Intention des Produzenten Oskar Messter erfüllte.

Der Komponist-Hauptdarsteller mimt das Komponieren
Dass Giuseppe Becce ein absoluter Schauspiel-Laie war, ist seiner Darstellung des Wagners übrigens nicht im geringsten anzusehen. In der Zeitschrift „Der Kinematograph“ war im September 1913 zu lesen: „Ist die Regie und Inszenierung des gesamten Werkes schon auf voller Höhe, so ist die mimische Darstellung, speziell die des großen Meisters, über alle Erwartungen glänzend gelungen.“ Dem ist nicht viel beizufügen. Gelegentliches Pathos und „Overacting“ ließen sich immer wieder problemlos als geschicktes „Zwischentitel-Vermeidungs-Schauspiel“ bezeichnen!

Bis auf DER ABSTURZ von 1923 war RICHARD WAGNER der einzige Film, in dem Giuseppe Becce eine Rolle mimte. Es war allerdings der Startschuss zu einer höchst umfangreichen Karriere als Filmkomponist – imdb nennt 213 Credits als „composer“ sowie 19 Credits bei „music department“. Darunter finden sich zahlreiche Filmtitel, die „man“ schon einmal gehört hat. Für Robert Wienes DAS CABINET DES DR. CALIGARI komponierte Becce die Premierenmusik, für Fritz Langs DER MÜDE TOD, für Friedrich Wilhelm Murnaus DER LETZTE MANN und TARTÜFF, für Gerhard Lamprechts „Milieufilm“ MENSCHEN UNTEREINANDER und sein MADAME BOVARY, für Leni Riefenstahls DAS BLAUE LICHT, für Gustav Machatýs Skandalfilm EKSTASE sowie für zahlreiche Bergfilme von Luis Trenker ist er ebenfalls als Komponist aufgeführt. Er vertonte auch die gekürzte Tonfilmfassung von DIE WEIßE HÖLLE VOM PIZ PALÜ aus dem Jahre 1935. Ebenfalls hat er Produktionsmusik („stock music“) komponiert, die in der Stummfilmfassung von Lewis Milestones ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT und in James Whales FRANKENSTEIN auftauchte (wenngleich ohne Credits bei den Filmen selbst, sondern nur bei imdb gelistet).

Die Musik des deutschen Kinos der 1910er bis 1940er Jahre wurde also maßgeblich von Giuseppe Becce geprägt. In den 1920er Jahren war er der wichtigste Dirigent für Uraufführungsorchester der UFA, und verfasste zusammen mit dem Komponisten Hans Erdmann (u. a. NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS und DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE) und einem gewissen Ludwig Brav das filmmusiktheoretische „Allgemeine Handbuch der Film-Musik“. Der Italiener verstarb 1973 im stolzen Alter von 96 Jahren in Berlin.


Die anderen Beteiligten

Der Produzent Oskar Messter, der das Projekt RICHARD WAGNER initiierte, ist hingegen kaum anders denn als Filmpionier zu bezeichnen. Der gebürtige Berliner war der Sohn eines Optikers, und übernahm dessen Betrieb. Schon ein Jahr, nachdem das Medium Film erfunden worden war, vertrieb Messter Filmprojektoren und produzierte eigene Filme: zwischen 1896 und 1918 sollten es fast 400 werden. Nach dem Krieg verkaufte er seine Produktionsfirma an das Unternehmen, das später zur UFA wurde. 1924 zog er sich aus dem aktiven Filmgeschäft zurück. 1932 hinterließ er seine große Sammlung cinematographischer Geräte an das Deutsche Museum in München – und erlebte damit selbst eine frühe Form der Musealisierung eines Mediums, das er während seiner Karriere stets als ernst zu nehmende Kunstform propagiert hatte.

Regisseur und Kameramann Carl
Froelich erschafft immer wieder
beeindruckende deep-focus-Bilder
Die beiden Regisseure William Wauer und Carl Froelich, die beide auch als Drehbuchautor respektive Kameramann fungierten, waren 1913 Angestellte in Messters Produktionsfirma „Messter-Film“. William Wauer, der auch eine kleine Rolle übernahm, war hauptberuflich Bildhauer, und als solcher auch eine prägende Persönlichkeit der deutschen expressionistischen und kubistischen Kunst. In den 1920er Jahren war er Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender der „Internationalen Vereinigung der Expressionisten, Kubisten, Futuristen und Konstruktivisten“ (bis zu ihrem Verbot 1933). Eine zeitlang war er auch am Bauhaus tätig. Nebenbei war er Feuilletonist und Theaterregisseur. Als Filmregisseur gründete Wauer 1916 seine eigene Filmgesellschaft, die aber offensichtlich nur knapp ein Jahr lang Filme produzierte. 1921 gab er das Kinogeschäft auf. Während des Nationalsozialismus versuchte er sich zwar, mit dem neuen Regime zu arrangieren, wurde aber dennoch zum Vertreter „entarteter Kunst“ deklariert und marginalisiert. 1962 verstarb Wauer 95-jährig in Berlin.

Carl Froelich war seit Beginn des 20. Jahrhunderts im Filmgeschäft tätig, genauer gesagt war er als Angestellter Oskar Messters für den Bau cinematografischer Geräte verantwortlich und als Kameramann tätig. Anfang der 1920er Jahre gründete er die Carl Froelich-Film GmbH, mit der (bis auf eine fünfjährige Pause nach dem Zweiten Weltkrieg) ununterbrochen bis Anfang der 1950er Jahre Filme produzierte. Sein zweifelsohne aufsehenerregendster Film war MÄDCHEN IN UNIFORM (1931), den er mit der Theaterregisseurin Leontine Sagan co-inszenierte (es ist gemeinhin zu lesen, dass Sagan die Schauspielerinnen anführte, während der „künstlerische Leiter“ Froelich sich auf technische Fragen beschränkte). Der Film wurde aufgrund seiner Darstellung weiblicher Homosexualität von den Nationalsozialisten verboten. Froelich hinderte dies allerdings nicht daran, ab 1933 eine große Karriere zu machen. Im selben Jahr trat er in die NSDAP ein, wirkte jahrelang aktiv als Funktionär in der nationalsozialistischen Filmindustrie und wurde 1939 Präsident der Reichsfilmkammer. Dieses Amt übte er bis 1945 aus. Nach dem Ende des Weltkrieges und der Entnazifizierung drehte er Anfang der 1950er Jahre noch zwei Komödien, bevor er 1953 in Berlin verstarb.

Filmfehler oder bewusster Bruch der vierten Wand?
Ernst Reicher als bayerischer König Ludwig II.
Über Manny Ziener, die Wagners erste Ehefrau Minna Planer spielt, gibt es nicht gerade besonders viel Informationen. Ihr Geburts- und Todesdatum scheint umstritten zu sein (1887 oder 1893 respektive 1971 oder 1972). Sie kam Anfang der 1910er vom Theater zum Film, war allerdings in den 1920er Jahren ausschließlich als Theaterschauspielerin und Kabarettistin tätig, bevor sie in den 1930er Jahren wieder zum Film zurückkehrte.
Die Darstellerin Miriam Horwitz, ist ein noch weiter unbeschriebenes Blatt, zumal sie sich den Namen mit einer 1984 geborenen TV-Schauspielerin teilt. Ihre beiden einzigen Rollen außer Mathilde Wesendonck spielte sie einmal 1913 und einmal 1959.

Wesentlich bekannter in der Stummfilm-Ära war hingegen der Mime des bayerischen Königs, Ernst Reicher. Der Schauspielersohn war zunächst am Theater tätig, bevor er 1912 zum Film kam und Joe May kennen lernte. Gemeinsam erfanden sie die überaus beliebte Detektiv-Figur Stuart Webbs: zwischen 1913 und 1929 entstanden über 40, größtenteils abendfüllende Filme mit dem Gentlemen-Ermittler. Joe May führte bei den ersten vier Filmen Regie, und Ernst Reicher verkörperte bis im Jahre 1926 (mit einer Ausnahme) jedes Mal die Hauptfigur. Seit 1913 war letzterer auch als Regisseur bzw. seit 1915 als Produzent tätig. 1933 floh Reicher, der jüdischer Herkunft war, in die Tschechoslowakei, wo der einst beliebte Detektiv-Mime in Vergessenheit und Armut geriet. Im Frühling 1936 beging er in einem ärmlichen Prager Hotel Selbstmord.


Wagner-Kult, Wagner-Bild und Nationalsozialismus

RICHARD WAGNER entstand 100. Jahre nach der Geburt der realen Titelfigur, ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, und zwanzig Jahre vor dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, und ist daher auch als ein Dokument der Wagner-Rezeption zu sehen: also des Umgangs mit einer der (wenn nicht sogar DER) umstrittensten Figuren der deutschen Kulturgeschichte.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg erreichte der Wagner-Kult in Deutschland einen Höhepunkt, der durch das Jubiläumsjahr noch befeuert wurde. Mehrere Denkmäler und Büsten für den Komponisten wurden seit der Jahrhundertwende, verstärkt aber um 1913 geschaffen und eingeweiht. Sicherlich ist auch der Film RICHARD WAGNER eine Art Denkmal für den umstrittenen Komponisten: eine Verklärung, die ganz und gar unkritisch an sein Subjekt herangeht. Wagner wird geradezu zum Held stilisiert (wodurch der Film zwischendurch eben auch den Drive eines Abenteuerfilms entwickelt).

Der Wagner in Messters Biopic ist schon früh ein Hochbegabter, und später ein zu Unrecht von der Mehrheit belächeltes und verachtetes Genie. Geradezu als Märtyrer erscheint er in seiner Armut, wird permanent von gemeinen Gläubigern verfolgt – dass Wagner (meist in seinem schieren Größenwahn) nicht mit Geld umgehen konnte, zeigt der Film durchaus, aber es taucht immer eine „deus ex machina“ auf, die ihn rettet. Er ist auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen ein unschuldiger Märtyrer, denn immer, wenn er sich gerade mit jemandem gut versteht, funkt jemand dazwischen: Seine Ehefrau etwa, wenn er mit Mathilde Wesendonck... „über seine nächste Oper spricht“, oder die bösen intriganten Minister und Münchener, wenn er nur mit seinem besten Buddy Ludwig abhängen möchte. 

Das steht natürlich alles im Kontrast zur düsteren Seite Wagners. Dessen Urenkel, Gottfried Wagner, wies als „Querschläger“ im Wagner-Jahr 2013 darauf hin, dass man den umstrittenen Komponisten keineswegs nur auf seinen Antisemitismus reduzieren könne: er sei schließlich auch ein zorniger Frauenverächter, ein von Hass zerfressener Misanthrop, ein nach oben buckelnder und nach unten tretender Kriecher und Speichellecker, ein früher und überzeugter Vertreter des modernen biologischen Rassismus und völkischen Nationalismus, ein krankhafter und intrigierender Narzisst und ein wahnhafter Apokalyptiker voller zynischer und menschenverachtender Erlösungs-, Todes- und Vernichtungsfantasien gewesen. Gottfrieds „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir: Richard Wagner – ein Minenfeld“ ist sicherlich sehr polemisch, erinnert aber noch mal in aller Deutlichkeit daran, welch eine unangenehme Person Wagner gewesen ist.

Wagner mit polnischen Revolutionären, einem jüdischen
Freund, in einer Straßenschlacht, mit Kaiser Wilhelm I.
Davon ist natürlich in RICHARD WAGNER nichts zu spüren. Allerdings lässt sich der Film auch keineswegs als deutsch-nationale Form der Wagner-Rezeption interpretieren, denn dafür ist eine Struktur viel zu impressionistisch, und das Drehbuch viel zu sehr als Heldenbiografie über individuelle Genialität angelegt. Wagners Antisemitismus taucht auch nicht auf (der Film machte sich gewissermaßen auch die Normalität des Antisemitismus nicht zu eigen). Vielmehr wird die Titelfigur in Riga von einem offenbar befreundeten Juden (an seinen Schläfenlocken zu erkennen) tatkräftig bei der Flucht unterstützt: er besorgt die Kutsche, organisiert den Wechsel der Pferde, und bringt Richard und Minna Wagner sicher über die Grenze zum Schiff. Wenn, dann wird Wagner tatsächlich eher als „linker“ Revolutionär dargestellt, in den Szenen mit Bakunin und den Dresdener Straßenkämpfen – gerade letztere dienen aber eher als actionreiche Schauwerte denn als tiefgründige politische Reflexionen. Später empfängt Wagner den deutschen Kaiser Wilhelm I. zu den Nibelungenfestspielen, allerdings war gerade Wilhelm I. alles andere als eine deutschnationale Identifikationsfigur.

Wie bzw. überhaupt ob RICHARD WAGNER in den Jahren 1933 bis 1945 erneut gezeigt, ausgewertet, umgearbeitet, gedeutet oder vielleicht auch unter Verschluss gebracht wurde, kann ich nicht sagen. Zu beachten wäre natürlich, dass zwischen 1913 und 1933 das Aufkommen des Tonfilms liegt, insofern der Film am wahrscheinlichsten zu einer Tonfassung umgeschnitten bzw. umgearbeitet worden wäre (wie etwa mit Fritz Langs DIE NIBELUNGEN: SIEGFRIED geschehen).

Gerade der weitere Lebenslauf der Beteiligten zeigt, dass die Zeitgeschichte natürlich nicht einfach so an ihnen vorüber gegangen ist, wenn einer der Regisseure knapp ein Vierteljahrhundert später zu einem der höchsten nationalsozialistischen Filmfunktionäre aufsteigt, oder der Mime des ersten ganz großen Wagner-Liebhabers zum Verfolgten und Opfer der unheilvollsten aller Wagner-Liebhaber wurde.

All diese Ausführungen zur Verknüpfung von problematischer Persönlichkeit, Wagner-Rezeption und -Kult und den Entwicklungen des völkischen Nationalismus hin zum Nationalsozialismus sind als Fragen, als Denkanstöße, nicht als fixe Antworten gedacht. Ich denke, als fiktionaler, „epischer“ Film (sozusagen als Wagner, wie man ihn sich wünschen könnte) ist RICHARD WAGNER problemlos zu genießen. Als eine bestimmte Form der Wagner-Rezeption kann man den Film durchaus mit Fragen im Hinterkopf sehen – denkendes und vergnügt-unterhaltsames Filmeschauen sind ja bekanntlich keine Gegensätze.


Zur DVD

Seit Dezember letzten Jahres ist RICHARD WAGNER auf einer DVD von universumfilm erhältlich. Hier die Erklärung zur Restauration zu Beginn des Films: „Die Restaurierung fand 2011/12 durch das EYE Film Institute Netherlands, Amsterdam, in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden statt. Von zwei viragierten und getonten 35mm-Nitrokopien aus der Desmet Collection des EYE Film Institute Netherlands wurde ein 35mm-schwarzweiß-Dup-Negativ hergestellt. Den davon gezogenen Kopien wurden die Färbungen nach der Desmet-Methode hinzugefügt. Bei der Digitalisierung in 2K-Auflösung wurden die Färbungen nochmals überarbeitet. Die Texte der deutschen Zwischentitel folgen einem Programmheft aus dem Deutschen Filminstitut – DIF, Frankfurt am Main. Die Texte für die deutschen Inserts wurden aus einer 16-mm-Safetykopie der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung übernommen.“
Bei der Musik handelt es sich um eine Live-Aufzeichnung der Restaurations-Uraufführung am 22. Mai 2013 im Festspielhaus Baden-Baden, mit der von Bernd Schultheis bearbeiteten, arrangierten und instrumentierten Musik Giuseppe Becces, gespielt von der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter der Leitung von Frank Strobel.
Der Film dauert etwa 98 Minuten bei einer Geschwindigkeit von 18 Bildern pro Sekunde. Das Bild ist, dem Alter des Films entsprechend und mit einigen Schwankungen, überaus gut. Extras enthält die DVD leider überhaupt keine. Dafür gibt es im Archiv von arte einiges zu stöbern.