Samstag, 24. September 2016

Und sie dreht sich doch!

Kurze und höchst unvollständige Geschichte der rotierenden Raumstation

Die Hauptdarstellerin betritt die große Bühne (Collier's, 22. März 1952,
Illustration Chesley Bonestell nach Vorlagen von Wernher von Braun)
Kürzlich lief wieder einmal Stanley Kubricks epochaler 2001: A SPACE ODYSSEY im Fernsehen. Darin gibt es bekanntlich eine riesige Raumstation in Form eines rotierenden Rades. Genau betrachtet sind es eigentlich zwei Räder, die durch ihre gemeinsame Achse miteinander verbunden sind, und von denen eines noch im Bau befindlich ist, aber auf diesen feinen Unterschied soll es hier nicht ankommen. Die Rotation dient natürlich dazu, durch die Zentrifugalkraft eine Art von künstlicher Schwerkraft im äußeren Bereich der Station zu erzeugen. Die heutige Raumstaion ISS sieht aber ganz anders aus, ist viel kleiner, und vor allem rotiert sie nicht (abgesehen von einem sehr kleinen Betrag, der dazu führt, dass die Station der Erde immer dieselbe Seite zuwendet), und das galt auch für alle ihre Vorgänger (Skylab, die Saljut-Stationen, Mir). Es gab also nie ein reales Gegenstück zum Design der rotierenden Station in 2001: A SPACE ODYSSEY. Haben somit Kubrick und sein Co-Autor Arthur C. Clarke dieses Konzept erfunden? Kenner der Materie wissen natürlich, dass das nicht der Fall ist.

2001: A SPACE ODYSSEY
In diesem Zusammenhang wird gern der Name Pawel Kluschanzew genannt. Im Film DER WEG ZU DEN STERNEN (DOROGA K ZVEZDAM) von 1957 zeigte dieser russische Regisseur ebenfalls eine ringförmige rotierende Raumstation. DER WEG ZU DEN STERNEN ist kein Spielfilm, sondern eine 50-minütige populärwissenschaftliche Dokumentation mit eingestreuten Spielszenen. Neben einer Rückschau, in der der russische Raumfahrtpionier Konstantin Ziolkowski im Mittelpunkt steht, geht es vor allem um die nähere Zukunft der bemannten Raumfahrt, wie sie sich 1957 (im Jahr des Sputnik) aus sowjetischer Sicht darstellte. Kluschanzew hatte dazu den führenden Raumfahrtkonstrukteur Michail Tichonrawow und weitere Experten als Berater. Es wurde gelegentlich auf die Ähnlichkeit gewisser Szenen in DER WEG ZU DEN STERNEN und 2001: A SPACE ODYSSEY hingewiesen, z.B. in diesem Artikel von Mark Wade, Autor der Encyclopedia Astronautica. Hat Kubrick womöglich bei Kluschanzew geklaut? Ich will hier nicht auf die Innenausstattung der jeweiligen Raumstation und auf Details einzelner Szenen eingehen - mir geht es hier nur um die äußere Form der Stationen und um die Rotation. Und hier bekommt Kubrick einen Freispruch erster Klasse, denn das Konzept war schon Jahre vor DER WEG ZU DEN STERNEN in der amerikanischen Populärkultur verankert, und in der theoretischen Raumfahrtliteratur existierte es noch viel länger.

DER WEG ZU DEN STERNEN - es rotiert nur der torusförmige Teil der Station; links unten ist ein Mondraumschiff angedockt
Schon Ziolkowski schrieb 1903, dass man im Weltraum durch Rotation künstliche Schwerkraft erzeugen kann. Das erste konkrete Konzept eines ringförmigen rotierenden Raumflugkörpers legte der österreichisch-slowenische Ingenieur Herman Potočnik vor, in seinem Buch Das Problem der Befahrung des Weltraums - Der Raketenmotor, das er 1928 unter dem Pseudonym Hermann Noordung veröffentlichte. In das allgemeine Bewusstsein ist dieses Werk nicht vorgedrungen - dafür war die Zeit noch nicht reif, und Potočnik selbst konnte durch seinen frühen Tod 1929 auch nicht viel zur Popularisierung seiner Ideen beitragen. Aufmerksam gelesen wurde sein Werk aber von den Mitgliedern des in Berlin ansässigen Vereins für Raumschiffahrt (VfR), in dem sich Wissenschaftler, Techniker und Enthusiasten wie Hermann Oberth, Walter Hohmann, Rudolf Nebel und Max Valier versammelt hatten. Mitglied im VfR war auch der damals noch recht junge Wernher von Braun, der somit um 1930 herum mit Potočniks Ideen in Berührung kam.

Skizze aus Das Problem der Befahrung des Weltraums - Der Raketenmotor von Herman Potočnik
(Quelle: Wikipedia)
Zeitsprung rund 20 Jahre in die Zukunft: Wernher von Braun hat jetzt schon eine Karriere als Chefentwickler der "Wunderwaffe" V2 (und in diesem Zusammenhang als Sturmbannführer der SS) hinter sich, und nun ist er als "Beutewissenschaftler" in den USA. Nach einem fünfjährigen Aufenthalt in Fort Bliss bei El Paso (Texas), der anfangs noch den Charakter einer Internierung trägt, übersiedelt er mit seinem Team (darunter viele alte Kollegen aus Peenemünde) nach Huntsville (Alabama), wo er ziviler Chefwissenschaftler in einer Raketenentwicklungsabteilung der US Army wird. Doch von Braun ist mit seiner Situation nicht zufrieden. Denn sein eigentliches Ziel ist von jeher die bemannte Raumfahrt, und davon will die damalige US-Regierung nichts wissen. Statt Flausen über Raumstationen und Flüge zum Mond und zum Mars will man von ihm atomar bestückbare Mittelstrecken- und Interkontinentalraketen, um den neuen Erzfeind Sowjetunion in Schach zu halten, und der Ausbruch des Koreakriegs 1950 hat diese Position noch zementiert. Doch von Braun ist nicht gewillt, das hinzunehmen, und er geht in die PR-Offensive.

2001: A SPACE ODYSSEY
Ebenso wie der mit ihm befreundete Publizist Willy Ley, der auch schon Mitglied im VfR gewesen war (der aber durch seine Emigration 1935 Nazi-Verstrickungen entging), schrieb von Braun allgemeinverständliche Bücher, mit denen er die Raumfahrt (und insbesondere die bemannte Raumfahrt) popularisieren wollte. Entscheidend wurde aber vor allem eine Artikelserie mit dem Titel Man Will Conquer Space Soon! (ja, das Soon war unterstrichen), die von März 1952 bis April 1954 in acht Ausgaben der Zeitschrift Collier's erschien, und die ungeahnte Breitenwirkung entfaltete. Wernher von Braun, Willy Ley und der Harvard-Astronom Fred Whipple waren die Hauptautoren, auch der in der Luft- und Raumfahrtmedizin tätige Physiker Heinz Haber (der später bei uns durch seine Wissenschaftssendungen in ARD und ZDF bekannt wurde) und andere trugen Artikel bei. Redaktionell betreut wurde die Serie von dem Schriftsteller und Journalisten Cornelius Ryan, damals Mitherausgeber von Collier's (Ryan schrieb auch die Buchvorlage zu THE LONGEST DAY über die Invasion in der Normandie). Ein beträchtlicher Teil des Erfolgs der Artikelserie war den instruktiven und teilweise spektakulären Illustrationen zu verdanken, die von drei damals führenden Grafikern im Grenzbereich von Wissenschaft und Science Fiction stammten, nämlich Fred Freeman, Rolf Klep, und vor allem vom genialen Chesley Bonestell.

Der Anfang des ersten und der komplette zweite Artikel in der Collier's-Serie
(Illustration oben Chesley Bonestell, unten Fred Freeman)
Im Editorial zur Artikelserie, das den Titel What Are We Waiting For? trägt, wird schon fünfeinhalb Jahre vor Sputnik das Wettrennen ins All mit der Sowjetunion ausgerufen, und interessanterweise wird eine öffentliche Äußerung von Kluschanzews Berater Tichonrawow als Beleg dafür zitiert, dass das Rennen auf sowjetischer Seite bereits im Gang ist. Im darauf folgenden ersten Artikel der Serie mit dem Titel Crossing the Last Frontier legt Wernher von Braun seine damaligen Pläne für ein amerikanisches Weltraumprogramm dar. Und in deren Zentrum steht eine ringförmige rotierende Raumstation mit einem Durchmesser von ca. 75 Metern, die in einer Höhe von 1700 km alle zwei Stunden die Erde umkreisen sollte. Die Neigung der Bahn zum Äquator würde ungefähr 65° betragen, so dass durch die Eigendrehung der Erde innerhalb kurzer Zeit große Teile der Erdoberfläche überflogen würden. Die Außenhülle der Station sollte nicht aus einem massiven Material bestehen, etwa einer Aluminium- oder Titanlegierung, sondern aus luftdichtem Nylongewebe, das kompakt verpackt in den Weltraum geschossen und erst dort zu seiner Form aufgeblasen werden sollte. Zur Energieversorgung der Station sollte ein solarthermisches Kraftwerk mit einer Leistung von 500 kW dienen, als Arbeitsmedium war Quecksilber vorgesehen. Bei der Rotationsgeschwindigkeit legt sich von Braun nicht genau fest, aber er gibt zwei Zahlenbeispiele: Wenn sich die Station alle 22 Sekunden um ihre Achse drehen würde, würde im äußeren Bereich eine künstliche Schwerkraft von ⅓ g herrschen, und bei einer Drehung alle 12,3 Sekunden wäre es 1 g. Im kurzen nächsten Artikel erläutert Willy Ley anhand einer sehr detaillierten Schemazeichnung von Fred Freeman weitere technische Einzelheiten der Raumstation.

Weitere Bilder aus den Collier's-Artikeln. Links oben die Macher der Serie (es fehlen Freeman und Ryan)
Der Zweck der Station war einerseits die Erdbeobachtung zu verschiedenen wissenschaftlichen und praktischen Zwecken. So sollte etwa eine ganze Schar von Meteorologen mit ihren Instrumenten permanent die Atmosphäre beobachten, um gleich im Orbit Wetterprognosen zu erstellen - dieser Aspekt findet sich eins zu eins auch in Kluschanzews Raumstation in DER WEG ZU DEN STERNEN. Andererseits sollte die Station als Abflugbasis für bemannte Missionen zum Mond (und später zum Mars) dienen. Von Braun diskutiert auch eine mögliche militärische Nutzung der Station, zur militärischen Aufklärung, aber auch als Träger von Atomraketen. Zum Projekt gehört auch ein astronomisches Observatorium in unmittelbarer Nähe zur Raumstation, aber räumlich abgekoppelt, um nicht durch die Rotation und die Erschütterungen gestört zu werden. Von Braun entwarf damit also einen Vorläufer des Hubble-Teleskops (Fred Whipple geht in einem anderen Artikel weiter auf diesen Aspekt ein). Diese ganzen Ideen hatte von Braun schon länger mit sich herumgetragen. Bereits 1946 hatte er der Army einen schriftlichen Vorschlag für eine solche Raumstation samt von ihm angefertigter Skizze vorgelegt, war aber auf taube Ohren gestoßen.

In der Schwerelosigkeit schwebende Schreibstifte in DISNEYLAND: MAN IN SPACE (oben) und
2001: A SPACE ODYSSEY - hat sich Kubrick hier vielleicht wirklich bedient?
Was an der damaligen Sichtweise auffällt (und das schließt Kluschanzew ein), ist die Tatsache, dass die zukünftigen Fähigkeiten und die Bedeutung unbemannter Satelliten dramatisch unterschätzt werden. Aber man sollte nicht vergessen, dass erst Jahre später die ersten integrierten Schaltkreise vorgestellt wurden - die spektakuläre Entwicklung der Halbleitertechnik war damals noch nicht im Entferntesten absehbar, und daran hing auch die Entwicklung der Satellitentechnik zu einem großen Teil. - Die Collier's-Serie wurde im April 1954 sozusagen mit der Königsdisziplin abgeschlossen: Wernher von Braun diskutiert den bemannten Flug zum Mars, den er vage für Mitte des 21. Jahrhunderts prognostiziert. Dabei erwähnt er auch eine Option, die Eingang in die Science Fiction (einschließlich 2001: A SPACE ODYSSEY) gefunden hat, nämlich die Möglichkeit, Crew-Mitglieder für die Dauer der Reise in einen Tiefschlaf zu versetzen.

Willy Ley (links) und Heinz Haber in DISNEYLAND: MAN IN SPACE
Die Artikelserie hat das Thema Raumfahrt ungemein populär gemacht und aus der Sphäre der Science Fiction in die einer realen Option in einer greifbar nahen Zukunft versetzt. Und sie machte aus einem weithin unbekannten deutschen Wissenschaftler mit etwas dubioser Vergangenheit einen strahlenden amerikanischen Helden des Fortschritts (von Braun und seine Frau wurden 1955 US-Bürger). Wernher von Brauns Popularität wurde nun durch Radio- und Fernsehinterviews quasi zum Selbstläufer, und auf diesen Zug sprang auch Disney auf. In der Serie DISNEYLAND, die von Disney in Zusammenarbeit mit dem Sender ABC produziert wurde, wurde das Thema der Artikelserie in aktualisierter Form ins Fernsehen getragen, wobei verbal vorgetragene Informationen mit Schaubildern und Modellen auf sehr unterhaltsame Weise mit witzigen und gelegentlich fast surrealen Zeichentricksequenzen, Animationen mit Modellen und einigen Realaufnahmen mit Schauspielern kombiniert wurden.

DISNEYLAND: MAN AND THE MOON - Wernher von Braun stellt das neue Modell seiner Raumstation vor
In der ersten der drei Folgen, MAN IN SPACE (1955), erläutern Willy Ley, Wernher von Braun und Heinz Haber Grundsätzliches zu den physikalischen Grundlagen, zum Ablauf eines Raumflugs und zur (begrenzten, aber doch gegebenen) Tauglichkeit des Menschen fürs All. In MAN AND THE MOON (1955) geht es um den bemannten Flug zum Mond - vorerst noch ohne Mondlandung, sondern nur mit einer einmaligen Umrundung des Trabanten, wobei erstmalig seine Rückseite betrachtet und fotografiert wird. Von Braun, diesmal der einzige Experte im Studio, erklärt den Ablauf der Mission, wobei auch diesmal eine rotierende Raumstation als Startpunkt dient. Im Vergleich zu der Version von 1952 ist diese nun etwas kleiner, hat drei statt zwei dicke Streben, und zusätzlich viele "Speichen" (in Wirklichkeit Kühlrohre), die an einen Fahrradreifen erinnern. Während die Station aus Collier's mit Sonnenenergie betrieben wurde, besitzt die neue Version einen Kernreaktor im nicht rotierenden Zentrum der Station (wo auch Raumschiffe andocken können). Der Grund für diesen Sinneswandel wird nicht erklärt, ich kann mir aber vorstellen, dass er von den seit 1954 existierenden Atom-U-Booten mit kompakten Kernreaktoren an Bord inspiriert wurde. Diese Folge hat auch eine ausgedehnte Spielsequenz mit den vier Astronauten in ihrem Mondraumschiff, die sich in Ausstattung und Tricktechnik nicht hinter zeitgenössischen Hollywoodfilmen über Raumflüge verstecken muss, dabei aber - allen damaligen Fehleinschätzungen zum Trotz - viel realistischer ist. In MARS AND BEYOND (1957) schließlich dient dieselbe Raumstation wie in der zweiten Folge auch als Startpunkt zum Roten Planeten. Von Braun und sein Kollege Ernst Stuhlinger warten aber mit einer neuen und extravaganten Idee auf: Die Flotte von sechs Raumschiffen, die gemeinsam die Reise absolvieren, wird nicht von konventionellen chemischen Treibstoffen angetrieben, sondern von Ionentriebwerken, wobei Kernreaktoren an Bord der Schiffe die Energie für einen kontinuierlichen Betrieb der Triebwerke liefern und Cäsium als Medium zur Erzeugung des Rückstoßes dient.

DISNEYLAND: MAN AND THE MOON - die Station wird im Orbit zusammengebaut
Diese drei Sendungen sind in mehrerlei Hinsicht auch heute noch sehenswert; inszeniert und moderiert wurden sie von Ward Kimball. Ein Modell der Raumstation aus den Folgen 2 und 3 wurde in der zweiten Hälfte der 50er Jahre von der Firma Strombecker als Plastikbausatz im Maßstab 1:300 (bezogen auf die Maße, die von Braun genannt hat) als Disney Space Station verkauft. Basierend auf den originalen Druckgussformen von damals, wurde der Bausatz in den 90er Jahren erneut herausgebracht - diesmal mit eher nostalgischem statt futuristischem Flair.

CONQUEST OF SPACE
Wir können also festhalten, dass die rotierende Raumstation 1952 in der amerikanischen Populärkultur angekommen ist, und auch so schnell nicht wieder verschwand. Und von der Populärkultur im Allgemeinen ist es nicht mehr weit bis Hollywood. 1955 brachte Paramount CONQUEST OF SPACE in die Kinos. Regisseur war Byron Haskin (der kurz zuvor den Klassiker THE WAR OF THE WORLDS inszeniert hatte), Produzent war George Pal - da waren namhafte Leute am Werk. Wie im Eröffnungsartikel der Collier's-Serie gibt es eine Raumstation, von der aus eigentlich demnächst der erste Testflug zum Mond starten sollte. Doch da wird der Testflug vom Hauptquartier auf der Erde kurzfristig abgesagt und stattdessen der sofortige Flug zum Mars befohlen. Der Kommandant der Station sträubt sich heftig gegen diese Entscheidung, beugt sich aber schließlich dem Befehl und übernimmt auch die Rolle als Kommandant des Marsraumschiffs. Doch dummerweise sind da die Gefahren der kosmischen Strahlung, die das Nervensystem angreift. Nachdem anfangs ein Besatzungsmitglied der Station (als warnendes Exempel) einen minder schweren Anfall erleidet, trifft es auf dem Flug zum Mars ausgerechnet den Kommandanten mit voller Härte. Er steigert sich in einen religiösen Wahn hinein und bringt mit erratischem Verhalten die Mission in höchste Gefahr ...

CONQUEST OF SPACE
CONQUEST OF SPACE wurde inspiriert von dem fast gleichnamigen Buch The Conquest of Space, das Willy Ley (Text) und Chesley Bonestell (Illustrationen) schon 1949 herausgebracht hatten, sowie von Wernher von Brauns Buch Das Marsprojekt bzw. The Mars Project, das er im Wesentlichen schon 1948 geschrieben hatte, das aber erst 1952 auf Deutsch und 1953 auf Englisch erschien. Der etwas schwachbrüstige Plot um den Kommandeur mit Weltraum-Rappel stammt allerdings nicht aus diesen Büchern, sondern wurde erst für den Film erfunden. Chesley Bonestell war auch direkt am Film beteiligt, als Verantwortlicher für Astronomical Art, wie es in den Credits heißt. Wenig überraschend ist das Design des Films sehr eng an die Collier's-Artikel angelehnt. Beispielsweise erkennt man in meinem ersten Bild oben deutlich eine Art Aufsatz auf dem eigentlichen ringförmigen Körper der Station. Es handelt sich dabei wohl um die gekrümmten Spiegel des Solarkraftwerks, die die Sonnenstrahlen auf eine Metallröhre fokussieren, in der das Quecksilber zirkuliert und dabei erhitzt wird. Und einen solchen Aufsatz besitzt auch die Station in CONQUEST OF SPACE - ebenso wie die in QUEEN OF OUTER SPACE.

CONQUEST OF SPACE
1958 erschien QUEEN OF OUTER SPACE, den ich leider nicht online auftreiben konnte - die Screenshots sind aus dem Trailer (ich habe für diesen Artikel keine DVDs gekauft, es gibt aber zu allen hier erwähnten Filmen welche). Auf der Venus gibt es nur Frauen, die von einer permanent maskierten männerhassenden Königin regiert werden. Die rotierende Raumstation im Film wird den Informationen nach, die ich finden konnte, schon am Anfang des Films zerstört, durch Todesstrahlen der Venusianerinnen. Eher versehentlich fliegt dann ein Raumschiff mit vier Astronauten zur Venus und rückt die Dinge (aus irdisch-männlicher Sicht) wieder zurecht. Eine der Venus-Damen wird von Zsa Zsa Gabor gespielt, und Eric Fleming hat sowohl in QUEEN OF OUTER SPACE als auch in CONQUEST OF SPACE eine Hauptrolle (etwas später war Fleming der Star der Westernserie RAWHIDE an der Seite des Nachwuchsdarstellers Clint Eastwood). Regisseur von QUEEN OF OUTER SPACE war ein Edward Berns. Dieser durchaus vielbeschäftigte Regisseur hatte 1956 für dasselbe Studio (Allied Artists, das frühere Monogram) WORLD WITHOUT END inszeniert, und aus diesem Film wurden einige Szenen in QUEEN OF OUTER SPACE wiederverwendet. Auch Kostüme und Utensilien aus FORBIDDEN PLANET sind hier offensichtlich einer Zweitverwertung zugeführt worden. Heute gilt dieser recyclingfreudige Film als ein Camp-Klassiker.

QUEEN OF OUTER SPACE - eine Raumstation und ihr Ende, Teil 1
Von 1963 bis 1968 (mit längeren Pausen zwischen den Staffeln) flimmerte die Puppentrickserie SPACE PATROL über die englischen Bildschirme. In den USA hieß die Serie PLANET PATROL, weil es in den 50er Jahren schon eine amerikanische Serie mit dem Titel SPACE PATROL gab. Das ringförmige Ding in der Serie fliegt aktiv durch das All, ist also eher ein Raumschiff als eine Raumstation, und es rotiert auch nicht selbst, sondern es wirbelt nur eine Art Kraftfeld darum herum. SPACE PATROL galt lange als verloren, aber vor ungefähr 20 Jahren fand Roberta Leigh, die Schöpferin der Serie, längst vergessene Kopien wieder.

SPACE PATROL
Bei MUTINY IN OUTER SPACE (1965) haben wir wieder das von Braun'sche Konzept in Reinkultur: Die rotierende Raumstation als Ausgangs- und Rückkehrpunkt für Flüge zum Mond. Auf dem Erdtrabanten gibt es bereits eine bemannte Station, und dort wurden kürzlich mysteriöse Eishöhlen gefunden. Als ein Raumschiff Proben aus den Höhlen zur Raumstation bringt, ist einer der beiden Astronauten mit einem tödlichen Pilz infiziert. Der Kommandant der Raumstation ist stark überarbeitet, und er wird zwar nicht komplett verrückt wie sein Kollege aus CONQUEST OF SPACE, aber er trifft fatale Fehlentscheidungen, die es dem Pilz ermöglichen, den Körper des mittlerweile toten Astronauten zu verlassen und die ganze Station zu überwuchern. Da der Kommandant weiterhin uneinsichtig ist, bahnt sich unter seinen Offizieren eine Meuterei an, um zu retten, was noch zu retten ist. Unterdessen erwägt man im Hauptquartier, die Station mit Atomraketen zu vernichten, um eine Kontamination der Erde mit dem Pilz zu verhindern ...

MUTINY IN OUTER SPACE - die Station erst blitzblank und dann vom Pilz überwuchert
Der von einem Hugo Grimaldi (sowie ungenannt Arthur C. Pierce) inszenierte MUTINY IN OUTER SPACE ist ein ziemlicher Billigheimer. Die Handlung ist einfallslos, die Spezialeffekte sind dürftig. Unter den Namen der Beteiligten fallen nur zwei Söhne berühmter Väter ins Auge, Harold Lloyd jr. als Darsteller und Josef von Stroheim beim Tonschnitt. Die physikalisch-technischen Sitten sind ein bisschen verlottert, denn bei Innenaufnahmen in der Station ist der Korridor nach links gekrümmt und nicht nach oben, wie es sein müsste, wenn die äußere Begrenzung durch die Rotation zum Boden wird. Mit anderen Worten, die künstliche Schwerkraft wirkt hier nicht radial nach außen, sondern entlang der Drehachse, was natürlich kompletter Humbug ist. Immerhin gibt es auch einen Fortschritt zu vermelden: Während die Station in CONQUEST OF SPACE eine reine Männerdomäne ist, gibt es hier eine Wissenschaftlerin und einen weiblichen Lieutenant, und beide dürfen nicht nur gut aussehen, sondern auch technische Geräte bedienen und eigene Entscheidungen treffen. (Kluschanzews Raumstation hat übrigens einen sehr hohen Frauenanteil.) Die blonde Lt. Engstrom in MUTINY IN OUTER SPACE wirkt sogar noch etwas autonomer als Lt. Uhura, die im Folgejahr ihren Platz auf der Brücke der Enterprise einnahm. Es gibt in MUTINY IN OUTER SPACE übrigens auch einen Doktor, der sich freundschaftlich mit dem uneinsichtigen Kommandanten wegen dessen angegriffener Gesundheit kabbelt, und der in dieser Hinsicht an "Pille" erinnert.

MUTINY IN OUTER SPACE - hier geht es linksrum statt nach oben
Ebenfalls 1965 drehte Anthony M. Dawson alias Antonio Margheriti innerhalb von nur drei Monaten seine Gamma-Eins-Tetralogie. Die vier Filme, in denen jeweils die rotierende Raumstation Gamma 1 vorkommt, kamen aber erst 1966 ins Kino, als auch die Enterprise und die Orion in die unendlichen Weiten aufbrachen. Bekannter als die italienischen dürften die englischen Titel sein, die da lauten: WILD WILD PLANET, WAR OF THE PLANETS, WAR BETWEEN THE PLANETS und SNOW DEVILS. Ich kenne keinen davon, der Screenshot ist aus einem Trailer für WAR OF THE PLANETS. 1968 schließlich, im Jahr, als 2001: A SPACE ODYSSEY das Licht der Welt erblickte, inszenierte der durch seine brachialen Yakuza-Filme bekannte Kinji Fukasaku als Sequel zu Margheritis Tetralogie den Kracher THE GREEN SLIME mit der weiterentwickelten Raumstation Gamma 3, der in deutlich unterschiedlichen japanischen und amerikanischen Versionen veröffentlicht wurde.

WAR OF THE PLANETS
Wurde eigentlich auch Kluschanzew von den Collier's-Artikeln beeinflusst, zumindest indirekt? Davon gehe ich aus, denn sein Berater Tichonrawow wusste sicher darüber Bescheid. Die hochrangigen sowjetischen Raumfahrtforscher (und zu denen zählte Tichonrawow) wurden vom Geheimdienst mit allen verfügbaren Informationen über ihre amerikanischen Kollegen und deren Aktivitäten versorgt, und die Collier's-Artikel waren ohnehin für jedermann frei zugänglich. Jeder sowjetische Diplomat konnte sie mit seiner Post in die Heimat schicken, um sie den interessierten Kreisen zugänglich zu machen, und das ist sicher auch geschehen.

THE GREEN SLIME - eine Raumstation und ihr Ende, Teil 2
Übrigens fand auch Disney Anklang in der Sowjetunion. Im August 1955 fand in Kopenhagen der sechste International Astronautical Congress (IAC) statt, und dort wurde in einer Sondervorführung DISNEYLAND: MAN IN SPACE gezeigt. Bei diesem Kongress waren auch sowjetische Wissenschaftler zugegen. Einer von ihnen war der Physiker Leonid Sedow, der Vorsitzende einer Kommission der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, die das Sputnik-Programm vorantrieb. Sedow bat um leihweise Überlassung einer Kopie des Films, um ihn in der Sowjetunion zu zeigen. Doch Walt Disney persönlich ließ ihn abblitzen. Und zwar, wie sich Ward Kimball erinnerte, weil die sowjetische Regierung Ende der 30er Jahre eine Kopie von SCHNEEWITTCHEN UND DIE SIEBEN ZWERGE "für zwei Wochen" entliehen hatte und erst zehn Jahre später in arg ramponiertem Zustand zurückgab. Doch Sedow gab nicht so schnell auf. Im September des Jahres schrieb er einen Brief an Frederick C. Durant, den damaligen Vorsitzenden der International Astronautical Federation IAF (die die jährlichen IACs veranstaltet). Eine Überlassung einer Kopie, zu welchen Bedingungen auch immer, würde die Ost-West-Zusammenarbeit beträchtlich voranbringen, meinte er in dem Brief. Ob sich Durant als Vermittler einspannen ließ, und ob Sedow doch noch eine Kopie von MAN IN SPACE bekam, ist mir allerdings nicht bekannt.

DISNEYLAND: MAN AND THE MOON - die Reise zum Mond kann beginnen
Und wie steht es nun mit Kubrick? Ich nehme an, dass auch er schon in den 50er Jahren von Wernher von Brauns Ideen gehört oder gelesen hat, weiß es aber nicht mit Bestimmtheit. Aber da ist ja auch noch Arthur C. Clarke, und bei dem ist die Beweislage eindeutig. Ausgangspunkt der gemeinsamen Arbeit an 2001: A SPACE ODYSSEY war Clarkes 1951 erschienene Kurzgeschichte The Sentinel, und ab 1964 schrieben Clarke und Kubrick parallel und in enger Abstimmung den Roman und das Drehbuch zum Film. Und Clarke war nicht nur Schriftsteller, sondern auch ein Wissenschaftler, der sich intensiv mit Fragen der Raumfahrt befasste. Schon 1945 hatte er als Erster in einem wissenschaftlichen Artikel vorgeschlagen, geostationäre Satelliten zum Aufbau eines weltumspannenden Kommunikationsnetzes zu verwenden. Die Eigenschaften der geostationären Bahn waren schon länger bekannt, aber erst Clarke erkannte, dass nur drei solche Satelliten, die ein gleichseitiges Dreieck aufspannen, genügen, um den größten Teil der Erdoberfläche (alles außer den Polgebieten) abzudecken. Clarke war auch seit 1934 langjähriges Mitglied und zeitweise Vorsitzender der British Interplanetary Society, so etwas wie das britische Gegenstück zum VfR (aber anders als der deutsche Verein wurde die Interplanetary Society nie von staatlichen Stellen vereinnahmt).

2001: A SPACE ODYSSEY
1951 fand der zweite IAC in London statt, und auf dem Kongress wurde ein ausführlicher Vortrag von Wernher von Braun (der nicht persönlich anwesend war) über die Möglichkeit einer Reise zum Mars verlesen (und darin wurde bestimmt auch die Raumstation erwähnt). Und Vorsitzender dieses Londoner Kongresses war kein anderer als Arthur C. Clarke. Als Schriftsteller schrieb Clarke nicht nur Science Fiction, sondern auch populärwissenschaftliche Bücher über Raumfahrt mit ähnlicher Ausrichtung wie die von Willy Ley und von Braun. Und in mindestens einem davon (nämlich The Exploration of Space von 1951) wird die Erzeugung künstlicher Schwerkraft in rotierenden Raumfahrzeugen diskutiert. Clarke steckte also tief drin in der Materie, und er war mit dem Konzept der rotierenden Raumstation mindestens seit 1951 vertraut. Es brauchte also nicht den Umweg über Kluschanzew, um ihm (und damit Kubrick) diese Idee einzugeben.

Nach oben gekrümmte Flure bei Kluschanzew (oben) und Kubrick - prinzipbedingt notwendig,
wenn man die Physik ernst nimmt, und deshalb kein Indiz für Ideenklau
Diese kleine Chronologie bis 1968 erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. 2001: A SPACE ODYSSEY war zweifellos für lange Zeit der tricktechnische und ästhetische Höhepunkt der Entwicklung, aber er war nicht einmal ein vorläufiger Endpunkt, denn schon im selben Jahr 1968 ging es ja mit THE GREEN SLIME weiter. Danach gab es noch viele Raumstationen, die ganz oder in Teilen rotierten, in letzter Zeit etwa in THE MARTIAN und ELYSIUM. Aber weil dieser Artikel höchst unvollständig ist, ist er hier auch schon (fast) zu Ende.

2001: A SPACE ODYSSEY
Mitglieder der Houston Section des American Institute of Aeronautics and Astronautics (AIAA) haben die Collier's-Artikel in hoher Qualität gescannt und in acht aufeinanderfolgenden Ausgaben ihrer Zeitschrift Horizons wiederveröffentlicht. Hier kann man die Hefte als PDF frei herunterladen, es handelt sich um die Ausgaben July/August 2012 bis September/October 2013. Dafür bedanke ich mich (unbekannterweise) bei den Leuten, denn es handelt sich um faszinierenden Lesestoff. Meine Collier's-Bilder hier habe ich aus diesen PDFs extrahiert.

Mittwoch, 14. September 2016

Vienna und die reitende Frau mit der Peitsche haben eine große Schwester

CALIFORNIA
USA 1947
Regie: John Farrow
Darsteller: Barbara Stanwyck (Lily Bishop), Ray Milland (Jonathan Trumbo), Barry Fitzgerald (Michael Fabian), George Coulouris (Pharaoh Coffin), Anthony Quinn (Don Luis Rivera y Hernandez), Albert Dekker (Pike)



Ich liebe exzentrische Westerns! Und die Frage nach meinem liebsten Western würde ich wohl mit JOHNNY GUITAR beantworten, dicht gefolgt von FORTY GUNS. Beide stellen traditionelle Elemente des Genres auf den Kopf und bleiben durch ihre wuchtig expressionistische Inszenierung (ersterer in fast psychedelischen Trucolor-Farben, letzterer in brutal kontrastiertem Schwarzweiss) lange im Gedächtnis. Beide wurden von Jonathan Rosenbaum in seiner Liste „A Dozen Eccentric Westerns“ gewürdigt und beide haben, wenn man so möchte, eine große Schwester. Ihr Name ist CALIFORNIA.

Kalifornien, oder: Das gelobte Land

Die Vorstellung, dass CALIFORNIA so etwas wie ein „normaler“ Western sein könnte, gerät schon in den ersten Sekunden ins Schwanken. Das von einem Chor auf ausgesucht pathetische Weise gesungene Titellied hat gerade die opening credits begleitet – und der Film kann losgehen... Oder auch nicht.


Statt eines konventionellen Filmanfangs...
...eine pastorale Sinfonie mit sakral-hymnischer Note

Idyllische Naturbilder werden in einer „pastoralen Sinfonie“ (im Gegensatz etwa zu einer Stadtsinfonie) aneinandergereiht, während Voice-Overs, gesprochen von mehreren Figuren, das ganze kommentieren. Gott persönlich habe Kalifornien geschaffen und dann aufgehört, weil er sich danach ja nur wiederholen könnte, so die Stimme eines alten Mannes. Die Bäume, sagt ein kleiner Junge, seien riesig genug, um ganze Kirchen daraus zu schnitzen – nein, nicht nur Kirchen, sondern zusätzlich auch eine Synagoge und eine baptistische Mission könne man daraus bauen. Jemand habe eines Nachts mal eine Schaufel aus Versehen im Boden stecken lassen, sagt ein Mann mit eindeutig hispanischer Herkunft – am nächsten Morgen war ein blühender Baum voller Früchte daraus geworden. Kurz: Wer nach diesen zwei Minuten nicht vollends davon überzeugt ist, dass Kalifornien das dufteste Fleck Erden auf der Welt sei, dem ist nicht mehr zu helfen.
Der Gedanke, dass auf eine derartig bizarre Art und Weise ein Hollywood-Mainstream-Western aus den 1940er beginnt, ist schon recht abwegig. Solche pastoral-religiösen Sinfonien kennt man vielleicht aus den späten Filmen Terrence Malicks (dort lediglich noch pathetischer und weniger „demokratisch“ in der Religiosität). Bemerkenswert ist auch: Kalifornien ist nicht nur ein gelobtes Land, sondern auch eine multikulturell-tolerante Utopie, in dem nicht nur WASPs, sondern auch jüdische und spanisch-sprachige Amerikaner Platz haben sollen...


Ein Treck geht gen Westen

... und daher ist es auch logisch, dass ganz viele Leute in dieses gelobte Land gehen möchten. Zum Beispiel ein Siedler-Treck, der von dem strengen Jonathan Trumbo geleitet wird: offensichtlich ein Mann der Pistole und wenigen Worte, der als Bodyguard der Siedler fungiert und dafür von ihnen bezahlt wird. Bei einem Zwischenstopp in der Stadt nimmt der Treck einen komischen Vogel mit: Lily Bishop, eine Frau, die gerade von gutgläubigen respektablen Damen (heute würden sie sich wohl als „besorgte Bürgerinnen“ bezeichnen) aus einem Saloon rausgeworfen wird, weil sie „sündig“ und „böse“ sei. Gegen den ausdrücklichen Widerstand Trumbos wird Lily von dem alten Farmer Michael Fabian in den Treck aufgenommen.
Farmer ist allerdings wohl nicht der adäquate Begriff: Fabian ist Winzer. Er trägt ein paar ausgetrocknete Stöcke mit sich, aus denen später Reben wachsen sollen. Trumbo glaubt nicht so recht daran, doch Fabian erklärt ihm in poetischen Worten, was seine Reben machen werden: „They catch the sun and save it, and then they let loose the warmth in the heart of a man when he drinks the wine.“
Die Wärme in Trumbos Herzen ist allerdings noch nicht so ersichtlich geworden, auch, wenn er ein paar ordentliche Schlücke Wein gut gebrauchen könnte. Er schnauzt die Neue, Lily, zunächst an, weil sie sich mit dem rationierten Wasser die Haare wäscht. Dabei kann sich Trumbo durchaus auf Seite der Mehrheit fühlen: die meisten Trecker haben den Rat der bes... gutgläubigen Frauen beherzigt und meiden Lily wie die Pest, kehren ihr den Rücken zu, sobald sie etwa bei den abendlichen Gesängen und Tänzen auftaucht. Nur der gute alte Fabian spricht gerne mit ihr und redet ihr gut zu („California will have a room for you!“). Nichtsdestotrotz gönnt sich Lily ihre eigene kleine Rache. Abends zockt sie die Trecker beim Kartenspiel ab, und schlägt dann auch Trumbo – nicht, ohne ihn mit einem kleinen „Trinkgeld“ (O-Ton: „grave money“) und einigen sarkastischen Bemerkungen wie einen Deppen dastehen zu lassen. Später kommt Trumbo in ihr Zelt. Irgendwie liegt sexuelle Spannung in der Luft und sie küssen sich. „Mehr“ wird er jedoch nicht bekommen, sagt sie ihm sarkastisch, worauf er ihr eine schallende Ohrfeige gibt – und hier passiert etwas, was man in einem Hollywood-Film der 1940er Jahre kaum erwarten würde: sie bleibt davon völlig unbeeindruckt, und Trumbo, der plötzlich wie ein bemitleidenswertes und hilfloses Würstchen wirkt, zieht dann sprachlos ab, während sie sich dann leicht amüsiert die Wange reibt. Ein Mann, der in vielen anderen Filmen der harte Macker wäre, wird in wenigen Minuten lächerlich gemacht, während eine Frau die Hose anhat – und zwar wortwörtlich.


Zunächst verachtet, verbannt und im roten Technicolor-Kleid...
...zieht Lily Bishop später wörtlich und metaphorisch Hosen an.

Die Stanwyck, die in einem flammend roten Kleid in den Film eingeführt wird (ergo: aus dem Saloon geschmissen wird) – trägt während der Treck-Fahrt eine Hose und ein Männerhemd und nimmt damit Joan Crawfords Aufmachung in JOHNNY GUITAR (wenngleich in weniger flamboyanten Farben) sowie ihr eigenes Kostüm als „high-riding woman with a whip“ in FORTY GUNS vorweg. Worin CALIFORNIA ebenfalls JOHNNY GUITAR einiges vorweg nimmt, ist die merkwürdige, extrem künstliche Farbgebung, die den Film über weite Strecken eher gemalt als fotografiert aussehen lässt. Bereits einige der pastoralen Bilder im Prolog sehen wie gemalte Studioattrappen aus – doch als der Treck vorangeht, sieht CALIFORNIA aus wie die künstliche Plastikwelt eines Nebenstudios aus (was er wohl auch war). Es ist ein Look, der durchaus kritisiert wurde und wird, die dem Film aber, wie ich finde, eine ungewöhnliche, sehr expressionistische Note gibt.
Manch ein Gestein mag nicht nur so aussehen, sondern fast schon nur durch den Anblick riechen wie Plastik – das ändert nichts daran, dass CALIFORNIA ein unglaublich gutes Gespür für seine Räumlichkeiten und den Platz seiner Figuren darin hat. So sehr, dass er über weite Strecken vollkommen auf Schnitte verzichtet. Dies ist ein Punkt, der wiederum FORTY GUNS in Erinnerung ruft, ein Western mit zwei rekordverdächtig langen Plansequenzen: die eine, bei der mehrere Figuren die Hauptstraße des Orts herunter- und dann wieder zurücklaufen, und die andere mit einem Dialog in einem Raum, der in eine Schießerei mündet und schließlich in den Selbstmord einer Nebenfigur in einem Nebenraum. CALIFORNIA hingegen, und das zehn Jahre vor FORTY GUNS, besteht fast nur aus mehr oder weniger langen Plansequenzen.


Trumbos langer Gang durch das Nachtlager – eine
vierminütige Plansequenz
Bei der Erstsichtung fielen mir zwei Stück besonders auf, doch bei der Zweitsichtung merkte ich erst, dass fast ausnahmslos jede Szene schnittlos gefilmt ist. Ein Bravourstück ist sicherlich die erste und ich glaube auch längste Plansequenz des Films. Der Treck begibt sich zur Nachtruhe und Trumbo dreht eine kleine Kontrollrunde: gibt dem einen Siedler Tipps bei der Reparatur des Rads, unterhält sich mit einem Jugendlichen, der selbstsicher (etwas zu selbstsicher sogar) mit einem Gewehr hantiert, schimpft Lily aus, weil sie sich mit Wasser die Haare gewaschen hat, unterhält sich mit Fabian über den Weinbau und äußert darüber sein Unverständnis, verfolgt dann das Gespräch zwischen Fabian und dem Trecker Pennock, der kein Farmer ist, sondern ein (leicht schmierig wirkender) Geschäftsmann. Die schnittlos über einen ganzen Treck und viele Dutzend Meter gefilmte Szene endet schließlich erst viereinhalb Minuten später (die gleich darauf folgende Szene ist mit knapp zweieinhalb Minuten zwar kürzer, aber ebenso schnittlos und kunstvoll choreografiert gefilmt). Einer der großen Verluste der Filmgeschichte ist sicherlich, dass Max Ophüls in seinem amerikanischen Exil keinen Western drehte. Einige wenige Momente in CALIFORNIA (wenn Lily etwa durch eine überfrachtete Ball-Terrasse rennt und die Kamera ihr dabei mit tänzelnder Leichtigkeit folgt) geben einem ein Gefühl davon, wie das hätte aussehen können.
So – noch nicht einmal 20 Minuten des Films sind vorbei, und schon weist er viele exzentrische Elemente auf: eine weibliche Hosenrolle in einem eigentlich „ultramännlichen“ Genre, eine multikulturelle Utopie in einem eigentlich „ultraamerikanischen“ Genre, eine Bevorzugung von kunstvoller mise-en-scène gegenüber konventionellen Schuss-Gegenschuss-Montagen, ein Dekor, das seine extreme Künstlichkeit stark betont, eine ausgefeilte und eher malerische als fotografische Farbdramaturgie, ein Bruch konventioneller Erzähldramaturgie mit dem „gelobten Land“-Prolog.
Und was machen wir mit den Namen? Zum Beispiel mit Jonathan Trumbo? Trumbo? Ein außergewöhnlicher Name, den man nicht so leicht vergisst – so etwa ein vorbei reitender Kapitän der Kavallerie, der Fabian etwas von einem Trumbo erzählt, der vor Jahren einmal desertiert ist (wie sich später herausstellt, war es eben dieser Trumbo, und diese Geschichte holt ihn dann am Ende auch ein). Und der geneigte Cinephile? Denkt natürlich an die große Nummer 1 unter den Hollywood Ten, Dalton Trumbo: das berühmteste Opfer der antikommunistischen Hexenjagd in Hollywood während der McCarthy-Ära. Bloß, dass CALIFORNIA im Januar 1947 seine Kinopremiere hatte, während die HUAC-Hexenjagd im Herbst dieses Jahres erst richtig losging. Ein Zufall also, allerdings der sehr interessanten Art: auch Jonathan Trumbo sieht sich mit politischen Intrigen konfrontiert, geführt von skrupellosen Leuten mit einem ganz undemokratischen Verständnis von Gesellschaft und Politik.
Und Michael Fabian? Ist das etwa eine Anspielung auf die Fabian Society, diese Gruppierung britischer Intellektueller, die ohne Revolution, sondern mit einem evolutionären Sozialismus die Gesellschaft ändern wollte und an der Gründung der Labour Party Anteil hatte? Fabian ist zwar kein Intellektueller, sondern voll und ganz ein Bauer (mit einer gleichwohl ungewöhnlichen Spezialisierung), aber irgendwie passt das: Fabian hält nichts von Hektik und überstürzten Entscheidungen. Er denkt nicht nur in wirtschaftlichen, sondern auch in politischen und sozialen Fragen wie ein Winzer: langsam und mit viel Geduld die Pflanzen wachsen lassen, sodass von dieser nachhaltigen Methode später viele etwas davon haben. Später im Film (und das muss nicht unbedingt als Widerspruch aufgefasst werden) entpuppt er sich als Vertreter einer agrarisch-linken Politik in der „Tradition“ der (gemäß der Chronologie des Films) späteren People‘s Party bzw. Populisten. Aber dazu später mehr.
Wo waren wir stehen geblieben. Ach ja: „The Book calls it Kanaan, but we call it California!“ sagt Fabian zu Lily über den Zielort des Trecks. Wer einen Treck-Western à la THE BIG TRAIL erwartet, wird aber enttäuscht, denn dem kommt der Kalifornische Goldrausch in die Quere!


Gold Rush

Dieser wird nun doch über eine Montage erzählt. Merkwürdig anzusehen ist er dennoch. Die Nachricht vom Goldfund in Kalifornien verwandelt einige der Trecker plötzlich in goldgierige, zombie-ähnliche Wesen, die vor der Kamera wie in Trance paradieren, während ein Chor pathetisch „Gold, Gold, Gold, Gold“ deklamiert. Nun: zumindest der film noir wäre ein schlagendes Argument gegen die Vorstellung, dass Filme aus dem Hollywood der 1940er Jahre eine „unsichtbare Regie“ pflegten. CALIFORNIA aber durchaus auch: etwas, was aussah wie ein Treck-Western, bekommt plötzlich sich aus dem Nichts eine andere Richtung mit einer Montage-Sequenz, die sehr betont expressiv und artifiziell ist.


Die Siedler fallen nach der Verkündung des Goldfundes in zombieartige Trance...

... und hinterlassen ein Trümmerfeld!

Der ganze Treck lässt panisch alles liegen und reitet auf Pferden ohne Wagen oder zumindest ohne Gepäck Richtung Kalifornien. So auch Lily, die sich zusammen mit Pennock auf dem Weg macht – was Trumbo ganz und gar nicht passt und weshalb er sich schlussendlich nicht bei ihr für die Ohrfeige entschuldigt. In der großen Panik bekommt Trumbo dann aber eine Peitsche ins Gesicht geschlagen und fällt von seinem hohen Pferd auf den Boden – etwas, was ihm Lily wenige Minuten im Film zuvor gewünscht hatte.
In einem Trümmerfeld aus liegen gelassenen Sachen bleiben also Trumbo mit starken Schulterschmerzen zurück und Fabian, der es eh nicht eilig hat, nach Kalifornien zu gehen, weil er sich aus Gold nichts macht und die Erde und die Sonne auch unabhängig von dem Goldvorkommen für seine Reben da sein werden. Er übernimmt die „Leitung“ des Zwei-Mann-Trecks: sprich, er pflegt Trumbo gesund. Zusammen brechen sie dann auf und erreichen die nächste Stadt. Fabian hat Trumbo darauf hingewiesen, dass die Verletzung mehrere Wochen zur Heilung bräuchte und so können wir annehmen, dass seit der überstürzten Auflösung des Trecks und der Ankunft der beiden mehrere Wochen vergangen sind.


Pharoah City – oder: Bambule in der Gangster-Stadt

In der nächsten Stadt angekommen, die den merkwürdigen Namen Pharaoh City trägt, möchte Fabian mit einem alten Bekannten anstoßen (und zwar mit seinem selbstgebrannten Brandy, den sein jüngerer Begleiter viel zu stark findet), während Trumbo in den nächsten Saloon geht, der merkwürdigerweise Lilys Namen trägt. Im Saloon trifft er den schmierigen Geschäftsmann des Trecks, Pennock, wieder und setzt sich mit ihm zum Trinken hin. Pennock weist Trumbo darauf hin, schnell zu bestellen, denn „sie“ möge es nicht, bei ihrem Auftritt gestört zu werden. Auftritt Lily, die auf die Bühne erscheint, dann nonchalant durch den Saloon läuft und dabei ein Lied singt, in dem sie  preist, was für ein toller Saloon doch Lilys Saloon sei, dass es toll sei, wie Goldgräber nach Gold suchen und ihre Beute dann bei ihr ausgeben, und dass ein respektables Mädchen bald heiraten wird. Auch bei Trumbo kommt sie vorbei und taxiert ihn mit einem sarkastischen Blick. Dann trifft dieser einen alten Kollegen des Treck, der lamentiert, wie schwierig es in Pharoah City sei, weil man für alles überteuerte Gebühren an einen gewissen Coffin zahlen müsse. Auftritt Pike, ein offensichtlich brutaler Schlägertyp in einer Marineuniform (!), der Trumbos Freund bedrängt, ihn dazu auffordert, zu schweigen und schließlich angreift. Trumbo schlägt dann zurück.


"Lily-i-Lily-i-oh": eine wunderbare Musical-Einlage innerhalb einer
langen Plansequenz
Bis zu Trumbos Schlag ist die gesamte Saloon-Szene, von Trumbos Eintreten in das Lokal, gefilmt im Saloon-Spiegel, über Lilys Auftritt bis zum Beginn der Schlägerei wieder in einer einzigen Plansequenz gefilmt worden. Filme, die heute so etwas mit unsichtbaren digitalen Schnitten machen können, werden heutzutage über den Klee gelobt und bekommen dann Oscars, während CALIFORNIA, in dem alles noch analog gemacht wurde, nach wie vor den Ruf eines B-Westerns hat, der einen auf epischen A-Film macht.
K.O. liegt nun Trumbo in Lilys Zimmer und kommt so langsam wieder zu sich. Sie speist ihn wieder mit einigen sarkastischen Worten ab und es entspinnt sich der folgende Dialog: „You talk awful big, like maybe you own the place.
– I do.
– Maybe I shouldn‘t ask how you got it.
– How do you think I got it?
– What I‘m thinking you wouldn‘t like.“
Lily ist also die rechtmäßige Saloon-Besitzerin. Andeutungsweise hat sie durch Prostitution bzw. dadurch, dass sie mit dem richtigen Mann ins Bett gegangen ist, Besitz erlangt. Der Dialog verläuft nicht ganz so wie in JOHNNY GUITAR, wo Vienna ihrem Johnny dann ins Gesicht sagt, dass sich Frauen im Gegensatz zu Männern niemals wieder reinwaschen können, wenn sie nicht ganz astreine Dinge gemacht haben, egal, wie vermögend sie inzwischen geworden sind.
Jedenfalls scheint es so, dass Lily in ihren neuen Besitz dank der Gnade eines mächtigen Herren gekommen ist, und dieser taucht dann auch auf: ein Mann in einem marineblauen Anzug namens Pharaoh Coffin (sic!). Ein Name der für sich spricht: wie ein ägyptischer Pharao herrscht er autokratisch kraft seines Reichtums über seine persönliche Stadt, presst armen Siedlern das letzte Geld durch überteuerte Pachten und Wassergebühren ab, enteignet sie nach Gutdünken. Ein echter Gangster, der seinem Nachnamen alle Ehre macht, wenn es um die Methoden geht – wer nicht gefügig ist, wird von Pike und Coffins anderen Schlägern verprügelt oder reif für den Sarg gemacht.


Trumbo konfrontiert Coffin mit seiner Vergangenheit
als Sklavenhändler
Trumbo erinnert sich jedenfalls schnell an Coffin, nachdem er die Miniatur eines Schiffs namens „Congo Queen“ in dem Zimmer gesehen hat: Coffin war einst der berüchtigte Kapitän eines Sklavenschiffs. Seinen Reichtum verdankt er dem Sklavenhandel, und – Trumbo sagt es ihm explizit – für seine Taten kann er nicht zur Verantwortung gezogen werden, weil Sklaven nicht als Menschen gelten. Nun: in wenigen Minuten (wenn ich es richtig sehe: wieder komplett ohne Schnitt) eröffnet CALIFORNIA einen kleinen Diskurs darüber, wie es denn nun zu bewerten sei, dass Frauen, die durch Prostitution zu Reichtum gekommen sind, als anrüchig gelten und darüber, dass ein Teil des Reichtums der USA auf einem Massenverbrechen, der Sklaverei, beruht – und die entsprechenden Vermögenden größtenteils als anständige und respektable Bürger gelten. Wir sprechen hier übrigens immer noch von einem eher vergessenen Mainstream-Western aus den 1940er Jahren, und nicht von einem „revisionitischen“ Italo- oder New-Hollywood-Western der 1960er Jahre.
Nun: später im Film kommt heraus, dass Lily den Saloon tatsächlich mit ihren ganz persönlichen Ersparnissen hochgezogen hat. Vielleicht war ausser Prostitution auch ein bisschen professionelle Spielerei dabei. Jedenfalls verdankt sie ihren Saloon nur sich selbst. Als sie ihn verliert (sie verzockt ihn beim Kartenspiel an Trumbo!), geht sie zu Coffin und bereitet sich darauf vor, seine Frau zu werden. Nach einer ruhigen und gutbürgerlichen Ehe sehnte sie sich schon lange, aber so ganz wohl ist ihr dabei nicht. Mit Ottonormalverbrauchern für Geld ins Bett zu gehen erscheint rückblickend dann doch plötzlich moralischer als eine sexfreie Ehe mit einem skrupellosen Gangster  und Verbrecher einzugehen. Das spürt Lily irgendwann während des weiteren Verlaufs, und der Film steht da ganz auf ihrer Seite.
Ich habe hier schon ein wenig vorgegriffen. Nach der Szene zwischen Lily, Coffin und Trumbo kehrt dieser erst einmal zu den Goldsuchern seines Trecks zurück. Da gibt es einen Scharmützel mit Coffins Schlägern. Einer der Goldsucher wirft eine Bombe auf einen kleinen Flussdamm und wird erschossen. Danach kehrt Trumbo in den Saloon Lilys zurück, wo er ihn beim Kartenspiel gegen Lily gewinnt. Lily zieht in Coffins Hacienda ein und Trumbo wird als Saloon-Besitzer von Coffin „hofiert“, damit er ihn verkauft: zunächst mit Geld, dann mit Schlägen und Tritten. Provisorischer Abgang des halbtot geprügelten Trumbo.


So prunkvoll wie verrottet: die Hacienda des Pharao(-Sarges)

Der nächste Teil von CALIFORNIA spielt in der Hacienda des Pharaoh Coffin. Dort sind alle guter Stimmung. Offiziell liegt es daran, dass die Verlobung Pharaoh Coffins mit Lily gefeiert wird. Alles, was in Kalifornien Rang und Namen und vor allem einen gut gefüllten Geldbeutel hat, ist auf die Coffin-Hacienda eingeladen worden. Hinter den Kulissen jedoch spielt sich etwas anderes ab. Während auf der Terrasse getanzt, getrunken und gefeiert wird, zieht sich Coffin mit seinen Geldbeutel-Kumpels in ein Hinterzimmer zurück, um dort über die Zukunft Kaliforniens zu entscheiden. Der Entschluss steht fest: Kaliforniens soll auf keinen Fall ein Teil der Union werden, denn dann würden Recht und Ordnung einkehren und es erschweren, sich auf so schamlose und kriminelle Art zu bereichern. Falls die politischen Entwicklungen doch dazu führen, dass Kalifornien Teil der Union wird, müsse mit Waffengewalt dagegen vorgegangen werden. Da sind sich alle einig bis auf Don Luis Rivera y Hernandez, der den Beitritt Kaliforniens zu den USA zwar nicht befürwortet, allerdings sich weder gegen demokratische Entscheidungen stellen noch Blut vergießen möchte.
Trotzdem: damit, klar wird, dass das alles keine heiße Luft ist, lädt Coffin die feine Gesellschaft in die Kapelle der Hacienda ein, wo in einem kleinen Hinterzimmer ein Waffenbunker lagert. Die Besichtigung der Waffensammlung stürzt Don Luis in noch größere Zweifel – und wurde mit interessiertem Blick von Trumbo beobachtet, der sich als ungeladener Gast in die Feierlichkeit geschlichen hat, um Coffin aus Rache für die lebensbedrohliche Prügel zu töten.


Vordergründig mag auf Coffins Hacienda alles goldig glitzern...
...in den Hinterzimmern wird jedoch ein Putsch vorbereitet.
Es war zwar schon angedeutet in dem vorherigen Teil des Films: „robber barons“, die wie Gangster ganze Landstriche unter ihre Kontrolle bringen und dabei nicht nur die sozialen und wirtschaftlichen Rechte eines großen Teils der Bevölkerung, sondern jegliche republikanische, demokratische Gepflogenheiten mit Füßen treten – ein Schuss Kapitalismuskritik, der wohl den meisten Zeitgenossen nicht wirklich aufgefallen ist, weil CALIFORNIA schließlich nur ein „kleiner“ Western war. Doch in der Hacienda wird aus einem Nebenaspekt geradezu der Hauptplot – und so hat sich dieser Film, der wie eine Screwball-Komödien-artige Auseinandersetzung eines gegensätzlichen Paars auf einem Siedler-Treck angefangen hat, zu einer Art linken Polit-Thriller entwickelt. Das allerdings „nur“ 20 Jahre, bevor einige Italo-Westerns sich in den späten 1960er Jahren in linke, 68er-beeinflusste Proto-Polizieschi wandelten.

Der ehemalige Sklavenhändler wird von paranoiden
Halluzinationen ergriffen.
Skeptisch im Hintergrund: Lily und die heilige Mutter Gottes
Den Aspekt, dass so einige Reichtümer in den USA der Sklaverei zu verdanken sind, hat CALIFORNIA aber nicht aus den Augen verloren. In der ersten Szene, die in der Hacienda spielt, reagiert Coffin plötzlich vollkommen aufgeregt und überzogen auf das Geräusch einer Türklingel – ein merkwürdiges Verhalten, das nicht weiter erklärt wird. Später befindet er sich in der Kapelle (wo der Waffenbunker ist). Seine Verlobte Lily ist dazu gekommen. Sie unterhalten sich, bis sich Coffin plötzlich aus heiterem Himmel aus dem Gespräch ausklinkt. Er hat ein Geräusch gehört und fängt an, wie im Fieberwahn sich umherzusehen. Lily beruhigt ihn: das seien nur Äste im Wind gewesen. „You know for a moment it sounded just like... – naked feet... shuffling across the deck.“ Der ehemalige Kapitän eines Sklavenschiffs, der an posttraumatischen Beschwerden leidet und zwischendurch, offenbar von paranoiden Halluzinationen ergriffen, unverständliches Zeugs brabbelt und sich völlig erratisch benimmt... Nur falls jemand den Faden gerade verloren hat: wir reden hier immer noch von einem Hollywood-Western aus den späten 1940er Jahren, also einem Film, der wahrscheinlich nicht nur in New York und Los Angeles, sondern vielleicht auch in den amerikanischen Südstaaten gezeigt wurde. Wer weiß, vielleicht auch in den Kinos von Florence, Alabama, die von Jonathan Rosenbaums Großvater betrieben wurden. Wie wohl nichtsahnende Kinobesucher in den rassengetrennten Südstaaten CALIFORNIA sahen und wahrnahmen?
Wir waren stehen geblieben bei Trumbo, der sich auf die Hacienda eingeschlichen hat, um Coffin zu töten. Das überlegt er sich dann anders – ein heimliches Gespräch mit Lily trägt auch dazu bei – und reitet dann zu dem Regiment zurück, aus dem er einst desertierte. Dort wollen sie ihn eigentlich an die Wand stellen, oder zumindest einsperren, aber Trumbo möchte seine Freiheit gegen die Informationen über Coffin eintauschen. Ihm wird vorgeschlagen, Coffin politisch zu brechen, um dann zu schauen, ob er sich erhebt – dann würde die Kavallerie eingreifen. Zum politischen Kongress, der über die Zukunft Kaliforniens entscheiden wird, sollen Delegierte gewählt werden – natürlich hat sich Coffin als Kandidat aufgestellt und hält sich bereits für gewählt. Trumbo soll einen Gegenkandidaten organisieren – nach dem Kongress soll er sich bei der Kavallerie wieder melden und darf dann mit Strafminderung rechnen. Gesagt, getan.


Sozialist vs. Kaiser – ein dreckiger Wahlkampf auf dem staubigen Boden des gelobten Landes

Der geeignete Kandidat ist in den Augen Trumbos natürlich der weise, überlegte, ruhige und volksnahe Winzer Michael Fabian. Außer er selbst finden das ganz viele Leute eine tolle Idee – wer soll sich schließlich um seine Reben kümmern? – aber schließlich lässt sich der alte Mann doch überreden.
Hier folgt eine große Ellipse: die Vorbereitung und Durchführung der Wahl wird in einer raschen Montage abgehandelt (es gibt Wahlplakate, und wenn Fabian-Anhänger ihres aufhängen wollen, werden sie von Coffins Leuten verprügelt). Dann folgt eine Bildtafel „Colton Hall, Monterey“ und schon sind wird da. Hier nimmt CALIFORNIA wieder FORTY GUNS wieder vorweg: ein Western, dessen Erzählfluss zwischendurch immer wieder an unerwarteten Stellen durch Ellipsen unterbrochen, vor allem aber dynamisiert wird. In den USA sorgte FORTY GUNS mit diesem „brutal handling of the narrative“ (O-Ton IMDb) für Verwirrung und Unverständnis. In Frankreich wurde dies von den Redakteuren der cahiers du cinéma hingegen mit Bewunderung gesehen und später nachgeahmt. Nun: CALIFORNIA hat so etwas schon zehn Jahre zuvor in einem Western gemacht, wenngleich noch mit einer kleinen Übergangsmontage. 1950 kam CALIFORNIA in Japan in die Kinos, wo Ozu bereits komplette Handlungsstränge auf noch radikalere Weise ausließ, weil er sich mehr dafür interessierte, wie Menschen auf Ereignisse reagieren, nicht für das Äußere der Ereignisse selbst. Heute, in Zeiten des Siegeszugs sogenannter „Qualitätsserien“ (einer der Redakteure der cahiers wird sich wohl im Grab umdrehen), gilt so etwas wohl wieder als Schwäche. Oder (vielleicht nicht nur für mich) als Beweis dafür, dass der Ultra-Minimalist Ozu bis heute ungebrochen ein radikaler Avantgardist bleibt – und dass „abseitige“ und „kleine“ Hollywood-Filme aus den 1940er und 1950er Jahren immer wieder für verblüffende Überraschungen gut sind. Aber ich schweife wieder ab...


Fabian als pro-kalifornischer und pro-Unions-Delegierter: im schicken
Anzug erscheint eine gewisse (wohl nicht unintendierte?) Ähnlichkeit
zu Lincoln durch.
... und trotz Gewalt beim Wahlkampf hat tatsächlich Michael Fabian den eigentlich sicheren Delegiertenposten Pharaoh Coffins gewonnen. Ein gefährlicher Sieg: Fabian wird zunächst von Lily gewarnt, nicht auf dem Kongress zu sprechen, weil sein Leben in Gefahr sei. In der Bar der Kongress-Halle wird hingegen Trumbo von Don Luis angesprochen. Der ist schon etwas betrunken, weil er die politischen Intrigen seiner Großbesitzer-Kollegen nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann und teilt Trumbo mit, dass sich Fabian vorsehen sollte. Als Trumbo dann weggeht, wird Don Luis von Pennock, der ja mittlerweile zu Coffins Vertrauten gehört, angesprochen – später wird der spanisch-stämmige Adelige (von Anthony Quinn übrigens selbst betrunken wunderbar als außerordentlich würdiger Mann dargestellt – eine hispanische adelige Figur dürfte eine weitere exzentrische Note für diese Zeit sein) ermordet in seinem Zimmer aufgefunden. Vorher warnt nun auch Trumbo den frisch gewählten Delegierten Fabian, der sich trotz Drohungen nicht davon abhalten lassen möchte, für den Beitritt Kaliforniens zur Union zu plädieren – er sei schließlich seinen Wählern gegenüber verantwortlich.
Auf dem Kongress schließlich: ein anderer Delegierter, der Coffin nahe steht, warnt vor einem überstürztem Eintritt Kaliforniens in die Union. Kalifornien solle sich lieber erst einmal als freies Kaiserreich... ähm... als freie Republik entfalten. Danach hält Fabian seine Rede und entlarvt die Absichten seines Vorgänger mit dem Hinweis auf seinen kleinen sprachlichen Lapsus. Dann plädiert er dafür, dass Kalifornien Teil der Union und damit des großartigsten Landes der Welt werde. Unter Applaus will Fabian hinaustreten, doch am Eingang wartet Pennock mit gezogener Pistole auf ihn. Der Anschlag auf Fabian misslingt: Trumbo erschießt Pennock, allerdings erst, nachdem dieser einen von Fabians Helfern getötet hat, der sich als Schutzschild vor dem Delegierten geworfen hat.
Mit einem misslungenen Anschlag hat sich Coffin bei seinen Kollegen unbeliebt gemacht, die ihn nun gerne sich selbst überlassen. Ihm ist es einerlei, und er lässt dann Fabian trotzdem noch ermorden, nachdem dieser zu seinen Reben zurückgekehrt ist. Das ganze passiert vor den Augen Lilys, die dann schnurstracks zu Coffin zurückkehrt. Bevor sie ihn allerdings erschießen kann, wird sie vom wachsamen Pike K. O. geschlagen (was ihm wiederum Coffins Zorn einbringt).


Paranoia und Tod in der Hacienda

Auch Trumbo kennt nun kein Halten mehr. Zusammen mit anderen Siedlern macht er sich auf dem Weg zu Coffins Hacienda und stürmt sie. Um zu Coffin zu gelangen, muss Trumbo zunächst an Pike vorbei. Bei der Auseinandersetzung ergibt sich, dass sie beide nicht mit Pistolen duellieren können, sondern mit Messern aufeinander losgehen müssen. Ein Messer-Duell also – wie vieles in dem Film wird zumindest der zweite Teil der Auseinandersetzung in einer einzigen schnittlosen Sequenz gefilmt. Das fügt sich nicht nur in den Stil des Films ein, sondern gibt ihr auch eine große Authentizität: keine schnellen Schnitte, die Stunt-Doubles kaschieren, sondern Ray Milland und Albert Dekker, die die Szene zusammen in echt choreographieren (natürlich sicherlich mit Messer-Attrappen).


Ein Endkampf mit Messern
Mit seinen paranoiden Halluzinationen "verpasst" Coffin hingegen fast
den Showdown
Nachdem Trumbo Pike besiegt hat, geht er ohne Schusswaffe zur Konfrontation mit Coffin. Der hat allerdings gerade offensichtlich anderes zu tun. Er, der sich immer gefürchtet hat, dass die Sklaven auf seinem Schiff ihre Ketten brechen, um ihn zu ermorden, ist im Angesicht des Angriffs auf die Hacienda völlig umnachtet. Er sieht sich von freigelassenen Sklaven umzingelt und verdächtigt Pike, der seine geliebte Lily K. O. geschlagen hat, die Schwarzen befreit zu haben. Delierierend und vollkommen paranoid wandelt er brabbelnd durch sein Arbeitszimmer. Trumbo schleicht sich heran, wird aber von Coffin entdeckt – allerdings in dessen Wahn mit Pike verwechselt. Es kracht ein Schuss und Pharaoh sinkt nieder: Lily, von ihrer Ohnmacht erwacht, hat ihn aus dem Hintergrund erschossen.
Am Ende stehen nun Lily und Trumbo vor dem Grab Fabians, im Hintergrund dessen Reben. Nach dieser ereignisvollen Geschichte können sie sich ihre gegenseitige Liebe eingestehen, doch daraus wird unmittelbar erst einmal nichts. Trumbo wird nämlich zur Kavallerie zurückgehen und die (geminderte) Strafe für seine Desertion antreten: ein, vielleicht zwei Jahre. Sie wird jedenfalls Michael Fabians Reben pflegen und auf ihn warten. Trumbo reitet weg...


Eine aufgeschobene Liebe – oder: dramatisches Ende zwischen Rebstöcken
Das Ende von CALIFORNIA erinnerte mich spontan ein wenig an Paul Schraders LIGHT SLEEPER, ein Film, an dessen Ende ebenfalls ein Liebespaar zusammenfindet, das aber erst einmal warten muss, bis er seine Gefängnisstrafe abgesessen hat. Doch vor allem lädt das Ende dazu ein, es ein bisschen weiter zu spinnen.
Klassisch ginge das so: Lily wird erfolgreiche Winzerin und hat schon ein schönes Weinunternehmen aufgebaut, als Trumbo nach sechs Monaten (wegen guter Führung vorzeitig entlassen) zurückkehrt – und dann leben sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Doch CALIFORNIA ist kein „klassischer“ Western, wie ich vielleicht ein wenig deutlich machen könnte. Vielleicht geht das ganze auch so weiter:


Nach dem Ende, no. 1: Lily benennt sich nach der Kaiserstadt
Da Lily keine professionelle Winzerin ist, gehen die Reben gnadenlos ein. Weil Trumbo auch nicht zurückkommt, kehrt sie zu ihrem alten Beruf unter einem neuen Namen (wie wäre es mit „Vienna“) zurück und spart sich da wieder so ein großes Vermögen an. In einem Wüstenkaff eröffnet sie dann ihr Saloon, hat eine Affäre mit einem lokalen Kleinkriminellen und fängt sich dann als Außenseiterin Probleme mit den „besorgten Bürgern“ ihrer Stadt ein. Ihrer Neigung, Hose und Hemd zu tragen, geht sie immer noch nach, hat allerdings mittlerweile Geschmack an flamboyanteren Farben gefunden.
Trumbo hingegen geht nach seiner Entlassung auf dem Weg zu Lily verloren, weil ihn vielleicht die restlichen Schergen von Coffin verfolgen. Er entkommt ihnen, und wandert fortan unter neuem Namen (vielleicht „Johnny Logan“) durch die Gegend, mutiert zum Gitarren-spielenden Pazifisten (und wird so „Johnny Guitar“) bis er dann in einem Wüstenkaff, das von „besorgten Bürgern“ terrorisiert wird, seine alte Flamme wieder findet.
Oder kurz: man kann sich CALIFORNIA sehr gut als Prequel zu JOHNNY GUITAR vorstellen. Da stimmen zwar die Darsteller nicht wirklich überein, aber expressive Farbgebung und fieberhafte Atmosphäre von CALIFORNIA geht schon in Richtung von Nicholas Rays meisterhaftem Western.

Wie Vienna und Jessica mag es auch Lily, in großen, barocken Räumen Klavier zu spielen.

Nach dem Ende, no. 2: Lily findet Geschmack an Peitschen
Da Lily keine professionelle Winzerin ist, gehen die Reben gnadenlos ein. Deshalb sattelt sie auf ein klassischeres Geschäft um: Land und Vieh. Durch Talent, Härte und Glück avanciert sie zu einer mächtigen Großgrundbesitzerin, heuert sich eine kleine vierzig-köpfige Privatarmee an und bestimmt mit ihr die Politik der Region. Jahre später kommen dann drei Brüder in die Stadt und fordern ihre Macht heraus. Trumbo hingegen ward nie wieder gesehen...
Oder kurz: man kann sich CALIFORNIA sehr gut als Prequel zu FORTY GUNS vorstellen. Zumindest eine wichtige Personalie bleibt erhalten, nämlich die unvergleichliche und göttliche Barbara Stanwyck. Sie hat die außergewöhnliche Lily Bishop als 40-Jährige bereits wunderbar gespielt – zehn Jahre später spielte sie mit 50 Jahren die wohl bizarrste Viehbaronin der Westerngeschichte und ihre vielleicht schönste Rolle.


And the auteurship goes to...

À propos Personalie: wem verdanken wir eigentlich CALIFORNIA? Als gemäßigter Anhänger der Autorenpolitik würde es für mich auf der Hand liegen, John Farrow die Blumen zu überreichen. Doch irgendwie will es mir nicht in den Kopf, dass der Regisseur des schrecklich konventionellen und eher langweiligen noir-angehauchten Thriller THE BIG CLOCK (1948) nur ein Jahr zuvor einen so ungewöhnlichen Film wie CALIFORNIA gedreht hatte. Auf eine eigene Weise war aber Farrow tatsächlich ungewöhnlicher Mensch. Der gebürtige Australier kam in den 1920er Jahren nach Hollywood und arbeitete dort zunächst als Drehbuchschreiber. Bereits vorher hatte er Gedichte sowie Kurzgeschichten veröffentlicht und sich als eigenständiger Autor einen Namen gemacht. 1936 heiratete er die Schauspielerin Maureen O‘Sullivan. Das Paar war bis zu Farrows Tod 1963 verheiratet und bekam sieben Kinder. Die vier Töchter wurden alle Schauspielerinnen und die 1945 geborene Mia übertraf später ihren Vater an Berühmtheit.
Bis er sich allerdings eigenständig in Hollywood etablierte, dauerte es einige Zeit, denn 1933 wurde er, als gebürtiger Australier, verhaftet, weil er bei seiner Immigration in die USA falsche Angaben gemacht hatte. Seine drohende Abschiebung wurde auf Bewährung ausgesetzt. Seinen ersten „abendfüllenden“ Film, MEN IN EXILE, drehte er 1937. Nach einigen Filmen für RKO meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst und zwar in Kanada, wo er der Marine zugeteilt wurde. Später verfasste er ein Sachbuch über die Geschichte der kanadischen Marine. Aus seinen Erfahrungen heraus galt er wohl als der ideale Mann für Kriegsfilme, und so inszenierte er in den 1940er (während seines Fronturlaubs?) mehrere Kriegs- und Armeefilme: WAKE ISLAND (für den er 1942 als bester Regisseur für den Oscar nominiert wurde), COMMANDOS STRIKE AT DAWN, CHINA und YOU CAME ALONG. 1944 drehte er mit Bobby Watson, dem Filmschauspieler, der am öftesten Hitler darstellte, THE HITLER GANG. Nach dem Krieg inszenierte Farrow nicht nur den wunderbaren CALIFORNIA, sondern auch andere Westerns: COPPER CANYON (wieder mit Ray Milland), RIDE VAQUERO! (wieder mit Anthony Quinn), den 3-D-Western HONDO mit John Wayne. Wie es um die Exzentrizität und Außergewöhnlichkeit dieser Filme bestellt ist, kann ich nicht beurteilen. Farrow drehte auch mehrere Thriller / films noirs: THE BIG CLOCK, den ich gesehen habe, ließ mich wie bereits erwähnt kalt. Farrow war außerdem der erste Regisseur von AROUND THE DAY IN EIGHTY DAYS, wurde aber kurz nach Drehbeginn vom Produzenten gefeuert und durch Michael Anderson ersetzt – bekam aber trotzdem als einer von drei Autoren den Oscar für das beste adaptierte Drehbuch.
Eine späte Ehrung für einen Mann, der viele Interessen hatte, die mit Kino nur bedingt etwas zu tun hatten. Er verfasste nicht nur vor seiner Hollywood-Karriere, sondern auch zwischen seinen Filmen mehrere Bücher (oder drehte er Filme zwischen seinen Büchern?). So war an der Edition eines englisch-französisch-tahitianischen Lexikons beteiligt, schrieb eine Biographie des Pater Damien (ein katholischer Priester, der sich um Lepra-Kranke auf Hawaii kümmerte), eine Geschichte des Papsttums, eine Geschichte der kanadischen Marine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und eine Biographie des Renaissance-Philosophen Thomas More, dem Autor des Buches „Utopia“. Auf eine gewisse Weise war Farrow also durchaus ein Exzentriker – vielleicht doch der ideale Mann für einen Film wie CALIFORNIA? Sind die sakralen Bezüge (z. B. im Prolog) und die Nebenfiguren der Seefahrt also kleine persönliche Farrow-Akzente?

Nicht weniger erwähnenswert ist der director of photography Ray Rennahan: ein Mann, der aus dem Stummfilm kam und bereits in den 1920er Jahren mit Farbe experimentierte. So war er für Erich von Stroheims THE MERRY WIDOW und THE WEDDING MARCH sowie für Cecil B. DeMilles THE TEN COMMANDMENTS (also die Version von 1923!) für die Farbszenen zuständig. Besonders als Spezialist für Farbfotografie wurde er in den 1930er bis 1950er Jahren für namhafte Filme als director of photography, oder aber zumindest als technischer Berater für Farbfotografie und Spezialist für Technicolor engagiert: er war beteiligt an so unterschiedlichen Filmen wie GONE WITH THE WIND, DRUMS ALONG THE MOHAWK, FOR WHOM THE BELL TOLLS und DUEL IN THE SUN – letzterer aufgrund seines sexuellen Inhalts, seiner flamboyanten Farbdramaturgie und seines opernhaften Pathos möglicherweise ebenso ein Kandidat für eine Liste exzentrischer Westerns. DUEL IN THE SUN findet sich zwar nicht auf Rosenbaums Liste, aber ein anderer Film, den Rennahan (allerdings in Schwarzweiß) fotografierte, nämlich TERROR IN A TEXAS TOWN von Joseph H. Lewis, geschrieben von Dalton Trumbo – ein antikapitalistischer Western, in dem die Hauptfigur ein schwedischer Walfischer ist (gespielt von Sterling Hayden), der nicht mit einer Pistole, sondern mit einer Walharpune bewaffnet ist und damit auch Duelle bestreitet (kein schlechter Film, aber das liest sich besser, als es sich letztendlich sehen lässt).
Um es also kurz zu sagen: dass CALIFORNIA von einem der profiliertesten Kameramänner Hollywoods und größten Spezialisten für Farbfotografie in der Filmindustrie gefilmt wurde, sieht man ihm recht deutlich an.

CALIFORNIA ist oft weniger fotografiert als vielmehr gemalt
CALIFORNIA ist kürzlich in Deutschland auf DVD und Blu-ray in der Western-Legenden-Edition von Koch Media erschienen. Über die Qualität der Edition möchte ich mir kein definitives Urteil erlauben, denn ich habe ihn auf einem Presse-Screener gesehen (den ich zur Besprechung des Films in einem Printmagazin erhalten habe) – zwar ohne Wasserzeichen und in inhaltsgenauer Kopie des Endprodukts, aber vielleicht in einer etwas schlechteren Qualität auf diesem. Ob deshalb manchmal Farbe aus den Rändern der Figuren geradezu auszulaufen scheint oder dies so von den Machern bzw. Ray Rennahan vorgesehen war, kann ich deshalb nicht beurteilen. Der Film ist auch in einer spanischen und einer US-amerikanischen DVD-Edition erhältlich (letzteres allerdings nur mit drei anderen Westerns in einem „Viererpack“, der nicht besonders hochwertig aussieht).