Freitag, 1. August 2014

Vier Hausmädchen


Eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen wird als Hausmädchen in einer Familie aus einer gehobeneren Schicht eingestellt. Sie soll in erster Linie die hochschwangere Herrin des Hauses bei heimischen Arbeiten entlasten. Als es jedoch zwischen dem Hausherren und dem Hausmädchen zu einem Verhältnis kommt und letzteres schwanger wird, beginnen die Leidenschaften hochzukochen.

Eine einfache Geschichte, die in vier Filmen variiert wird. Drei von ihnen inszenierte Kim Ki-young, einer der großen Außenseiter und Exzentriker des koreanischen Kinos von den 1960er bis 1980er Jahren. Das Konzept, eigene Filme mit fast der selben Geschichte zu variieren, war keineswegs neu. Howard Hawks drehte 1959 RIO BRAVO: 1966 und 1970 folgten die Variationen EL DORADO und RIO LOBO. Ein wesentlich passenderer Vergleich mit Kims „Hausmädchen-Trilogie“ sind jedoch Fritz Langs WOMAN IN THE WINDOW (1944) und SCARLET STREET (1945). 2010 drehte Im Sang-soo einen Film, der gemeinhin als Remake bezeichnet wurde – den Begriff Variation halte ich für fruchtbarer. Aber der Reihe nach...


HANYO (THE HOUSEMAID)
Republik Korea 1960
Regie: Kim Ki-young
Darsteller: Lee Eun-shim (das Hausmädchen), Kim Jin-kyu (der Hausherr), Ju Jeung-ryu (die Hausherrin)

HANYO präsentiert uns zu Beginn eine Familie wie aus dem Bilderbuch: Vater, Mutter, Tochter, Sohn. Sie leben in scheinbarer Harmonie: von einer kleinen Wohnung sind sie in ein kleines zweistöckiges Haus umgezogen. Die Frau ist hochschwanger, und engagiert deshalb ein Hausmädchen, um bei den häuslichen Arbeiten auszuhelfen. Doch schon bevor die todbringende Haushaltshilfe ankommt, wird deutlich, dass irgendetwas nicht stimmt. Die rasende Kamera und die dissonante Musik (im Vorspann) sind erste Hinweise, aber auch kleine gewalttätige Ausbrüche machen deutlich: das Hausmädchen wird keine intakte Familie zerstören, sondern einer Gruppe von bereits gestörten Menschen den Spiegel vors Gesicht halten.

Rattengift und voyeuristischer Blick
Die immer wieder suggerierte Deutung von HANYO sieht das Hausmädchen schlimmstenfalls als Monster, bestenfalls als Bösewicht. Wer genau hinschaut, wird merken, dass Sympathien und Antipathien nicht eindeutig verteilt sind und Kim es sich selbst und dem Zuschauer alles andere als einfach macht.

Der Hausherr etwa ist als Musiklehrer für Fabrikarbeiterinnen angestellt. Die Unterrichtung, so sehr er immer mal einen kleinen Witz auf den Lippen trägt, versteht er auch immer als Akt der sozialen Unterwerfung. Er sieht die Arbeiterinnen als minderwertig an und hat auch keine Angst, ihnen gegenüber handgreiflich zu werden – oder eine von ihnen bei der Fabrikverwaltung zu denunzieren, für einen Liebesbrief, der offensichtlich eher verliebt-schwärmerisch als aggressiv sexuell ist (HANYO wird danach eine Art Versuchsanordnung aufbauen, die indirekt dem Hausherrn ins Gesicht sagt „Fühlst du dich von diesem harmlosen Zettel bedroht? Warte erst mal ab, was das Hausmädchen mit dir anstellen wird!“).
Den Klassenunterschied zu den Arbeiterinnen und dem Hausmädchen markiert der Hausherr auch sehr deutlich, indem er sie systematisch mit „du“ anspricht, während die jungen Frauen ihn immer siezen (so durchgehend in den verfügbaren französischen und deutschen Untertiteln). Die koreanische Sprache kennt wohl sechs verschiedene Honorativ-Formen, von denen drei geläufig sind – und offenbar zwei Formen des Duzens. Das widerspiegelt die Bedeutung, die soziale Hierarchien im Koreanischen haben, und es ist zu vermuten, dass der Film damit in der gegenseitigen Anrede der Figuren bewusst spielt (mangels Kenntnis der koreanischen Sprache mag ich da keine tiefer gehenden Interpretationen vorlegen).
Auch zuhause, als Hausherr, offenbart der Musiklehrer schnell seine dunkle Seite. Er ist herrisch, latent gewalttätig, und gebiert sich offen grausam gegenüber seiner gehbehinderten Tochter (er lässt sie kaltblütig auf der Treppe stürzen mit der Begründung, dass sie eben mehr trainieren müsse) und seinem Sohn (als dieser einer kleinen Bitte nicht sofort nachgeht, reißt er ihm ein Spielzeug aus der Hand und droht damit, es zu zerstören). 

Doch das bedeutet nicht, dass in HANYO die Kinder unschuldig sind. Der Junge hänselt immer wieder seine Schwester, die nur langsam auf Krücken gehen kann. Das Mädchen hingegen hat die sozialen Klassenambitionen ihrer Eltern gut internalisiert, und begegnet dem neuen Hausmädchen mit Verachtung, Misstrauen, sehr schnell gar mit Paranoia – noch bevor es dafür nur den geringsten Anlass gibt. So erscheint das Hausmädchen schlussendlich als selbst-erfüllende Prophezeiung der Ängste, die die Mittelklasse-Familie plagen.

Die Ehefrau und Hausherrin hingegen lebt in einer materialistischen Blase und hängt einem recht pervertiertem Bild von Familie nach: ihrer Meinung nach ist die größte Bedrohung für die Familienwerte Sex – während Raub oder gar Mord völlig in Ordnung gehen, solange man sie richtig vertuschen kann.

Nasse Fenster und Lust
Das Hausmädchen hingegen, absolut wunderbar von Lee Eun-shim dargestellt (meiner Meinung nach die beste Hausmädchen-Darstellerin aller vier Filme), bleibt in vielem ein Geheimnis. Man weiß nur, dass sie vom Land kommt. Es gibt zu Beginn Anzeichen dafür, dass sie geistig etwas zurückgeblieben ist, was sich als Trugschluss entpuppt. Psychisch labil mag sie sein, aber auf eigene Weise ist sie auch eine eiskalte Rationalistin, die zumindest im Rahmen ihrer eigenen Logik konsequent handelt – wenngleich mörderisch und selbstzerstörerisch. Sicher ist, dass sie eine proaktive Figur ist: in den beiden folgenden Filmvariationen wird das Hausmädchen vom Hausherren vergewaltigt und in der Variation von 2010 von ihm verführt – der HANYO von 1960 ist so der einzige Film der Reihe, in der das Hausmädchen aktiv den Hausherren verführt.

HANYO kann als bitterböse Satire auf eine rein materialistische Aufsteiger-Mentalität gedeutet werden. Die Familie, in die das Hausmädchen gerät, steigt, wenn man so will, von der niedrigen Mittelklasse in die mittlere Mittelklasse auf und umgibt sich gerne mit Statussymbolen. Dazu gehört das Klavier im Wohnzimmer ebenso wie das Fernsehgerät (das ähnliche fetischisierende Äußerungen auslöst wie in Douglas Sirks Melodrama ALL THAT HEAVEN ALLOWS). Das Mädchen vom Lande nehmen diese Mittelschichtsangehörigen letztendlich völlig irrational als Bedrohung für ihren sozialen Status an und haben durchaus keine Hemmungen, einen „Klassenkampf von oben“ gegen sozioökonomisch Niedrigstehende zu entfesseln.
Sehr bemerkenswert ist, dass in HANYO die Hausherren KEINE Reichen sind, sondern tatsächlich aufsteigende Mittelschicht. Das ändert sich im Laufe der Hausmädchen-Filme: die Hausherren werden stetig wohlhabender, das Haus immer größer – bis sie schließlich in HANYO (2010) Multimillionäre sind. Die materialistischen Ängste der Hausherren werden aber nirgendwo so deutlich wie in HANYO (1960): der Aufstieg ist frisch, die Abwehrmechanismen gegenüber Arbeiterschichten sind wesentlich lebendiger. Und das Hausmädchen kann ihre Rolle als brutale Strafe wesentlich wirkungsmächtiger entfalten. HANYO kann als bitterböse Satire über seelenlosen Materialismus gelesen werden, auch wenn er natürlich in erster Linie ein psychosexueller Thriller ist und bleibt (und – in Hollywood-Begriffen – Hitchcock oder vielleicht besser Nicholas Ray näher steht als sagen wir Stanley Kramer).

HANYO ist stilistisch äußerst bemerkenswert. Die „establishing shots“ bei den Szenenübergängen sind dynamisch, gar teilweise verwirrend schnell geschnitten, aber der Film ist vor allem für seine eleganten Plansequenzen bekannt, gefilmt entlang der Terrasse des Hauses mit Blick in das Innere der Räume: ein aufdringlicher, bedrängender, voyeuristischer Blick, der dem aufdringlichen, bedrängenden und voyeuristischen Charakter des Hausmädchens entspricht.
Im Inneren herrscht Bedrängung: die Familie mag in einem zweistöckigen Haus wohnen, das wesentlich größer ist als die vorherige Wohnung, aber die Räume sind trotzdem eng. Oder werden stets eng gefilmt. Etwa aus dem Inneren eines Küchenschranks, wo die Flasche Rattengift lagert, die wie ein Damoklesschwert über die Geschichte hängt. Das Haus ist außerdem voller Flügeltüren: immer wieder werden sie zugeschoben, meist vor der Nase einer anderen Figur. Es ist eine Geste, die sich im Verlauf des Films immer wiederholt und stetig deutlicher macht, dass jegliche Kommunikation im Hause immer mehr zusammenbricht und zunehmend von Zorn, Raserei und Wahnsinn überlagert wird. Die bedrückende Geräuschkulisse fördert die Enge der Räume noch mehr: ein penetrant gespieltes Klavier (verschiedene Motive, ob gerade der Hausherr spielt oder das Hausmädchen manisch dissonante Akkorde reinhackt), das permanente Rattern der Nähmaschine, draußen der tobende Regen – ein nervenzerrendes Sounddesign, das die Spannung des Films bis kurz vor der Explosion steigert.

Drastische Bilder
Kim erschafft in HANYO immer wieder extreme, brutale, drastische Bilder voller psychischer und physischer Grausamkeit, die in einem Film von 1960 schier erstaunlich sind (und das ist das Jahr, in dem PSYCHO und PEEPING TOM herauskamen): permanente Morddrohungen, kaltblütiger Mord, Selbstverletzung... Das Hausmädchen beginnt in einer Szene, die Tochter des Hauses unter Zwang zu füttern: sie stopft sie regelrecht mit Reis (der Film lässt in diesem Moment offen, ob der Reis nicht möglicherweise vergiftet ist). Diese Szene mag in ihrer emotionalen Grausamkeit etwas subtiler sein als der Mord am Sohn des Hauses, oder der Versuch des Hausherren, das Hausmädchen mit bloßen Händen zu erwürgen – sie zeugt aber vom großen Talent Kims, eine Atmosphäre der permanenten Bedrohung, Beklemmung und des Unbehagens zu schaffen. Sexualität wird, dem Entstehungsjahr entsprechend, größtenteils eher bedeckt inszeniert: ein Gewitterblitz, das in einen Baum einschlägt, muss dann eben als Ersatz für eine richtige Sexszene herhalten. Dennoch beginnt in einer Art Akt sexueller Selbstunterwerfung das Hausmädchen an einer Stelle, die nackten Beine des Hausherrn im Morgenmantel frenetisch zu küssen.

Falls diese Ausführungen alle etwas unaufgeräumt klingen, hängt das damit zusammen, dass in HANYO nur schwer eine Ordnung reinzubringen ist: alle rasenden Emotionen überlagern sich nach und nach immer heftiger. Hilfe bietet erst der Epilog, in dem der Hausherr sich direkt an die Zuschauer wendet (nachdem er eigentlich gerade gestorben ist). In einer kleinen Rede entzaubert er das eben Gesehene als reine Fantasie, die er sich nach der Lektüre eines reisserischen Zeitungsartikels ausgemalt hat. In einem Interview sagte Kim, dass er den Schluss ganz bewusst hinzugefügt hat, um die lineare Chronologie des Films und jegliche Unterscheidung zwischen Realität und Fantasie zu brechen – Zensur spielte bei dieser Entscheidung offenbar keine Rolle. Eskalierende Sex- und Gewalt-Plots, die sich als Traum oder Trugbild entpuppen, hatte es schon in SCHATTEN (1923) von Arthur Robison oder in THE WOMAN IN THE WINDOW (1944) von Fritz Lang gegeben. Letzterer ist ein passender Vergleich: Lang inszenierte ein Jahr später fast die gleiche Geschichte mit den gleichen Schauspielern noch einmal, mit dem Unterschied, dass in SCARLET STREET die sex-and-crime-story endete, ohne dass sie als (innerfilmische) Fantasie aufgelöst wurde. Kim Ki-young ging einen ähnlichen Weg, als er 1970 HWANYEO ebenso ohne „Happy End“ filmte.



HWANYEO (WOMAN OF FIRE)
Republik Korea 1970
Regie: Kim Ki-young
Darsteller: Yoon Yeo-jeong (das Hausmädchen), Namkoong Won (der Hausherr), Jeon Gye-hyeon (die Hausherrin)

Auch in HWANYEO bricht Kim die Chronologie auf. Die Rahmenhandlung spielt in einem Seouler Polizeipräsidium, wo  die Todesumstände eines Mannes und seines Hausmädchens untersucht werden. Der Hauptteil des Films ist daher eine Rückblende (die an manchen Stellen eigene Rückblenden hat).

Das neue Hausmädchen und die Hühnerfarm
Das Hausmädchen in HWANYEO ist wieder ein Mädchen vom Lande, aber sie hat nun eine Vorgeschichte: sie ist schon zu Beginn eine Mörderin. Zusammen mit ihrer besten Freundin wird sie in ihrem Heimatdorf von zwei Schmieden vergewaltigt und tötet sie beide in Notwehr. Die beiden jungen Frauen fliehen nach Seoul, wo sie von einem schmierigen Arbeitsvermittler Jobs vermittelt bekommen. Die eine wird Tänzerin/Animateurin/Begleiterin (im Klartext: Prostituierte) in einer Bar. Die andere wird als Hausmädchen vermittelt. In dem Haus, in dem sie arbeitet, wird sie de facto als Sklavin gehalten: sie kriegt kein Gehalt, sondern nur Kost und Logis (jedoch auf eigenen Wunsch: die Hausherrin soll für sie irgendwann einen geeigneten Ehemann finden und sie verkuppeln – was ja auf einer gewissen Art und Weise auch passieren wird).

Der Hausherr komponiert Poplieder. Er hat offenbar ein kleines Alkoholproblem, lebt aber weitestgehend eine glückliche bürgerliche Existenz mit Frau, Tochter und Sohn. Anfänglich behandelt er das neue Hausmädchen mit Verachtung und Hohn: für ihn ist sie eine stinkende und vulgäre Bäuerin. Das ist insofern interessant, als dass sich das Haus in einem ländlich geprägten Vorort befindet (inwiefern gutsituierte Bewohner Seouls in den 1960er Jahren dazu neigten, in Suburbs zu ziehen, kann ich schwer sagen). Unmittelbar neben dem Haus steht die Hühnerfarm, die die Ehefrau betreibt, wobei angedeutet wird, dass sie mehr zur Haushaltskasse beiträgt als der Mann. Naturnah-bäuerlich ist das ganze allerdings nicht, sondern es ist eine Massenhaltung, die die Hausherrin mit einem sehr effizienten und kalten Geschäftssinn führt: Hühner, die ein gewisses Legequorum nicht erfüllen, werden sofort getötet und zu Grillhähnchen verarbeitet. Ein matching cut vom Füttern der Hühner im Stall zu einer Platte mit Hähnchen, die aus dem Kühlschrank geholt wird, macht diese Verwertungskette ganz deutlich. Doch die eiskalte Haltung hat die Hausherrin nicht nur gegenüber Hühnern, sondern auch gegenüber Menschen. Als sie für einige Tage mit den Kindern verreist und den Ehemann zurücklässt, weist sie das Hausmädchen an, aufdringliche Besucherinnen und potentielle Liebhaberinnen ihres Mannes rücksichtslos rauszuwerfen – oder falls nötig auch gleich zu töten (was sie eindeutig ohne Anflug von Ironie äußert). Später wird eine Szene aus dem ersten Teil variiert, als der Mann gestehen möchte, dass das Hausmädchen von ihm schwanger ist: er fragt seine Frau, ob es sie stören würde, wenn er jemanden ausrauben würde (nein), wenn er jemanden töten würde (nein) oder wenn er eine andere Frau schwängern würde (woraufhin sie mit ihm de facto bricht).

Vergewaltigung und eskalierende Affäre
Im Gegensatz HANYO kommt es in HWANYEO zunächst nicht zu einer „richtigen“ Affäre. Vielmehr vergewaltigt der Mann im alkoholischen Vollrausch das Hausmädchen (gleichwohl im Glauben, dass es sich um eine Arbeitskollegin auf Besuch handelt, die er sexuell bedrängt hat, jedoch geflüchtet ist) – die visuell verzerrten Bilder der beiden Schmiede, die auf ein glühendes Eisen hämmern und die Doppel-Vergewaltigung zu Beginn visualisieren, kommen hier wieder zum Einsatz. Für den Hausherren ist die Vergewaltigung des Hausmädchens nicht wirklich der Rede wert, und er möchte das ganze lieber unter den Tisch kehren. Das geht nicht so einfach, weil zum einen das Hausmädchen schwanger ist und zum anderen immer aggressiver zu einer richtigen Affäre drängt, die er gar nicht haben wollte.

HWANYEO fächert den Komplex um Schuld und Gewalt noch etwas mehr als im Film von 1960 auf. Die Hausherrin zwingt das Hausmädchen zur Abtreibung des Kindes, woraufhin diese kurz danach das Neugeborene des Hauses tötet. Wie in HANYO (wo sie allerdings den älteren Sohn tötet) vollzieht das Hausmädchen die grausame Logik, wonach sie dem Ehepaar ein Kind wegnimmt, nachdem ihr das Kind weggenommen wurde. Wie mit der Leiche des getöteten Kindes umgegangen wird, erfahren wir wie in HANYO auch hier nicht (nur, dass das ganze nach außen hin um jeden Preis vertuscht wird).

Doch ein weiterer Tötungsfall schweißt das Trio noch enger zusammen. Der schmierige Arbeitsvermittler, der von seinen Mädchen stets Geld oder Sex als Vermittlungsgebühr abpressen will, sucht die als Hausmädchen verkaufte junge Frau auf und versucht, sie zu vergewaltigen. Wie einst auf dem Land tötet sie ihren Vergewaltiger in Notwehr (mit einem roten Nachttopf!). Es folgt eine komplexe Arbeitsteilung im Bereich der Schuldbewältigung: Das Hausmädchen tötet den Angreifer, drapiert die Leiche so, dass der Hausherr denkt, er habe den Mord im Vollsuff selbst begangen, während wiederum die Hausherrin dann die Leiche beseitigt (wie es scheint auf eine besonders krasse und makabre Art und Weise). Schuld ist ansteckend. Und schweißt das Trio zu einer noch unheilvolleren Allianz zusammen.

Kunstvoller Einsatz von Farbe
in geometrischer Architektur
Stilistisch schließt sich HWANYEO in einigen Punkten an HANYO an. Die Kamerafahrten auf der Terrasse mit dem voyeuristischen Blick in das Innere, der permanente Regen... Doch die expressive Verzerrung der Bilder, die 1960 noch knapp kontrolliert wurden, wird 1970 vollkommen entfesselt. HANYO war sicherlich schon von geometrischen Formen gezeichnet, doch in HWANYEO sind harte, kantige, geometrische Formen geradezu hegemonial. Das Bildformat 2,35:1 ermöglicht einen noch komplexeren Bildaufbau und bietet mehr Chancen, die Bilder zu fragmentieren. Sie werden verfremdet, indem sich immer irgendetwas in den Vordergrund schiebt, oder etwas verdeckt, oder die Figuren nur in der Hälfte oder gar einem Drittel des Bildes sichtbar agieren können. Eine zu Fragmenten zerschlagene Welt.
Am auffallendsten ist natürlich das – schlichtweg fantastische! – Zusammenspiel aus Licht und Farbe. Emotionale Szenen werden stets in vollkommen unnatürliches Licht getaucht, in tiefem Blau und Rot, was die irreale, fieberhafte, irrsinnige Atmosphäre des Films steigert. HWAYNEO ist ein roter Film, ein Popart-Terror-Thriller. Einige Fans Kim Ki-youngs bezeichneten ihn wohl einmal als „Douglas Sirk auf Acid“.


HWANYEO ’82 (WOMAN OF FIRE ’82)
Republik Korea 1982
Regie: Kim Ki-young
Darsteller: Na Young-hee (?) (das Hausmädchen), Chon Moo-song (?) (der Hausherr), Kim Ji-mee (?) (die Hausherrin)

HANYO und HWANYEO waren expressionistische, surrealistische Fieberträume. HWANYEO ’82 markiert hingegen einen Einbruch von „Realismus“ in die Hausmädchen-Geschichte. Das tut dem Film allerdings nicht wirklich gut – um es mal vorsichtig auszudrücken... 

Geöffnete Räume, 80er-Jahre-Einrichtung
HWANYEO ’82 ist von den drei HANYO-Variationen die einzige, die sich tatsächlich ein wenig wie ein lustloses Remake anfühlt, in dem Elemente der früheren Filme zusammengeworfen werden, ohne, dass das irgendwie passt oder eine Eigendynamik entwickelt – wie eine Collage aus halbherzigen Zitaten. Diese Lustlosigkeit, dieser Mangel an Dynamik kann teilweise auch an der Laufzeit erkannt werden: mit 122 Minuten ist HWANYEO ’82 der längste „Hausmädchen“-Film, und er fühlt sich auch so an.

Am ehesten lässt sich HWANYEO ’82 als Versuchsanordnung zu verstehen: man kann sich vorstellen, dass Kim Ki-young mal austesten wollte, was passieren würde, wenn man die expressionistischen Elemente der Erzählung (man könnte auch sagen: den offenen Wahnsinn) zügelt und den Raum noch weiter öffnet (letzteres eine lineare Entwicklung in der Reihe – dazu mehr später). Das Resultat ist weitestgehend misslungen. Die Bilder sind flach. Das Haus sieht realer aus, aber eben auch weniger atmosphärisch, weniger klaustrophobisch: das ist nicht mehr der Vorhof der Hölle, sondern in der Tat nur ein biederes Suburbia-Haus. Die Farbgestaltung drückt nicht mehr den entrückten geistigen Zustand der Figuren aus, sondern eher ihren zweifelhaften Geschmack bei Fragen der Inneneinrichtung.

Gleichzeitig erscheint es so, als hätte sich Kim selbst wohl mit dem realistischen Look nicht wirklich wohl gefühlt: immer wieder (also eigentlich: erneut) „zerbricht“ er die Bilder durch Gläser, Gitter, nasse Spiegel und Feuer, was den Gesamteindruck des Films noch inkohärenter macht. Überhaupt will vieles nicht so recht zusammenpassen. Wie in HWANYEO vergewaltigt der Hausherr das Hausmädchen im Vollrausch, und zwar wenige Augenblicke, nachdem er zwei kleine Schlücke Reiswein getrunken hat. Auch Zuschauer, die das Jagen und Sammeln sogenannter Logiklöcher für kunstfeindliche und biedere Pedanterie halten, werden doch anmerken müssen, dass eine unpassende, und völlig angespannte Theatralik entsteht, wenn dieser Mann nach zwei Schlücken sich so verhält, als hätte er gerade stundenlang gezecht. Überhaupt spielt der Hausherr viel zu theatralisch auf für einen Film, der sich ansonsten nüchtern und gediegener präsentieren möchte.

"Zerbrochene" Bilder
Neben dem flachen Look der Bilder krankt HWANYEO ’82 generell an den eher schwachen Darstellern. Am überzeugendsten ist vielleicht die Hausherrin. Doch gerade das Hausmädchen dürfte die gravierendste Fehlbesetzung des Films sein – blass, ohne Eigenschaften, etwas lustlos Dialogsätze rezitierend. Bemerkenswert und interessant ist, dass HWANYEO ’82 die ältesten Hausherren der Reihe hat. Die Alterung der Hausherren-Figuren war bis dahin linear, und brach 2010 wieder ab.

Mit dem späteren HANYO teilt HWANYEO ’82 allerdings den Drang, mit dem Holzhammer zusätzliche Figuren einzuführen, die „funktional“ zu sein haben. Der „kollektive“ Mord aus HWANYEO wird auch 1982 variiert. Das Opfer ist ein Hühnerfarm-Mitarbeiter, der aus heiterem Himmel plötzlich auftaucht (vorher betrieb die Hausherrin ihre Hühnerfarm wie in HWANYEO offensichtlich alleine) und von der Hausherrin als passender Ehemann für das Hausmädchen rausgesucht wird: die Figur wird holprig eingeführt, um sofort danach fast ebenso holprig ermordet zu werden.

Es bliebe noch viel Schlechtes über HWANYEO ’82 zu sagen, etwa, dass die Musik sich als schwer erträgliches Synthie-Gequake entpuppt, aber im Grunde sollte man von diesem Film tatsächlich als misslungenes Experiment sprechen. 2010 hat HANYO einiges vom misslungenen Experiment übernommen. Doch zunächst einige Worte dazu, wer eigentlich hinter diesen bizarren Filmen steckt...



Kim Ki-young

Kim Ki-young wurde ungefähr 1919 in Seoul geboren. 1919 stand in seinem Pass, 1922 war nach eigener Aussage sein eigentliches Geburtsdatum. Er wuchs in Pyongyang auf und lebte auch eine Zeitlang in Japan, der damaligen Kolonialmacht über Korea. Hier lernte Kim fließend Japanisch lesen, schreiben und sprechen und sah in den Kinos der größeren Städte Filme Fritz Langs und Josef von Sternbergs, die ihn nachhaltig beeindruckten. An der Universität Seoul studierte Kim Medizin und machte seinen Abschluss als Hals-Nasen-Ohren-Arzt. In seiner Studienzeit interessierte er sich jedoch sehr für das Theater und gründete ein eigenes universitäres Ensemble, das vor allem klassische westliche Stücke aufführte. Die Hauptschauspielerin, die Studentin der Zahnmedizin Kim Yu-bong, wurde 1951 seine Ehefrau – die Ehe bestand bis zum tragischen und gemeinsamen Tod am 5. Februar 1998. Im Gegensatz zu ihrem Ehemann praktizierte Kim Yu-bong später ihren erlernten Beruf, und als erfolgreiche Zahnärztin unterstützte sie finanziell ihren Ehemann in mageren Zeiten und bezuschusste viele seiner Filme. Die Mäzenin soll angeblich regelmäßig nach der Sichtung von Kims Filmen in Tränen ausgebrochen sein und dabei gefragt haben, was er nur mit ihrem ganzen Geld angestellt habe. Dies belastete aber offensichtlich weder die Ehe noch ihre Bereitschaft, den Ehemann weiterhin finanziell und moralisch zu unterstützen. Ob sich die Situation der Ehepartner teilweise ironisch in den Filmen widerspiegelte? In HWANYEO und HWANYEO ’82 ist die Hausherrin, die einen „grundständigen“ Beruf ausübt, die Hauptverdienerin der Familie, während der künstlerisch tätige Hausherr offensichtlich verhältnismäßig wenig zur Haushaltskasse beitragen kann.

Nach seinem Uni-Abschluss jedenfalls begann Kim gar nicht erst, als Hals-Nasen-Ohren-Arzt zu arbeiten, sondern drehte im Auftrag der United States Information Agency antikommunistische Dokumentarfilme – der laufende Koreakrieg schuf einen „Bedarf“ an solchen Werken und Kim verdiente mehr Geld, als wenn er als Arzt praktiziert hätte. Er drehte im Auftrag der Amerikaner auch einen Spielfilm. Sein zweiter Spielfilm, das historische Melodrama YANGSANDO (YANGSAN PROVINCE), wurde von Kritikern als geschmacklos verschmäht, konnte aber beim Publikum gute Erfolge erzielen. 1956 gründete Kim die „Kim Ki-young Productions“ und drehte weiterhin Melodramen, nunmehr aber als Unabhängiger. Seine Filme standen wegen ihren vielen stilisierten Elementen in einem Gegensatz zum damals dominierenden Realismus im koreanischen Kino. Mit HANYO brach Kim 1960 definitiv mit jeglichem Realismus.

1960 war die „goldenste“ Zeit der „goldenen“ Jahre des koreanischen Kinos. Die sogenannte April-Revolution beendete in diesem Jahr die autoritäre Herrschaft des Präsidenten Rhee Syng-man und ebnete den Weg für die Zweite Republik. Diese führte zu einem offeneren, liberaleren Klima, wurde aber wiederum im Mai 1961 von einem Armeeputsch hinweggefegt. Während dieser kurzen liberalen Zeit sorgten zwei Filme für Sensation. Yu Hyun-moks OBALTAN (AIMLESS BULLET) prangerte in sozialrealistischer Weise und ästhetisch am italienischen Neorealismus orientiert die sozialen Missstände in Korea an und portraitierte eine Familie am Rande der Armut. Kims HANYO, ebenfalls ein großer Kinoerfolg in Korea, zeigte die Gesellschaft vielleicht auf noch viel trostlosere Weise, und demonstrierte zugleich eine Alternative zum im koreanischen Kino: Surrealismus und Expressionismus mit grotesk verzerrter Satire statt sozialem Realismus mit politisch-pädagogischem Bewusstsein. 

HANYO etablierte Kim Ki-young als Regisseur der Genre-Vermischungen, des Surrealismus, des expressionistischen Horrors, der sexuellen Obsessionen, des Grotesken. Auch nach dem Militärputsch 1961, der eine stärkere Kontrolle über die Filmindustrie brachte, inszenierte und produzierte Kim unabhängig und mit geringen Budgets bizarre und provokante Filme. Er drehte in vielen Genres: ein Melodrama über die Geschichte eines zwangsrekrutierten koreanischen Soldaten in der japanischen Armee (HYEONHAETANEUN ALGOITTA / THE SEA KNOWS, 1961), ein ländliches Drama über einen Bauern, der seine alte kranke Mutter zum Sterben in die Berge trägt (GORYEOJANG / BURYING OLD ALIVE, 1963 – eine Geschichte, die auch im japanischen Kino davor und danach verfilmt wurde), ein Rache-Thriller (ASPHALT, 1964), ein Film über die Liebe eines Haarfetischisten zu einer todkranken Frau (YEO / WOMAN, 1968).

In den 1970er und 1980er Jahren geriet Kim in immer größere Schwierigkeiten. Die Militärdiktatur übte eine stärkere Zensur gegen koreanische Kinofilme aus. BAN GEUM-RYEON / THE STORY OF PAN KUMYON, ein im alten China spielendes Eifersuchtsdrama, wurde 1975 verboten und wurde erst 1982 in einer um 40 Minuten zensierten Fassung freigegeben. Ein Jahr später wurde Kim von der Regierung gezwungen, einen antikommunistischen Film zu drehen ((HYEOLYUKAE / LOVE OF BLOOD RELATIONS). Mehreren Quellen zufolge „rächte“ sich der Regisseur, in dem er sich ganz auf den Bösewicht (eine nordkoreanische Spionin) konzentrierte und sie in eine verführerische, sexy femme fatale verwandelte. Größere Schwierigkeiten brachte die zunehmende Popularität des Fernsehens als Konkurrenz zum Kino und auch die Aufhebung von Importrestriktionen für westliche und vor allem US-Filme.

Kim, der meist auch als Drehbuchautor, Produzent und Cutter seiner Filme tätig war und sich stets persönlich in Fragen des Setdesigns involvierte, galt auch persönlich als Exzentriker. Angeblich schrieb er seine Drehbücher nicht zuhause, sondern mietete sich dafür in Billighotels in schäbigen Wohngegenden ein. Er verfasste sie in Japanisch, weil ihm die japanische Sprache als Schriftsprache wohl wesentlich lieber war als das Koreanische und dies ihm zugleich ermöglichte, den Inhalt vor den meisten seiner Mitarbeiter geheim zu halten. Seine Fähigkeit, aus geringen Budgets viel machen zu können, galt als unbestritten, wobei er mit dem Sparen bei sich selbst anfing: zu den Filmsets fuhr er stets im Bus, und nicht mit Chauffeur oder Taxi und kleidete sich stets etwas nachlässig.

Ende der 1980er und Anfang der 1990er inszenierte Kim seine Filme weitestgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit. Doch ab Mitte der 1990er Jahre wurde er nach und nach wieder entdeckt. Eine große Retrospektive in Korea wurde ihm beim Internationalen Filmfestival in Busan 1997 gewidmet. Im selben und darauffolgenden Jahr gingen seine Filme durch Festivalretrospektiven und Cinematheken auch im Ausland. 1998 sollte die erste Kim-Retrospektive außerhalb von Korea bei der Berlinale stattfinden und der Regisseur sollte als Ehrengast anreisen. Sie fand jedoch unerwartet posthum statt: Einige Tage vor der Reise starb Kim zusammen mit seiner Ehefrau bei einem Hausbrand, den wohl ein Kurzschluss ausgelöst hatte. Er war 78 Jahre alt. 

Ganz entscheidend bei der „Wiederentdeckung“ Kims war eine Garde jüngerer Regisseure, die seine Filme auf Video oder in abseitigen Kinos entdeckt hatten: Filmemacher wie Park Chan-wook (OLDBOY, SYMPATHY FOR LADY VENGEANCE, STOKER), Bong Joon-ho (THE HOST, MOTHER, SNOWPIERCER) und Kim Ki-duk (SAMARIA, HWAL, PIETÀ) erklärten Kim Ki-young zu einer Art heiligen Schutzpatron. Park Chan-wook nannte HANYO als den Film, der ihn am meisten beeinflusst hat, und es ist gar nicht so schwer, den Hauch des Klassikers in STOKER wieder zu entdecken. Zu den Kim-Verehrern gehört auch Im Sang-soo, der 2010 HANYO neu verfilmte – bzw. erneut variierte.


HANYO (THE HOUSEMAID)
Republik Korea 2010
Regie: Im Sang-soo
Darsteller: Jeon Do-yeon (das Hausmädchen), Lee Jung-jae (der Hausherr), Seo Woo (die Hausherrin), Yoon Yeo-jeong (die Gouvernante), Park Ji-young (die Mutter der Hausherrin)

Gleiche Geschichte, anderer Regisseur, neuer Film.

Riesige Räume 
Die auffallendste Änderung an HANYO besteht in der kompletten Öffnung des Raums. Der Raum wird sogar so weit geöffnet, dass er dadurch wieder zerstört wird. HANYO ist (ich weiß, psychiatrisch ist der Begriff ungenau) ein agoraphobischer Thriller, ein Film der riesigen Räume. Das Haus der Hausherren ist kein Haus mehr, sondern eine herrschaftliche Villa, die noch zusätzlich durch Wochenendhäuser „ergänzt“ wird. Die riesigen Räume verschlucken die Figuren. Sie sind auch so vielfältig, dass man sie selten wieder erkennen kann. Auch wiederkehrende Räume, wie etwas das Badezimmer der Herren, der Eingangsbereich oder das Klavierzimmer, werden aus inkonsistenten Perspektiven gefilmt. Egal, wo man gerade steht, man fühlt sich in diesem Labyrinth hoffnungslos verloren. Jede neue Szene bringt einen anderen Ort, den man nicht kennt – so verliert sich das Hausmädchen auch immer mehr, wie sie sich auch in den Intrigen der Hausherren verliert.

Diese Öffnung und gleichzeitige Zerstörung der Räume ist die originellste Erneuerung des alten Hausmädchen-Konzepts. Leider bleibt es nur intellektuell spannend, und geht leider nicht wirklich auf. So bleibt das Gefühl des Verlorenseins in der Weite weniger beklemmend als die klaustrophobische Kammerspiel-Atmosphäre in HANYO oder HWANYEO.

Wenn man Filme in „warm“ oder „kühl“ unterteilt, so markiert HANYO ebenfalls einen Bruch mit seinen Vorgängern. Kims Filme waren allesamt bis kurz vor dem Explodieren überhitzt. Ims HANYO hingegen ist nicht nur ein unterkühlter, sondern geradezu ein kalter Film. Das manifestiert sich auch in seiner Farbdramaturgie. Verwischte, entsättigte, monochrome Farben dominieren das Bild – fast wie ein kontrastarmer Schwarzweiß-Film. Diese Kälte ist auch ein Symptom der Distanz, die Im zu dem Geschehen und teilweise auch zu den Figuren aufbaut. Fast teilnahmslos wirkt in HANYO die Kamera – als diskreter Beobachter, nicht als teilnehmender Voyeur.

Hausherrin, Hausherr und Hausmädchen
HWANYEO ’82 legte den Grundstein dazu: HANYO 2010 versucht im Grunde, die gleiche Geschichte um das Hausmädchen rationaler, gediegener, bodenständiger, im Grunde „realistischer“ zu erzählen. Das Problem mit dieser Herangehensweise liegt auf der Hand: der Film wird zu einem sehr langsamen Melodrama (und zu keinem besonders guten). Der pure Wahnsinn, der in Kims Filmen herrschte, wird für ein wenig überzeugendes Showdown aufbewahrt, das wohl Kims Filmtitel von 1970 („Die Feuerfrau“) etwas zu wörtlich genommen hat. Der überaus bizarre, mit extremem Weitwinkelobjektiv gefilmte Epilog, der kaum an das Gesehene anknüpft, erscheint wesentlich interessanter. Graphisch ist HANYO etwas aufgesexter als Kims Filme, aber dafür erstaunlich unspektakulär. Die Verknüpfung von Sex, Wein-Fetischismus und nouveau-riche-Satire ist jedoch ein Glanzlicht!

Das weitere Problem taucht etwa in der Mitte des Films auf (und knüpft im Grunde an eine Schwäche aus HWANYEO ’82 an): es ist die Figur der manipulativen Mutter der Hausherrin. Man kann sie zwar als ganz nette Hitchcock-Hommage lesen, doch sie wirkt rasch wie das materialisierte Sprachrohr ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns. Sollen die beiden Hausherren vielleicht absichtlich degradiert, ja geradezu entmündigt werden? Schwierig zu sagen. Richtig überzeugend ist diese urplötzlich und mit dem Holzhammer eingeführte Figur jedenfalls nicht.

Die manipulative Mutter: eine überflüssige Figur?
Eine weitere nette Hitchcock-Hommage ist sicherlich die Figur der älteren Gouvernante, die als Chefin des Dienstpersonals das Hausmädchen in die Gepflogenheiten des Hauses einführt – Mrs. Danvers lässt grüßen. Auch diese Figur wirkt wie die Mutter eher als Dämpfer, wenn es um die direkten Reibereien zwischen Hausherren und Hausmädchen geht, und es ist zu mutmaßen, ob die Rolle nicht speziell geschrieben wurde, damit Yoon Yeo-jeong, die Darstellerin des Hausmädchens 1970, eine Rolle spielen konnte.

Wo zu viele Figuren eingeführt werden, müssen andere wiederum vernachlässigt werden. Die kleine Tochter der Hausherren etwa lässt ein interessantes Potential erkennen, denn im Gegensatz zu Kims Filmen freundet sich das Hausmädchen regelrecht mit ihr an, ja die beiden werden fast schon zu Verbündeten – ein Aspekt, den der Film leider rasch liegen lässt und nicht weiter verfolgt.

Die vielleicht größte Schwäche von HANYO ist jedoch die eindeutige Sympathieverteilung, die er vornimmt. Aus Kims todbringendem Hausmädchen hat Im eine Art Märtyrer-Hausmädchen gemacht. Ein Opfer. Während Kims Filme – entgegen manch bizarrer Interpretation des Hausmädchens als Bösewicht – die Kategorien zwischen gut/böse, Opfer/Täter vollkommen auflöst, baut Im sie plakativ auf, und beraubt seinen Film, ja eigentlich das ganze Konzept der Hausmädchen-Geschichte, jeglicher Spannung, jeglicher Ambivalenz und jeglichen Unbehagens. Das gute, naive Hausmädchen gerät den Intrigen der verkommenen Hausherren, die auch noch reiche Bonzen sind, zum Opfer – ein Konzept, das sich nicht gerade als sehr tragfähig erweist.

Dennoch ist es völlig egal, wie man es dreht und wendet: die Sache, die man Ims Film als allerletztes vorwerfen könnte, ist, dass es sich um ein reizloses Eins-zu-eins-Remake handle. HANYO ist ein durch und durch eigenständiger Film, und seine Stärken und Schwächen sind fast komplett originär. Im hat Kims Filmen eine sehenswerte Variation hinzugefügt, die durchaus eigenständig für sich stehen kann.



Infos zur Verfügbarkeit der Filme

HANYO 1960
Von den 32 Filmen, die Kim Ki-young gedreht hat, sind lediglich 22 vollständig erhalten. Hinzukommt ein Filmfragment und ein Film ohne erhaltene Tonspur – die anderen acht sind verschollen. Für einen Regisseur, der seine Karriere Mitte der 1950er Jahre begonnen hat, scheint das etwas verwunderlich. Aber das hängt mit der besonders prekären Geschichte der Film-Konservation in Korea zusammen. Filme wurde in den 1950er bis 1970er Jahre auf teils skurrile (und aus cinephiler Sicht fürchterliche) Weise „wiederverwertet“: 35- und 16-mm-Kopien wurden in der Hutindustrie verarbeitet. Zelluloid gab den Hüten Glanz und Stabilität. Nebenbei wurde auch aus vielen Kopien Silber extrahiert. Die Folge ist, dass etwa 70 % aller koreanischen Filme vor 1960 als verschollen gelten. Erst seit Beginn der 1990er Jahre gibt es so etwas wie eine Pflege des Filmerbes in Korea.
Kim hatte HANYO mehrheitlich aus seinem eigenen Geld finanziert und bewahrte das Negativ zu Hause auf. Allerdings fehlten ihm aus heute wohl nicht mehr nachvollziehbaren Gründen zwei Rollen. Eine vollständige Kopie wurde Anfang der 1990er Jahre entdeckt, allerdings hatte sie überdimensionierte und schlecht eingepflegte englische Untertitel. Neben dem üblichen und starken Schmutz mussten auch diese Bild für Bild entfernt werden und die überdeckten Areale rekonstruiert werden. Die im Negativ nicht vorhandenen Szenen wurden so wieder vervollständigt. Die ungleichwertige Erhaltung sieht man dem Film heute an: über weite Strecken hat er eine sehr gute bis hervorragende Qualität, zwei etwas längere Passagen von knappen über 10 Minuten haben eine deutlich schlechtere Bild- und Tonqualität.
HANYO ist in dieser Restauration in einer koreanischen und französischen DVD-Edition sowie in der US-amerikanischen Criterion Collection erhältlich.

HWANYEO
Sehen kann man HWANYEO ganz einfach hier bei youtube! Und zwar völlig legal vor folgendem Hintergrund: das koreanische Filmarchiv betreibt eine eigene youtube-Seite, auf der es Dutzende seiner Filme zur freien Sichtung hochlädt. Einzige Barriere: man muss sich anmelden. Englische Untertitel sind stets vorhanden.
Von Kim Ki-young sind sieben Filme dort zu sehen.

HWANYEO ’82
Darunter auch HWANYEO ’82. Ein Blick jenseits der Kim Ki-young-Playlist in andere Filme dürfte sich natürlich auch lohnen!

HANYO (2010)
Das koreanische Filmarchiv postet auch Filme aus den 1990er Jahren, aber ich glaube, mit den 2000er Jahren ist auch Schluss.
HANYO ist aber auch nicht so tricky zu besorgen wie Kims Filme. Es gibt deutsche, britische, französische und US-amerikanische DVD- und Blu-ray-Editionen.

Mittwoch, 23. Juli 2014

Ein Werwolf in der Pampa

NAZARENO CRUZ Y EL LOBO (NAZARENO CRUZ AND THE WOLF)
Argentinien 1975
Regie: Leonardo Favio
Darsteller: Juan José Camero (Nazareno Cruz), Marina Magali (Griselda), Alfredo Alcón (Teufel), Lautaro Murúa (Sebastian), Nora Cullen (Lechiguana), Juanita Lara (Fidelia), Elcira Olivera Garcés (Damiana), Yolanda Mayorani (Patentante des Teufels)


Während ein heftiges Gewitter tobt, stößt die alte Lechiguana, eine Art wohlwollende Hexe oder Schamanin, eine schreckliche Warnung aus: Jeremías, der schon sechs Söhne hat, müsse unbedingt eine erneute Schwangerschaft seiner Frau Damiana verhindern. Denn falls das siebte Kind auch wieder ein Sohn ist, wird er bei Vollmond unweigerlich zum Werwolf. Der Ausdruck, den sie für "Werwolf" benutzt, ist nicht hombre lobo oder licántropo, was man im europäischen Spanisch erwarten würde (der stilbildende THE WOLF MAN mit Lon Chaney Jr. von 1941 heißt auf Spanisch EL HOMBRE LOBO), sondern lobizón - die argentinische Schreibweise eines Wesens aus der Mythologie der indigenen Sprach- und Kulturgruppe Guaraní, das aus der Verschmelzung eines einheimischen Fabelwesens mit europäischen Werwolfmotiven hervorgegangen ist. So weist der Film schon nach wenigen Sekunden darauf hin, dass hier nicht einfach der Werwolfstoff mit seinen üblichen Zutaten (die zu einem beträchtlichen Teil gar nicht der europäischen Mythologie entstammen, sondern von Curt Siodmak, dem Drehbuchautor von THE WOLF MAN, erfunden wurden) von Hollywood nach Argentinien verpflanzt wurde, sondern dass auf einheimische volkstümliche Sagenstoffe zurückgegriffen wird. Weitere solche spezifisch argentinischen Elemente werden folgen.

Lechiguana (rechts unten ihr gar nicht toter Mann)
Lechiguanas Warnung verhallt ohne Wirkung - Damiana ist bereits schwanger. So hofft jeder, dass das Kind ein Mädchen wird, doch natürlich wird es ein Junge. Um das Schlimmste abzuwenden, wird Lechiguana die Patentante des Jungen, und er erhält besonders "heilige" Vornamen - Nazareno und Cruz (Nazarener = Synonym für Jesus, Cruz = Kreuz). Nazareno Cruz wird seinen Vater und seine sechs Brüder nie kennenlernen - beim Versuch, eine Rinderherde durch einen Fluss zu treiben, ertrinken alle noch vor Nazarenos Geburt in den Fluten. Zunächst scheint alles gutzugehen - Nazareno wächst ohne besondere Vorkommnisse zu einem allseits beliebten jungen Mann heran. Doch der Fluch seiner Geburt ist nicht aufgehoben - er tritt aber erst in Kraft, sobald sich Nazareno zum ersten Mal verliebt. Die Prophezeiung von einst ist in der Gemeinschaft nicht vergessen, aber Nazareno selbst weiß am wenigsten davon. Wenn in seiner Gegenwart Anspielungen oder Witze über Wölfe gemacht werden, weiß er nicht, was er damit anfangen soll.

Nazareno und Griselda, als für sie die Welt noch in Ordnung ist
Eines Tages trifft er bei einem Fest die schöne blonde Griselda. Bei beiden ist es Liebe auf den ersten Blick - und damit nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Schon bei ihrem ersten Tanz werden sie von einem Fremden in nobler Gaucho-Kleidung düster angestarrt. Und kurz darauf - am Tag vor Vollmond - begegnet Nazareno dem Fremden scheinbar zufällig auf freiem Feld. Dieser eröffnet Nazareno, dass seine Verwandlung in einen Werwolf unmittelbar bevorsteht. Nazareno lacht darüber, doch der Fremde macht klar, dass er es ernst meint. Und er macht ein Angebot: Wenn Nazareno der Liebe für immer abschwört, wird er seinem Schicksal entkommen, und als Bonus verspricht ihm der Fremde unermessliche Reichtümer. Doch Nazareno entscheidet sich für seine Liebe. Als Zuschauer hat man längst begriffen, dass der Fremde nur der Teufel persönlich sein kann, aber der etwas schlichte Nazareno braucht deutlich länger, bis er darauf kommt. Hier zeigt sich ein weiteres einheimisches Element: Der Teufel wird mandinga genannt, eine in Argentinien und Chile verbreitete Bezeichnung für den Teufel in Menschengestalt, der sich so unerkannt unter die Menschen mischen kann, um seine bösen Werke leichter zu verrichten. Doch wie sich im weiteren Verlauf des Films zeigt, ist dieser Teufel gar nicht so böse - mehr darüber gleich.

Der Teufel und seine Patentante
Die Vollmondnacht bricht an, und es kommt, wie es kommen muss. Nazareno in der Gestalt eines Wolfs nähert sich einer Schafherde. Vielleicht hätte er nur ein paar Schafe gerissen und die Hirtenhunde getötet, doch ein Schäfer stellt sich ihm in den Weg und muss dran glauben. Weil die alte Prophezeiung noch präsent ist, ist der Schuldige von vornherein bekannt, und so macht sich ein Mob auf die Suche nach Nazareno, um ihn zu töten. Die Führung übernimmt ausgerechnet Griseldas Vater Sebastian (in IMDb und Wikipedia wird er aus unerfindlichen Gründen Julián genannt, er heißt aber wirklich Sebastian). Sowohl Damiana als auch Griselda versuchen vergeblich, ihn zurückzuhalten. Es kommt zu einer nächtlichen Treibjagd, doch die scheitert zunächst, weil Kugeln aus Blei verwendet werden, und ein Werwolf nur mit solchen aus Silber verwundet werden kann (eine von Siodmaks Erfindungen, die hier übernommen wurde).

Sebastian und Damiana
Als Nazareno, wieder in Menschengestalt, am nächsten Morgen irgendwo in der Pampa aufwacht, springt ihn ein Huhn frontal an, wodurch er rücklings in ein Erdloch stürzt, das sich zu einer Höhle und dann zu einer labyrinthischen Unterwelt weitet. Das Huhn verwandelt sich in eine Greisin: die Patentante des Teufels - eine ähnliche Figur wie "des Teufels Großmutter" in einigen europäischen Märchen, und eine ebenso schrille Erscheinung wie Lechiguana. In schneller Folge nimmt sie verschiedene Tiergestalten an, und Nazareno weiß nicht, wie ihm geschieht. Der Ort ist eine Art Vorhölle, in der Anhänger des Teufels und solche, die es werden wollen, ausgebildet und geprüft werden. Der Name für solche Orte ist salamanca - vielleicht nach der spanischen Stadt, an deren alter Universität der Teufel persönlich Vorlesungen gehalten haben soll (andere Version hier). Mandinga selbst tritt auf und führt Nazareno durch dieses unterirdische Reich, das wirkt wie von Hieronymus Bosch erdacht. Mit seiner Patentante spricht der Teufel in Quechua (eine im Andenraum weit verbreitete Sprachfamilie).

In der Unterwelt
In dieser Unterwelt kommen sich die beiden unterschiedlichen Protagonisten auf unerwartete Weise näher. Schon bei einer früheren Begegnung hatte Nazarenos Frage, wie es ist, einen Sohn zu haben, den Teufel etwas aus der Fassung gebracht. Nun greift er selbst das Thema wieder auf: Er konnte die Frage nicht beantworten, weil er keinen Sohn haben kann, weil er aber auch selbst nie Sohn gewesen ist. Er wurde von "ihm" (gemeint ist Gott) sozusagen durch Willensakt in die Welt gesetzt, um seine Aufgabe als Unheilsbringer zu erfüllen, und es wird deutlich, dass Mandinga unter dieser einsamen Position leidet. Wie er Nazareno jetzt erklärt, war das Angebot, die Liebe gegen Reichtum einzutauschen, eine Prüfung, die Nazareno glänzend bestanden hat. Zwar sei sein baldiger Tod unausweichlich, aber dann werde er nicht in der Hölle, sondern bei "ihm" landen. Und dann äußert der Teufel eine erstaunliche Bitte: Weil er selbst nie zu "ihm" vordringen kann, soll Nazareno dort ein gutes Wort für ihn einlegen. Ähnlich wie Fritz Langs "müder Tod" ist er nämlich des Unheils und der Boshaftigkeit überdrüssig. Er sehnt sich nach Erlösung, um auf die "gute Seite" zu wechseln. Mandinga erweist sich hier als unerwartet komplexer und tragischer Charakter, der Nazareno jetzt auf Augenhöhe gegenübersteht.

Feuer ...
Mit Nazareno wieder in die Oberwelt entlassen, strebt die Geschichte ihrem Ende entgegen. Inzwischen wurden Kugeln aus Silber gegossen, und in der nächsten Nacht kommt es wieder zur Treibjagd. Nazareno hält sich versteckt, und Griselda ist bei ihm, aber man spürt sie auf. Sowohl Griselda, die sich schützend vor ihn stellt, als auch Nazareno werden von den Kugeln getroffen, und am Ende liegen beide im Gras und sehen aus wie Adam und Eva, schlafend im Paradies. Und Mandingas Stimme ruft Nazareno hinterher, er solle nicht vergessen, für ihn zu sprechen.

... und Wasser
NAZARENO CRUZ Y EL LOBO weicht nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch von den meisten Werwolffilmen ab. Während Leonardo Favio bei CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO Abstand von Sentimentalität und Dramatik hielt, drückt er hier ganz im Gegenteil voll auf die Tube. Vor allem die beiden nächtlichen Treibjagden sind ganz große Oper. Auch in musikalischer Hinsicht: Hier kommt Verdis "Rigoletto" zum Einsatz. Wirklich aus dem Rahmen fällt das aber nicht - im Gegensatz zu einigen ausgedehnten gemeinsamen Szenen von Nazareno und Griselda. Bei ihrer ersten Begegnung und ihrem ersten Tanz werden sie stark stilisiert in Szene gesetzt: Extreme Großaufnahmen, teilweise in Zeitlupe mit im Wind wehenden Haaren, und Überlagerung mit den Flammen eines Feuers durch Mehrfachbelichtung. Musikalisch unterlegt ist das mit dem Instrumental (präziser: Chor-Vokalise) "Soleado" des italienischen Daniel Sentacruz Ensemble, veröffentlicht 1974. Der ungemein populäre Titel zog viele Coverversionen nach sich, beispielsweise "Tränen lügen nicht" von Michael Holm (mit der Parodie "Dänen lügen nicht" von Otto Waalkes) und als Weihnachtslied "When a Child Is Born" (u.a. Johnny Mathis, Bing Crosby, Boney M). Direkt im Anschluss daran wird "Soleado" gleich nochmal gespielt, und Nazareno und Griselda lieben sich dazu an und in einem Fluss, einschließlich Unterwasser-Aufnahme. In einer weiteren Szene liegen die beiden wild knutschend in einem flachen Flussbett, untermalt von einem Instrumental, das immerhin nicht ganz so dick aufträgt wie "Soleado" - aber immer noch dick genug (da dieses Stück im Gegensatz zu "Rigoletto" und "Soleado" nicht im Vorspann erwähnt wird, dürfte es sich um eine Eigenkomposition von Favios Tonsetzer Juan José García Caffi handeln). Ganz am Schluss, als Nazareno mit Griselda in den Armen getroffen niedersinkt, kommt "Soleado" noch einmal zum Einsatz (und auch hier beginnt die Kamera zu delirieren). Diese Sequenzen und insbesondere die fast schon exzessive Verwendung des Schmachtfetzens "Soleado" entwickeln einen gewissen Kitsch- und Sleaze-Faktor, der an italienische Genrefilme der 60er und 70er Jahre denken lässt.

Ein gewisser Sleaze-Faktor
Ein weiteres auffälliges Merkmal von NAZARENO CRUZ Y EL LOBO sind Tiere, die immer wieder ohne offensichtlichen Bezug zur Handlung in Großaufnahme gezeigt werden. Hier eine Kröte, da eine Eidechse, dort eine Schlange, dazu die Geräuschkulisse der Pampa mit zirpenden Grillen etc. Und immer wieder in Zeitlupe aufstiebende Vögel. Aber sind es wirklich nur Tiere, die da zu sehen sind? Es könnten auch des Teufels Patentante oder der Teufel selbst sein ... Es wurde bisweilen vorgebracht, NAZARENO CRUZ Y EL LOBO sei stilistisch uneinheitlich, insbesondere die erwähnten Szenen mit Nazareno und Griselda würden nicht zum sehr schön und solide gefilmten Rest des Films passen. Ich sehe das aber nicht so. Wenn man von diesem Film so etwas wie Realität erwartet (in dem Sinn, dass der Horror aus dem Einbruch des Irrealen in die Realität erwächst), dann wirken diese Szenen in der Tat befremdlich. Doch an NAZARENO CRUZ Y EL LOBO ist eigentlich von vornherein nichts real - obwohl (oder gerade weil) ein Erzähler aus dem Off am Anfang behauptet, dies sei die "wahrste Geschichte der Welt", die der Teufel dem Großvater des Erzählers und dieser ihm selbst erzählt habe, und die er nun uns, den Zuschauern, erzählen wird. Das alles ist von Anfang an ein irreales Trugbild, eine Phantasmagorie. Das zeigt sich etwa an Lechiguana und den Personen in ihrem Umfeld. In ihrer bizarren Behausung (eine Art Wohnhöhle) liegt ihr Mann seit 40 Jahren im Bett und ist drapiert wie ein aufgebahrter Toter, obwohl ihm eigentlich nichts fehlt (wie sie zumindest behauptet). Noch rätselhafter ist Lechiguanas Enkelin Fidelia. Als Lechiguana am Anfang ihre Warnung ausstößt, sagt Fidelia dazu einen morbiden Kinderreim auf, der als Omen für das kommende Unheil dienen kann. Und dann, rund 20 Jahre nach dem Prolog, sagt sie den Reim immer noch auf, und sie ist nicht älter (oder zumindest nicht größer) geworden. Eine vollkommen mysteriöse Figur. Das alles wirkt wie ein Fiebertraumgebilde, und da passen stilistische Exzesse bestens hinein. Puristische Horrorfans mögen das aber anders sehen und die eine oder andere Szene nicht goutieren.

Fidelia
Das Drehbuch zu NAZARENO CRUZ Y EL LOBO schrieben Favio und sein Bruder Zuhair Jury nach der Vorlage eines Radio-Hörspiels von einem Juan Carlos Chiappe. Als der Film 1975 herauskam, brach er alle Kassenrekorde für einheimische Filme, und er ist mit 3,4 Mio. Zusehern immer noch der erfolgreichste argentinische Film aller bisherigen Zeiten (Favios Gaucho-Drama JUAN MOREIRA liegt mit 2,4 Mio. auch noch gut im Rennen). Er gewann auch drei Preise bei einem Festival in Panama, war in Moskau im Wettbewerb und wurde als argentinischer Beitrag zum Oscar für den besten fremdsprachigen Film nominiert (allerdings nicht für die Endrunde akzeptiert). - Nora González Pozzi, Gründerin und Leiterin des Estudio de Comedias Musicales in der argentinischen Großstadt Rosario sowie Präsidentin der Fundación Rosario Arte & Cultura, schrieb vor einigen Jahren eine Musical-Version von NAZARENO CRUZ Y EL LOBO, die erfolgreich im dortigen Teatro El Círculo aufgeführt wurde (hier die offizielle Website). Als besonderer Clou wurde Film-Nazareno Juan José Camero für das Ensemble verpflichtet. - NAZARENO CRUZ Y EL LOBO ist auf einer argentinischen DVD ohne fremdsprachige Untertitel erschienen. Englische Untertitel gibt es auf einschlägigen Websites zum Download.

Große Oper und das Ende

Donnerstag, 17. Juli 2014

Argentinische Chronik einer Kindheit

CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO (engl. CHRONICLE OF A BOY ALONE, auch CHRONICLE OF A LONELY CHILD)
Argentininen 1965
Regie: Leonardo Favio
Darsteller: Diego Puente (Polín), Victoriano Moreira (Fiori), Leonardo Favio (Fabián), Beto Gianola (Polizist), Tino Pascali (Justizbeamter)

Polín mit alter und neuer Frisur
Der elfjährige Celedón Rosas, von allen nur "Polín" genannt, ist Insasse eines Erziehungsheims für Jungen irgendwo im Großraum Buenos Aires. Der Ort gleicht mehr einer Kadettenanstalt als einer Schule, die Erwachsenen sind eher Wärter als Erzieher, etwa der knochentrockene Fiori, der mit den Jungen hauptsächlich per Trillerpfeife kommuniziert. Polín und die anderen träumen von Flucht, untereinander herrscht teilweise Solidarität, teilweise Rivalität - so kommt es zu einer Prügelei zwischen dem für sein Alter schon ziemlich abgebrühten Polín und einem anderen Jungen um die soziale Hackordnung, ohne große Begeisterung von beiden, aber die Spielregeln lassen keinen Rückzieher zu. Dummerweise werden sie von Fiori überrascht, was demütigende Strafmaßnahmen nach sich zieht. Als Fiori eines Tages wieder einmal Polín aus geringfügigem Anlass schlägt, kann sich dieser nicht mehr beherrschen und schlägt zurück. Das hätte er besser nicht getan, denn jetzt landet er zunächst auf dem Polizeirevier und dann in einer Arrestzelle. Doch mit Hilfe seines Gürtels und einer akrobatischen Einlage gelingt ihm die Flucht.

Im Heim
Zu Fuß und mit dem Bus macht sich Polín auf den Weg nach Hause, in eine Slumsiedlung (in Argentinien villa miseria genannt) in den Außenbezirken von Buenos Aires. Im Bus zeigt sich, wie abgebrüht Polín schon ist: Er klaut einem anderen Fahrgast ein Geldbündel aus der Tasche, und es ist offensichtlich, dass er das nicht zum ersten Mal macht. Zuhause nehmen Políns Eltern seine unerwartete Rückkehr mit gelinder Überraschung und wenig Begeisterung zur Kenntnis. Weil ein Nachbar auf etwas unklare Weise zu Tode gestürzt ist, herrscht in der Siedlung gerade erhöhte Polizeipräsenz, was Polín nervös macht. Deshalb macht er sich mit einem befreundeten Jungen erst mal davon, um einige Stunden beim Baden an einem nahen Fluss zu verbringen. Doch auch dort herrscht bald dicke Luft: Drei andere Jungen machen sich über Políns fast kahl geschorenen Schädel, den er im Gefängnis erhalten hat, lustig, und sie vergreifen sich an seinem Freund, mit dem sie noch eine Rechnung offen haben, während Polín aus sicherer Entfernung tatenlos zusehen muss. Zurück in der Siedlung, begegnet Polín dem jungen Zuhälter Fabián (von Favio selbst gespielt). Der will seine Kutsche, die von einer alten Schindmähre gezogen wird, demnächst gegen einen Ford eintauschen, deshalb macht er Polín das Angebot, ihm den Gaul zu verkaufen. Im Grunde ein illusorischer Vorschlag, aber Polín gerät darüber ins Träumen. Nach Einbruch der Dunkelheit schleicht sich Polín zu Fabiáns schäbigem Slum-Puff und beobachtet das Treiben der Schlange stehenden Freier, dann schnappt er sich das Pferd und macht damit einen nächtlichen Spaziergang. Doch er läuft geradewegs einem Polizisten in die Arme, der aufgrund Políns Gefängnisfrisur den Braten riecht und ihn mitnimmt. Políns Freiheit hat gerade mal einen Tag gedauert.

Fiori mit seinem bevorzugten Kommunikationsmittel
Leonardo Favios erster Spielfilm über ein Kind an der fließenden Grenze zwischen Rebellion und Kriminalität muss sich hinter Klassikern des Genres wie Buñuels LOS OLVIDADOS nicht verstecken - im Gegenteil, er ist selbst ein Klassiker des argentinischen Films. Favio hält sich von Sentimentalität und übertriebener Dramatik fern und betätigt sich als nüchterner Chronist der Zustände - das CRÓNICA im Titel hat durchaus seine Berechtigung. Neben Dialogpassagen gibt es immer wieder längere wortlose Sequenzen, teilweise als ausgetüftelte Plansequenzen gestaltet. Musik wird sehr sparsam eingesetzt, nur drei oder vier Passagen sind mit klassischer Musik unterlegt. Diese Szenen haben mich etwas an Bresson erinnert, speziell an EIN ZUM TODE VERURTEILTER IST ENTFLOHEN. Die eine oder andere Anleihe bei der Nouvelle Vague gibt es auch, und im Gestus steht der Film auch dem Neorealismus nicht fern, vor allem die zweite Hälfte in der villa miseria. Man kann gelegentlich lesen, CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO sei nicht nur eine Anklage gegen die Zustände in den staatlichen Besserungsanstalten und Waisenhäusern, sondern auch gegen das "faschistische Regime" in Argentinien im Allgemeinen. Allerdings war von 1963 bis 1966 eine zivile Regierung unter einem demokratisch gewählten Präsidenten an der Macht - im Argentinien der 50er und 60er Jahre nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Und der Präsident wurde denn auch 1966 durch einen Militärputsch gestürzt, und es regierten wieder Generäle. Dieses Regime war zwar weit weniger schlimm als die Militärjunta, die nach dem Putsch von 1976 Zehntausende foltern und ermorden ließ, aber alles andere als liberal war es dennoch. CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO gewann Preise auf den Festivals von Mar del Plata in Argentinien und Acapulco in Mexiko, und er erhielt den argentinischen Filmpreis Cóndor de Plata (Silberner Kondor) für den besten Film - und dann wurde er verboten. Das Verbot überdauerte auch die Wiederherstellung der Demokratie in den 80er Jahren. Erst 1996, nach drei Jahrzehnten, wurde CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO wieder aus dem Giftschrank geholt. Und noch heute ist er in Argentinien erst ab 18 freigegeben (was vielleicht daran liegt, dass Polín und zwei der anderen Jungen bei der langen Sequenz am Fluss keine Badehosen tragen).

In der Zelle
Leonardo Favio (1938-2012), als Fuad Jorge Jury in der argentinischen Provinz Mendoza geboren, entstammte einer Familie syrisch-libanesischer Herkunft. Favio hatte eine schwierige Kindheit und Jugend - er wuchs in einem Armenviertel auf, der Vater verließ die Familie früh, die Mutter strampelte sich ab, um die Kinder durchzubringen, und der halbwüchsige Leonardo kam mit dem Gesetz in Konflikt und sah auch das Gefängnis von innen. CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO trägt also autobiografische Züge - das Drehbuch schrieb Favio gemeinsam mit seinem Bruder Jorge Zuhair Jury, der regelmäßig als Co-Autor für Favio arbeitete und auch selbst einige Filme inszenierte. Nach Verirrungen als Priesterseminarist und bei der Marine wurde Favio als junger Mann schließlich Schauspieler und fand damit seinen Weg. Von 1957 bis 1971 spielte Favio in gut 20 Filmen, insbesondere in sechs Filmen von Leopoldo Torre Nilsson, der ihn förderte, und mit dem sich Favio befreundete. In einer Texttafel am Anfang von CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO widmet Favio den Film seinem Mentor Torre Nilsson. Seine frühen Auftritte, etwa in Torre Nilssons EL SECUESTRADOR und LA MANO EN LA TRAMPA verschafften dem gutaussehenden Favio den Ruf eines argentinischen James Dean. Doch bald zog es ihn auch hinter die Kamera. Nach zwei Kurzfilmen, einer davon unvollendet, war CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO wie erwähnt Favios erster Spielfilm, dem bis 2008 sieben weitere folgen sollten. Und seit den 60er Jahren verfolgte Favio noch eine dritte Karriere, nämlich als Sänger und Songschreiber von Balladen, mit denen er nicht nur in Argentinien, sondern auch in anderen lateinamerikanischen Ländern ungemein populär war.

Villa miseria
Favio war ein langjähriger und prominenter Anhänger von Juan Perón und seiner Politik. Als Perón 1972 von Spanien zu einem kurzen Besuch nach Argentinien flog, um das mögliche Ende seines Exils zu erkunden, war Favio auf Peróns Einladung mit an Bord der Maschine, und als es bei Peróns offizieller Rückkehr aus dem Exil 1973 beim Flughafen von Buenos Aires zum "Massaker von Ezeiza" (ein Anschlag des rechten Flügels der Peronisten auf den linken Flügel) kam, befand sich Favio mitten im Getümmel und versuchte vergeblich, die Schießerei zu beenden. 1975 drehte er mit NAZARENO CRUZ Y EL LOBO seinen kommerziell erfolgreichsten Film, 1976 folgte noch ein Film (in dem Argentiniens tragischer Box-Heroe Carlos Monzón eine Hauptrolle spielt), aber dann war Favios Regiekarriere schon fast vorbei. Als die peronistische Regierung unter Isabel Perón (Juan Perón war mittlerweile verstorben) 1976 vom Militär gestürzt wurde und der "schmutzige Krieg" gegen Oppositionelle (und solche, die man dafür hielt) begann, ging Favio ins Exil, das er größtenteils in Kolumbien verbrachte, und das für ihn bis 1987 dauerte. Filme drehte er in den Jahren des Exils nicht, aber seine Musikkarriere konnte er mit Plattenveröffentlichungen und ausgedehnten Tourneen durch halb Lateinamerika nahtlos fortsetzen.

Auszeit am Fluss
Nach seiner Rückkehr inszenierte er 1993 und 2008 noch zwei Spielfilme, wobei er insbesondere mit seinem letzten Film ANICETO (ein Remake seines zweiten Spielfilms EL ROMANCE DEL ANICETO Y LA FRANCISCA von 1967) wieder an alte Erfolge anknüpfen konnte. Dazwischen hatte er 1999 die fast sechsstündige Dokumentation PERÓN, SINFONÍA DEL SENTIMIENTO über sein politisches Idol (und damit über ein paar Jahrzehnte argentinischer Geschichte) veröffentlicht, die, wie nicht anders zu erwarten, von Anhängern und Gegnern des Peronismus sehr unterschiedlich beurteilt wurde. In den letzten 15 oder 20 Jahren von Favios Leben hatte bereits seine Kanonisierung eingesetzt. 1998 ließ das argentinische Magazin Tres Puntos in einer Umfrage unter 100 Filmschaffenden den besten argentinischen Regisseur und die besten fünf argentinischen Filme aller Zeiten ermitteln, und dabei landeten Favio und seine erste ANICETO-Version jeweils auf dem ersten Platz, und als zwei Jahre später das Museo Nacional de Cine Argentino in einer weiteren Umfrage unter 100 Kritikern und Filmhistorikern nach den 100 besten argentinischen Tonfilmen suchte, kam CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO mit mehr als 75% der Stimmen auf den ersten Platz. Neben weiteren Ehrungen wurde Favio 2010 von der Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner zum Kulturbotschafter des Landes ernannt.

Leonardo Favio als Zuhälter mit nicht standesgemäßem Fortbewegungsmittel
CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO ist in Argentinien auf einer DVD mit englischen Untertiteln erschienen. - Mehr von Leonardo Favio demnächst in diesem Theater: Ein Werwolf in der Pampa.