Samstag, 24. Oktober 2015

Kurzbesprechung PORCILE

Wer sich wundert, warum hier bei „Whoknows Presents“ in letzter Zeit so wenig Neues kam: Manfred und ich sind im Abstand von nur wenigen Wochen umgezogen. Manfred hatte dies ja angekündigt. Ich habe es versäumt (Asche auf mein Haupt). Und natürlich kennt ihr es alle: nach dem Umzug ist vor dem richtigen Einleben, und bis man sich an die neue Lebenssituation gewöhnt hat, sind einige Tage, sogar Wochen und viele Gelegenheiten für das Verfassen von Filmartikeln vergangen. Ich hoffe, dass auf „Whoknows Presents“ bald wieder regelmäßiger neue Posts kommen.

In der Zwischenzeit ein kleiner Übergangs-Schmankerl – „wiederverwertet“, aber hoffentlich trotzdem einigermaßen genießbar.
Die folgende Kritik von Pier Paolo Pasolinis PORCILE habe ich im April / Mai dieses Jahres für ein Online-Magazin verfasst. Dort wurde sie bisher nicht gepostet. Daher sehe ich diese DVD-Besprechung als de-facto-Schubladentext, den ich hiermit endlich der Öffentlichkeit freigebe – wie gesagt eben auch, damit die Pause bis zum nächsten, umfangreicheren Text nicht noch länger wird. Bis auf wenige kleine Änderungen handelt es sich um den Originaltext.

PORCILE („Der Schweinestall“)
Italien / Frankreich 1969
Regie: Pier Paolo Pasolini
Darsteller: Pierre Clémenti (der junge Kannibale), Jean-Pierre Léaud (Julian Klotz), Alberto Lionello (Herr Klotz), Ugo Tognazzi (Herdhitze), Anne Wiazemsky (Ida), Marco Ferreri (Hans Günther), Franco Citti (Kannibale), Ninetto Davoli (Maracchione)

„Ich habe meinen Vater getötet, Menschenfleisch gegessen und ich zittere vor Freude!“ Kurz vor seinem Tod rezitiert der Protagonist von PORCILE diesen Satz, und wiederholt ihn immer wieder, bis er die Textur eines Gedichts oder gar eines Gebets bekommt. Auch der eine oder andere Zuschauer dürfte in diesem Moment erzittern ob des Schauers, der ihm über den Rücken läuft.

PORCILE verwebt zwei Geschichten mit komplett unterschiedlichen Figuren, die zu ganz unterschiedlichen Zeiten leben, und das in ganz unterschiedlicher Weise inszeniert. In der ersten Episode irrt ein junger Mann (Pierre Clémenti) durch eine gespenstische karge Landschaft aus Steingeröll. In der Vergangenheit? In einer postapokalyptischen Gegenwart? In der Zukunft? Schwer zu sagen! Der hungernde Mann trifft einen Soldaten, tötet ihn und isst ihn. Die Zeit vergeht, und mehr und mehr Männer schließen sich dem Kannibalen an, um Passanten auszurauben, zu töten und zu verspeisen. Dies ruft dann auch bald die Ordnungsmächte der naheliegenden Stadt auf den Plan.
In der zweiten Episode irrt der junge Julian Klotz (Jean-Pierre Léaud) durch das prunkvolle Schloss seines Vaters (Alberto Lionello), einem Altnazi, der während des Wirtschaftswunders zu einem führenden, erfolgreichen und respektierten Unternehmer geworden ist. Der unentschiedene junge Mann unterhält sich mit seiner Freundin Ida (Anne Wiazemsky) über revolutionäre Politik, verfällt zwischendurch in ein Wachkoma und fühlt sich vom Schweinestall des Anwesens stark angezogen. Währenddessen spinnt sein Vater mit seinen Altnazikollegen Hans Günther (Marco Ferreri) und Herdhitze (Ugo Tognazzi) Intrigen.

PORCILE galt lange Zeit als der „verschollene Pasolini-Film“, als „missing link“ zwischen dem frühen und späten Werk des bis heute umstrittenen italienischen Regisseurs. Das gilt besonders für Deutschland. Aber auch außerhalb wurde dieser Film wesentlich spärlicher rezipiert als andere Produktionen Pasolinis. Man kann, wenn man will, diese mysteriöse Aura auch im Film selbst sehen oder ihn aber „gegen den Strich“ als den vielleicht klarsten Film des Italieners sehen.

Fast schon tabellarisch könnte man die „Kannibalen-Episode“ und die „68er-Episode“ (nennen wir sie im folgenden der Einfachheit halber so) miteinander vergleichen und gegenüberstellen. Erstere ist purer Film, distanziert und nüchtern inszeniert, ein Bilderreigen fast komplett ohne Dialoge, in der die Darsteller minimalistisch agieren. Zweitere ist purer Diskurs, in langen Plansequenzen und ausgetüftelten Dekors manieriert in Szene gesetzt, ein Dialogmarathon mit expressiven, maximalistisch agierenden Darstellern. Wie von verschiedenen Regisseuren in unterschiedlichen Universen wirken die beiden Episoden, und werden scheinbar nur durch die verschränkende Montage zusammengehalten.

Doch so unterschiedlich die zwei Geschichten von PORCILE auch sein mögen, so untrennbar gehören sie zusammen formal wie inhaltlich. Sie funktionieren erst dadurch richtig, dass sie ineinander verschlungen sind, sich gegenseitig ihren Erzählfluss immer wieder abrupt unterbrechen. Die „Kannibalen-Episode“ wirkt sicherlich ursprünglicher und scheint eher dazu prädestiniert, einen unabhängigen Film zu bilden. Als solcher würde sie wahrscheinlich aber irgendwann ihren mysteriösen, fast mystischen Zauber verlieren. Von der modernen „68er-Episode“ ständig unterbrochen wirkt sie mit jedem „Neubeginn“ wieder frisch, überraschend, irritierend, verstörend. Die „68er-Episode“ hingegen würde zusammenhängend wohl die Wirkung eines mit Gewalt eingeführten pädagogischen Mastschlauchs entwickeln. Erst durch die stetige Unterbrechung der „Kannibalen-Episode“ entwickelt die antibourgeoise und antifaschistische Satire, die zu Beginn wie eine Karikatur ihrer selbst aussieht, eine reflektierte Ernsthaftigkeit und schließlich eine ganz eigene, perverse Faszination.

Mit zunehmender Laufzeit erschließen sich auch nach und nach inhaltliche Zusammenhänge. Julian etwa redet ständig von Rebellion, der Kannibale begeht sie. Die „Kannibalen-Episode“ macht Gewalt recht explizit auf einer sehr unmittelbaren und körperlichen Ebene erfahrbar. In der „68er-Episode“ ist sie kaum weniger abwesend, zumal diese nicht zuletzt auch vom Holocaust handelt, tritt jedoch nicht explizit auf den Plan, sondern lediglich dialogisch und hochzivilisatorisch „sublimiert“ und ist wohl eben deswegen noch unerträglicher, weil beiläufiger. Im letzten Drittel wird dann auch in beiden Episoden eine Beobachterfigur eingeführt, jeweils gespielt von dem Pasolini-Stammdarsteller Ninetto Davoli. Spätestens hier (oder auch schon früher, als Julian kurzzeitig in ein Wachkoma fällt) kann man sich fragen, ob die „Kannibalen-Episode“ ein Traum Julians ist, der darin mittels eines alter ego alles macht, wozu er sich in der Wirklichkeit der „68er-Episode“ nicht traut: gegen seinen Vater und dann gegen die komplette Gesellschaft wahrhaftig zu rebellieren.

PORCILE ist zweifelsohne ein sehr intellektueller Film, dabei ist er aber im Gesamtdesign und im Detail auch sehr sinnlich. Besonders die fast dialogfreie „Kannibalen-Episode“, gedreht auf dem Ätna, hat es in sich. Die scheinbar endlose, desolate Geröll-Landschaft, durch die sich der zornige junge Mann bewegt, fängt Pasolini fast irreal und geisterhaft ein, fügt ihr eine mystische Note bei. Dadurch entsteht hier in einer gewissen Weise das, was man sich ungefähr unter einem Pasolini-Science-Fiction-Film vorstellen könnte. Auch der „Sündenfall“ des jungen Mannes, nämlich der Mord an dem Soldaten, wird in unvergesslichen Bildern eingefangen: ein Kampf auf Leben und Tod, der unter dem Zeichen einer latenten erotischen Spannung steht und der in einer kurzen Bilderfolge Gefecht, Freundschaft, Begehren, Unterwerfung, Rache und Erbarmungslosigkeit nacheinander folgen lässt. Nun, vielleicht hätte Pasolini zusätzlich zu PORCILE sich auch noch an einer Langfassung der „Kannibalen-Episode“ versuchen sollen...


PORCILE wurde vor einem Jahr in Deutschland von Filmedition 451 auf DVD veröffentlicht. Bild- und Tonqualität sind sehr gut, wenn auch im positiven Sinne nicht makellos (die Körperlichkeit des Filmmaterials ist stets wunderbar zu spüren). Die Scheibe selbst präsentiert sich so spartanisch wie eine Gerölllandschaft am Ätna, mit nur einigen Trailern anderer Pasolini-Filme, die Filmgalerie 451 herausgebracht hat. Sehr schön ist allerdings das 24-seitige Booklet mit Georg Seßlens Essay „Versuch über Pasolinis lange unsichtbaren Film“, in dem der Filmkritiker kenntnisreich Deutungsansätze und Querverbindungen zu anderen Pasolini-Filmen (u. a. SALÒ) präsentiert.

Von PORCILE gibt es auch DVD-Edition aus Frankreich, UK, Italien und offenbar auch Norwegen, die ich allerdings nicht einschätzen kann.

Sonntag, 13. September 2015

Ein (Nicht-)Musical in Rot

HOT BLOOD
USA 1956
Regie: Nicholas Ray
Darsteller: Cornel Wilde (Stephano Torino), Jane Russell (Annie Caldash), Luther Adler (Marco Torino)


Marco Torino ist in großen Sorgen. Er ist der König einer großen Roma-Gemeinde in einer sonnigen US-amerikanischen Stadt (wahrscheinlich Los Angeles) – das ist keine einfache Aufgabe, und sie wird ihm zunehmend schwer fallen, denn er ist lungenkrank und muss sich entweder bald zurückziehen und zur Ruhe setzen oder aber sterben. Seine Krankheit verheimlicht er gegenüber seinen Angehörigen. Deshalb arbeitet er fleißig daran, eine Nachfolge zu finden. Die Wahl fällt auf den jüngeren Bruder Stephano, der jedoch Probleme macht: Stephano hat sich von der traditionellen Roma-Kultur entfernt und möchte am liebsten ein bürgerliches US-Leben führen, mit einer „Gajo“-Freundin und einem Job als Tanzlehrer bei reichen „Gajo“-Familien. Damit der kleine Bruder König der Gemeinde werden kann, muss er nach Marcos Willen heiraten und zwar eine richtige Romni, die ihn auf den richtigen Weg bringt. Die passende Kandidatin ist schnell gefunden: Annie Caldash, die Marco kürzlich aus dem Gefängnis zusammen mit ihrem Vater und ihrem Bruder (gespielt von James H. Russell – auch im wahren Leben Jane Russells Bruder) befreit hat, in dem er ihre Kaution bezahlte.

Alle sind mit der geplanten Hochzeit zufrieden, außer Stephano, der sich von seinem Bruder nichts vorschreiben lassen und keine Unbekannte heiraten möchte (auch wenn er ihre üppige Oberweite anerkennend begutachtet hat). Doch Annie offenbart Stephano, dass sie sowieso ganz eigene Pläne hat: sie, ihr Vater und ihr Bruder sind eigentlich Ehebetrüger, die nur Marcos Mitgift kassieren wollen. Kurz, bevor die Ehe ausgesprochen wird, soll Annie ein Malaise vortäuschen und würde dann mit dem Geld abhauen. Ein Plan, der Stephano gefällt: so muss er nicht wirklich heiraten, und wenn sein Bruder eins ausgewischt bekommt, dann freut er sich umso mehr.

Natürlich kommt alles anders, und die Hochzeit läuft nicht so, wie geplant. Das heißt eigentlich: sie läuft tatsächlich so, wie eine Hochzeit üblicherweise läuft. Annie täuscht nämlich kein Unwohlsein vor, sondern lässt die Ehezeremonie tatsächlich vollziehen. Ihr überraschter Vater gerät darüber in Tränenausbrüche (was die Anerkennung aller Anwesenden hervorruft „so viele Emotionen“!). Der vollkommen düpierte und nun frisch vermählte Stephano wird darüber hingegen zur Weißglut getrieben, doch muss er seine Wut während der restlichen Festlichkeiten zügeln. Nur die Peitsche bei dem Braut-und-Bräutigam-Peitschentanz lässt er besonders heftig knallen.

Marco Torino ist krank und sucht einen Nachfolger
Sein Bruder Stephano wird zu einer Ehe überlistet
Als beide sich dann im Schlafgemach befinden, fliegen die Fetzen und werden gar Fenster zu Bruch gebracht, was die Hochzeitsgäste, die vor der Zimmertür kampieren und singen, als großes „Temperament“ deuten. Im Inneren des Zimmers befindet sich das Paar allerdings nicht in stürmischer Umarmung, sondern in einem tiefen Streit. Annie möchte tatsächlich eine ernsthafte Ehe führen. Stephano droht hingegen gleich mit einer Scheidung nach traditioneller Roma-Manier: er wird vor dem Rat der Gemeinde aussagen, dass es „keine Liebe“ gibt – und fertig wäre die Sache. Stephano geht dann zu einem Date mit seiner „Gajo“-Freundin weg. Seine Wut tobt er letztlich damit aus, dass er dem Agenten einer Tanzlehrervermittlung, der ihn wohl aus Rassismus nicht eingestellt hat, eine öffentliche Tanzvorführung gibt und ihn schlussendlich durch ein Schaufenster schmeißt. Die Polizei ist bald zur Stelle, und so verbringt Stephano seine Hochzeitsnacht im Knast.

Marco bezahlt natürlich die Kaution für seinen Bruder, während der Rest der Familie nichtsahnend im Wohnzimmer sitzt und wartet, bis das Ehepaar aufsteht und zum Frühstück rauskommt. Stephano, dem das alles egal ist, benutzt nicht die Schleichwege und so kommt offiziell raus, dass er die Hochzeitsnacht nicht bei seiner Frau verbracht hat. Für Marco ist es nun umso wichtiger, dass Stephano endlich in seiner Ehe ankommt. Er bittet Annie, Stephano um jeden Preis zu ihrem Ehemann zu machen (ergo: zu verführen), damit er ein guter Nachfolger wird und setzt Stephanos Ehefrau sogar in Vertrauen über seinen Gesundheitszustand. Die möchte sowieso ihren Ehemann verführen und mischt ihm auch einen leckeren Wein mit Pfirsichen. Stephano, leicht betrunken, deutet nun Annie gegenüber an, dass er die nächste Nacht ganz gerne mit ihr verbringen würde. Genau in diesem Augenblick platzt Marco, der die letzten paar Minuten an der Tür gelauscht hat, rein. Stephano, der in der Situation (nicht ganz zu Unrecht) ein Arrangement zwischen Marco und Annie hinter seinem Rücken wittert, läuft wutentbrannt weg, um sich mit seiner „Gajo“-Freundin zu treffen und vielleicht sogar mit ihr auf Tanztournee zu gehen. Dass Annie ihm folgt und dann die Freundin sogar in eine Kneipenschlägerei verwickelt, besiegelt endgültig seinen Entschluss, wegzugehen.

So beginnt Stephanos Tanztournee – während derer er immer wieder an Annie denken muss. Deshalb kehrt er rasch zurück, nur um zu entdecken, dass bei einer großen Feier seine Ehefrau recht fröhlich mit seinem Bruder tanzt und die beiden recht doppeldeutige Sachen sagen. Stephano reagiert etwas eifersüchtig – was Annie und Marco tatsächlich eiskalt zusammen kalkuliert haben, um den wütenden Ehemann besser an seine Frau zu binden. Der Abend endet damit, dass Stephano wieder Lust auf seine Ehefrau hätte, doch die will nur schlafen und fühlt sich am nächsten Morgen absolut elend. Das liegt daran, dass sie aus Versehen ein Aphrodisiakum geschluckt hat, das der Opa (nach einem Originalrezept aus Serbien) spontan für Stephano gebraut hatte. An dem fürchterlichen Gebräu wäre zweifelsohne jedem Menschen speiübel geworden, doch natürlich denken jetzt alle, dass Annie schwanger sei. Auch Stephano denkt das, nimmt aber an, dass Marco der Vater des (nichtexistenten) werdenden Kindes sei. So bricht er auf, um seinen Bruder zu verprügeln und verkracht sich dann definitiv mit Annie. Als er jedoch erfährt, dass Marco totkrank ist, wird er wieder weich. Zu spät: beim nächsten Ratstreffen des Clans wird Stephano zum neuen König gewählt und seine erste Amtshandlung besteht darin, vor dem versammelten Rat Annies Scheidungsantrag („There is no love!“) zu bestätigen. Als sich die Versammlung auflöst, spornt Marco seinen Bruder dazu an, wie ein „Gajo“ zu handeln und Annie nachzurennen. Dies tut er, hält um ihre Hand an, beide liegen sich in den Armen und Stephano trägt Annie auf den Schultern ins nächstgelegene Zimmer, um nun die Ehe endlich zu „vollziehen“.

Ende gut, alles gut: Stephano trägt Annie über die Schulter ins nächste freie Zimmer

Nicholas Ray drehte in seiner Karriere noirs, Westerns, Melodramen und auch das eine oder andere Epos, jedoch weder ein Musical, noch eine Screwball-Komödie (auch wenn JOHNNY GUITAR – hier einige Worte von mir zu diesem Film – sich teilweise wie ein Musical mit gesprochenen Worten statt Gesängen und Gewaltausbrüchen statt Tänzen anfühlt). HOT BLOOD ist gewissermaßen das, was in Rays Filmographie einem Musical und einer Screwball-Komödie am nächsten kommt. In die Kinos kam HOT BLOOD zwischen den Meilensteinen REBEL WITHOUT A CAUSE und BIGGER THAN LIFE und gilt heute gemeinhin als kurioses Nebenwerk, wobei dies meist tendentiell eher pejorativ gemeint ist.

Die Franzosen wussten es natürlich als erste bereits besser. Jean-Luc Godard, dem kein Superlativ auf der Welt grandios genug war, um DIE Ikone der späteren nouvelle-vague-Rebellen zu loben, schrieb 1957 in seiner Kritik zu HOT BLOOD mit dem Titel „Rien que le cinema“ (Nichts anderes als das Kino), dass Nicholas Ray der einzige Regisseur der Welt sei, der nicht nur fähig, sondern auch willens wäre, das Kino im Falle seines Verschwindens neu zu erfinden. Etwas weniger ekstatisch lobte François Truffaut die Lebendigkeit und Inszenierung des Films.

Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Es gibt viele und gute Gründe dafür, HOT BLOOD dämlich zu finden. So ist das Drehbuch etwa ziemlich klobig und ruckelt an vielen Ecken und Enden. Marcos schwere Krankheit bleibt die meiste Zeit eine reine Behauptung: manchmal hüstelt Luther Adler etwas vor sich hin, aber so etwas wie Fallhöhe wird noch nicht mal im Ansatz entwickelt. Die Konflikte zwischen den beiden Brüdern scheinen die meiste Zeit wie aus der Konservendose zu kommen und eine tragische oder überhaupt ernsthafte Ebene wird da nie erreicht (selbst dann nicht, als Stephano Marco verprügelt). Das aufgepappte Happy-End könnte lächerlich sein, weil er einfach nicht zu den Konflikten passen will, die vorher mit viel Mühe, aber ohne wirkliche Überzeugungskraft aufgebaut wurden (vielleicht können diese Konflikte deshalb so rasch beiseite gewischt werden, weil sie eh keine Schwere entwickeln konnten). So entwickelt HOT BLOOD eine eigentlich unpassende Balance: die Sachen, die hier passieren, sind zu ernsthaft und tragisch, um den Film wirklich als vollwertige Komödie wahrzunehmen, aber irgendwie auch zu lachhaft, als dass irgend ein Sinn für Tragik entstehen könnte.

Am problematischsten ist aber natürlich das Bild, das in HOT BLOOD von „Zigeunern“ gezeichnet wird: so ein Film würde in dieser Form heute nicht mehr gedreht werden, und darüber sollten wir alle sehr froh sein! HOT BLOOD ist so etwas wie eine audiovisuelle Enzyklopädie aller Zigeuner-Klischees, die man sich so denken kann: der „Zigeuner an sich“ tanzt gern, ist überhaupt sehr musikalisch, trägt bunte Sachen und Bling-Bling-Kram, spricht ständig von Temperament und Emotionen („hot blood“ und so), klaut gerne Sachen, ist fürchterlich abergläubisch, hat es nicht so mit der Moderne, lebt und denkt nur in Familienstrukturen, haut „Gajos“ gerne in die Pfanne etc. Auch kann man den Eindruck nicht loswerden, dass „Zigeuner“ lediglich die Funktion haben, mit ihren Stereotypen das Drehbuch zusammenzuhalten. Es ist ein Drehbuch, dass in einer geschlossenen Gruppe mit strengen, traditionellen Strukturen und Bräuchen (etwa arrangierten Ehen) spielen muss: christlich-traditionalistische Gruppierungen, von denen es in den USA einige gibt, hätten dafür auch herhalten können, aber dann hätte der Film das Hays-Büro wohl definitiv nicht passieren können, und außerdem würden die Figuren dann keine bunten Sachen tragen und tanzen. Das alles hinterlässt schon ein etwas flaues Gefühl im Magen, nicht zuletzt, wenn eine der Nebenfiguren dann fragt, wen man denn beklauen könne, wenn keine „Gajos“ da wären.

Diese Probleme können sicher nicht beiseite gewischt werden wie die intradiegetischen Konflikte am Ende. Doch HOT BLOOD bietet selbst von alleine einige interessante Anmerkungen und Überlegungen zu den Problemen, die er aufwirft. Er baut Klischees auf, die er teilweise wieder zerschlägt. Er schreibt Roma Eigenschaften zu, um dann wenige Augenblicke später andere Eigeschaftszuschreibungen als solche zu entlarven. „No gajos? Who do we steal from?“ fragt also der Opa verwundert, nur um dann von Marco  ein genervtes „Papo, why do you upset me?“ entgegen geschmettert zu bekommen. Immer wieder muss Marco Leute aus seiner Gemeinde mit teils recht teuren Kautionen aus dem Gefängnis befreien: er zahlt dann Hunderte von Dollars an die Polizei für Menschen, die verhaftet worden sind, weil sie (O-Ton Marco) „verdächtigt wurden, Zigeuner zu sein“. Stephano klagt hingegen gegenüber dem Tanzagenten die Ungerechtigkeit an, dass er nicht als privater Tanzlehrer engagiert wird, weil reiche Leute einen „Zigeuner“ nicht in ihrer Villa haben möchten.

Die Welt außerhalb der Roma-Gemeinde in Blau-Grün-Tönen
Es ist bei Ansicht des Films kaum zu glauben, dass HOT BLOOD ursprünglich ein ernsthaftes und ethnografisch minutiöses Drama über das Leben der Roma in den USA sein sollte. Das Drehbuch in der Urfassung stammt von der Journalistin Jean Evans, mit der Nicholas Ray Ende der 1930er Jahre verheiratet war, und die Geschichte war tatsächlich das Ergebnis intensiver ethnografischer Recherchen seitens Evans‘ in US-amerikanischen Roma-Gemeinden. Es wurde dann allerdings von Jesse L. Lasky und Ray komplett umgeschrieben – das eine oder andere tragische Element, das etwas kontextlos im Film herumschwebt, mag wohl auf Evans‘ Originaldrehbuch zurückzuführen sein. Jedenfalls mag HOT BLOOD mag zwar jede Menge Böcke abschießen im Bezug auf die Darstellung von Roma in den USA, andererseits nimmt der Film eine fast hermetische Binnenperspektive ein: es gibt zwar einige wenige Nicht-Roma-Figuren, doch keine, die von Belang wäre. Der Polizist auf der Station, Stephanos Freundin, der Tanzagent und die Kassiererin des Trailerparks, in dem Marco den Wohnwagen für seine letzte Reise stehen hat – das war‘s. Interessanterweise wird die Umgebung dieser Figuren farblich anders codiert als die Umgebung der Roma, nämlich in Blau-Türkis-Tönen: Stephanos Freundin fährt einen türkisfarbenen Wagen, das Wachhäuschen der Trailerpark-Kassiererin ist blau-grün, während die Roma in Rot- und Orange-Tönen und -Variationen (darunter auch das intensive Nicholas-Ray-Rot) eingebunden sind – und in Rot treten bei Nicholas Ray meistens die „Guten“ auf.

HOT BLOOD sieht die Gemeinde der Roma als Gruppe von ethnischen und sozialen Außenseitern, innerhalb derer wiederum gebrochene Individuen leben. Außenseitergruppen und -individuen: klassische Nicholas-Ray-Helden auch in diesem Film. So problematisch der klischierte Blick des Films auf seine Hauptfiguren ist, so intensiv und leidenschaftlich identifiziert er sich auch mit ihnen. Der Film ist auf ihrer Seite und das ohne wenn und aber. Das unterscheidet HOT BLOOD auch merklich von Rays letztem Hollywood-Film, dem absolut unsäglichen 55 DAYS AT PEKING, der einen dezidiert imperialen Blick auf chinesische (und überhaupt ostasiatische) Figuren hat.

Howard Hawks sagte einmal, ein guter Film sei „drei gute Szenen und keine schlechte“. Ob das unmotivierte und angeklebte Happy-End eine schlechte Szene ist, sei dahingestellt (ich finde sie eher unpassend als wirklich schlecht). Auf jeden Fall hat HOT BLOOD mehr als drei gute Szenen. Vielleicht ist er nicht mehr als die Summe seiner Teile, doch die einzelnen Teile haben es teils wirklich in sich! Der Film ist voller Szenen, die man von der Grundstruktur her in vielen anderen Filmen der Zeit sehen würde, aber die dennoch auch offbeat sind, die ein Element haben, die sie einzigartig macht.

Die Hochzeitsszene bietet zunächst so etwas wie den komödiantischen Höhepunkt des Films, als während der Vermählungszeremonie Stephano und Annies Vater innerhalb kürzester Zeit merken, dass Annie die Vermählung durchziehen wird. Die Kombination von Cornel Wildes entsetztem Gesichtsausdruck und Jane Russells selbstbewußtem Auftreten bietet nicht nur den vielleicht größten Lacher des Films, sondern verdichtet auch in einem  einzigen Bild nonverbal die komplette Situation.

Peitschentanz in Nicholas-Ray-Rot
Wie die kurz darauf folgende Peitschentanzszene die Wächter des Production Codes passierte, muss wohl ein Rätsel bleiben. Man kann diese Momente getrost als eine Art Sex-Ersatzszene sehen: Russell tanzt lasziv, hebt ihr weißes Brautkleid, enthüllt darunter viel Bein sowie ein ein knalliges Nicholas-Ray-Rot, während Wilde seine lange Peitsche schwingt. Er schlägt ihr die roten Zierblumen und den Schleier vom Kopf, versucht mehrmals, sie mit der Peitsche an sich zu ziehen. Ein Verführungs- und Unterwerfungsspiel, das wütender Sex mit einem Hauch „kinkiness“ kombiniert und – wie viele andere Momente im Film – wie der unfertige oder abstrahierte Entwurf einer Musical-Szene wirkt. (was die Probleme von HOT BLOOD mit dem Production Code Office betrifft, so wird er zumindest bei IMDb als einer von vielen Filmen in der Sektion „features“ der Dokumentation HOLLYWOOD UNCENSORED erwähnt).

Die nächste dieser „unfertigen“ Musical-Szenen ist Stephanos Tanzeinlage vor der Agentur, die ihn abgelehnt hat. Er will dem Agenten demonstrieren, wie gut er tanzen kann. Alle umgebenden Personen klopfen einen Rhythmus, während Stephano herausfordernd zu tanzen beginnt. Das ganze wird größtenteils als Totale gefilmt, damit man das Gesicht des Tänzers nicht sieht – weil Wilde hier gedoubelt wurde. Das gibt der Sequenz auch eine merkwürdige und sehr auffallende Distanz.

Anfang und Schluss der bizarrsten
(Nicht-)Musicalnummer des Films

Der bizarrste Moment im ganzen Film ist zugleich die merkwürdigste Interpretation einer Musical-Szene. Stephano kommt nach der Nacht im Gefängnis zurück. Annie erwartet ihn, fest entschlossen, ihn zu verführen. Sie bereitet gerade einen Wein mit Pfirsichen vor und adressiert Stephano mit einer Mischung aus Rede, Sprechgesang und Gesang. Dieses Spiel mündet in die Musicalnummer „I could learn to love you“, die allerdings nicht live von Russell gesungen wird, sondern als „playback“ gespielt wird: Annie singt das Lied nicht, sondern denkt es nur, sie stellt es sich vor, während Stephano sich im Hintergrund umzieht, sich kurz wäscht, sein Hemd sucht und anzieht. Das ganze endet mit der Linie „Husband, here‘s your wine“, während Annie Stephano ein Glas hinhält. Die Musik stoppt, Stephano guckt wie hypnotisiert auf Annie, die die Schlusslinie des Liedes noch einmal sprechen muss, damit ihr Ehemann reagiert – als wäre er von dieser Musik, die Annie eigentlich nur denkt, hypnotisiert worden.

Diese „extradiegetische Musicalnummer“ gehört schon jetzt zu meinen absoluten Szene-Favoriten des Jahres, und überhaupt von dem mir bisher bekannten Werk Nicholas Rays. Auch nach ihr gibt es viele denkwürdige Szenen. Etwa die wüste Prügelei zwischen Stephanos Ehefrau und seiner „Gajo“-Freundin in der Kneipe. Oder natürlich auch der dramatische Gürtelkampf zwischen Stephano und Marco: die beiden geraten auf dem Trailerpark, in dem Marco seinen „letzten“ Wohnwagen stehen hat, in einen schweren Streit, und Stephano ist bereit, sich mit Marco zu prügeln. Statt sich aber wie vulgäre „Gajos“ zu hauen, machen sie es auf traditionelle „Zigeuner“-Art: Sie hauen sich gegenseitig mit ihren Gürteln. Diese Szene ist auf vielerlei Art bemerkenswert. Erstens natürlich einfach nur aufgrund der ungewöhnlichen Kampfweise: schließlich peitschen sich hier zwei Männer mit Gürteln. Zweitens ist diese späte Szene innerhalb des Films praktisch symmetrisch zur frühen Peitschentanzszene auf der Hochzeit angeordnet und spiegelt sie in gewisser Weise. Während Stephano in der ersten eine Frau auszupeitschen versuchte, auf die er wütend war, weil er sie nicht haben wollte, versucht er in letzterer den Mann auszupeitschen, der ihm diese Frau, die er nun doch begehrt, vermeintlich wegnehmen will. Drittens erinnert diese Kampfszene in ihrer Inszenierung ein wenig an die Kampfszene mit den Springklingenmessern vor dem Planetarium in REBEL WITHOUT A CAUSE. Überhaupt scheint in HOT BLOOD das eine oder andere von Rays berühmten James-Dean-Film übernommen worden zu sein. Auffällig ist etwa, dass die Polizeistation am Anfang HOT BLOOD im Eingangsbereich ebenso einen „Thron“ hat, wie jene in REBEL WITHOUT A CAUSE (in beiden Fällen handelt es sich um einen Sitz für Personen, die sich ihre Schuhe putzen lassen möchten – warum auch immer so etwas im Eingangsbereich einer US-amerikanischen Polizeistation stehen sollte). Auf den „Thron“ setzt sich im früheren Film der vollkommen betrunkene Jim Stark, im späteren Film „thront“ tatsächlich der König der Roma-Gemeinde, während er sich mit einem Polizisten unterhält.

Ein merkwürdiger Thron in REBEL WITHOUT A CAUSE
und in HOT BLOOD
Und natürlich (und da ähnelt HOT BLOOD in Rays Werk nicht nur REBEL WITHOUT A CAUSE) strotzt der Film nur so vor Rot. Mit Ausnahme von vielleicht Michael Powell und Emeric Pressburger (ich kenne allerdings nicht genug ihrer Filme, um da eine sichere Aussage machen zu können) gibt wohl niemanden, der die Farbe Rot so inszeniert wie Nicholas Ray. Kein Mensch im Universum trägt Rot wie die Figuren bei Ray: Viennas leuchtend rote Lippen, ihre Halsschlaufe, ihr Hemd in JOHNNY GUITAR, Jim Starks Jacke, Judys Mantel und Platos Socke in REBEL WITHOUT A CAUSE, Richie Averys Jacke oder einzelne Kleidungsstücke der Schüler in BIGGER THAN LIFE, und eben Stephanos T-Shirts und Schals sowie Annies Blusen, Korsetts und Röcke in HOT BLOOD. 

Ich habe, um ein wenig vergleichen zu können, REBEL WITHOUT A CAUSE gleich nach der zweiten Sichtung von HOT BLOOD zwecks Verfassen dieses Text geschaut. Dabei ist etwas passiert, was ich nicht erwartet hätte: HOT BLOOD ging aus dem (persönlichen) Vergleich als eindeutiger Sieger hervor, während REBEL WITHOUT A CAUSE – Jean-Luc Godard möge mich dafür gerne steinigen – in meiner Wertschätzung mit dieser (dritten) Sichtung erneut ein wenig niedriger rutschte. Die Gründe dafür (unter anderem eine trotz allem sehr traditionelle und auch unangenehme Sichtweise auf Männlichkeit, die ihn fast schon zum sozial konservativen Film macht) würden einen eigenen Text benötigen. HOT BLOOD gefiel mir bei der ersten Sichtung ganz gut und ich fand ihn so bizarr und bemerkenswert, dass er mir einen eigenen ausführlichen Text wert zu sein schien. Bei der zweiten Sichtung nun habe ich ihn wirklich ins Herz geschlossen...

Ein Film voller Rot

...und nach meinem jetzigen Kenntnisstand würde ich ihn in Rays Werk als Mittelteil einer inoffiziellen „Trilogie des Fieberwahns, der knalligen Farben und überlebensgroßen Gesten“ einordnen, chronologisch zwischen JOHNNY GUITAR und PARTY GIRL – Filmen, die im Kern hauptsächlich aus diesen drei Elementen bestehen (wobei die restlichen Zutaten von JOHNNY GUITAR für zwanzig Filme reichen). Die große Klasse von JOHNNY GUITAR mag HOT BLOOD vielleicht nicht haben (aber das können sowieso nur ganz wenige Filme von sich behaupten), und wahrscheinlich scheitert er im Gegensatz zum wohl großartigsten Western aller Zeiten darin, aus dem Fieberwahn, den knalligen Farben und den überlebensgroßen Gesten etwas wahrhaftig Großes zu machen. Diesem Scheitern zuzusehen ist allerdings ein Erlebnis voller Überraschungen, absolut faszinierend und kurzweilig.



HOT BLOOD ist natürlich in französischen und US-amerikanischen, aber auch in italienischen, britischen und spanischen DVD-Editionen verfügbar. Ich selbst kann nur die UK-Fassung bewerten, die in Bild und Ton gut bis sehr gut ist.

Montag, 24. August 2015

Auf Tauchstation

Vielleicht hat sich mancher schon gewundert, weil bei mir in letzter Zeit nichts los ist. Bei mir waren es die diversen Hitzewellen, die die Arbeitsmoral unterminierten, und Stress durch Wohnungssuche, was mich komplett blockiert hat. Und nach dem Umzug, der demnächst erfolgt, werde ich bis voraussichtlich Anfang Oktober ohne Internet sein, also erst mal weiter durch Abwesenheit glänzen. Aber heute ist nicht alle Tage, ich komm wieder, keine Frage! Davids weiterem Zeitplan möchte ich hier natürlich nicht vorgreifen.

Sonntag, 2. August 2015

Ein erotisches Kuleschow-Experiment an der Adriaküste

VERFÜHRUNG AM MEER / OSTRVA
Bundesrepublik Deutschland / Jugoslawien 1963
Regie: Jovan Živanović
Darsteller: Peter van Eyck (Peter), Elke Sommer (Eva)


„Eine miserabel gespielte und schlecht inszenierte Kolportage-Geschichte, deren Ansätze zu spekulativer Erotik unfreiwillige Heiterkeit erzeugen könnten, wenn der Film nicht so extrem langweilig wäre.“ So urteilte das Lexikon des internationalen Films in dem ihm so typischen Duktus über VERFÜHRUNG AM MEER - einem in vielerlei Hinsicht absolut bemerkenswerten Film (weshalb er in meinem großen persönlichen Filmkanon des Jahres 2014 Eingang gefunden hat).

Eva zieht im Dorf die Blicke aller Männer auf sich, interessiert
sich aber nur für eine der umliegenden Inseln und ihrem
mysteriösen Herrn
Worum geht es? Eine junge Frau (Elke Sommer) erhält in Berlin von einem dubiosen älteren Paar einen mysteriösen Auftrag, der sie an die jugoslawische Adria-Küste bringt. Mit ihrem natürlichen Charme verdreht sie dort allen Männern, ob jung und alt, den Kopf, doch sie interessiert sich nur für die umliegenden, angeblich vollkommen unbewohnten Inseln, die sie mit einem Boot abfährt. Eine der Inseln wird offenbar doch von einem Bewohner für sich reklamiert: ein unfreundliches Schild, ein Gewehrschuss, bellende deutsche Schäferhunde vertreiben Eva rasch von diesem Eiland. Sie kehrt dennoch zurück und lernt schließlich den Bewohner kennen: Peter (Peter van Eyck), ein Einsiedler, der von der Zivilisation abgewandt in einer improvisierten Bretterhütte haust und sich autark mit Fischerei versorgt. Eva setzt alles daran, diesen freiwilligen „Robinson“ zu verführen - dies gehört offenbar zu ihrem Auftrag, denn zwischendurch kehrt sie an die Küste zurück und telefoniert mit ihrer dubiosen Auftraggeberin. Deren Plan wird jedoch durchkreuzt, als sich auch Eva wirklich in Peter verliebt...

Nur anhand der Inhaltszusammenfassung könnte man hinter VERFÜHRUNG AM MEER eine Altherrenfantasie vermuten, die in biederer Inszenierung öde vor sich hinschmiert. Tatsächlich haben wir es bei diesem faktischen Zweipersonenkammerspiel auf einer mediterranen Insel mit einem Film zu tun, der eine ungeheuerliche und sehr erotische Energie entwickelt, und dabei immer ein Quäntchen Mysterium behält.

VERFÜHRUNG AM MEER funktioniert in erster Linie über die Montage. Diese treibt den Film voran, indem sie narrative Erklärungen teils brutal abwürgt und dafür auf Emotionalisierung und Affekt setzt. So wird schon der Prolog, in dem Eva ihren Auftrag erhält, abrupt unterbrochen: sie und ihre Auftraggeberin kommen gerade zu den Details, als die ältere Frau die jüngere fragt, ob sie etwas trinken wolle, „Kaffee? Oder Cognac“ - Schnitt - zu der jungen Frau, die bereits auf dem Adria-Dampfer ist und an der Schiffsbar einen Cognac nimmt. Einen ähnlichen „matching cut“ gibt es später an dem Küstendorf, wo der lokale Beau (eigentlich Gigolo) Eva nachstellt und sie fragt, ob er für sie den Mond stehlen solle. Sie bittet ihn darum, die Tafel am Badestrand zu klauen, an der für Touristen die Wasser- und Lufttemperatur des Tages vermerkt ist (und die in früheren Szenen en passant gezeigt wurde). Schnitt - Eva befindet sich auf der Insel des Einsiedlers und verfasst darauf eine besänftigende Nachricht.

Die Verweigerung, im ersten Drittel den „Auftrag“ zu erklären, wäre in einem anderen Film ein Aufhänger für eine Spannungssituation. Nicht hier jedoch. Die „Motivation“ des „Auftrags“, die ganz am Ende noch nachgereicht wird, scheint fast schon ein Zugeständnis an plotgesättigte Zuschauererwartungen zu sein. Wer mit solchen an den Film rangeht, wird ihn vermutlich tatsächlich „extrem langweilig“ finden. VERFÜHRUNG AM MEER ist im Kern ein Film darüber, wie sich eine junge Frau in einer Situation verliert und sich verliebt, weil irgendetwas an dem Einsiedler oder irgendetwas an seiner Lebenssituation ihn reizt. Als „schwierig, schweigsam, ohne Charme, verwöhnt, grob, müde“ beschreibt sich Peter selbst gegen Ende des Films. Eva kann ihm nur antworten, dass sie schon immer genau so einen Mann gesucht habe. VERFÜHRUNG AM MEER zeigt einen Prozess, in dem aus der kalkulierenden Eva, die eiskalt auf Geld aus ist und gegenüber Peter zunächst sehr theatralisch aufspielt, eine liebende Eva wird; und wie aus dem abweisenden, eigenbrötlerischen Peter ein liebender Peter wird. Diesen Prozess hält VERFÜHRUNG AM MEER in tatsächlich verführerischen, erotischen und oft mysteriösen Bildern fest. Der Moment, in dem es bei den beiden „Klick“ macht, ist undeutlich (und irgendwie ist das ja auch wie im wirklichen Leben). Der Film etabliert aber eine Grundatmosphäre, in dem dieser Prozess möglich wird und inszeniert die Umgebung, in der sich Eva und Peter befinden, als Raum, der mit erotischem Knistern und mit begehrenden Blicken angereichert wird, als Resonanzraum, der auf die Annäherungen zwischen den beiden zu reagieren scheint.

Auf eine kurze Formel ausgedrückt: über weite Strecken funktioniert VERFÜHRUNG AM MEER wie erotisches (und von den Füßen auf den Kopf gestelltes) Kuleschow-Experiment. Scheinbar neutrale, oder um es in der Sprache des Lexikons des internationalen Films auszudrücken, langweilige Bilder, werden durch die Montage mit erotischer Spannung aufgeladen.

Am deutlichsten wird dies an einer Einstellung, bei der man Kiesgeröll einen Abhang hinunterrollen sieht. Diese kommt direkt nach einer Einstellung, in der Eva auf der Inselküste ihre Bluse ausgezogen und begonnen hat, sich in einem knappen Bikini zu sonnen, um Peters Blicke auf sich zu ziehen (gesehen aus einer relativ großen Distanz von oben - eine voyeuristische Perspektive andeutend). Ein erotisches Bild wird mit einer banalen Naturimpression verbunden. Später im Film wird die Geröll-Einstellung fast identisch wiederholt, nachdem Eva eine Botschaft auf dem geklauten Temperaturenschild geschrieben hat: keine vordergründig erotische Szene, doch durch das wiederholte Geröllbild wirkt die gesamte Situation dennoch wieder aufgeladen.

Sonnenbad (beobachtet von voyeuristischer Position), gefolgt von Geröll
Tafel platzieren, gefolgt von erotisch aufgeladenem Geröll
Solche merkwürdigen Montagen durchziehen den gesamten Film: immer wieder schneidet er von Elke Sommer in mehr oder minder anzüglichen Posen auf die Umgebung - auf die Meereswellen, auf einen schwankenden Schiffsmast, auf kreischende Möwen im Himmel. Irgendwann hat dies die Nebenwirkung, dass das Meer im Hintergrund, das Möwengeschrei auf der Tonspur, das Bild eines Bootes am Strand eine eigene Erotik entwickeln. Die Spitze dieser Inszenierung findet sich, als Peter und Eva sich am Strand leidenschaftlich küssen und auf den Boden niedersinken. Ein Schnitt führt uns zu einer Felsenverengung am Ufer, die von einer tosenden Welle aufgefüllt wird: ein Explizite-Sexszene-Vermeidungsschnitt-mit-Symbolbildcharakter, der sich gut in den Rest des Films einbettet.

Von Evas Beinen zu den Möwen
Von Eva und ihrem Rücken zum Meer und wieder zu den Möwen
Sex on the Beach - sexy Montage
Diese Montagetechnik lädt die scheinbar zufällige, „neutrale“ Umgebung nicht nur auf, sondern macht sie auch zum Beobachter, gar zum Voyeur. Als Eva von Peter recht schroff von der Insel verwiesen wird, bereitet sie sich zum Gehen auf, doch bevor sie ins Boot steigt, kommt ihr ein Gedanke: sie nimmt ihre Schwimmflossen und „verbummelt“ sie hinter einem Busch, wohl um später einen Vorwand zu haben, auf die Insel zurückzukehren. Ein ganz kurzer Zwischenschnitt zeigt eine Ziege. Mit einfachen, aber effizienten Mitteln wird gleich deutlich gemacht, dass Eva bei ihrem Manöver beobachtet wird (und wenn Peter sie später genau darauf anspricht, erinnert sich der Zuschauer daran, dass sie tatsächlich beobachtet wurde).

Ganz ohne diese Techniken arbeitet die vielleicht bemerkenswerteste Szene von VERFÜHRUNG AM MEER. Peter und Eva, mittlerweile ein Paar, bereiten sich auf einen Kinobesuch vor. Sie zieht ein hübsches Abendkleid an, er einen Anzug mit Krawatte. Sie treten aus dem Haus, also Peters Bretterhütte, und rufen ein Taxi. Da keines vorbeikommt, gehen sie eben zu Fuß. Auf dem Weg zum Kino entscheiden sie, dass sie einen Liebesfilm schauen wollen. Sie kommen an der Kasse (einem Baum) an: sie kauft die Tickets, dann betreten sie den Saal und müssen sich dann an bereits sitzenden Zuschauern vorbei auf ihre Sitze schmuggeln. Eva entschuldigt sich mehrmals, als sie aus Versehen Co-Zuschauer stört. Während der Film läuft, lobt sie das Spiel des Hauptdarstellers, den Peter als John Dos Passos identifiziert. Eva, die sehr wohl weiß, dass Dos Passos ein Schriftsteller ist, bringt das zum schmunzeln und sie spricht ihn auch darauf an. Peter begeistert sich hingegen eher für die Hauptdarstellerin (die „voyeuristische“ Inselziege). Als Eva Anzeichen von Eifersucht zeigt, legt ihr Peter den Arm um die Schultern und fordert seine Co-Zuschauer dazu auf, ihm das nicht übel zu nehmen. Schließlich küssen sich die beiden und die Kamera enthüllt, dass er die ganze Zeit seine Hauspantoffeln und sie ihre Gummistiefel trug.

Sich schick machen, Tickets kaufen, bei Co-Zuschauern um Verzeihung bitten
Der Liebesfilm läuft, doch die beiden möchten im Kinosaal lieber rumknutschen
Die beiden, die gerade eine Art Idylle durchleben, mimen selbstbewusst und parodierend ein bürgerliches Leben in einer ganz und gar unbürgerlichen Umgebung und haben sichtlich Spaß daran. Es ist vielleicht der Moment, in dem deutlich wird, dass die Beziehung der beiden tatsächlich etwas Handfestes geworden ist, und in dem beide Figuren im Umgang miteinander jegliche Doppelbödigkeit haben fallen lassen. Der „Kinobesuch“ ist passend auch ein Moment, in dem sich die angestaute Spannung des Films humoristisch entlädt, in dem die Figuren ebenso wie die Zuschauer sich etwas entspannen können - durchaus in einer bewußten Komplizenschaft, denn Eva wie auch Peter brechen mehrmals die vierte Wand, wobei der jeweilige Adressat ein imaginärer Co-Zuschauer im imaginären Kino ist. Ein Kommentator bei IMDb erinnerte dieser Bruch der vierten Wand an französische nouvelle-vague-Filme.

Ganz falsch ist diese Bemerkung nicht, doch eigentlich war die Welle nicht französisch, sondern jugoslawisch und „schwarz“: VERFÜHRUNG AM MEER ist eine Produktion Artur Brauners, mit zwei deutschen Hauptdarstellern, doch die komplette restliche Crew war jugoslawisch, mit teils persönlichen Verbindungen zur „Jugoslawischen Schwarzen Welle“ (über die ich bereits hier und hier schrieb). Regisseur Jovan Živanović, der in den 1940er Jahren seine Filmkarriere begann und zunächst vor allem im Dokumentarfilmbereich tätig war, inszenierte in den 1960er Jahren vor allem Melodramen mit einer pessimistischen Sicht auf den jugoslawischen Lebensalltag. Sein urbanes Melodrama ČUDNA DEVOJKA („Studentenliebe“) von 1962 wurde als „kitchen sink realism“ auf Jugoslawisch bezeichnet. UZROK SMRTI NE POMINJATI („Do Not Mention The Cause Of Death“), das in einem Dorf während des Zweiten Weltkriegs spielt, sorgte wohl 1968 für starke politische Kontroversen. I BOG STVORI KAFANSKU PEVAČICU (“Und Gott schuf die Wirtshaussängerin”) von 1972 vermischt pessimistischen Realismus, Melodrama und Folklore-Musical-Elemente und gilt unter Kennern als Wegmarke der späten Jugoslawischen Neuen Welle.

Kameramann Stevan Mišković war bereits in den 1930er Jahren im Filmbereich aktiv. Sein Haupttätigkeitsbereich war jedoch nicht der Spiel-, sondern der Dokumentarfilm (etwas, was man den Bildern von VERFÜHRUNG AM MEER nicht unbedingt wirklich ansieht). Seine „schwarze“ Verbindung war seine Mitarbeit mit dem berühmten Skandalregisseur Dušan Makavejev an dessen kontroversen Dokumentarfilm/Mockumentary/Essay NEVINOST BEZ ZASTITE (“Unschuld ohne Schutz”).

Die mazedonische Cutterin Jelena Bjenjas arbeitete wiederholt mit Jovan Živanović. Später schnitt sie auch Filme von Miodrag Popović und Vojislav Rakonjac, zwei zentralen Figuren der „Schwarzen Welle“.


VERFÜHRUNG AM MEER ist in einer deutschen DVD-Edition erhältlich. Diese ist zwar ziemlich schmucklos, enthält aber den Film in einer recht guten Bild- und Ton-Qualität. Der Film liegt nur in einer deutschen Tonfassung vor. Gemäß IMDb ist die Originalsprache des Films Serbokroatisch. Falls es sich tatsächlich um eine Synchronfassung handelt, dann hat sich für diese auf jeden Fall Peter van Eyck selbst eingesprochen.

Dienstag, 14. Juli 2015

Casa Ricordi: Oper als Film, Film als Oper

Oder: Ein Reader's Digest der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts

CASA RICORDI (DAS HAUS RICORDI)
Italien/Frankreich 1954
Regie: Carmine Gallone
Darsteller: Paolo Stoppa (Giovanni Ricordi), Renzo Giovampietro (Tito I Ricordi), Andrea Checchi (Giulio Ricordi), Roland Alexandre (Gioachino Rossini), Marcello Mastroianni (Gaetano Donizetti), Maurice Ronet (Vincenzo Bellini), Fosco Giachetti (Giuseppe Verdi), Gabriele Ferzetti (Giacomo Puccini), Märta Torén (Isabella Colbran), Roldano Lupi (Domenico Barbaja), Micheline Presle (Virginia Marchi), Nadia Gray (Giulia Grisi), Myriam Bru (Luisa Lewis), Elisa Cegani (Giuseppina Strepponi), Fausto Tozzi (Arrigo Boito), Danièle Delorme (Maria)

Giovanni Ricordi in der Scala
Rossini, Donizetti, Bellini, Verdi, Puccini. Die klangvollen Namen stehen für rund hundert Jahre italienischer Operngeschichte, die grob vom Beginn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts reicht, und CASA RICORDI ist ein Episodenfilm, der jedem der fünf Meister einen Abschnitt widmet. Gekrönt sind die Episoden jeweils durch eine Arie des in diesem Abschnitt behandelten Komponisten, dargeboten auf einer Opernbühne im farbenfroh-opulenten Stil des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich um Ausschnitte aus Rossinis "Der Barbier von Sevilla", Donizettis "Der Liebestrank", Bellinis "Die Puritaner", Verdis "Othello" und Puccinis "La Bohème". Carmine Gallone stellte dazu keine Opernsänger auf die Bühne, sondern Schauspieler, und ließ sie von professionellen Sängern stimmlich doubeln - darunter so klangvolle Namen wie Mario del Monaco (der den Othello singt) und Renata Tebaldi (Mimi in "La Bohème"). Als Aufhänger und verbindende Klammer des Ganzen fungiert eine Familien- und Firmengeschichte: Der in Mailand beheimatete Musikverlag Casa Ricordi wurde bald nach seiner Gründung im Jahr 1808 zum weltweit führenden Verlag für Opernpartituren und sonstige klassische Musik, und CASA RICORDI folgt über mehrere Generationen den Leitern des Verlags, der ca. 150 Jahre lang ein Familienbetrieb blieb (ohne intensiv auf deren Geschicke einzugehen - im Vordergrund stehen immer die Komponisten). Auch die fünf im Film behandelten Tonsetzer waren alle bei Casa Ricordi unter Vertrag.

Rossini und Isabella Colbran
Während bei den meisten italienischen und französischen Episodenfilmen der 50er und 60er Jahre jede Episode von einem anderen Regisseur realisiert wurde, lag hier alles in den Händen von Carmine Gallone. Allerdings gibt es sechs Drehbuchautoren (einer davon ist Gallone), und bei jedem ist übereinstimmend in der IMDb "story and screenplay" vermerkt. Ohne dass ich eine Bestätigung dafür gefunden hätte, legt das den Verdacht nahe, dass einer von ihnen für die Rahmenhandlung und von den anderen jeder für eine Episode verantwortlich war - insofern also doch ein typischer Episodenfilm. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht und nachgeprüft, was an der Handlung authentisch und was erfunden ist - von einem solchen Film erwartet ohnehin niemand historische Genauigkeit. Das Folgende ist also der Inhalt des Films, aber nicht unbedingt im Detail die historische Wahrheit.

Der "Barbier von Sevilla" - erst Debakel, dann Triumph
1808 im napoleonisch regierten Mailand: Der Drucker Giovanni Ricordi macht mit überall angeklebten Flugblättern Reklame für seine Künste, und das bringt ihm einen Auftrag des damals schon renommierten Opernhauses, der Scala, ein: Er soll Noten in einem Rekordtempo drucken, das kein Konkurrent liefern kann. Ricordi nimmt den Auftrag an und gestaltet die Konditionen zu scheinbar für ihn ungünstigen Bedingungen um: Statt sich in Geld bezahlen zu lassen, verlangt er die Berge an altem, mit Noten beschriebenem Papier (samt Verwertungsrechten), das in den Kellergewölben der Scala unbeachtet vor sich hin gammelt. Der Intendant der Oper hält ihn für verrückt, doch in Wirklichkeit hat sich Ricordi damit eine Goldgrube eröffnet. Im sich schnell entwickelnden Markt für Partituren erlangt Casa Ricordi bald ein Quasi-Monopol, und Giovanni kann von den Direktoren der Opernhäuser ebenso wie von der Laufkundschaft viel höhere Preise verlangen, als sie bislang üblich waren. Doch er handelt nicht nur eigennützig: In bisher ungekanntem Ausmaß beteiligt er auch die Komponisten an den Einnahmen, und er gewinnt so ihr Vertrauen, ja ihre Zuneigung, und er kann viele mit langfristigen Verträgen an sein Haus binden.

Donizetti und Virginia Marchi; unten Marchi in "Der Liebestrank"
Gleich einer der ersten seiner neuen Klienten ist ein abgerissener junger Hungerleider, ein gewisser Gioachino Rossini, den er erst einmal mit einem von seiner Frau gekochten Gulasch aufpäppeln muss, bevor über Musik und Geschäfte gesprochen werden kann. Nach ersten Erfolgen arbeitet Rossini an einer Vertonung des Librettos "Der Barbier von Sevilla", und das ist ein gewagtes Unterfangen, weil bereits Jahre zuvor Giovanni Paisiello dasselbe Libretto zu einer Oper gemacht hatte. Paisiello hat viele fanatische Anhänger, die es als Majestätsbeleidigung auffassen werden, wenn ein Emporkömmling denselben Stoff nochmal in die Finger nimmt und damit die Künste ihres Idols in Frage stellt. Rossini hat auch ein hausgemachtes Problem: Er ist ein heißblütiger Frauenheld, und er beginnt eine Affäre mit der Sängerin Isabella Colbran, die eigentlich mit Rossinis Freund Domenico Barbaja liiert ist, dem Impresario des Opernhauses in Neapel, wo er seine ersten Opern zur Aufführung brachte. Eigentlich wollte Barbaja seinen Freund gegen Paisiello unterstützen, aber zufällig bekommt er Wind vom Verhältnis Rossinis mit Isabella, und so macht er nun das Gegenteil. So gerät die Uraufführung in Rom zum Debakel mit teilweise unfreiwillig komischen Einlagen. Anhänger Paisiellos und bezahlte Störer pfeifen pausenlos, und Rossini ist am Boden zerstört. Doch sein Aufstieg lässt sich nicht verhindern: Ricordi hält an ihm fest, setzt sofort eine neue Aufführung mit aufgeschlossenerem Publikum durch, und die gerät zum Triumph. Selbst Barbaja hat ein Einsehen und gibt der Oper ebenso wie Rossini und Isabella seinen Segen.

Generationenwechsel - Giovanni und Tito Ricordi
Der Einzige, der bei der ersten Aufführung Rossini verteidigt hat, war ein junger Mann, der selbst Musiker ist. Er stellt sich Ricordi als Gaetano Donizetti vor und wird bald selbst unter Vertrag genommen. In einem raffiniertem Schachzug erledigt Ricordi gleich mehrere Probleme gleichzeitig. Denn er selbst und mit ihm zusammenarbeitende Operndirektoren leiden unter den Launen der Diva Virginia Marchi, der man nichts recht machen kann, und die wegen jeder Kleinigkeit vor Gericht zieht. Ricordi arrangiert Proben von Donizetti mit Marchi, und trotz einiger Irritationen zwischen den beiden ist am Ende Marchi einmal zufrieden, Donizetti hat eine erstklassige Sängerin für die Titelpartie, die Direktoren akzeptieren Donizettis Werk für ihr Haus, und so steht einer triumphalen Premiere nichts mehr im Weg - und Donizetti und Virginia werden auch noch ein Paar. - Jahre später. Giovanni Ricordis Sohn Tito ist inzwischen ein junger Mann, der sich im Verlag engagiert, und - teilweise gegen den Widerstand seines Vaters - einige Neuerungen einführt, z.B. neue Druckverfahren. Nun wird er nach Paris geschickt, wo Vincenzo Bellini lebt und arbeitet, bereits ein Starkomponist. Doch in letzter Zeit hat man nichts mehr von ihm gehört, es gibt nur Gerüchte über seine angegriffene Gesundheit. Tito reist also nach Paris, um sich nach Bellinis Befinden zu erkundigen. Wie sich erweist, wird Bellini von seiner Geliebten Luisa Lewis in einer Villa außerhalb von Paris abgeschirmt und vor seinen Freunden, die ihn besuchen wollen, verleugnet - angeblich, um ihn zu schonen, aber in Wirklichkeit aus Eigennutz, weil sie ihn mit niemandem teilen will, wie der Arzt des tatsächlich kranken Bellini konstatiert. Insbesondere vor Bellinis früherer Geliebten Giulia Grisi, die zugleich die Sängerin seiner großen Partien ist, will sie ihn fernhalten. Erst als er am Abend der Premiere seiner neuen und letzten Oper im Fieberwahn zusammenbricht, erkennt Luisa ihren Fehler. Sie fährt mit einer Kutsche in die Oper, gesteht ihre Machenschaften und fordert Giulia, Tito und den mit Bellini befreundeten Rossini auf, mit ihr zu Bellini in die Villa zu kommen. In einer rasenden nächtlichen Kutschfahrt bei Gewitter, die wie ein Ausflug in den Gothic Horror wirkt, eilen die vier in die Villa - nur um Bellini tot auf dem Boden liegend vorzufinden. Verzweifelt bricht Luisa über ihm zusammen.

"Die Puritaner"; Bellini liegt krank darnieder; Giulia Grisi, Tito Ricordi und Rossini in Bellinis
Sterbezimmer; der tote Bellini und Luisa Lewis - Finale wie in der Oper
Erneuter Sprung in die Zukunft: Giovanni Ricordi ist tot, Tito ist der Chef des Hauses Ricordi, und der immer noch expandierende Verlag hat ein neues, größeres Gebäude bezogen. Titos Sohn Giulio stößt sich in den Revolutionswirren 1848 die Hörner ab und engagiert sich dann ebenfalls im Verlag. Der neue Star des Hauses heißt Giuseppe Verdi. Doch nachdem er für "Ein Maskenball" schlechte Kritiken erntet, gerät Verdi in eine tiefe Schaffenskrise. Die neue Mode der Wagner-Oper hat auch in Italien ihre Anhänger gefunden, und Verdi wird von einem Teil der Kritiker als altmodisch geschmäht. Beleidigt beschließt der Maestro, überhaupt keine Musik mehr zu schreiben, sondern sich als Edel-Bauer auf sein Landgut zurückzuziehen. Verdis Frau Giuseppina und sein Librettist Arrigo Boito können nur mit Mühe verhindern, dass er die schon begonnene Partitur zu "Othello" vernichtet, aber weder sie noch Giulio Ricordi (der in die Fußstapfen von Tito getreten ist, der sich zur Ruhe gesetzt hat) können ihn dazu bewegen, wieder zu komponieren. Der Umschwung kommt erst, als Verdi nach Parma fährt und mit seiner Kutsche mitten zwischen die Fronten von rebellierenden Armen und schussbereiter Polizei gerät. Als man ihn erkennt, stimmen die Massen spontan den Gefangenchor aus "Nabucco" an, und nun begreift Verdi, wer sein wahres Publikum ist: nicht die Kritiker, mögen sie ihn feiern oder verdammen, sondern das einfache Volk, das seine Musik liebt. Er macht sich wieder an die Arbeit zum "Othello", und einmal mehr endet eine Episode in diesem Film mit einer umjubelten Premiere.

Verdi als Ehrengast bei den Ricordis und zwischen den Fronten in Parma
Und schließlich Giacomo Puccini. Wir befinden uns mittlerweile im Jahr 1895, "im Zeitalter des Eiffelturms", wie jemand im Film sagt, denn Puccini recherchiert in Paris. Das Café Momus im Quartier Latin, in dem sich die Protagonisten von Henri Murgers Scènes de la vie de bohème trafen, existiert schon lange nicht mehr, doch Puccini will jenen Stoff zu einer Oper mit dem Titel "La Bohème" machen. In einer Parallele zwischen Roman und Oper einerseits und der Wirklichkeit andererseits lernt Puccini eine Clique junger Künstler kennen, die ohne Geld, aber sorglos in den Tag hinein leben. Eine von ihnen ist Maria, und Puccini verliebt sich in sie. Doch wie Mimi, die Heldin von "La Bohème", leidet auch Maria an der Schwindsucht, aber sie verschweigt Puccini ihren Zustand. Die Premiere von "La Bohème" findet in Italien statt, und Puccini war zur Vorbereitung schon - ohne Maria - einige Wochen anwesend. Nun soll zum Premierenabend Giulio Ricordis Sohn, der wie sein Großvater Tito heißt (zur besseren Unterscheidung werden sie auch als Tito I und Tito II bezeichnet), Maria mit dem Zug aus Paris holen. Doch er bringt nur die Nachricht, dass sie vor vier Wochen gestorben ist. So endet diese Episode für Puccini mit einem künstlerischen Erfolg, aber in Trauer. Und damit endet auch der Film - nein, nicht ganz. Als Giulio Ricordi wieder im Verlagshaus ist, wartet dort ein junger Musiker, der um ein Gespräch gebeten hat, und der zum Zeitvertreib ein paar seiner eigenen Noten auf dem Klavier spielt. Giulio hält einige Momente inne und lauscht interessiert den Klängen, bevor er sich dem jungen Mann zuwendet. Das Leben geht weiter, und die Musikgeschichte auch ...

Othello und die tote Desdemona
Man muss weder Opernexperte noch Opernliebhaber sein, um CASA RICORDI etwas abgewinnen zu können (wie ich als Opernmuffel hiermit ausdrücklich bestätige). Der Film ist in keiner Weise tiefschürfend, aber er bietet ansehnliche Schauwerte, insbesondere prächtige Technicolor-Farben, und mit seiner episodischen und anekdotenhaften Struktur wird er über seine Länge von ungefähr zwei Stunden hinweg nie langatmig, sondern bietet kurzweilige Unterhaltung (wobei die deutsche Version, die ich gesehen habe, um ungefähr 10 Minuten gekürzt ist). Große Gefühle und Dramatik (eben wie in der Oper) gibt es auch, vor allem das Finale der Bellini-Episode ist hier fast eine Oper im Kleinen.

Puccini und Maria
So etwas wie ein Reader's Digest (was ich hier nicht abwertend meine) ist CASA RICORDI nicht nur in Bezug auf 100 Jahre Operngeschichte, sondern auch hinsichtlich Carmine Gallones Schaffen. Gallone (1885-1973) war ein sehr produktiver Regisseur, der seit 1913 ca. 125 Filme drehte und dabei natürlich verschiedene Genres bediente. So schuf er etwa aufwändige Historienepen, z.B. eine dreistündige Stummfilmfassung von DIE LETZTEN TAGE VON POMPEJI (1926), den im Zweiten Punischen Krieg spielenden KARTHAGOS FALL (1937), der als der teuerste Film des faschistischen Italien gilt, MESSALINA (1951), DER KURIER DES ZAREN (1956, die Version mit Curd Jürgens) und zuletzt KARTHAGO IN FLAMMEN (1960, diesmal ist es der Dritte Punische Krieg). Bei uns ist Gallone wahrscheinlich am besten als Regisseur des dritten und vierten der Don-Camillo-Filme mit Fernandel und Gino Cervi in Erinnerung. Aber sein eigentliches Metier war der Opernfilm: MADAME BUTTERFLY (1939), RIGOLETTO (1946), VERDIS LA TRAVIATA (1947, auch als DIE KAMELIENDAME), IHRE WUNDERBARE LÜGE (1947, wie der Originaltitel ADDIO MIMÌ! schon vermuten lässt, handelt es sich um "La Bohème"), DER TROUBADOUR (1949), LA LEGGENDA DI FAUST (1949, nach "Mefistofele" von Arrigo Boito, der nicht nur Librettist, sondern auch Komponist war), SIZILIANISCHE LEIDENSCHAFT (CAVALLERIA RUSTICANA, 1955), MADAME BUTTERFLY (1954), und schließlich TOSCA (1956). Dazu kamen noch einige Musikerbiografien wie DREI FRAUEN UM VERDI (1938), MELODIE ETERNE (1940, mit Gino Cervi als Mozart - kein Witz!), und PUCCINI - LIEBLING DER FRAUEN (1953). Fosco Giachetti, Gallones Verdi in CASA RICORDI, spielte auch schon im Film von 1938 den Maestro, und auch Gabriele Ferzetti war schon im Puccini-Film von 1953 in der Titelrolle zu sehen, wo auch Märta Torén, Nadia Gray, Myriam Bru und Paolo Stoppa mitspielten, die allesamt in CASA RICORDI wieder auftauchten. Bei all diesen (und noch weiteren) Filmen konnte Gallone auf begnadete Stimmen zurückgreifen (als Schauspieler oder Sänger-Doubles), wie etwa mehrfach Beniamino Gigli, Jan Kiepura und Maria Cebotari. CASA RICORDI bildet also so etwas wie einen Schnelldurchlauf, einen (wenn auch sicher nicht repräsentativen) Querschnitt durch Gallones Werk als Opernfilmregisseur.

"La Bohème" - Mimi auf ihrem Sterbebett; Marias Platz in der Vorstellung bleibt frei
CASA RICORDI ist in Italien auf DVD erschienen (ohne fremdsprachige Untertitel). Die Originalfassung ist derzeit auch auf YouTube zu finden (ebenfalls ohne Untertitel). Die deutsche Fassung mit einer Fernseh-Laufzeit von 104 Minuten (was einer Kino-Laufzeit von gut 108 Minuten entspricht) war letztens in mindestens zwei Dritten Programmen zu sehen. Vielleicht lohnt es sich, darauf zu achten, ob sie nochmal irgendwo läuft.

Giulio Ricordi, bereit für einen neuen Klienten - vielleicht ein neues Genie