Sonntag, 8. Juli 2018

1968 in einem kleinen Dorf

ALEXANDRE LE BIENHEUREUX ("Alexander, der Lebenskünstler" / "Alexander, der glückselige Träumer")
Frankreich 1968
Regie: Yves Robert
Darsteller: Philippe Noiret (Alexandre Gartempe), Marlène Jobert (Agathe), Françoise Brion ("La Grande", Alexandres Ehefrau), Paul Le Person (Sanguin), Pierre Richard (Colibert), Jean Carmet (La Fringale), Kaly (der Hund), Tsilla Chelton (Madame Bouillot)



Jean Renoirs Komödie BOUDU SAUVÉ DES EAUX zog zwei offizielle Remakes nach sich: 1986 DOWN AND OUT IN BEVERLY HILLS von Paul Mazursky mit Nick Nolte in der Rolle Michel Simons und 2005 BOUDU von und mit Gérard Jugnot als Oberhaupt der bürgerlichen Familie und mit Gérard Depardieu als Boudu. Wer sich vielleicht schon einmal die Frage gestellt hat, was Boudu eigentlich gemacht hat, bevor er zum Tramp wurde, könnte in Yves Roberts ALEXANDRE LE BIENHEUREUX möglicherweise eine Antwort finden...
Natürlich ist ALEXANDRE LE BIENHEUREUX viel mehr als "nur" ein potentielles Prequel zu BOUDU SAUVÉ DES EAUX. Er ist auch eine wunderschöne Liebesgeschichte zwischen einem Mann und einem Hund. Eine Utopie von einem besseren, entspannteren und richtigeren Leben in einer kapitalistisch korrumpierten Zeit. Eine Feier des Innehaltens für die kleinen Dinge des Lebens. Eine Ode an den nonkonformistischen Widerstand – der, ohne wirklich explizite Verbindungen zu knüpfen, den Geist der 68er-Bewegung in sich trägt.


Die Passion des Alexandre

Auf einer unterschwelligen Ebene beginnt ALEXANDRE LE BIENHEUREUX zunächst allerdings als kapitalistische Dystopie und beinharte Bestandsaufnahme einer eiskalten und lieblosen Ehe.
Wir befinden uns in einem (scheinbar) idyllischen Dorf irgendwo in der französischen Provinz. Die größten Grundbesitzer der Region sind die Gartempes. Na ja: eigentlich Frau Gartempe. Sie ist die Besitzerin des Landguts, und Alexandre, ihr Ehemann, war ehemals ein einfacher, aber besonders kräftiger Landarbeiter. Sie brachte Besitz in die Ehe, er Muskelkraft – und profitiert hat letztendlich sie. Von früh bis spät lässt sie ihn wie ein Maultier schuften. Maschinen und Gerätschaften warten, Kühe melken, Feldarbeiten erledigen, Zäune bauen – das gesamte Landgut, das sie besitzt, lässt "La Grande" von ihrem Ehemann bewirtschaften. Sie hingegen nimmt sich der leichteren Aufgaben an, etwa das erwirtschaftete Geld zusammen zählen (und dann auch für sich ausgeben), Alexandres Arbeitsplan an einer Schiefertafel im Esszimmer entwerfen und ihn ansonsten herumkommandieren. Da Herr Gartempe zu spontanen Siestas, kleinen Umwegen bei der Billardkneipe oder zu ausgedehnten ornithologischen Beobachtungs-Sessions neigt, muss sie ihn besonders gut überwachen und immer wieder an die Arbeit erinnern: mit Fingerschnippen, Rufen, Glockenläuten (und später noch ausgetüftelteren Mitteln). Es scheint kein Zufall zu sein, dass man SIE fast niemals richtig arbeiten sieht. Eine treffende Bebilderung kapitalistischer (Ausbeutungs)verhältnisse? Wer in dem Gartempe-Betrieb der wahre "Leistungsträger" ist, sei dem Urteil eines jeden einzelnen überlassen. "Ich bräuchte vier kräftige Männer, um ihn zu ersetzen", erklärt "La Grande" zwischendrin einigen von Alexandres Kumpeln – ein Ehemann ist aber doch viel günstiger als vier Arbeiter, und kann auch nach Feierabend von Nutzen sein. Wenn Alexandre völlig ermattet im gemeinsamen Bett liegt und kurz davor ist, in den Schlaf der Gerechten zu gleiten, erinnert sie ihn noch mit einem Fingerschnippen an die Erfüllung seiner ehelichen Pflichten, was er dann nolens volens auch ausführen muss. Kurz: dieser Mann wird bis zum letzten Tropfen ausgepresst.
Es ist eine wirklich unschöne Ehe, die die beiden da führen. Die erste halbe Stunde von ALEXANDRE LE BIENHEUREUX nimmt sich ausführlich Zeit, um diesen Zustand von Ausbeutung und latenter, wachsender Abneigung zu zeichnen. Da der Film eine Komödie ist, wird das alles mit den Mitteln des Slapsticks als eine Abfolge kleiner, ziemlich präzise, ja fast mechanisch getimter Gag-Vignetten verhandelt. Aufgelockert wird dies von Alexandres "Pausen", seinen Dialogen mit den Kumpeln im Dorf oder den Vögeln im Wald.

Wenn ein Hochzeitsbild so aussieht, kann das keine glückliche Ehe werden...

...tatsächlich besteht die Ehe hauptsächlich aus Arbeit (vor allem für ihn).
Selbst bei Feiertagen fängt sie ihn in der Kneipe ab, um ihn auf's Feld zu schicken.

Zwei Neuerungen bringen die Situation an den Rand der Eskalation. Nachdem sie bei einer Verkehrskontrolle Bekanntschaft mit einem Walkie-Talkie gemacht hat, besorgt sich "La Grande" ein Paar davon, um damit Alexandre noch besser kontrollieren und ihn gar ganz bequem aus der Ferne dirigieren zu können. Während einer Dorffeier kann sie ihn bequem von der Kneipe auf's Feld zum Kürbisernten schicken, während sie selbst bei der Feier bleibt. Aufgrund einer Unachtsamkeit schaltet Alexandre auf dem Feld das Gerät auf den Sprechmodus, so dass sie seine ganze wutentbrannte Schimpftirade gegen ihre Person mithört – und natürlich schnurstracks zu ihm fährt. Die letzten Zeilen seiner Schimpftirade bekommt sie schließlich live mit, und als er sein Walkie-Talkie zertrümmert und durch das Rückkopplungsgeräusch merkt, dass sie schon einige Schritte hinter ihm ist, steht er ganz schön blöd da. Wieder ein perfekt getimter Gag, der aber auch eine offen bittere Note hat: eine Versöhnung scheint hier ausgeschlossen. Beide teilen sich ein Bett, aber sie leben doch in verschiedenen, unvereinbaren Welten.
Doch dann besorgt sich Alexandre einen Hund. Nun – eigentlich "besitzt" er den Hund schon relativ früh im Film. Sanguin, ein kinderreicher Bauer im Dorf, schenkt ihm einen Welpen, den Alexandre akzeptiert, aber erst einmal nicht zu sich nimmt, weil "La Grande" das natürlich nicht zulassen würde. Einige Zeit vergeht: der Hund ist schon ausgewachsen, als er schließlich ausbricht und zu Alexandre eilt. Der schmuggelt ihn ins Haus, hält ihn beim Abendessen unter dem Jackett versteckt. Für kurze Zeit kann er das Gejaule und Knurren noch als sein Magenknurren tarnen, aber natürlich fliegt der Hund auf. Der Landwirt erwirkt (nachdem er einen erstaunlich heftigen Wutanfall gehabt hat), dass der Vierbeiner im Haus bleiben darf, doch das ist dem natürlich nicht genug: er will einen festen Schlafplatz im ehelichen Bett haben! Nach einigen Turbulenzen stellt "La Grande" ein Ultimatum: "er oder ich". Alexandre nimmt das nur zu gerne an, und verbringt schließlich die Nacht in einem Feldbett auf dem Dachboden – kuschelnd mit dem Hund.

Ein Walkie-Talkie und ein Hund bringen eine zusätzliche Schärfe in den Ehekonflikt.

Nun hat Alexandre tagsüber einen Kumpanen für seine kleine "Auszeiten". Ein Wesen, das ihm beim Rumliegen auf dem Feld Gesellschaft leistet, seinen Lebensweisheiten zuhört ("Faut prendre le temps de prendre son temps!" – Man muss sich die Zeit nehmen, sich die Zeit zu nehmen), seinen Klagen ein Ohr leiht ("Travaux forcés, je connais. Pourtant, je n'ai rien fait." – Zwangsarbeit, das kenne ich. Dabei habe ich nichts verbrochen). Der ihn nicht hetzt, wenn er sich eine gemütliche Zigarettenpause gönnt. Und zudem ein Genosse in den kleinen Kämpfen gegen "La Grande" ist: ein Klemmstein weggeschnappt, und schon rollt ihr Auto den Hang runter in den Fluss...
Es ist bezeichnend, dass für sie der Verlust des 2CV nicht so schwer ist: wenige Bilder danach sieht man, dass sie sich ein DS gekauft hat. Vom Arbeiter-Auto zur Präsidenten-Limousine – ein sichtbarer symbolischer Aufstieg, doch "La Grandes" fälschlich selbstsichere Fahrkünste sind dem nicht gewachsen und sie erleidet einen tödlichen Unfall...


Heute, morgen und alle weiteren Tage: schlafen, schlafen, SCHLAFEN!

Die Trauer Alexandres über den Tod seiner Ehefrau hält sich sichtlich in Grenzen. Beim Trauerumzug lächelt er sogar zwischendrin – nun, nicht aus Bosheit, sondern weil er einen Marienkäfer über die Banderole eines Trauerkranzes krabbeln sieht. Die Kondolenzbekundungen am Friedhofstor nimmt er würdig entgegen, und bei jeder Frage danach, was er jetzt nun machen wird, antwortet er mit "Nichts!". Nun, das Betreiben des Hofs wäre an sich kein Problem: er ist ja derjenige, der bisher sowieso den Großteil der Arbeiten erledigt hat. Bloß: er hat keine Lust mehr!
Nach der Beerdigung kehrt er zum Hof zurück. Er öffnet die Türen der Ställe und entlässt nach und nach sämtliche Tiere in die Freiheit: zuerst die Gänse und Truthähne, dann die Kaninchen, schließlich die Kühe. Es ist ein ungeheuer kraftvolles Bild. Ist es die ultimative Geste der Verweigerung? Ein Symbol von Alexandres eigener Befreiung? Ist es die Rebellion, die symbolische Gewalt gegen eine Status-Quo-Ordnung – zu sehen, dass hier etwas getan wird, was eigentlich nicht getan werden sollte? Ist Alexandres Ausdruck ermüdet, resigniert oder im Gegenteil eisern entschlossen? Einerlei: es ist ein unglaublich emotionaler und kathartischer Moment. Nachlässig zieht Alexandre dann im Esszimmer Jackett und Schuhe aus, und mit seiner Weste (!) wischt er die Schiefertafel ab, auf der seine Ehefrau seine Tagesaufgaben notiert hat. Ab nach oben, ins Bett, schlafen, schlafen, schlafen...

Die Befreiung der Tiere unter dem wachsamen Auge des Hundes – dann ab ins Bett

Hier kommt jetzt ein Akteur ins Spiel, der vorher nur peripher und implizit zu sehen war: die Dorfgemeinschaft. Und das Bild, das ALEXANDRE LE BIENHEUREUX von ihr zeichnet, ist alles andere als schmeichelhaft! Drei Tage nach der Beerdigung hat sich Alexandre nicht wieder blicken lassen, und schon stehen die ersten bei ihm vor der Haustür, die wildesten Gerüchte und Vermutungen im Schlepptau: hat er sich erhängt? Oder hat er sich so gnadenlos betrunken, dass er erst einmal den Rausch ausschlafen muss? Was der Bauer Sanguin, die Dorfkneipen-Kumpanen Colibert und La Fringale und andere Dorfbewohner vorfinden, übersteigt ihre wildesten Befürchtungen: Alexandre ist quicklebendig, stocknüchtern, er schläft und will auch noch weiter schlafen. Nachdem er sich auf die andere Seite umgedreht hat, diskutieren die lieben Dorfnachbarn erst einmal eine Runde darüber, was mit ihm zu tun ist – wohlgemerkt sprechen sie über Alexandre in der dritten Person (meiner Meinung nach eine der schlimmsten indirekten Verachtungsbekundungen, die es gibt). Trotz der Mahnung Alexandres, endlich ruhig zu sein, diskutieren sie weiter und beschließen dann, Alexandre mit Gewalt aus dem Bett zu zerren, doch der ist kräftiger als die Bande, schmeißt sie hochkant raus und als sie vor seinem Fenster weiter debattieren, verscheucht er sie einem Gewehrschuss gen Himmel.

Die Intervention der "besorgten Bürger" aus dem Dorf wehrt Alexandre mit Karacho ab...

...nach einigen Wochen hat er es sich in seinem Zimmer sehr gemütlich eingerichtet.
(Die Apparaturen, mit denen Alexandre alles mittels Zugschnuren in Griffweite hält, erinnerte mich an
ähnliche Einrichtungen in klassischen Slapstickfilmen, z. B. Keatons THE SCARECROW.)

Diese Schlacht hat Alexandre gewonnen (den Krieg wird er aber letztlich verlieren), doch damit wird die Gerüchteküche erst recht angeheizt. Zudem nunmehr zwei Monate vergangen sind. Tratsch und Klatsch im Dorf drehen sich nur noch um Alexandre, der von einigen der "besorgten Bürger" fast wie eine Art öffentlicher Feind Nummer 1 behandelt wird. Für die Dorfkinder ist es die ultimative Mutprobe, sich auf Alexandres Hof zu schleichen, da er ja angeblich jeden erschießt, der in die Nähe kommt. Madame Bouillot, die Lebensmittelverkäuferin im Dorf, wenn sie nicht gerade ihre etwas tollpatschige und nicht sonderlich arbeitsame neue Gehilfin Agathe anschnauzt, zerreisst sich geradezu das Maul über Alexandre: ein Gutsbesitzer, der sich so verhält, würde ja irgendwann als Vagabund auf der Straße enden (was sich leider als selbsterfüllende Prophezeiung erweist). Die Speerspitze im Kampf gegen Alexandres schlafende Rebellion bildet allerdings ausgerechnet der Mann, der Alexandre mit seinem treuesten "comrade in arms" zusammen geführt hat: Sanguin. Nachdem er die erste Intervention in Alexandres Haus bereits geleitet hat, wird er mit dem Aktionismus eines echten Fanatikers sämtliche weitere Schläge gegen den schlafenden Gutsbesitzer initiieren und durchführen, mit dem Ziel, ihn zum Aufstehen zu bringen – ein Gutsbesitzer, der die ganze Zeit schläft, sei schließlich unmoralisch. Er schreibt einen wütenden Brief. Er organisiert eine Belagerung des Hauses mit einem "Selbstmordkommando": der tapfere Angreifer, Colibert, dringt zwar, ohne erschossen zu werden (natürlich – ist ja Quatsch, dass Alexandre Leute erschießen würde!), bis Alexandre vor, wird im Gespräch mit ihm allerdings "bekehrt" zur Idee des süßen Nichtstuns. Sanguin trommelt danach eine Fanfare zusammen, die Alexandre den Schlaf rauben soll (der packt sich allerdings einfach Watte in die Ohren). Eine Blockade gegen die Lebensmittelversorgung Alexandres scheitert auch: seitdem er sich hingelegt hat, schickt der Witwer seinen Hund auf Einkaufsrundgänge, und nachdem diesem die Läden die Türen verschließen, klaut das Tier eben Kartoffeln vom Feld und Eier aus dem Stall. Einer Vorladung zum Stadtrat kommt Alexandre nicht nach, sondern schickt den Hund als Stellvertreter. Der letzte Schlag gelingt schließlich: Sanguin lässt den Hund entführen.
Ohne einmal sein Schlafzimmer verlassen zu haben bzw. genau deswegen hat Alexandre einen Riesentumult im Dorf verursacht. Gerade bei den Dorfnotabeln hat er sich große Feinde gemacht, findet aber bei sozialen Außenseitern und Personen ohne großes eigenes Stimmrecht einigen Anklang.
Die erste Sympathisantin ist Agathe, die etwas faule Gehilfin im Lebensmittelladen, die zudem auch noch eine Fremde ist (sie ist während des Begräbnisses mit dem Bus im Dorf angekommen). Eine Schwester im Geist gewissermaßen, die ein analoges Ausbeutungsverhältnis wie einst Alexandre erlebt: für einen (wie man vermuten muss) Hungerlohn wird sie die ganze Zeit von der griesgrämigen Lebensmittelhändlerin angeschnauzt, und mit großer Bewunderung hört sie von dem Mann, der den ganzen Tag schläft. Sie bringt ihm schließlich, vor wie während der Blockade, Lebensmittelpakete vorbei und trifft sich schließlich mit ihm zu koketten "Blind Dates" an seiner Zimmertür (da er nur im Nachthemd ist, öffnet er ihr nicht).
(Hier gibt es übrigens einen sehr bemerkenswerten Augenblick, der mir bei der Erstsichtung gar nicht in dieser Klarheit aufgefallen ist. Die beiden tauschen Fotos von sich unter der Zimmertür aus. Alexandre zerreisst dafür sein Hochzeitsfoto in zwei Hälften und übergibt seine Hälfte an Agathe. Als sich Agathe verabschiedet, bittet er sie zu warten, erblickt beim Hochhalten seiner Hand das Portrait seiner Frau, hält inne, verabschiedet Agathe und bleibt sichtlich nachdenklich, vielleicht gerührt, mit dem Bild seiner toten Ehefrau in der Hand stehen. Hat er in diesem Moment einen verspäteten Schub an Trauer erfahren? Oder vermutet er intuitiv, dass sich hinter der sympathischen Agathe vielleicht eine Frau wie "La Grande" verstecken könnte?)

Alexandre hat im Dorf einige mächtige Gegner – keiner so militant und fanatisch wie Sanguin...
...aber auch Sympathisanten: Schulkinder, der "bekehrte" Colibert
und die Ladengehilfin Agathe.

"Tu fais tache d'huile!" – schreibt Sanguin an Alexandre. Wie ein Ölfleck breitet sich die schlafende Rebellion im Dorf aus. Eine Gruppe zeigt sich irgendwann sehr begeistert von Alexandre: die Kinder! Irgendwie scheint sich ja das Gerücht, dass Alexandre Leute vor seiner Haustür tötet, nicht zu bewahrheiten. Die langen, langen Schultage, die vielen lästigen Hausaufgaben: darauf haben die Schüler keine Lust. Sie wollen es wie Alexandre machen und zu Hause bleiben. Eine mysteriöse Epidemie von Mandelentzündungen erfasst am nächsten Tag sämtliche Schulkinder... (Dass kleine Kinder eine subversive Kraft gegen den Status Quo der Erwachsenen sein können, das hatte Yves Robert schon in seinem Film LA GUERRE DES BOUTONS sechs Jahre zuvor gezeigt).
Schließlich stellen sich noch einige weitere Bewohner des Dorfes auf Alexandres Seite: Colibert etwa, der nach dem "Sturm" von Alexandres Haus "bekehrt" wird. Oder La Fringale, der vor allem aus persönlicher Abneigung gegen die selbstgefällig-moralisierenden Tiraden Sanguins beschließt, Alexandre moralisch beizustehen. Ein älterer Herr, der jahrzehntelang schwer gearbeitet hat und davon sichtlich nicht reich geworden ist.
Der treueste Geselle Alexandres ist aber natürlich sein Hund. Er geht einkaufen, merkt sofort, wenn ein Händler den Betrag aufrundet, bestellt bei Agathe durch Bellen die richtige Anzahl an Schinkenscheiben, korrigiert Alexandre, wenn dieser sich auf dem Horn verspielt, bewacht den Eingang des Hauses.
(Wenn man sehr weit ausholen will, könnte man sagen, dass Alexandre seinen Hund ansatzweise behandelt wie einst "La Grande" ihn behandelt hat – natürlich ist eine kurze Einkaufstour im Dorf am Morgen allerdings bestimmt weniger anstrengend als einst die schweren, stundenlangen Feldarbeiten, und Alexandre spielt ihm ja auch auf dem Horn Lieder vor).
Der Hund ist während großer Teile des Films auch ein aufmerksamer Beobachter und ein stummer Kommentator des Geschehens. Einige Szenen sind aufgebaut nach dem Kuleschow-Effekt, bloß mit einem Hund statt mit einem menschlichen Schauspieler, und immer wieder meint man Verwunderung, Erstaunen, Traurigkeit, Zustimmung oder Freude auf dem Gesicht des Hundes zu erkennen.


Die Utopie des schöneren Lebens (und ihr Ende)

Alexandre hat sein Leben nach zwei Dingen ausgerichtet: seinem Bett und seinem Hund – aber nicht in dieser Reihenfolge. Sanguins Idee, den Hund zu entführen, trägt in einem perfiden Sinne Früchte, denn als sein treuester Freund nicht wieder zurückkehrt, steht Alexandre tatsächlich auf, um nach ihm zu suchen. Der Plan ist vorerst aufgegangen (der Hund wurde tatsächlich nur kurz festgehalten). Heuchlerisch und hinterhältig redet Sanguin Alexandre ein, dass es ja kein Leben für ein Hund sei, so den ganzen Tag in einem Zimmer zu verbringen: ein Hund brauche schließlich frische Luft. Dem stimmt Alexandre umgehend zu und er verspricht, ab jetzt früh immer aufzustehen... und dann mit dem Hund lange Spaziergänge zu machen und fischen zu gehen (aber abends dann auch früh ins Bett zu gehen).
Der Schuss ist nach hinten losgegangen, denn damit hat nun weder Sanguin, noch irgendjemand sonst gerechnet. Nun trägt Alexandre seine passive Rebellion voll in die Öffentlichkeit, da er sich nicht mehr nur in seinen eigenen vier Wänden eine schöne Zeit macht: mit dem Hund spazieren gehen oder Fahrradtouren machen, lange fischen, gemütlich bei einem schönen Drink auf dem Innenhof des Guts entspannen, erfrischende Plantschereien im Bach, Champagner-getränkte Billardpartien mit seinen Kumpels in der Dorfkneipe, Fußballpartien mit den Dorfkindern... Sein Gang an die Öffentlichkeit hat außerdem zur Folge, dass er nun sein "Blind Date", Agathe, auch von Angesicht zu Angesicht kennenlernt. Zwischen den beiden funkt es dann rasch, und sie werden ein Liebespaar.

Alexandre geht wieder in die Öffentlichkeit und lebt sein entspanntes Leben nun für alle sichtbar...

...zum großen Missfallen Sanguins.

Alexandre wird bei gewissen Dorfbewohnern zu einer regelrechten gegenkulturellen Ikone, zu einem (passend bärtigen) Prophet eines besseren und entspannteren Lebensstils – und gewissermaßen zum hippen Trendsetter. Als er mit einer kurzen Sommerhose, die ihm Agathe geschenkt hat ("die neueste Mode in Paris"), durch die Dorfstraße stolziert, glotzen ihn die Passanten milde amüsiert an. Colibert und zwei weiteren Bekehrten, die auf der Kneipenterrasse sitzen, kippt die Kinnlade bei diesem Anblick herunter, doch ersterer fängt sich rasch und ordert sogleich statt eines neuen Apéritifs eine Schere. Kurz darauf sieht man sie im Wald mit gekürzten Hosen Pilze sammeln.
Ein Mann, der mit den Kindern des Dorfes auf dem Innenhof seines Guts Fußball spielt... Nach heutigen Begriffen wäre das vielleicht "ehrenamtliches Engagement in der Jugendarbeit" (zumal er ein Privatgrundstück kostenlos dafür zur Verfügung stellt); für die "besorgten Bürger" des Dorfes, und vor allem für Sanguin und Madame Bouillot, ist das allerdings eine Schande – so ein Gutsbesitzer, der Fußball spielt, statt seine Besitzungen gewinnbringend zu bewirtschaften.

Alexandre wird im Dorf zum Trendsetter – und mit der Liebe klappt es auch. 

Im Grunde sind die Vertreter von Ordnung, Moral und Arbeitseifer fast geschlagen, als sie von unerwarteter Seite Unterstützung erhalten. Agathe, die etwas faule Gehilfin im Lebensmittelladen, hatte als zugezogene Außenseiterin mitbekommen, dass Alexandre den ganzen Tag schläft und das mit Bewunderung quittiert. Dass er gleichwohl nolens volens der größte Großgrundbesitzer des Dorfes ist, das war ihr nicht bewußt. Als Sanguin und Madame Bouillot gemeinsam aufgrund des aktuellen Bodenpreises errechnen, wie "schwer" Alexandre eigentlich ist, bekommt Agathe einen seltsamen und kalten Ausdruck in den Augen.
Die darauffolgenden Pärchentreffen verlaufen weniger romantisch und gemütlich als sonst, weil sie ihn ständig nach der Ausdehnung seiner Ländereien und dem Zustand seiner landwirtschaftlichen Geräte ausfragt und sehr auffällig seine Muskeln betastet. Zwischendurch schnippt sie mit den Fingern, als sie plötzlich das Gesichtete mit inneren Berechnungen in Einklang bringt. Dem aufmerksamen Zuschauer ist diese Geste und das begleitende Geräusch unangenehm vertraut, und eigentlich sollte Alexandre auch wissen oder spüren, dass da etwas sehr, sehr Ungutes auf ihn zukommt. Mit einer unerbittlichen Tragik geht er, ohne sich dessen bewußt zu sein, auf sein eigenes Verderben zu. Denn plötzlich ist es geschehen: der wilde Prophetenbart ist abrasiert, die legere Kleidung gegen einen Bräutigamanzug ausgetauscht. Was Alexandre, als er sich im schicken Kostüm im Spiegel betrachtet, natürlich nicht sieht, ist, wie Agathe sich fernab bereits auf den Reichtum freut und ihre ehemalige Arbeitgeberin demütigt.

Mit einer völlig verwandelten Agathe begibt sich Alexandre zum Traualtar,
doch in letzter Minute besinnt er sich, büxt mit dem Hund aus...

...und bereitet sich auf ein Leben als Landstreicher vor.

Vor dem Altar stellt sich Alexandre, offenbar unbewusst, etwas quer und unwillig. Aufmerksame Zuschauer werden gesehen haben, dass er die gleiche Pose und den gleichen etwas unerfreuten Gesichtsausdruck hat wie auf seinem Hochzeitsfoto von vor zehn Jahren. Die ganze Gemeinde ist offenbar in der Kirche, um der Eheschließung zuzuschauen und ihr ihre Zustimmung zu geben. Na ja, die Billard-Kumpels Alexandres schauen nicht so ernst und erhaben rein wie die anderen Zuschauer, sondern eher juxend und amüsiert. Nur einer betritt die Kirche nicht und weigert sich vollkommen der Zeremonie: der Hund, der vor den Toren des Gotteshauses steht und durch Bellen seinen Missmut ausdrückt. Alexandre rennt während der Trauung raus, um den Hund zu beruhigen, aber der lässt sich nicht ruhig stellen. Plötzlich sieht Alexandre in aller Klarheit, dass er eine Dummheit begehen wird und dass derjenige, der ihn aus der Situation rettet, sein vielleicht einziger, jedenfalls sein treuester und intimster Begleiter ist. Die Frage des Priesters, ob er Agathe zu seiner Ehefrau nehmen möchte, antwortet er zum Entsetzen der Anwesenden mit "Nein", lächelt, rennt hinaus und davon. Wie ein entfesselter Mob verfolgt ihn die Gemeinde. In einem seiner Weizenfelder versteckt sich Alexandre, tauscht seinen feinen Anzug gegen das abgeranzte Kostüm einer Vogelscheuche. Nur seine drei Kumpels finden ihn, verstehen seine Flucht, verabschieden ihn herzlich. Ohne jeglichen Besitz, aber mit seinem Hund, wird Alexandre fortan als Vagabund leben...


Stadtluft wird freier machen?

... sein Bart wird nachwachsen, seine bürgerlichen Gewohnheiten werden sich verlieren. Nach seinen fürchterlichen Erfahrungen im Dorf wird er es vielleicht gemäß dem Motto "Stadtluft macht frei" in einer größeren Ortschaft probieren. Ja, warum denn nicht Paris...

Dort könnte man sich zwei Szenarien vorstellen:
Alexandre, nunmehr eine stattliche Erscheinung von einem Vagabunden, wird auf eine Ablehnung treffen, die punktuell vielleicht nicht weniger stark ist als auf dem Dorf. Durch die Dichte der Metropole wird sein Hund sich allerdings vielleicht verlieren und Alexandre wird dann keinen Grund mehr sehen, am Leben zu bleiben und sich in die Seine stürzen. Mit ein bisschen Glück wird ein Anwohner (vielleicht ein Buchhändler?) ihn retten, ihn in seine bürgerliche Existenz aufnehmen und... Aber das ist natürlich eine andere Geschichte, die einige Cinephile natürlich kennen.
Wenn ich ALEXANDRE LE BIENHEUREUX eingangs als eine Art Prequel von Renoirs BOUDU SAUVÉ DES EAUX bezeichnete, dann ist das nicht in einem engen Sinne zu verstehen, es geht eher um eine assoziative Querverbindung. Beide Filme enden damit, dass ein Bräutigam sich von einer Hochzeitsgesellschaft entfernt, seinen eleganten Anzug gegen die Kleidung einer Vogelscheuche austauscht und zum Vagabunden wird (im Falle von Boudu allerdings: wieder).
Jean Renoir war bekanntermaßen einer der großen Heiligen Schutzpatrone der cahiers du cinéma-Redakteure, die später die nouvelle vague starteten, aber selbstverständlich heißt das nicht, dass sie die Exklusivität über ihn hatten. Wie stark oder nicht Regisseur-Autor-Produzent Yves Robert den Altmeister Renoir verehrte, habe ich auf die Schnelle nicht herausgefunden (in diesem Interview nennt Robert nebst René Clair und Claude Sautet auch Renoir als lobenswertes Beispiel für einen extrem persönlichen Filmemacher). Eine direkte Verbindung gab es zumindest im Sommer 1954, als Robert den Cassius in Renoirs einmalig vorgeführter Theateradaption von Shakespeares Julius Caesar spielte.
Der Inszenierungsstil von Robert ist zumindest in ALEXANDRE LE BIENHEUREUX ganz anders als Renoirs. Roberts Film ist über weite Strecken sehr straff inszeniert. Die Dreiteilung, die ich mit meinen drei obigen Kapiteln angedeutet habe, ist tatsächlich recht präzise zu ziehen: es gibt drei klare Abschnitte von je einer halben Stunde, die alle mit einem hohen Tempo inszeniert sind. Robert arbeitet viel mit Zeitverdichtung, mit Montage, mit kurzen Episoden – im Gegensatz zu Renoir, der eher mit der Ausdehnung von Zeit, mit mise en scène, "epischer" und "loser" inszeniert. Die Mischung aus Humanismus und Pessimismus ähnelt sich aber: einzelne Figuren werden nicht als Menschen verdammt, aber gesellschaftliche Kräfte und Regeln durchaus scharf kritisiert. Sanguin ist zweifelsohne der große "Bösewicht" des Films, aber gerade die ersten Szenen, in denen man ihn sieht, zeigen, dass er nicht ausschließlich bösartig ist – und in einem recht bewegenden Moment erlebt er fast einen Nervenzusammenbruch, spricht frei von der Leber und gibt zu, dass er am liebsten selbst alles hinschmeißen möchte, um einfach mal angeln zu gehen. Mit Madame Bouillot hingegen kann man am Ende, als sie von Agathe herumkommandiert und beschimpft wird und dabei wirklich ziemlich mitgenommen aussieht, durchaus Mitleid haben.
(Hier wiederum würde ich gleich ein offensichtliches Gegenargument dazu bringen: "La Grande" erfährt zu keinem Zeitpunkt eine solche Vermenschlichung und bleibt von Anfang bis Ende eine absolut eiskalte Negativfigur. Eine leichte Humanisierung erfährt sie nur posthum, im nachdenklichen, möglicherweise traurigen Blick Alexandres, als er auf ihre Fotohälfte blickt. – Und hier würde ich gleich noch einen weiteren Punkt ansprechen: ALEXANDRE LE BIENHEUREUX ist ein sehr, sehr, sehr, sehr männlicher Film. Wenn neben Alexandre durchaus sympathische Herren auftauchen, etwa die Figuren Pierre Richards und Jean Carmets, so ist es auf der weiblichen Seite dünner gesät. Agathe ist – zunächst – eine herzallerliebste Person und zeitweilig die größte Sympathieträgerin neben Alexandre und dem Hund, wird aber schlussendlich zur Verräterin, zu einer geradezu machiavellistischen Intrigantin. Man könnte einwenden, dass ihre Wandlung am Ende wenig überzeugend ist, etwas "drehbuchraschelnd" wirkt, dass sie nicht als Frau, sondern als durch Gier korrumpierte Person antipathisch sein soll, dass nicht böse Frauen, sondern persönliche Freiheit und sozialer Druck  auf dem Dorf die Themen des Films sind – ein ungutes Gefühl bleibt mir dabei dennoch im Hinterkopf.)

Ich sprach ja von zwei Szenarien... also:
Alexandre, nunmehr eine stattliche Erscheinung von einem Vagabunden, wird durch die Straßen von Paris laufen und dort eine Stadt in Aufruhr erleben mit demonstrierenden Studenten und streikenden Arbeitern, die für bessere Lebens-, Studien- und Arbeitbedingungen einsetzen, gegen Krieg, für Solidarität und Liebe. Kurz: Leute, die in einer Gemeinschaft den Aufstand proben, den er in seinem Dorf ganz alleine (bzw. nur mit seinem Hund und einigen passiven Sympathisanten) geprobt hat.
ALEXANDRE LE BIENHEUREUX wäre in diesem Sinne, obwohl er in Frankreich bereits im Februar in die Kinos kam, mit seinem antiautoritären, nonkonformistischen und rebellischen Geist der passende Film zu Mai 1968. Wenn man diesen Gedanken weiterspinnt, wäre er aber auch ein Film über das Scheitern von 68. Bei aller Leichtigkeit und aller Huldigung der einfachen Lebensfreuden ist ALEXANDRE LE BIENHEUREUX schlussendlich auch ein ungeheuer pessimistischer Film, mit einem bitteren Ende, einem eigentlich erschütternden unhappy happy ending. Am Ende kann niemand der Logik kapitalistischer Verwertung entkommen – es sei denn, jemand gibt alles auf. Alexandre konnte weder die Mauer der Intoleranz durchbrechen, noch die Logik eskalierender kapitalistischer Gewinnmaximierung. Ihm bleibt nur noch, aus der Gesellschaft auszutreten und außerhalb von ihr ein Leben zu probieren: wer hier "faul" ist, wird irgendwann zum Penner (oder alternativ: zum kapitalistischen Tyrannen).


Antiautoritär & populär

Der antiautoritäre und nonkonformistische Wind, der durch ALEXANDRE LE BIENHEUREUX weht, die Sympathie für Underdogs (wie auch für echte Hunde), für soziale Außenseiter und für realitätsferne (sind sie das wirklich?), aber durchaus moralische Träumer – der ist auch in anderen Filmen Yves Roberts zu spüren.
In seinem zweitem abendfüllenden Film, NI VU, NI CONNU von 1958, liefert sich ein Wilddieb (zusammen mit seinem Hund) ein Katz- und Mausspiel mit den örtlichen Autoritäten. Die Notabeln des Dorfes stehen irgendwann in einer unbequemen Position, als der Wilddieb für längere Zeit verhaftet wird: sie haben schließlich von den Früchten seiner illegalen Arbeit profitiert. Der Film war der erste von mehreren "Star-Entdecker-Filmen", die Robert im Laufe seiner Karriere drehte: die Hauptrolle des Wilderers wurde von einem ehemaligen Barpianisten, Sproß verarmter spanischer Adeliger dargestellt – einem damals noch unbekannten Louis de Funès, der hier seine erste bedeutende Hauptrolle spielte (wenngleich er erst einige Jahre später zum Superstar avancieren würde). Der Stoff war adaptiert nach einer Novelle des humoristisch-satirischen und antiautoritären Schriftstellers Alphonse Allais.
Einen anderen großen Satiriker der französischen Literatur, nämlich Jules Romains (bekannt für "Knock"), adaptierte Robert 1965 mit LES COPAINS: hier veranstaltet eine Gruppe von Freunden eine Serie von Streichen gegen die drei großen Institutionen Verwaltung, Armee und Kirche. Mit von der Partie waren hier illustre und damals noch nicht so bekannte Darsteller wie Philippe Noiret, Guy Bedos, Michael Lonsdale.
Bereits vorher wurde Yves Robert selbst zu einem Star im französischen Kino, mit seinem LA GUERRE DES BOUTONS, der 1962 passenderweise den Prix Jean Vigo erhielt: Wie einst in ZÉRO DE CONDUITE des Namenspaten Jean Vigo handelt LA GUERRE DES BOUTONS ebenfalls von rebellischen Kindern. In diesem Meta-Kriegsfilm liefern sich zwei Kinder-"Gangs" aus benachbarten Dörfern "Schlachten", in denen die Knöpfe der anderen als Trophäen gesammelt werden. Der Film wurde in Frankreich ein großer Erfolg bei der Kritik, und nach erheblichen Startschwierigkeiten auch beim Publikum.
Yves Robert schrieb seine Filme selbst und produzierte sie auch selbst zusammen mit seiner Ehefrau, der Schauspielerin Danièle Delorme bzw. der gemeinsam betriebenen Produktionsfirma "La Guéville" (benannt nach einem Fluss). Die Firma produzierte nicht nur Roberts Filme, sondern auch Filme von Martin Karmitz (selbst bekannt für die Produktions- und Vertriebsfirma mk2), Jean-Paul Rappeneau, Bertrand Tavernier, André Delvaux sowie die ersten Regiearbeiten von Pierre Richard. "La Guéville" gehört auch zu den Firmen, die Jean-Luc Godards LA CHINOISE koproduzierten. Robert äußerte in einem Interview einmal seine Bewunderung für die nouvelle vague (ob die Bewunderung beidseitig war, weiß ich nicht), und LA GUERRE DES BOUTONS wird wegen thematischen Ähnlichkeiten und dem Fokus auf Kindheitserfahrungen gerne in einem Atemzug mit LES 400 COUPS genannt.
Neben LA GUERRE DES BOUTONS wurde Robert vor allem für zwei Filmreihen (bzw. eigentlich: -duos) berühmt. Die slapstickhafte Agentenkomödie LE GRAND BLOND AVEC UNE CHAUSSURE NOIRE machte Pierre Richard zum Star und zu einem der führenden Komödiendarsteller in Frankreich. Die Abenteuer des François Perrin (der erste von vielen folgenden François Perrins aus der Feder des Autoren Francis Veber) waren so erfolgreich, dass der große Blonde in LE RETOUR DU GRAND BLOND 1974 zurückkehrte.
Sehr erfolgreich lief auch Roberts Komödie UN ÉLÉPHANT ÇA TROMPE ÉNORMÉMENT von 1976, der als Ensemblefilm mit Jean Rochefort, Claude Brasseur, Victor Lanoux und Guy Bedos konzipiert war: ein Film über ein paar Freunde, gedreht von einer Gruppe von Freunden (mit Rochefort drehte Robert acht Filme). Dieses lose Konzept wurde zu einem solch großen Erfolg, dass ein Jahr später das Sequel NOUS IRONS TOUS AU PARADIS folgte (und in den USA das Remake THE WOMAN IN RED von und mit Gene Wilder).
Roberts Interesse für das provinzielle, dörfliche Frankreich findet man wieder in der Dilogie LA GLOIRE DE MON PÈRE und LE CHÂTEAU DE MA MÈRE – eine Teilverfilmung von Marcel Pagnols Autobiografie.
Um noch mal zu ALEXANDRE LE BIENHEUREUX zurück zu kehren: auch dieser war ein "Star-Macher", denn es war die erste große Hauptrolle Philippe Noirets, der mit diesem Film in die Riege der großen französischen Kinostars aufstieg. Tatsächlich ist es sehr schwer, sich jemand anderen als Alexandre vorzustellen. Noiret beherrscht absolut perfekt dieses Zusammenspiel aus leiser Würde, sanfter Melancholie und zugleich kernig-burschikoser Jovialität (seine Dicklichkeit war hier ein echter Trumpf), die für diese Rolle notwendig ist. Seine besten Rollen waren stets jene, die diese Mischung erforderten (ich denke da ganz besonders an seine Interpretation des ökonomisch zutiefst korrupten, aber moralisch integren Polizisten René Boisrond in LES RIPOUX).



ALEXANDRE LE BIENHEUREUX ist in Deutschland seit 2017 unter dem Titel "Alexander der Lebenskünstler" erhältlich. Der Film ist darauf ungekürzt*** und mit verfügbarer O-Ton-Version zu sehen. Da die DVD von Pidax ist (ja, ein "Film-Klassiker"), darf man allerdings weder nennenswerte Extras, noch Untertitel erwarten.
Wer den Film im Originalton sehen möchte, aber nicht gut genug Französisch versteht, um dem Film untertitelfrei zu folgen, der sollte sich... nun ja... in Frankreich umschauen! Da gibt es den Film in mehreren Editionen, und die neueren (darunter eine blu-ray-Edition) haben auch englische Untertitel anzubieten.


*** Mehreren Quellen zufolge dauert der Film 100 Minuten. Die DVD läuft allerdings nur 92 Minuten. Abzüglich des PAL-Speedups müssten es eigentlich 95 Minuten sein. Dass auf dem DVD-Cover "Ungekürzte Fassung!" (das Aufrufezeichen steht tatsächlich da) zu lesen ist, würde ich bei dem Label nicht zu hoch bewerten. Der Film dauert allerdings auch in französischen Editionen 92 (DVD) bzw. 95 (blu-ray) Minuten. Vielleicht also wieder eine falsche Zahl, die sich durch hartnäckiges Weiterkopieren im Internet einfach verbreitet hat?

Montag, 18. Juni 2018

JE T'ATTENDRAI - Poetischer Realismus aus der dritten Reihe

Der französische Film der 30er Jahre, und insbesondere die Strömung des Poetischen Realismus, gehört bekanntlich zu den glorreichen Epochen der Filmgeschichte. Namen wie Jean Renoir, Marcel Carné und Julien Duvivier haben sich in die Bücher für die Ewigkeit eingetragen. Doch bei soviel Glanz musste es eigentlich auch einen Unterbau geben - Regisseure aus der zweiten und dritten Reihe, die heute fast keiner mehr kennt. Es gab sie, und der gebürtige Russe (oder vielleicht Ukrainer) Léonide Moguy war einer von ihnen. Bei dem Namen wird mancher aufmerken: Da war doch was mit Quentin Tarantino? Ja, einer der Charaktere in DJANGO UNCHAINED heißt Leonide Moguy. Tarantino stieß während der Arbeit an INGLOURIOUS BASTERDS auf Moguys Anti-Nazi-Film PARIS AFTER DARK (1943), einen seiner drei Hollywoodfilme. Er sah sich weitere Moguy-Filme an und wurde ein Fan von ihm. Als 2013 auf dem Festival Lumière in Lyon der hier besprochene JE T'ATTENDRAI gezeigt wurde, hielt Tarantino (dem dort auch der Prix Lumière verliehen wurde) eine Einführung. Dass der Film letztes Jahr in Frankreich auf DVD und Blu-ray erschien, tat ein Weiteres, um Moguy der Obskurität zu entreißen.


JE T'ATTENDRAI (ursprünglich LE DÉSERTEUR)
Frankreich 1939
Regie: Léonide Moguy
Darsteller: Jean-Pierre Aumont (Paul Marchand), Corinne Luchaire (Marie), Berthe Bovy (Pauls Mutter), Édouard Delmont (Pauls Vater), René Bergeron (Auguste), Raymond Aimos (Sergent Lecoeur)

Erster Weltkrieg, im Artois im Norden Frankreichs. Ein Bombenangriff der deutschen Luftwaffe auf ein Bahngleis verschafft einem französischen Truppentransport an die Front einen Zwangsaufenthalt. Das nutzt der junge Soldat Paul zu einem ungenehmigten Abstecher in das nahegelegene Dorf, aus dem er stammt. Sein Freund und direkter Vorgesetzter Lecoeur deckt ihn zähneknirschend, aber die Offiziere dürfen nichts erfahren. Und es ist nicht viel Zeit: Die nächste Station ist nicht weit, und Antransport von Schienen und Schwellen und die Reparatur des Gleises werden nicht länger als zwei Stunden dauern. Wenn dann der Zug weiterfährt, und Paul noch nicht zurück ist, dann ist er ein Deserteur (und er würde damit auch Lecoeur schwer in die Bredouille bringen).

Paul (rechts) und Sergent Lecoeur
Doch Paul hat einen triftigen Grund. Im Dorf leben noch seine Eltern, vor allem aber seine Verlobte Marie. Und die hat ihm nie geschrieben, seit er bei der Armee ist, während er ständig Briefe an sie geschickt hat. Ist sie ihm etwa untreu geworden? Er muss es wissen, und so gibt es kein Halten, als sich die Gelegenheit ergibt. Im Dorf, das vom Krieg gezeichnet ist, trifft er zunächst seine Mutter in der Kirche. Und die hat unerfreuliche Nachrichten. Wie sie erzählt, sei Marie bald nach Pauls Einziehung zur Armee aus seinem Elternhaus, wo sie bereits gewohnt hatte, ausgezogen, weil sie nichts mehr von ihm und seiner Familie wissen wollte. Nun wohnt sie im Anbau einer üblen Spelunke, wo sie als Bedienung arbeitet. Paul kann es kaum glauben und eilt sofort in die düstere Kaschemme, die vor allem von Soldaten auf Fronturlaub frequentiert wird. Und tatsächlich findet er dort Marie, deren übergriffiger Chef, der einäugige Wirt Auguste, sein verbliebenes Auge auf sie geworfen hat. Der ebenso grobschlächtige wie durchtriebene Auguste schreckt nicht davor zurück, die angetrunkenen Soldaten übers Ohr zu hauen, indem er deutlich mehr Getränke berechnet, als tatsächlich konsumiert wurden. Und er denunziert Gäste, die sich ohne Erlaubnis bei ihm aufhalten, bei der Gendarmerie - ein schlechtes Omen für Paul.

Ein Dorf, vom Krieg gezeichnet
Die Aussprache zwischen Marie und Paul verläuft anders, als er gedacht hat: Sie ist es, die ihm heftige Vorwürfe macht, weil er ihr nie geschrieben habe. Als er das bestreitet, lässt sie durchblicken, dass nur seine Eltern dafür in Frage kommen, die gegenseitigen Briefe verschwinden zu lassen. Als Zuschauer weiß man sogleich, dass sie recht hat, doch Paul glaubt ihr kein Wort. Sie zerstreiten sich heillos, und die Beziehung ist offenbar endgültig zu Ende. Unterdessen gibt es auch einen heftigen Streit zwischen Pauls Eltern, die durch die Einrichtung ihres Häuschens, ihren Habitus und den Inhalt des Streits als konservative Kleinbürger gekennzeichnet werden. Wie man nun erfährt, war es vor allem die Mutter, die "etwas Besseres" für Paul wollte als die aus einfachsten Verhältnissen stammende Marie, und sie war es, die Marie gleich nach Pauls Abreise aus dem Haus geworfen hat. Und natürlich hat sie auch die Briefe unterdrückt. Der Vater, der schwächere Part in der Ehe, hat gegen seine Überzeugung mitgemacht. Und nun streiten die beiden darüber, ob sie bei der Lüge bleiben oder Paul die Wahrheit sagen sollen.

Auguste macht sich an Marie heran
Vorerst setzt sich wieder die Mutter durch, doch der Schuss geht nach hinten los. Als nämlich Paul aus der Spelunke zurück im Elternhaus ist, ist er so niedergedrückt, dass ihn der Lebensmut verlassen hat. Recht unverblümt lässt er durchblicken, dass er im Schlachtgetümmel den Tod suchen wird. Das schockiert zunächst den Vater und mit einiger Verzögerung auch die hier etwas begriffsstutzige Mutter, und sie ringen sich dazu durch, nun doch mit der Wahrheit herauszurücken. Natürlich muss Paul sofort wieder in das Lokal, um es doch noch mit Marie zu richten. Doch der Graben ist tief, und er braucht viel Zeit und Überzeugungskunst, um Marie umzustimmen - Zeit, die er gar nicht hat. Schließlich schafft er es doch, aber die Versöhnung wird von Auguste belauscht. Der schickt wieder mal nach der Gendarmerie, um den neu aufgetauchten Nebenbuhler gleich wieder loszuwerden, und dann liefert er sich im Lagerraum seiner Spelunke eine wüste Schlägerei mit Paul - an deren Ende er scheinbar tot auf dem Boden liegt. Paul hat ihn nicht vorsätzlich umgebracht, aber es ist nun mal passiert. Paul ist hin- und hergerissen, ob er sich stellen oder doch noch versuchen soll, den Zug zu erreichen. Während ein erneuter deutscher Luftangriff für allgemeines Tohuwabohu sorgt, kommt der nur bewusstlose Auguste allein zu sich und taumelt auf die Tür zu - wird er Paul nun zum Verhängnis werden? Doch im genau passenden Moment schlägt eine Bombe exakt ins Lager ein und macht Auguste nun wirklich den Garaus, und alle Spuren sind getilgt. Paul nimmt jetzt die Beine in die Hand, läuft buchstäblich um sein Leben, und kann im allerletzten Moment auf den bereits anfahrenden Zug aufspringen, auch sehr zur Erleichterung von Lecoeur und den anderen Kameraden. Kaum ist Paul im Zug, ist er wieder guter Laune und tut so, als sei nichts gewesen, so wie 25 Jahre später Jean-Paul Belmondo am Ende von ABENTEUER IN RIO. Und Pauls Mutter und Marie sind auch wieder versöhnt, als sei da nichts gewesen.

Schatten auf den Protagonisten
Es geht also gut aus für Paul, und für den Teil der Zuschauer, der auf ein Happy End gehofft hat - vielleicht allzu gut. Da ist ein bisschen viel Rettung in letzter Sekunde, Augustes finale Bombe ist schon fast ein deus ex machina. Hätte Jacques Prévert das Drehbuch geschrieben, hätte der Film einen ganz anderen Schluss - keinen guten für Paul. Doch tatsächlich stammt das Drehbuch von Marcel Achard, Jacques Companéez und Jean Aurenche (dem wir hier schon bei DIE MAUERN VON MALAPAGA begegnet sind), nach einer Vorlage von Companéez und Michel Deligne. Trotzdem habe ich keine Probleme damit, JE T'ATTENDRAI dem Poetischen Realismus zuzurechnen. Er bietet genug menschliche Abgründe und über weite Strecken eine düstere Grundstimmung. Auch visuell ist JE T'ATTENDRAI ein dunkler Film mit viel Schatten auf den Protagonisten, und ein Beispiel dafür, dass der Poetische Realismus zu den Vorläufern des Film noir zählt. Ursprünglich hieß er übrigens LE DÉSERTEUR, und so kam er im März 1939 in die Kinos. Doch in den Zeiten kurz vor dem nächsten Krieg gefiel dieser Titel der französischen Zensur gar nicht, und er musste umbenannt werden. Unter dem zweiten Titel, der "Ich werde auf dich warten" bedeutet (und damit das Ende vorwegnimmt), kam er im November 1939 erneut in die Lichtspielhäuser. In Deutschland scheint er nie gelaufen zu sein.

Noch mehr Schatten
Die Schauspieler machen ihre Sache gut, ohne herauszuragen. Jean-Pierre Aumont hatte in seiner langen Film- und TV-Karriere, die bis ins hohe Alter dauerte, dutzende von Rollen. Vor JE T'ATTENDRAI sah man ihn beispielsweise schon in DRÔLE DE DRAME und HÔTEL DU NORD, beide von Carné, und im fortgeschrittenen Alter in Truffauts DIE AMERIKANISCHE NACHT. Ganz anders verlief die Laufbahn der mir bisher unbekannten Corinne Luchaire: Sie spielte zwischen 1937 und 1940 nur in sieben Filmen, in denen sie namentlich genannt wurde, drei davon unter der Regie von Moguy, dann erkrankte sie an Tuberkulose und musste ihre Laufbahn beenden. Nach JE T'ATTENDRAI spielte sie die weibliche Hauptrolle in LE DERNIER TOURNANT, der unautorisierten ersten Verfilmung von James M. Cains "The Postman Always Rings Twice". Corinne Luchaire war die Tochter des Zeitungsverlegers und Politikers Jean Luchaire, der während der französischen Besatzung eng mit den Nazis und dem Vichy-Regime zusammenarbeitete. Dafür wurde er 1946 als hochrangiger Kollaborateur hingerichtet. Corinne war tief in die Aktivitäten ihres Vaters verstrickt und ging bei Nazi- und Vichy-Größen ein und aus, sie soll aber auch jüdischen Freunden und Bekannten wie Simone Signoret geholfen haben. Ich bin nicht sicher, wie ihr Verhalten während der Besatzung letztlich zu beurteilen ist. Jedenfalls kam sie nach dem Krieg für einige Monate in Untersuchungshaft, und nach einem Verfahren wurden ihr 1946 für zehn Jahre die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt, was nach einer Berufung auf fünf Jahre verkürzt wurde. Da hatte sie schon zwei Selbstmordversuche hinter sich. Und es kam für sie noch schlimmer: Sie konnte sich nie von ihrer Krankheit erholen und starb 1950 mit 28 Jahren an der Tuberkulose. - Ebenso neu für mich war die in Belgien geborene Bühnen- und Filmschaupielerin Berthe Bovy. Seit 1907 bei der Comédie-Française, spielte sie noch mit der legendären Sarah Bernhardt, und ungefähr zur selben Zeit drehte sie ihre ersten Stummfilme. Bovy war auch die erste Interpretin von Jean Cocteaus "La Voix humaine". Ein alter Bekannter ist dagegen Édouard Delmont, den ich etwa schon aus allen drei Teilen von Marcel Pagnols Marseille-Trilogie (MARIUS, FANNY und CÉSAR) kannte sowie aus Renoirs TONI und LA MARSEILLAISE und Carnés LE QUAI DES BRUMES.

Pauls Eltern streiten sich
Léonide Moguy wurde je nach Quelle 1898, 1899 oder 1900 als Leonid Mogilewski in St. Petersburg oder Odessa (wiederum je nach Quelle) geboren (ich bin der Frage nach den Geburtsdaten nicht weiter nachgegangen). Gestorben ist er jedenfalls 1976 in Paris. Schon in den 20er Jahren betätigte er sich nach seinem Studium (Recht, Volkswirtschaft und Psychologie) in der Sowjetunion als Filmkritiker, war an der Herstellung von Wochenschauen und Dokumentarfilmen beteiligt, war Mitgründer einer Cinematheque, und er leitete ein Experimentalfilmlabor, bevor er 1928 nach Frankreich emigrierte. Dort betätigte er sich zunächst als Cutter, und er soll dabei so geschickt gewesen sein, dass man ihm den Spitznamen "Chirurg des französischen Kinos" verlieh. Nach einem Film als ungenannter Co-Regisseur inszenierte er dann zwischen 1936 und 1961 15 Spielfilme. Interessanterweise lagen zwischen der Premiere seines ersten und letzten eigenen Spielfilms auf den Tag genau 25 Jahre. Nach der französischen Niederlage 1940 emigrierte Moguy vorübergehend in die USA, und wie schon angedeutet, drehte er zwischen 1943 und 1945 drei Filme in Hollywood. Im letzten davon, der im Januar 1946 herauskam, hatte Ava Gardner ihre erste Hauptrolle (und drehte gleich danach THE KILLERS unter Siodmak). Moguy kehrte unterdessen nach Europa zurück, und nach einem Film in Frankreich mit Danielle Darrieux drehte er dann 1950 und 1951 in Italien zwei Filme, in denen jeweils die damals noch sehr junge Pier Angeli Hauptrollen spielte, im ersten neben "Moneypenny" Lois Maxwell und Vittorio De Sica. Seine letzten vier Filme inszenierte Moguy dann wieder in Frankreich. Ab den 50er Jahren engagierte er sich in der internationalen Anti-Atomwaffenbewegung, und dieses Thema bestimmte auch seinen letzten Film LES HOMMES VEULENT VIVRE - es geht darin um drei Physiker, die an Atomwaffen forschen und irgendwann vor der Frage stehen, ob sie diese Forschungen fortsetzen oder einstellen sollen - jeder der drei kommt dabei zu einem anderen Ergebnis.

Paul schockiert seine Eltern
Etliche von Moguys Filmen behandeln soziale Themen, speziell solche von Kindern oder Jugendlichen, allerdings attestiert ihm das Lexikon des Internationalen Films dabei teilweise Oberflächlichkeit oder gar Larmoyanz. Ob das nun gerechtfertigt ist oder nicht, zu den Großen der Filmgeschichte zählt Moguy jedenfalls nicht. Trotzdem sollte er vielleicht etwas bekannter sein, als er ist, nicht nur weil Quentin Tarantino das auch findet. Auf jeden Fall ist er ein weiteres Beispiel dafür, dass die französische Filmkultur der 30er Jahre Immigranten gegenüber so offen war wie kaum irgendwo sonst auf der Welt. - Wer noch mehr über Moguy und speziell seine amerikanischen Filme erfahren will, dem sei dieser Artikel empfohlen. - Die bereits erwähnte DVD bzw. Blu-ray von Gaumont hat englische Untertitel. Allerdings gilt das nur für den Film selbst. Beim Bonusmaterial, im Wesentlichen eine 19-minütige Einführung durch den Filmhistoriker Laurent Véray, hielt man das für verzichtbar.

Versöhnung

Montag, 21. Mai 2018

No Future in Riga? Bericht vom 18. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films (Teil 2)


4. Festivaltag
Samstag, 21. April


ca. 12 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum

NOVEMBER
Regie: Rainer Sarnet
Estland / Niederlande / Polen 2017
115 Minuten, DVD
Estland, so ungefähr im 19. Jahrhundert? Das Bauernmädchen Liina liebt den Bauernjungen Hans – doch der hat nur Augen für die traurige, schlafwandelnde Tochter des lokalen deutschen Gutsherren. Als ob das alles nicht schwierig genug wäre, tummeln sich noch sogenannte Kratts (beseelte Gegenstände), wahlweise nationalistische oder hormonstaugeplagte Landarbeiter, Walddämonen, wiederkehrende (aber gänzlich friedliche) Untote und die personifizierte Pest durch diese Geschichte.
© goEast Filmfestival
Erneut hatte ich Pech, diesen Film in schummeriger DVD-Qualität auf einem suboptimalen Bildschirm zu schauen, denn NOVEMBER ist zunächst einmal eine schier überwältigende Bildgewalt in Schwarzweiß! Überhaupt ist er ein überbordender Film: voller visueller Ideen, voller Nebenplots, voller humoristischer Einfälle, voller hemmungsloser Melodramatik – fast zu voll.
Steampunk trifft auf traditionelle estnische Folklore trifft auf eine übergroße melodramatische Liebesgeschichte trifft auf barock-grotesk-derben Humor mit Fäkalnote. Alles geht hier völlig informell, nahtlos, ohne sichtliche Brüche ineinander über. Bedrohliche Kratts, bestehend aus großen Sicheln und Heugabeln, marschieren wie Roboter durch die Landschaft, entführen Kühe und schmeissen diese durch die Luft. Nächtens besuchen die toten Verwandten die im Diesseits zurückgebliebene Familie, nehmen dann ein Dampfbad, bei dem sie sich in Hühner verwandeln. Die Bauern besuchen die Messe, doch die Hostien schlucken sie nicht, sondern spucken sie vor den Toren der Kirche gegen Bezahlung einem Schamanen in die Hand, der damit Walddämonen bekämpfen möchte. Der Walddämon, der nächtens immer an einer Wegkreuzung auftaucht und der für ein paar Tropfen Blut und die Seele einen Kratt belebt (Kratts sind nämlich nicht böse, sondern werden meist als Haushaltshilfen gebraucht) – dabei aber von den Bauern getäuscht wird, die unter der Hand Beeren zerdrücken, statt sich in den Finger zu schneiden. Während ein Landarbeiter aus Stuhl, Achselschweiß und Schamhaaren ein Liebesbrot bäckt (das geht allerdings gehörig schief!), entwickelt sich ein Schneemann-Kratt zu einem wahren Poeten, einem Dichter Venezianischer Liebestragödien bzw. zu einem Liebesgedicht-Ghostwriter für den verliebten Hans...
Jede Episode von NOVEMBER ist wunderbar gefilmt und doch schafft es der Film nicht wirklich, aus seinen Einzelteilen mehr als eine Summe zu bilden. Gleich zwei Personen, die den Film zwei Mal gesehen haben, meinten, dass sich dieser Eindruck bei wiederholter Sichtung noch verstärkt. Ja, NOVEMBER krankt ein wenig an Überambitionierung, will vielleicht zu viel auf einmal und seine fast zwei Stunden wirken letztlich zu lang, aber das ist doch Jammern auf relativ hohem Niveau. Ich habe während meines Aufenthalts in Wiesbaden viele tolle estnische Filme aus der sowjetischen Zeit gesehen – NOVEMBER ist sicherlich kein Meisterwerk, aber er bestätigt doch, dass das estnische Kino nach wie vor quicklebendig und spannend ist. Und vor allem ist Rainer Sarnet ein Name, den man sich merken sollte. Der Film hat jedenfalls den Hauptpreis der Jury beim diesjährigen Festivalwettbewerb gewonnen.


ORATORIUM PRO PRAHU („Oratorium für Prag“)
Regie: Jan Němec
Frankreich / USA / ČSSR 1968
26 Minuten, DVD
Dieser Film sollte eine Art Bestandsaufnahme der Tschechoslowakei im Prager Frühling werden. Doch dann marschierten sowjetische und Warschauer-Pakt-Einheiten in das Land ein...
© goEast Filmfestival
Wieder ein Film aus der kleinen Reihe zu „Prag 68“ (den ich wegen Terminkonflikten letztlich nicht bei einer richtigen Projektion sah). Die ersten zwei Drittel von ORATORIUM PRO PRAHU erzählen zunächst eine nicht völlig unkritische, aber doch recht optimistische Erfolgsgeschichte des Prager Frühlings. Begeisterung zunächst für die Abschaffung der Zensur im März. Dann aber auch ein Blick auf die zunehmenden größer werdenden gesellschaftlichen Forderungen, die noch viel mehr fordern (unter anderem wird, soweit ich mich erinnere, auch das Manifest der 2000 Worte erwähnt). Und vor allem einige sehr interessante Bilder einer höchst lebendigen alternativen Hippie-Kultur, die sich mit sozialistischer Kultur gewissermaßen verbindet: Blumenkinder, Jugendliche, die in Woodstock nicht weiter aufgefallen wären, helfen auf dem Acker bei einer Ernte mit.
Vom Stadtportrait wandelt sich ORATORIUM PRO PRAHU zu einem echten Kriegsfilm (was der Sprecher auch selbst explizit sagt). Eine eigentlich harmlose Fahrt durch die Gegend, auf der Suche nach weiteren Bildern für das Prag-Portrait, wird zum Schock, als erste Panzer durch die Straßen fahren. Dann die ersten Massenproteste. Schließlich Straßenschlachten und regelrechte Kriegsszenen. Aus einem Portrait des blühenden Prags wird eine Todeshymne. Eine Niederlage.

Es war sehr klug von mir, ORATORIUM PRO PRAHU direkt vor dem nächsten Film zu schauen. Was für ersteren als Niederlage endet, ist für letzterer der Beginn einer siegreichen Kehrwende und erfolgreichen Abwehr einer Katastrophe.


16.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ („Tschechoslowakei, das Jahr der Herausforderungen“)
Regie: Anatolij Kološin
Sowjetunion 1969
68 Minuten, digital (tschechischsprachige Fassung)
Der Prager Frühling wurde im August 1968 durch den Einmarsch sowjetischer und Bündnis-Truppen abgewürgt. Der Film ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ erklärt, warum der Einmarsch richtig war.
Auf manche Filme habe ich mich ganz besonders gefreut – dass ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ allerdings eher ein Ausdauertest und eine Grenzerfahrung sein würde, war mir allerdings klar.
Formal gesehen funktioniert ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ wie ein gnadenlos voran rückender, alles zermalmender sowjetischer Panzer. Die Erzählung: kapitalistisch-faschistische Verräter in der Tradition Hitlers haben sich die Tschechoslowakei gekrallt, um hier ein kapitalistisch-faschistisches System inklusive Todeslagern zu errichten, das Land dem Warschauer Pakt zu entreissen und an den Westen zu übergeben, während die Amerikaner sich an die Grenze heranmachten, um in den Bereich des Warschauer Pakts einzufallen – und als die Sowjetische Armee mit Bündnispartnern intervenierte, um Abhilfe zu schaffen, wurde diese von feigen Provokateuren hinterrücks angegriffen...
Nun... so ganz explizit sagt das der Film niemals, sondern er arbeitet (wie zum Beispiel die CSU, Vorsitzende „liberaler“ Parteien oder die Besorgti-Braunis) mit begrifflichen und visuellen Assoziationen, die nie wirklich ausgesprochen werden, die aber doch jeder verstehen soll. Die intellektuellen Vordenker des Prager Frühlings? Waren, so der Film, bestimmt wohlwollende Leute, die nur ein bisschen reformieren wollten. Wie ihr „liberalisierter Sozialismus“ aussehen sollte? An dieser Stelle werden kurz hintereinander Portraits der Reformvordenker montiert, als letzter Ota Šik – und danach folgen gleich Bilder von Nazi-Massenaufmärschen und KZ-Leichenbergen. Dies ist mir als ganz besonders abscheulich, geschmacklos und pietätlos in Erinnerung geblieben. Ota Šik, der Vordenker der Wirtschaftsreformen, war jüdischer Herkunft, kämpfte während des Weltkriegs aktiv gegen die Nazi-Besatzung, gehörte seit 1940 der Kommunistischen Partei an und war jahrelang im KZ Mauthausen inhaftiert. Er hatte mit anderen Worten wahrscheinlich mehr moralische Autorität und eine längere Zugehörigkeit zum Kommunismus als jene, die ihn ab 1968 diskreditierten.
ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ ist praktisch in seiner ganzen Laufzeit so krude und so assoziativ in seiner Machart: er springt von Thema zu Thema, ohne wirklich irgendetwas abzuschließen. Das ist auch nicht nötig, wenn er die Zuschauer erst einmal völlig überrollt hat. Fast vollkommen pausenlos spricht eine ganze Horde von Off-Kommentatoren (jedes Mal, wenn irgendjemand zitiiert wird, kommt gefühlt eine neue Stimme), während eine irrsinnig schnelle Flut an Bildern den Betrachter zuschüttet. Es gibt hier keine Ruhepausen, keine Momente der Introspektion, keine einzige Sekunde Luft, in der man als Zuschauer mal kurz durchatmen könnte. In seiner solchen Intensität nicht fünf, zehn oder zwanzig, sondern fast 70 Minuten durchzuhalten, zeugt von einer gnadenlosen Konsequenz. Wer als Zuschauer danach nicht besiegt auf dem Boden liegt...?
ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ wurde als russischsprachiger Film für die Sowjetunion gedreht, doch es wurden dann auch Exportversionen in den entsprechenden Sprachen gezogen (unter anderem gab es auch eine deutsche Fassung für die DDR). Die tschechischsprachige Version, die wir sahen, war gemäß der Kuratorin wohl wesentlich „softer“ als die originale russische Version, sowohl, was den Textinhalt wie auch den Sprachton der Sprecher betrifft. Als etwas Weichgespültes habe ich den Film allerdings keineswegs empfunden.


18.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

JAUSMAI („Gefühle“)
Regie: Almantas Grikevičius, Algirdas Dausa
Sowjetunion (Litauen) 1968
90 Minuten, DCP
Litauen während der Nazi-Besatzung: ein verwitweter Bauer flieht zusammen mit seinem Baby vor einer drohenden Konfiskation seines Viehs und landet im Haus seines Zwillingsbruders und dessen Frau – mit der er einst eine Affäre hatte...
© goEast Filmfestival
Ich erwähnte im ersten Teil meines goEast-Berichts einen besonders hölzernen Darsteller, der in meinen gesichteten litauischen Filmen immer wiederkehrte. Nun... Regimantas Adomaitis spielte jetzt in JAUSMAI nicht nur eine der vielen zweiten Geigen, sondern den fliehenden Bauern, die Hauptrolle. Ich könnte nichts Böses über ihn sagen: er hat halt ein nettes Gesicht, das er meist recht nett in die Kamera reinhält, das mich allerdings völlig kalt gelassen hat.
Wie überhaupt insgesamt JAUSMAI recht unbemerkt an mir vorbeigeflossen ist. Ohne tödliche Langeweile, aber auch definitiv ohne Höhepunkte, die einen hochrücken ließen. Früh im Film fährt der flüchtige Bauer zusammen mit seiner einzigen Kuh und mit einem Wehrmachtssoldaten in einem Boot über ein Stück Meer. Der Wehrmachtssoldat ist dem Litauer gefolgt, um ihn eigentlich aufzuhalten, aber so richtig viel Elan hat er nicht reingelegt: de facto ist er jetzt ein Deserteur. Zwei Männer, ein Baby und eine Kuh auf einem Boot – mit einem anderen Hauptdarsteller und vielleicht auch einem anderen Regisseur (warum nicht den Esten Kaljo Kiisk bei einem kleinen Ausflug nach Litauen) hätte ich wohl liebend gerne diese unglaubliche Situation in einem abendfüllenden Film gesehen. JAUSMAI hat daraus herzlich wenig gemacht. Später kommt also der Witwer mit seinem Baby an, der Wehrmachtssoldat verduftet und das ganze wird zum Gebrüder-Loveinterest-Zwist-Melodrama.
Nebst dem Herzschmerz-Plot gibt es auch noch Geschichten mit den lokalen Machthabern, von denen ich nicht sicher bin, ob sie Kommunisten sein sollten. Vielleicht wird die „Banalität“ von JAUSMAI hier gewissermaßen zu einer Stärke: wie in NIEKAS NENORĖJO MIRTI spielen lokale Handlungsmöglichkeiten eine größere Rolle als ideologische Grabenkämpfe.
Am Ende flieht der Witwer, trotz des Verbots der lokalen Machthaber (wahrscheinlich doch die Sowjetmacht), mit einem Boot... Schnitt. Texttafel „Zehn Jahre später“. Dann kehrt der Bruder nach 10 Jahren Lager zurück, um seinen Bruder und seine mittlerweile zu Teenagern angewachsenen Kinder zu besuchen. Ende. Punkt. Für einen Film mit dem Titel „Gefühle“ floß er doch recht unbemerkt an mir vorbei.


22.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? („Ist es leicht, jung zu sein?“)
Regie: Juris Podnieks
Sowjetunion (Lettland) 1986
78 Minuten, DCP
Nach einem Konzert der später verbotenen Rockband Pērkons verwüsten einige Jugendliche auf der Rückfahrt nach Riga einen ganzen Zugabteil. Der einzige volljährige Verhaftete wird zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Ausgehend von Interviews mit mehreren der Konzertbesucher zeichnet der Dokumentarfilm ein vielseitiges Portrait der lettischen Jugend zwischen Tschernobyl, Punk und Afghanistankrieg.
© goEast Filmfestival
Nē! – So lautet die Antwort auf die Titelfrage. Die Perestroika mag zwar begonnen haben, aber es ist verdammt schwer, anno 1986 in der Sowjetunion zu leben und dabei jung zu sein. Schwer, teilweise sogar regelrecht beschissen – aber nicht vollkommen hoffnungslos.
Fangen wir mit dem ersten an. Die Breschnew-Clique ist von einer reformbereiten Politikergeneration an der Spitze der UdSSR abgedrängt worden, aber auf lokaler Ebene tritt der sowjetische Staat weiterhin repressiv und intolerant gegenüber Abweichungen auf. Junge Männer werden, ohne eine große Wahl zu haben, in die Armee eingezogen (was das bedeutet, wurde im litauischen Dokumentarfilm VĖLIAVA IŠ PLYTŲ schon gezeigt) und dann auch nach Afghanistan in einen Krieg geschickt, an den niemand mehr glaubt. Delinquenten werden zu harter Zwangsarbeit verurteilt. Jugendliche, deren Kleidungs- und Frisurstil nicht „normgemäß“ aussehen, werden ruppig von Polizisten abgeführt.
Besonders in der zweiten Hälfte kehrt VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? immer wieder zu zwei jungen Afghanistan-Veteranen zurück. Für ein lettisches Publikum war es nichts Fremdes, aber gerade in Westeuropa ist es natürlich interessant, noch einmal explizit erwähnt zu bekommen, dass keineswegs nur Russen gekämpft haben und dass das Trauma von „Sovietnam“ auch in die Peripherie reichte. Einer der beiden Interviewten hat ein dauerhaftes Leiden am Bein davon getragen, aber beide sind auch seelisch vom Krieg markiert. Schwere Traumata sind nicht ersichtlich, aber beide erzählen, dass sie große Mühe haben, in ihren Alltag zurück zu kehren. In einem sehr emotionalen Moment trifft einer der beiden Veteranen einen Offizier aus dem Kriegseinsatz wieder und umarmt ihn stürmisch, weil er für ihn die einzig greifbare Bezugsperson geblieben ist.
Tschernobyl hängt ebenfalls über das Leben junger Letten, aber das wird nur kurz erwähnt. Die moralische Orientierungslosigkeit und die ökonomische Unsicherheit wiegen schwerer. Die Perestroika-Reformer mögen ein erhöhtes Tempo in Richtung kommunistisches Paradies eingeschlagen haben, aber die Bilder von Riga, die VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? präsentiert, sind von Verfall geprägt: marode Gebäude, ein trist-graues Stadtbild. Die Jugend möchte gerne einen guten Job, gutes Geld verdienen, Familien gründen – an Kommunismus glaubt niemand. Sie, von der man annehmen könnte, dass sie von der Perestroika profitieren könnte, wird zum ersten Opfer der drakonischen, aber völlig kopflos umgesetzten neuen Anti-Alkohol-Politik: des dionysischen Rausches weitestgehend beraubt flüchten die jungen Menschen zunehmend in die Drogensucht...
VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? ist auch ein sehr düsterer, oft trostloser, trister, pessimistischer und harter Film – aber eben nicht nur. Regisseur Juris Podnieks spricht nicht über die Rigaer Jugend, und tatsächlich spricht er so gut wie gar nicht: der Film enthält keinen „neutralen“ Off-Kommentar, sondern ausschließlich die Stimmen der interviewten Jugendlichen und jungen Menschen (höchstens eine Zwischenfrage ist ab und an zu hören); er lässt seine Protagonisten selbst ihre eigene Geschichte erzählen. Das verleiht VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? große Unmittelbarkeit, Direktheit, Wärme und Intimität.
Und die Protagonisten lassen sich auch nicht entmutigen: wenn die Gesellschaft, in der sie aufwachsen, ihrem Leben nichts bieten kann, dann holen sie sich ihr schönes Leben eben selbst. VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? beginnt mit einer feiernden Menge von Jugendlichen bei einem Rockkonzert, die sich nicht davon beeindrucken lassen, dass einige anwesende Erwachsene sauertöpfisch und zur Wache aufgestellte Polizisten skeptisch reinschauen. Im Publikum dieses Konzerts hat sich Podnieks einige der zentralen Protagonisten für seine Interviews ausgesucht: Stimmen, die immer wiederkehren. Und von dieser recht großen Veranstaltung wirft der Film einige Schlaglichter auf kleinere Subkulturen, damit viele verschiedene lettische „Jugenden“ portraitierend.
Die Punk-Subkultur florierte nicht nur in den großen russischen Städten Moskau und Leningrad, sondern ebenso in Riga. Auch auf den Straßen der lettischen Hauptstadt machen sich jugendliche Bürgerschrecks mit wildem Kleidungs- und Frisierstil dran, die wohldenkenden und gesetzestreuen Bürger (Bourgeois? in einem sozialistischen Land!) mit ihrem Aussehen zu schockieren, und ihre „No Future“-Parolen mit Graffiti an verfallende Häuserwände festzuhalten.
Im übertragenen und wörtlichen Sinne esoterischer geht es bei den Hare Krishnas zu, die sich in Privatwohnungen zu gemeinsamen Meditationen treffen. Im Gespräch mit einem Anhänger der Bewegung kommt es zum einzigen Moment, in dem der Interviewer ganz offen Skepsis und Misstrauen ausdrückt und nachfragt, ob der unbedingte Gehorsam zum Guru nicht vergleichbar ist zum Gehorsam der Nazis zum Führer und ob er (der junge Krishna-Anhänger) auch töten würde. Es gehört zum Stil des Films, dass der Interviewte dann doch das letzte Wort hat und glaubhaft betont, dass Mord nichts im Hare-Krishna-Glauben zu suchen habe.
Weniger „subkulturell“ zeigen sich die jungen Freiwilligen einer privaten, zivilgesellschaftlichen Initiative, die sich das einfache (oder doch recht umfangreiche) Ziel gesetzt hat, liegen gebliebene Bauschuttruinen in Riga zu reinigen und damit die Stadt zu verschönern. Ebenfalls nichtstaatlich-alternativ bzw. privat haben sich einige junge Filmbegeisterte zusammen getan, um abseits des Studios einen Film zu drehen. Als Kulisse dient ein verschlungener, düsterer und sehr verfallener Keller, für eine andere Szene der Strand und das Meer. Gedreht wird auf 16mm (oder gar 8mm?), schwarzweiß, und das ganze wird offenbar ein Gruselfilm, leicht kafkaesk, leicht surreal, spontan und ohne Drehbuch, „on the fly“ gedreht. Wo der gezeigt werden soll, ist scheinbar unwichtig: der Dreh an sich ist das Abenteuer. Mit hoffnungsvollen Bildern (so der junge Underground-Regisseur selbst dazu) aus dem unbenannten Film – viele Komparsen, die bis zu den Knien im Wasser stehen und hinaus in das offene Meer blicken – endet VAI VIEGLI BŪT JAUNAM?
Je mehr ich über VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? nachdenke und schreibe, umso mehr schließe ich diesen Film ins Herz. Für viele mag es vielleicht öde klingen, seinen Samstag Abend damit zu verbringen, eine Dokumentation zu sehen über lauter anonymer Menschen, die von ihrem größtenteils tristen Alltag sprechen. Und dennoch war es bislang (abgesehen von PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM im Jahr 2012) mein bislang tollster Samstagabend-Film beim goEast: zum Weinen, Lachen, Staunen, Lernen, Mitfühlen und Abrocken. Übrigens war der Film tatsächlich so etwas wie ein echter Blockbuster in der Sowjetunion: gemäß dem englischen Wikipedia-Eintrag sahen 28 Millionen Zuschauer diesen Film in den Kinos, und er wurde in 85 Ländern exportiert. Kein Wunder, dass VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? ganze zwei Sequels nach sich zog, nämlich VAI VIEGLI BŪT...? („Ist es leicht ... zu sein?“) im Jahr 1997 und VAI VIEGLI...? PĒC 20 GADIEM („Ist es leicht ... 20 Jahre danach?“) im Jahr 2010. Beide Fortsetzungen, in dem einige der Interviewten aus dem ersten Film (nunmehr natürlich älter) erneut befragt wurden, hat Antra Cilinska inszeniert, die zunächst als Schnittassistentin Juris Podnieks' begonnen hatte. Juris Podnieks selbst starb im Sommer 1992 mit nur 42 Jahren bei einem Tauchunfall. Mit ihm verschwand wohl eine der interessantesten Figuren des lettischen Dokumentarfilms, ein Regisseur, der nicht nur über lettische Jugendliche, sondern auch über die letzten Veteranen der Roten Lettischen Schützen, Dirigenten, usbekische Demonstranten, armenische Erdbebenopfer, Tschernobyl-Heimkehrer, die baltische Folk- bzw. Protestlied-Bewegung oder über die Straßenkämpfe zwischen lettischen Unabhängigkeitsaktivisten und sowjetische Soldaten (dabei starben zwei Kameramänner der Filmcrew) Filme drehte. Podnieks wurde dank des durchschlagenden Erfolgs von VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? und durch Koproduktionsverträge mit dem britischen Fernsehen relativ wohlhabend und gründete noch in der späten Perestroika-Ära sein eigenes, unabhängiges Filmstudio, das er auch ausländischen Filmcrews zur Nutzung vermietete. Das Juris Podnieks Studio blieb auch nach seinem Tod bestehen und wird nun seit vielen Jahren von Antra Cilinska geleietet.
Und jetzt noch eine letzte kleine Bemerkung: Nach der Sichtung von VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? und damit auch der höchst interessanten Ausschnitte des Films, die einer der Interviewten drehte, hoffe ich sehr, dass es irgendwann bei einem zukünftigen goEast-Festival mal eine Retrospektive zum sowjetischen Underground-Kino der 1980er Jahre geben wird (ein Film von Evgenij Jufit wurde vor ein oder zwei Jahren gezeigt, doch leider zu einem Termin nach meiner Abreise).


5. Festivaltag
Sonntag, 22. April

11.00 Uhr, Caligari FilmBühne

TLMOČNIK („Der Dolmetscher“)
Regie: Martin Šulik
Slowakei / Tschechien / Österreich 2018
113 Minuten, DCP
Der pensionierte slowakische Dolmetscher Ali Ungár (Jiří Menzel) fährt nach Wien, um dort aus Rache den ehemaligen SS-Sturmbannführer Kurt Graubner zu erschießen, der einst im Zweiten Weltkrieg unter anderem Ungárs Eltern ermorden ließ. Doch in der Wohnung trifft er nur dessen Sohn Georg (Peter Simonischek), der ihn darüber informiert, dass Kurt Graubner gestorben ist. Nach einigen Streitigkeiten brechen die beiden in die Slowakei auf, um die Tatorte des Vaters bzw. des Elternmörders zu erkunden.
© goEast Filmfestival
TLMOČNIK ist ein Wohlfühl-Film mit kleinen Holocaust-Spitzen. Wahrscheinlich könnte ich ewig schreiben, warum dieser Film verwerflich ist, weil er den Holocaust für ein relativ klischeehaftes Stück Gefühlsduselei missbraucht. Aber dagegen sprechen zwei Sachen: erstens seine deutlich erkennbare Ernsthaftigkeit oder besser gesagt, seinen erkennbaren guten Willen. Und zweitens die Tatsache, dass TLMOČNIK als reines Schauspielerkino fantastisch ist.
Ja, mehr als alles andere lebt TLMOČNIK von seinem großartigen Schauspieler-Duo Menzel und Simonischek. Der Österreicher hat sicherlich die einfachere und auch dominantere Rolle, denn sein Georg Graubner ist ein recht lauter und derber Bonvivant, der auch schon vor um vier gerne mal einen hebt, leichten Flirts nicht abgeneigt ist und überhaupt ein ziemlicher Spaßvogel ist (was ihm im Laufe des Films immer mehr vergeht – oder deckt sich nur eine Melancholie auf, die er schon immer hatte). Menzel als etwas steifer, pedantischer und gänzlich humorloser Dolmetscher hat die etwas unsichtbarere und weniger spektakuläre Rolle, die er mit viel Würde und leiser Melancholie spielt. Beide zusammen sprengen fast die Leinwand.
Da vergisst man auch gerne, dass TLMOČNIK eben doch ein recht einfach gestrickter Tränendrücker ist, das über den Holocaust und den Umgang mit ihm kaum etwas zu sagen hat und der dem Zuschauer an manchen Momenten etwas zu sehr mit seiner Rührmusik die Tränen aus den Augen prügeln wollte. Ein sehr starker Moment bleibt mir aber doch in Erinnerung. Ungár und Graubner besuchen auf ihrem Trip durch die Slowakei auch Ungárs Tochter. Bei einem Zweiergespräch sagt Georg, dass es bestimmt genau so schwer sei, Kind eines Holocausttäters wie Kind eines Holocaustopfers zu sein. Das kennt man sowohl aus gewissen deutschen Filmen wie auch aus manchen Debattenbeiträgen zur Geschichtskultur, diese Relativierung à la „Der Krieg war ja ganz schrecklich und eigentlich sind wir alle Opfer“. Ungárs Tochter lässt das Georg aber keineswegs durchgehen und befragt ihn in einem sehr scharfen Ton, ob er sein insgesamt behagliches Leben gleichsetzen will mit ihrem Leben im Wissen, dass fast ihre gesamte Familie kaltblütig ermordet wurde und ihrem Unwissen, ob ähnliches vielleicht nicht noch mal passieren oder wiederkehren könnte. Da bleibt der sonst eloquente Georg sprachlos...
Vielleicht werde ich meine Bedenken, TONI ERDMANN zu schauen (seit VICTORIA habe ich eine sehr heftige Grundskepsis gegen überhype-te deutsche Filme entwickelt), doch überdenken.


16.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

Filmblock „Pärn, Nukufilm & Co. – Kleines Estland, große Animation II“

AJA MEISTRID („Die Meister der Zeit“)
Regie: Mait Laas
Estland 2008
72 Minuten, DCP
Späte 1950er Jahre: Vor den Toren Tallinns entsteht im Studio Nukufilm eine besonders experimentierfreudige Keimzelle des Animations- und Stop-Motion-Films. An dessen Spitze stehen die Regisseure Elbert Tuganov und Heino Pars, die zu den Großmeistern des estnischen Animationsfilms avancieren.
Elbert Tuganov und Heino Pars, darstellt als Stop-Motion-Puppen
© goEast Filmfestival
Der höchst sympathische Mait Laas, der beim Screening anwesend war, den Film kurz einführte und nach dem Filmblock den Zuschauern ein unvergessliches Q & A bescherte, ist kein trockener Dokumentarist, sondern gewissermaßen ein „(Enkel)kind“ der beiden portraitierten Regisseure. Die klassischen Archivmaterialien, die man in so einem Portrait-Dokumentarfilm sieht, sind zwar auch vorhanden, aber immer wieder werden Animationsszenen eingefügt, teils gezeichnet, teils Stop-Motion mit Puppen.
Tuganov und Pars gründeten in den 1950er Jahren eine Abteilung für Animationsfilm innerhalb des offiziellen Tallinn-Filmstudios. Mit diesem hatten sie offenbar wenig zu tun, sondern bezogen eine Art Sommerhaus am Stadtrand der estnischen Hauptstadt, um sich dort ganz ihren filmischen Visionen bewegter Puppen zu widmen. Dort, so der Film AJA MEISTRID, entstand eine Kommunen-ähnliche Arbeitsgemeinschaft mit einem eingespielten Team aus fähigen und experimentierfreudigen Handwerkern des Animationsfilms. Eine Kommune mit zwei Gurus an der Spitze, von denen jeder allerdings völlig eigenständig (wenn auch mit geteiltem Personal) seine Filme drehte. Tuganov sei ein eher autoritärer und strikter Regisseur gewesen, während Pars mehr auf offene und demokratische Kooperation setzte – so einige ehemalige Mitarbeiter der beiden estnischen Filmpioniere im Interview.
Die 1960er und 1970er Jahre waren die große Zeit von Nukufilm. In den frühen 1980er Jahren floh Tuganov aus der Sowjetunion und blieb erst in Spanien, dann in Westdeutschland. Eine Schmutzkampagne gegen seine Person und Schikanen durch die Behörden (ich denke darin begründet, dass er einen großen Teil seiner Schullaufbahn in den 1930er Jahren in Deutschland absolviert hat) bewogen ihn zur Flucht. In den 1980er Jahren begann im estnischen Animationsfilm auch eine Art Revolte gegen die beiden „Überväter“: eine Gruppe von jungen Regisseuren wollten noch wesentlich experimentierfreudigere und radikalere Filme drehen – eine Art „nouvelle vague“-Rebellion gegen die „Qualitätsfilmer“ Tuganov und Pars (einige dieser Filme wurden in einem anderen Kurzfilmblock gezeigt, zu dem ich es terminlich aber nicht schaffte).


PARK
Regie: Elbert Tuganov
Sowjetunion (Estland) 1966
7 Minuten, DCP
Eine Stadt bekommt einen neuen Park. Die Wegführung, wie sie sich die Planer vorgestellt haben, wird allerdings von den Spaziergängern nicht genutzt. Ständig neue Baumaßnahmen führen zu mehr Verwirrung.
PARK ist kein Stop-Motion-Film, sondern ein klassischer gezeichneter Animationsfilm. Es ist ein Film darüber, wie Pläne zur Gestaltung des öffentlichen Raumes letztendlich durch den Eigensinn des Publikums ad absurdum geführt werden, weil dieses seine Bedürfnisse gegen die Pläne letztlich durchsetzt. Konkret: wenn die Spaziergänger im Park nicht den umständlich geschlungenen Weg nutzen wollen, sondern querein durch ein Wiesenstück laufen, dann werden auch die größten Verbotsschilder nicht dagegen helfen. Klingt sperrig? Ist es aber nicht: PARK ist ein kurzweiliger und witziger Film mit einem köstlichen Humor.

PARK
© goEast Filmfestival
NAEL: Nägel, die sich in der Öffentlichkeit prügeln, werden von der (magnetischen) Polizei abgeführt
© goEast Filmfestival

NAEL („Nagel“)
Regie: Heino Pars
Sowjetunion (Estland) 1972
8 Minuten, DCP
Nägel nageln sich gegenseitig, suchen Zärtlichkeit bei großen, strammen Hämmern, betrinken und prügeln sich hemmungslos oder versuchen, Zirkuslöwen zu bändigen (letzteres eine ganz schlechte Idee!)... 
Vielleicht mag das verblüffend klingen, aber die Protagonisten von NAEL sind tatsächlich... Nägel! In vier kurzen Vignetten (die allesamt von jeweils unterschiedlichen Animateuren gefertigt wurden – hier scheint der „demokratische“ Ansatz Pars' durchzublicken) und knapp 8 Minuten wird das ganze erzählerische, erotische und humoristische Potential ausgelotet, das in verbogenen Nägeln so steckt. Es ist eine schlichte Idee, die mit großer Konzentration kurz und knackig umgesetzt wird und sogar noch mehr als PARK universell verständlich ist: statt Worten gibt es suggestive Musik und passende Ambientegeräusche. Im Grunde gibt es nicht viel mehr zu sagen. Ich empfehle: anschauen, staunen, lachen!

Das anschließende Q & A mit dem Dokumentar- und Animationsfilmregisseur Mait Laas und dem Geschäftsführer des immer noch existierenden Nukufilm-Studios Andres Mänd gehört zu den schönsten, die ich je erlebt habe. Das hängt vor allem damit zusammen, dass Mait Laas als ein unglaublich freundlicher, offener, begeisterter Mensch herüberkam: witzig und smart, dabei doch bescheiden. Er sprach auf Englisch, aber er hielt ein Büchlein in der Hand: wie er erzählte, ein Band von Goethe-Gedichten, das er am frühen Nachmittag in einer Rumpelkiste in der Nähe des Caligari-Kinos gefunden hat (eine Rumpelkiste, die ich nach TLMOČNIK auch durchwühlte). Das erklärte er dann mitten während des Gesprächs, und dann schlug er eine Seite auf und las ein ganzes Gedicht auf Deutsch vor. Was das Gedicht konkret mit dem estnischen Animationsfilm zu tun hat, könne er nicht sagen, aber Goethe wird es schon wissen, und außerdem könne es nicht schaden, bei einem Gedicht inne zu halten.


18.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

511 PARIMAT FOTOT MARSIST („Die 511 besten Fotos vom Mars“)
Regie: Andres Sööt
Sowjetunion (Estland) 1968
15 Minuten, digital
Bilder aus Kaffeehäuser Tallinns, dazwischen manchmal ein Off-Kommentar mit astronomischen Betrachtungen.
Ich würd mal sagen: 15 % Prätention, 85 % toller Film.


VIIMNE RELIIKVIA („Die letzte Reliquie“)
Regie: Grigori Kromanov
Sowjetunion (Estland) 1970
86 Minuten, HD-File
Während der Livländischen Kriege im späten 16. Jahrhundert: der adelige Hans möchte die schöne Agnes heiraten, doch die Kirche fordert, dass er eine Reliquie, die ihm sein Vater auf dem Totenbett vermacht hat, der Kirche überlässt, um die Hochzeit genehmigen. Agnes wird von Aufständischen entführt, genauer gesagt: von dem wackeren Reiter Gabriel (mit dem die Entführung eher zur Flucht wird). Die Reliquie kommt dabei auch abhanden, und einige intrigante Klerikale, der hoffnungslos verliebte und trottelige Hans sowie der hundsgemeine Ivo von Schenkenberg versuchen, Agnes und die Reliquie wieder zu bekommen. Agnes wiederum hat sich in Gabriel verliebt und macht mit den Aufständischen gemeinsame Sache. 
© goEast Filmfestival
Hui... das klingt alles fürchterlich kompliziert. Ist es irgendwie auch, aber angesichts des völlig entfesselten Kintopps, das VIIMNE RELIIKVIA auf den Zuschauer loslässt, ist die Frage nach der titelgebenden letzten Reliquie irgendwie auch die letzte, die sich der geneigte Zuschauer stellt. Bauernaufstände, Klassenfragen, antikirchliche Untertöne... bla bla bla... VIIMNE RELIIKVIA ist in erster Linie pures Attraktionskino, ein rasanter Genrefilm, der sich genüsslich in seinen stolz ausgestellten Schauwerten suhlt. Abenteuerfilm, schenkelklopfende Screwball-Komödie, garstiger Rachethriller, Gothic-Castle-Gruselfilm, Blockbuster-Actionspektakel, ein bisschen Nunsploitation – alles da, was Kino-Auge und Kino-Herz begehren.
Wirklich angefangen zu lieben habe ich den Film wohl, als Gabriel und die eher volens als nolens „entführte“ Agnes nach ihrem ersten gemeinsamen Tag auf der Flucht bei einem Gasthof ankommen. Agnes verkleidet sich mehr oder minder (eher: minder) erfolgreich als Mann, um ungesehen zu bleiben. Die beiden setzen sich an einen Tisch und werden bedient. Der vorherige Austausch der beiden machte klar, dass sich da zwei offenbar ganz gern haben und sich bereits vorsichtig beschnuppern. Aber Liebe geht bekanntlich durch den Magen. Nun: zum Abendessen gibt es eine große Lammkeule für beide – so fein, dass es da Teller und Besteck gäbe, ist der Gasthof nicht. Jeder muss jeweils die Keule in die Hände nehmen und reinbeissen, um dann während des Kauens und Schmatzens die gegenübersitzende Person mit den Augen zu verschlingen. Irgendwann hält Gabriel Agnes die Keule hin, und sie beugt sich vor und beisst genüsslich rein. Mit welch gierigen Augen und hemmungsloser Laszivität sie das tut, das muss man schon selbst gesehen haben, um diesen absolut unfassbaren Moment zu glauben.
Ab diesem Zeitpunkt gab es für mich kein Halten mehr. Und tatsächlich auch keine Gründe zum Halten, denn kleine Ideen und große Schauwerte geben sich die Klinke. Ausgedehnte Prügeleien, bei denen sich zwischendurch gefesselte Beteiligte auch wieder befreien, um dann gleich wieder mit brennenden Fackeln zu werfen. Das ausgeklügelte Rohrpostsystem, das sich die kirchlichen Intriganten, der Abt und die Äbtissin, so eingerichtet haben, dass ihnen die Nachrichten auf das Schachfeld fällt. Der trottelige Hans, der trübsalblasend in seinem Badezuber sitzt und vor den Augen des Dienstmädchens ganz freudig erregt aufspringt, als er erfährt, dass er doch Agnes heiraten kann. Agnes, die von den Schergen des Superschurken Ivo von Schenkenberg (allein dieser Name: so deutsch, so böse!) festgehalten wird und mit Sklavin der Bande die Kleidung tauscht, um sich davon zu machen: mit einem Schleier vorm Gesicht ist sie getarnt, der Rest ist in einem äußerst knappen Leder-Outfit, der auch Barbarella passen würde, voll und ganz den Blicken der Bewacher (und ja: des geneigten männlichen Zuschauers) ausgesetzt. Diese völlig wahnwitzige Verfolgungsjagd mit Kutsche und Pferd, die jedem angehenden Actionregisseur als Musterbeispiel für Raum- und Tempogefühl dienen könnte. À propos Raumgefühl: die verschlungenen Labyrinthe des Klosters, voller geheimer Falltreppen, versteckter Türen und beweglichen Gittern, durch die sich gegen Ende ein halbes Dutzend Figuren gegenseitig verfolgen – ein kleines Meisterstück. Wenn wir schon in einem Kloster sind, fehlt nur noch eine Nonnenauspeitschung. Ah... Moment: die gibt es ja! Wenn die Äbtissin die nackte Agnes auspeitscht, ihr dann die Peitsche hinwirft und dazu auffordert, es selber zu machen, weht ein kleiner Hauch Jess Franco durch diese sowjetische Produktion.
Man könnte VIIMNE RELIIKVIA vorwerfen, dass er nur die Summe seiner Teile ist, dass er relativ beliebig einen kleinen Knaller nach dem anderen reiht. Im Angesicht eines der mitreissendsten unter den „reinen“ Unterhaltungsfilmen, die ich je beim goEast-Festival gesehen habe, werde ich diesen Vorwurf ganz bestimmt nicht erheben.


20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

VELNIO NUOTAKA („Die Teufelsbraut“)
Regie: Arūnas Žebriūnas
Sowjetunion (Litauen) 1973
78 Minuten, DCP
Ein gefallener Engel taucht in einem litauischen Dorf des 19. Jahrhunderts auf und sorgt dort für erotischen Trubel, dionysischen Wahnsinn und endlose Gesangseinlagen...
Jenseits des Eisernen Vorhangs (aus osteuropäischer Sicht) gab es JESUS CHRIST SUPERSTAR. Diesseits sahen die Zuschauer VELNIO NUOTAKA. Da ich selbst das Rock-Musical über den revolutionären Prediger nicht gesehen habe, aber zumindest zwei Musikfilme eines sehr exzentrischen britischen Regisseurs kenne, würde ich es so formulieren: die erste halbe Stunde von VELNIO NUOTAKA lässt die Musikfilme Ken Russells wie trockenen Neorealismus aussehen.
VELNIO NUOTAKA beginnt im Himmel (gefilmt wurde in einer alpenartigen Berglandschaft – vielleicht im Kaukasus?): Gott, der ein wenig verschlafen auf seinem Thron sitzt, gibt eine Audienz vor seinen Engeln, aber die haben eigentlich nichts anderes im Kopf, als sich auf das in der Nähe stehende, üppige Buffet zu stürzen. Das tun sie dann auch, und einige Engel fangen dann auch an, sich gegenseitig zu befummeln (völlig unabhängig vom Geschlecht übrigens – auch zwei männliche Engel streicheln sich gegenseitig). Gott ist davon angefressen (also: dass seine Engel überhaupt das Buffet vor Ende der Audienz stürmen – nicht die gleichgeschlechtlichen Streicheleinheiten) und lässt einen großen Teil der Bande auf die Erde fallen. Von hier folgen wir nun einem rothaarigen, teuflischen Engel, der ein klein wenig an Gene Wilder in seiner Willy-Wonka-Rolle erinnert...
Vieles, was ab da passiert, konnte ich mir nur sehr intuitiv erschließen. VELNIO NUOTAKA enthält keine einzige gesprochene Dialogzeile: sämtliche Worte werden gesungen und damit auch in lyrische Phrasen verpackt, und die Untertitel waren teils erheblich schneller als ich. Ob die etwas ältere (vielleicht Anfang bis Mitte 40) Frau, an die sich der gefallene Engel ranmacht, die ältere Schwester der jungen Heldin (Anfang 20) oder doch ihre Tante bzw. die Schwester des Müllers ist? Sicher ist nur, dass die junge Protagonistin tendentiell eher auf den wackeren, bärtigen Wandergesellen (Regimantas Adomaitis nun schon zum dritten Mal) steht – der allerdings durch die Intrigen des gefallenen Engels, und durch die Intervention einiger gefallener weiblicher Engel in flammend orangefarbenen Röcken immer wieder den Weg zu seiner Liebsten „verpasst“. Etwa in der Mitte des Films geht der gefallene Engel noch einen (für ihn selbst) unglücklichen Deal mit einem Besucher aus der Dorfkneipe ein.
Aber das ist irgendwie alles nicht so wichtig, denn VELNIO NUOTAKA ist eine audiovisuelle Wucht, die ihresgleichen sucht. Die grandiose Nutzung des Cinemascope-Formats, die extrem starke Farbdramaturgie, schwankend zwischen natürlicher Belichtung in den Freilicht-Szenen und expressionistischem Licht bei den Innenszenen, die mitreissende Musik, die durch die Zuordnung einzelner Themen zu Figuren durchaus eine erzählerische Funktion einnimmt – das alles macht VELNIO NUOTAKA ziemlich großartig. Vor allem ist es aber ein absolut kompromissloser Film: es gibt nichts, was den Gesamteindruck irgendwie verwässern würde.
Einen nicht unbeachtlichen Beitrag zum Film leistet Viačeslavas Ganelinas bzw. auf russisch (und international unter diesem Namen auch berühmter) Vjačeslav Ganelin. Ganelin war von Haus aus nicht Filmkomponist, sondern Jazzpianist, der 1968 das Ganelin Trio gründete und mit dem Schlagzeuger Vladimir Tarasov (Vladimiras Tarasovas) und dem Saxofonisten Vladimir Čekasin (Vladimiras Čekasinas) einen der wildesten und experimentellsten Free Jazz in Europa spielte. Das hört man erst mal nicht so deutlich heraus: der Score ist größtenteils eher im Rockig-Poppigen anzusiedeln. Und doch sind viele Lieder durchaus auch ein bisschen „off“. Merkt man die besondere Sensibilität eines Komponisten, der eigentlich nicht im Musical zuhause ist? Jedenfalls ist Ganelin wahrlich eine tour de force gelungen. Er ist nicht weniger als Regisseur Arūnas Žebriūnas (vorher ein Spezialist für Kinderfilme bzw. Filme mit Kinderprotagonisten) als Erschaffer von VELNIO NUOTAKA zu sehen. 
Dass der Film nicht in den höchsten Pantheon meines diesjährigen goEas-Festivals kommt, hängt damit zusammen, dass ich mich an seine ausgestellten Exzesse (dazu gehört auch, dass zwischendurch Szenen abbrechen, und dann noch ein zweites Mal abgespielt werden) irgendwann „gewöhnt“ habe und dass sich dann eine gewisse Monotonie einstellte, weil der Film kaum „Luft“ ließ. Als er schließlich für etwa 10 Minuten innerhalb einer kleinen Kammer verblieb, in einer vergleichsweise sehr statischen Szene, erschien mir das dann eher öde als wie eine willkommene Ruhepause. Das klingt erst mal sehr negativ, aber ich glaube, dass VELNIO NUOTAKA mich letztlich überwältigt und überfordert hat. Er ist und bleibt ein absolut außergewöhnlicher Film, den ich erst mal setzen lassen muss und den ich gerne einmal wieder sehen werde.


6. Festivaltag
Montag, 23. April

ca. 10 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum

BUDAPEST NOIR
Regie: Gárdos Éva
Ungarn 2017
95 Minuten, DVD
Ungarn, Ende der 1930er Jahre: das Horthy-Regime drängt immer weiter nach rechts, Pfeilkreuzler spielen sich in der Öffentlichkeit zunehmend aggressiv auf. In dieser Atmosphäre versuchen ein Reporter und eine Fotografin, den mysteriösen Mord an einer Prostituierten aufzuklären.
© goEast Filmfestival
Manchmal bin ich doch ein sehr simpel gestrickter Mensch: selbstverständlich läuft mir das Wasser im Mund zusammen, wenn ich einen Titel wie BUDAPEST NOIR lese und natürlich will ich diesen Film unbedingt gucken. Wahrscheinlich würde ich auch TALLINN NOIR, RIGA NOIR, VILNIUS NOIR, BELGRAD NOIR, BUCHAREST NOIR, WIESBADEN NOIR und vielleicht sogar APOLDA NOIR oder GROßSCHWABHAUSEN NOIR anschauen.
BUDAPEST NOIR ist durchaus ein netter Film, aber leider ist das vielleicht auch seine Schwäche, weil ein film noir doch eigentlich nicht nett sein sollte. Die Hauptfigur, Reporter Gordon Zsigmond, ist gleich auf den ersten Blick als archetypischer noir-Detektiv erkennbar: kettenrauchend, mit coolem Mantel und einem schicken Hut versehen, einem steifen Drink um 10 Uhr morgens nicht abgeneigt, den Zyniker raushängend, um damit seinen eigentlich weichen Kern zu verstecken. Kolovratnik Krisztián macht den Gordon schon ganz gut, aber ein Bogart ist er nun auch gerade nicht.
Die Idee, einen period-noir in der Ära des bereits stark rechtsradikalisierten Horthy-Regimes anzusiedeln, ist sehr interessant, bleibt aber größtenteils nur Staffage, von ernsthafter Auseinandersetzung mit der faschistischen Ära und dem ungarischen Antisemitismus kann kaum die Rede sein. Vielleicht sehe ich das zu negativ: das autoritäre Regime, das im Hintergrund seine Fäden zieht, die Pfeilkreuzler, die Cabarets stürmen und die Kommunisten, die mit eher ruppigen Methoden gegen den Staat kämpfen – sie alle werden als genuin ungarisch gezeigt. Das ist im Ungarn der Orbán-Ära vielleicht schon eine ganze Menge.
Weder großer Ärger, noch große Freude kamen bei mir auf. Das period-Setting ist nett, die Hauptfigur schnüffelt ein bisschen in Budapester Hinterhöfen herum, zwischendurch gibt eine kleine Autoverfolgungsjagd durch enge Gassen. BUDAPEST NOIR wirkt über weite Strecken wie ein etwas gediegener 08/15-TV-Krimi, den man nebenbei (für manche Leute: beim Bügeln) gucken kann. Oder ist das der Einfluss dieser ganzen gehype'ten „Qualitätsserien“? Das Ende des Films deutet – nachdem die Geschichte akurat und fein säuberlich abgeschlossen wurde – weitere Abenteuer (bzw. Folgen) mit dem Journalisten und Hobby-Detektiven Gordon an. „Boykottieren“ würde ich sie keineswegs, wirklich brauchen täte ich sie – zumindest in dieser lediglich „netten“ Form – allerdings nicht...