...While the city sleeps, desire will take the night
You and I will dance in cinema
So we'll let the music play as the fever rises
Moving closer to the stars of our love affair
Softly whispering, I love everything
'cause when I look at you
I feel hot desire, I come alive, I see
Movie, I love what you're doing to me
Movie, your love is all that I need
Take me, hold me tight, love me with all your frames
Every movie's right, drive me wild
All the night is ours, love into morning light
We won't count the hours, we'll take our time...
(aus dem Titelsong von TOP MODEL, "Woman" von Jacob Wheeler, leicht editiert und geändert)
Dienstag, 16. Juli 2024, Tag 0: Aufwärmen
Große Vorfreude auf mehrere Tage italienische Kinogeschichte, präsentiert in analogen, teilweise extrem seltenen und mit viel Liebesmühe organisierten Filmkopien, zu schauen und zu genießen in der Gesellschaft vieler netter Leute, die ich in den letzten Jahren bei früheren Ausgaben des Terza Visione und anderen Off-Festivals kennengelernt habe...
Nachdem ich letztes Jahr Pech hatte mit der Deutschen Bahn am offiziellen Eröffnungstag des Terza Visione, habe ich dieses Jahr mich dazu entschieden, einen Tag früher anzureisen. Passend zum Geist des "internationalen Tags", der seit 2022 das Terza Visione abschließt, lief im Kino des Frankfurter Filmmuseums glücklicherweise ein Tag vorher ein passender Film, um in die Welt des Genrekinos einzusteigen (diese Vorführung ist unabhängig vom Terza Visione, lief im Rahmen einer Hommage des Filmmuseums an den kürzlich verstorbenen Roger Corman und ist "nur" Teil meiner ganz persönlichen diesjährigen Terza-Erfahrung – auch wenn andere Dauerkartenihaber und die Hälfte der Terza-Organisatoren hier schon anwesend waren).
20.30 Uhr
THE RAVEN
Regie: Roger Corman
USA 1963
35mm, Originalfassung mit schwedischen Untertiteln
Der Zauberer Dr. Craven (Vincent Price) wird in seiner Trauer um seine verlorene geliebte Leonore von einem sprechenden Raben mit recht rüden Manieren unterbrochen, der sich nach Einnahme eines Zaubertranks in seine ursprüngliche Form, dem Zauberer Dr. Bedlo (Peter Lorre) zurückverwandelt. Der will sich an Dr. Scarabus (Boris Karloff) rächen, der ihn verwandelt hatte – und lockt Dr. Craven in sein Vorhaben, indem er ihm andeutet, dass er Leonore im Scrabus'schen Schloss gesichtet habe.
Was, wenn der Rabe mehr oder etwas anderes als nur ein Rabe wäre? Was, wenn Leonore doch nicht so unwiderruflich verschwunden wäre? Was, wenn Vincent Price, auf einem Kronleuchter sitzend, Boris Karloff rohe Eier auf den Kopf wirft?
Roger Cormans THE RAVEN aus seinem Poe-Zyklus nimmt das titelgebende Gedicht zunächst als Startpunkt: von Vincent Price äußerst wirkungsvoll und eloquent in Teilen rezitiert vor einem farbenexplodierenden, psychedelischen Vorspann. Das spinnt dann Corman weiter zu einer temporeichen, mitreissenden Gruselkomödie voller wunderbarer Sets, visueller Ideen und funkensprühender Schauspielerleistungen. Das Panorama von Dr. Scarabus' Schloss mag zwar an den Rändern des Gebäudes als Matte-Painting erkennbar sein – wie fantastisch der Film für eine in zwei Wochen schnell heruntergekurbelte Produktion aussieht, ist dennoch atemberaubend. Da gibt es große Schlosshallen mit knarzenden Türen, viele Spinnweben ("hard to keep clean" – so ein Kommentar Dr. Bedlos), feuerspeiende Fontänen. Das ganze in einer farbechten (weil sub-zero-gelagerten) 35mm-Kopie aus dem schwedischen Filmarchiv zu sehen ist schon sehr wunderbar. Ein Höhepunkt des Films und ein Höhepunkt in der Demonstration von Cormans B-Movie-Produktionsökonomie ist der Duell der Magier, bei dem die ganze Fantasie von Pre-CGI-, Low-Budget-Filmemachen zum Glänzen kommt. Magie ist Suggestion, sagt einer der Protagonisten einmal im Film, und hier wird das demonstriert: Dr. Scarabus erweckt die Hundestatuen seines Springbrunnens zu echten Höllenkreaturen – das entsteht aber "nur" durch geschickte, schnelle Montage, durch die dramatische Musik, durch die expressive, knallbunte Beleuchtung im Kopf des Zuschauers.
Was den Film jenseits der formalistischen Fingerübung hebt ist die übersprudelnde Spiellaune der Darsteller. Ich musste nach dem Film tatsächlich prüfen, ob Vincent Price wirklich nicht Brite ist: der US-Amerikaner spielt seinen Erasmus Craven mit der ganzen Eleganz, der Zurückhaltung, dem dezenten Desinteresse im Angesicht der unfassbarsten Situationen und dem feinen Witz eines englischen Lords. Ein wunderbarer Komiker! Der richtige Brite, Boris Karloff, gibt einen herrlich heuchlerischen Dr. Scarabus.
Es ist aber Peter Lorre als Dr. Bedlo, der allen die Schau stiehlt! Lorre lässt hier wirklich komplett die Sau raus, haut eine Punch-Line nach der anderen raus (einiges davon improvisiert – womit Price wohl besser zurecht kam als Karloff), darf sich entsprechend des Habitus seiner Figur sehr exaltiert und exaltiert daneben benehmen (der Moment, wo er die Milch in den Kelch zurück spuckt, weil er weindurstig aus Versehen das falsche Gefäß erwischt hat!) und darf überhaupt bedrohlich, erzürnt, frech, anmassend schauen. Eine Komödien-Performance für die Ewigkeit von einem der ganz Großen!
Mittwoch, 17. Juli 2024, Tag 1: Die Kamera in den Speichen des Wagenrads, oder Schwerpunkt Enzo G. Castellari
Exkurs: Bilder des Schreckens und Materialität der Bilder
Um 18 Uhr erst sollte das Terza Visione offiziell beginnen. Genug Zeit, um gut auszuschlafen und dem Städel-Museum einen Besuch abzustatten. Sozusagen zur visuellen Einstimmung auf die (weiteren) visuellen Prachtstücke der nächsten Tage. Die Sonderausstellung "Städel-Frauen: Künstlerinnen zwischen Frankfurt und Paris um 1900" bot für die Visionen des Horrors, die in ausgewählten Filmen der nächsten Tage lauern würden (in LA MASCHERA DEL DEMONIO und vor allem in IL NIDO DEL RAGNO), schon zwei Anteaserungen. Zunächst in einem der größten zeitgenössischen Skandalgemälde der Sonderausstellung, Annie Stebler-Hopfs "Autopsie", der Zeitgenossen mit seiner krass-naturalistischen Vision der Titeltätigkeit schockierte und im Original tatsächlich extrem beeindruckend ist. Aber nichts im Vergleich zu Rosy Lilienfelds Zeichnung "Ans Bett gefesselt": Eine von Schmerzen gequälte Figur, die mit verbundenen Händen auf einem Bett liegt, während eine scheinbar belebte Uhr mit einer furchterregenden Fratze (die Uhr ist womöglich für die Qual der menschlichen Figur verantwortlich) den Betrachter in die Augen zu schauen scheint.
In der Dauerausstellung hat hingegen Charles-François Daubignys "Le verger" (Obstgarten in der Erntezeit) einen sehr plastischen Eindruck von der Beziehung zwischen Werk und seiner Materialität vermittelt, also etwas, was natürlich auch für das Terza Visione relevant ist, einem Festival, wo alle Filme in analogen 35mm-Kopien laufen (ggf. auch 16mm oder 70mm). Das Motiv haut mich an sich nicht vom Hocker, aber wenn man in einem Museum langsam an der Originalversion dieses Gemäldes vorbeiläuft, ergibt sich ein Eindruck, der mit digitalen Reproduktionen nicht nachstellbar ist: Die Krone des Baums in der Mitte des Bilds scheint sich leicht zu bewegen, als ob die Blätter durch einen leichten Wind in Bewegung gebracht wurden. Die aufgetragene Farbe hat offenbar eine Art Reliefstruktur, die diesen "3D-Effekt" verursacht, weshalb ich wohl bestimmt um die 20 Mal vor dem Bild hin- und her-geschlendert bin.
***
Enzo G. Castellari war der Ehrengast des diesjährigen Terza Visione. Der Regisseur freute sich wohl sehr, nach Frankfurt zu kommen, musste aber leider aus gesundheitlichen seine Anreise absagen. Nichtsdestotrotz schickte er zwei Video-Einführungen zu den programmierten Filmen, in denen er besonders begeistert über technische Kniffe und Einfälle zur Erschaffung verblüffender inszenatorischer Effekte erzählte. In der Geschichte des italienischen Kinos mag Castellari das Rad zwar nicht neu erfunden haben, aber er hat es auf sehr kreative Art und Weise eingesetzt!
18.00 Uhr
QUELLA SPORCA STORIA NEL WEST ("Johnny Hamlet")
Regie: Enzo G. Castellari
Italien 1968
35mm, Originalfassung mit deutschen Untertiteln
Als der Soldat Johnny Hamilton (Andrea Giordana) aus dem amerikanischen Bürgerkrieg zurückkehrt, findet er seinen Vater nach seiner Ermordung begraben wieder, seine Mutter (Françoise Prévost) mit seinem Onkel Claude (Horst Frank) verheiratet – und schwört Rache.
"Johnny Hamlet", diese Italowestern-Adaption von Shakespeares "Hamlet", ist erst einmal ein formalistisches Bravour-Stück in Cinemascope – besonders im Kino und von 35mm.
Der Film quillt über vor tollen visuellen Einfällen, inszenatorischen Kniffen, atemberaubenden Kamerafahrten, außergewöhnlichen Perspektiven und frappierenden Montage-Ideen. Castellaris Kino ist ein Kino des radikal eingeschränkten Bildes: extreme Unschärfen abstrahieren das Bild und stellen die Perspektive auf den Kopf bei Schärfeverlagerungen, Gegenstände behindern die Sicht auf Tableaus, zerteilen das Bild, schaffen visuelle Spannung – ob eine Flasche im Vordergrund, Zaunlatten, oder der Deckel einer geöffneten Schachtel. Jedes Bild ein Ereignis, bei dem die Kamera ihren Blick an Objekten vorbei- oder manchmal gar durch-schlängeln muss.
Möglicherweise war Enzo G. Castellari von Joseph H. Lewis beeinflusst. Lewis hatte den Spitznamen "Wagen Wheel Joe", weil er gerne in seinen Westerns durch Wagenräder hindurch filmte, um interessantere Perspektiven zu erzeugen. Auch Castellari nutzt Wagenräder: vor der Kamera – und sogar um die Kamera herum! In der persönlichen Videobotschaft, die der Regisseur dem Terza schickte, schilderte er, wie er das Gebet des Johnny vor dem Grab seines Vaters gefilmt hat. Im Kino sieht es so aus, dass ein Close-Up auf Andrea Giordanas Gesicht sich zu drehen beginnt. Castellari filmte die Szene, indem er ein Wagenrad aus den Requisiten nutzte, die Kamera zwischen den Speichen klemmte und dann das Wagenrad drehte. Wer den Look des Films jetzt etwas visualisieren möchte, dem empfehle ich die von Sano Cestnik zusammengestellte Screenshot-Sammlung auf Eskalierende Träume.
Die inszenatorische Dynamik des Films half mir über die eine oder andere dramaturgische Durststrecke, besonders im letzten Drittel, hinweg. Wenn am Ende dann aber Horst Frank, nachdem in seiner Nähe Goldstaub-Säcke zerschossen wurden, über und über mit Glitzer bedeckt und scheinbar wahnsinnig durch den Film torkelt, dann findet QUELLA SPORCA STORIA NEL WEST wieder einen schönen Glanz – wortwörtlich!
21.00 Uhr
IL GRANDE RACKET ("Racket")
Regie: Enzo G. Castellari
Italien 1976
35mm, Originalfassung mit deutschen/französischen Untertiteln
Inspector Nico Palmieri (Fabio Testi) ist eher schroff in seinen Methoden. Um gegen randallierende, vergewaltigende, mordende Gangster vorzugehen, holt er sich notfalls auch Hilfe bei anderen Kriminellen – oder rekrutiert die rachedurstigen Opfer der Gangs.
Fabio Testi als kleiner italienischer Cousin von Dirty Harry, der eine kleine Handvoll von Paul Kerseys im Taschenformat rekrutiert, um mal richtig aufzuräumen mit dem ganzen Abschaum? Klingt gut?
Leider reiht sich der Film doch in die vielen Enttäuschungen ein, die ich persönlich mit dem italienischen Polizeifilm der 1970er Jahre immer wieder habe (das italienische Sub-Genre, mit dem ich am wenigsten etwas anfangen kann). Dramaturgisch zerfahren und gleichzeitig "zu dicht". Eine Erzählweise, die für mich so eine Art "Und dann passiert das, und dann das, und dann das"-Effekt entwickelt, ohne, dass sich für mich alles zu einem Ganzen fügen würde.
Zugleich dampfte IL GRANDE RACKET die Versatzstücke des Vigilanten-Reißers auf funktionale, modular einsetzbare Setzkasten-Klischees ein: widerliche Kriminelle, die sofort wieder freikommen wenn man sie in flagranti verhaftet hat; hartarbeitende tüchtige Geschäftsleute, die dauerhaft drangsaliert und natürlich zu Wutbürgern werden müssen; Vorgesetzte, die ständig was von zu harten Methoden und Gesetzen schwafeln; hier noch unschuldig und traurig dreinblickende Teenagerinnen, die als Kanonenfutter für Vergewaltigungen verballert werden.
Wenn man irgendetwas über reaktionär-faschistoide Tendenzen im Polizeifilm der 1970er Jahre (in Italien oder anderswo) liest, dann wäre IL GRANDE RACKET auf den ersten Blick ein Vorzeigebeispiel. Allerdings kommt mir der Film nicht als "Überzeugungstäter" vor: dafür wirkt er mir zu emotionslos, die Vigilantenfilm-Klischees werden viel zu "funktional" eingesetzt und nicht für politische Agitation: nur da, um die Dynamik des Films am Laufen zu halten. Und das tut er durchaus mit einigem Erfolg, denn Castellaris einfallsreiche Regie und energetische Kameraführung kommt hier immer wieder spektakulär zum Einsatz.
In seiner Video-Einführung zum Film hat Castellari geschildert, wie die Szene gefilmt wird, in der ein Auto um die eigene Achse geschleudert den Hügel herunterrollt, während klar sichtbar Fabio Testi (und nicht ein Double) sich darin befindet. Beim Dreh auf einem brachliegenden Fabrikgelände wurde der Wagen zwischen zwei riesigen Fabrikrädern gespannt und von der Crew – mit Fabio Testi im Innern – händisch zwischen diesen beiden Rädern gewirbelt, um diesen Effekt zu erzeugen (Castellari machte darauf aufmerksam, dass man an einer Stelle für 1/2 Sekunde eine Hand an den Fensterrahmen greifen sieht – im etwas weiter oben verlinkten YouTube-Video bei 2:17/2:18 zu sehen).
Der schönste Regie-Einfall jedoch ist ein Gefängnisausbruch: die Ausbrecher stehen im Innenhof, schauen auf die Gefängnismauer, genauer gesagt auf das Gitter drüber, wo schon ein Loch zu sehen ist. Die Kamera macht sich dann selbständig, schlängelt sich entlang der Bordkante der Gefängnismauer, "klettert" eine Leiter hoch, bewegt sich zur Außenmauer, "steigt" die Außenmauer hinunter, "springt" den letzten Abschnitt herunter und beginnt den Weg entlang der Außenmauer zu "gehen", dann zu "rennen" – Schnitt zu einem der rennenden Geflohenen (mit einem abrupten Wechsel von taghell zu nachtdunkel, um das Verschieben der Zeitebene zu markieren).
Donnerstag, 18. Juli 2024, Tag 2: Von Hunden und Spinnen, Rockern und Muskelmännern
13.30 Uhr
MONDO CANE
Regie: Paolo Cavara, Gualtiero Jacopetti, Franco Prosperi
Italien 1962
35mm, deutsche Fassung
Filmisches Globetrotting durch eine Welt der bizarren Kuriositäten, der schockierenden Abscheulichkeiten, der zivilisatorischen Abgründe, der rohen Gewalt, aber auch der zarten Poesie.
MONDO CANE bildet den eigentlich "idealen" und "soften" Einstieg in die Welt des Mondo-Films von Gualtiero Jacopetti und Franco Prosperi (und Paolo Cavara – mehr zu seiner Involvierung in den Mondo-Film gibt es weiter unten bei L'OCCHIO SELVAGGIO zu lesen): weniger Schocks und weniger moralische Herausforderungen als etwa bei AFRICA ADDIO oder ADDIO ZIO TOM (der in der Karlsruher Edition des Terza Visione 2021 lief).
Das heißt nicht, dass der Film so ganz ohne Schocks verläuft: die eruptiven Blutfontänen bei den Enthauptungen von Ochsen in Singapur (eine Zeremonie zur Ehrung von malayischen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg Loyalität zu Großbritannien hielten und von der japanischen Armee durch Enthauptung hingerichtet wurden) dürften für viele Zuschauer ziemlich harter Tobak sein.
Dennoch gibt es neben einigen Abgründen vor allem auch viel Witzig-Kurioses: ein Hundefriedhof, bei dem Herrchen und Frauchen Kränze auf die Grabmale ihrer verstorbenen Hunde niederlegen (während die noch lebenden Hunde, die die Menschen begleiten, auch mal auf die Grabmale pinkeln); die Parade der Rettungsschwimmerinnen an der australischen Küste inklusive einer großen Rettungsaktion, bei der viele junge Männer zu Übungszwecken von den hübschen Damen aus dem Meer herausgetragen und dann durch Beatmung wiederbelebt werden (vielleicht die sonnigste, heiterste Szene im ganzen Film – wenn ich mich richtig erinnere, der erste Moment, in dem Riz Ortolanis herzzerreissend schöne Titelmelodie gespielt wird, hier erst einmal in einer flotten Marschmusik-Variation); die Kunst-Performance von Yves Klein, bei der sich Helferinnen in blauer Farbe einreiben und sich anschließend selbst gegen eine weiße Leinwand reiben (letzteres ein halluzinierender Moment – Yves Klein selbst erlitt wohl nach der Projektion von MONDO CANE in Cannes einen Herzinfarkt, und starb nicht einmal einen Monat später). In der Sequenz mit dem Schicki-Micki-Insekten-Restaurant hingegen scheint das italienische Regie-Trio Buñuel und Konsorten in Sachen Surrealismus zu schlagen: piekfein in Abendgarderobe angezogene Leute, die genüsslich Doseninsekten verspeisen – mit dem Aufgabeln klappt es nicht immer so ganz glatt und da wird so ein Insekt auch mal weggeschleudert.
Riz Ortolani dürfte der vielleicht größte Disneyfilm-Musikkomponist sein, der niemals für Disney arbeitete (die Titelmelodie von MONDO CANE ist passenderweise/unpassenderweise in einer Kompilation "Films in Love 2" erschienen, unter anderem zusammen mit "Don't Cry for Me Argentina" aus EVITA). MONDO CANE hat passenderweise, wenn man so möchte, auch seinen "Disney-Tierdoku"-Melodrama-Moment oder zumindest eine interessant pervertierte Form davon. Die Bikini-Atoll-Sequenz dürfte der längste Moment ohne Menschen im Film sein, auch wenn Menscheneinfluss zentral ist: ein Portrait der Insel-Fauna, die durch die Nuklear-Strahlung der Atombombenversuche mutiert ist, darunter Schildkröten, die ihren Orientierungssinn verloren haben, den Weg zum Meer nicht mehr finden und am Strand verenden – ihre Skelette säumen den Strand wie makabre Kunstwerke. Eine morbide und doch auch poetische Episode.
Am verblüffendsten war die Episode mit den Besäufnissen in Hamburger Absturzkneipen. Was leicht grotesk anfängt, mit dem Voice-Over, der wie die meiste Zeit im Film das Ganze ironisch kommentiert und einer Variation des Titelthemas, die als teutonischer Chor vorgetragen wird, entwickelt sich nach und nach zu etwas anderem: der Voice-Over verstummt, die Musik senkt ihren Ton zu einer auf Celesta (?) gespielten Titelvariation, der Blick der Kamera scheint weicher zu werden. Aus einer grotesken Lachnummer wird eine poetische Mini-Studie voller Zärtlichkeit über Absturzkneipen-Kultur und deren Protagonisten, fast eine Vorwegnahme von WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN.
16.00 Uhr
LA LUNGA SPIAGGIA FREDDA ("Rocker sterben nicht so leicht", wörtlich: "Der lange, kalte Strand")
Regie: Ernesto Gastaldi
Italien/USA 1971
35mm, Originalfassung mit englischen Untertiteln
Ein gutbürgerliches Ehepaar möchte ein Wochenende in einem Strandhäuschen verbringen. Die offenbar routinierte Langeweile mit deutlichen Anzeichen von Überdruss im Leben der Eheleute wird gestört, als eine Rockerbande unter der Führung des charismatischen Fred (Robert Hoffmann) sie überfällt.
LA LUNGA SPIAGGIA FREDDA, eine der wenigen Regiearbeiten des großen italienischen Drehbuchautors Ernesto Gastaldi (ohne den ein Teil der italienischen Giallo-, Horrorfilm-, Polizeifilm- und Western-Kinogeschichte undenkbar wäre), ist ein ungeschliffenes, rohes Stück Exploitationkino, das thematisch und atmosphärisch Peckinpahs STRAW DOGS vorwegnimmt (und tatsächlich ein halbes Jahr vorher Premiere hatte).
Es ist ein sichtlich kostengünstiger Film mit nur einer Location und sechs Darstellern, der dennoch mit seiner größtenteils exzellenten Kameraführung und seinem atmosphärischen Gespür für sein Setting – ein verlorener Strand – das Maximale rausholt. Mit nur wenigen groben Strichen etabliert er rasch eine Situation, die von Beklemmung, Unwohlsein, Misstrauen, Paranoia und existentieller Unsicherheit geprägt ist. Trotz seiner harten, hässlichen Geschichte sieht LA LUNGA SPIAGGIA FREDDA teils anbetungswürdig schön aus: viele Panoramen von einzelnen Figuren, die vereinsamt am Rand des Wassers vor einer untergehenden, strahlend-leuchtenden Sonne stehen, von Stelvio Ciprianis exzellentem Score begleitet.
Einige Schwächen muss man dann aber doch in Kauf nehmen. Mara Maryl in der Hauptrolle ist offensichtlich nicht wegen ihres Talents gecastet worden, sondern weil sie Gastaldis Ehefrau war: ihre Ausdruckslosigkeit ist dann doch etwas problematisch, wenn sie die eigentlich zentrale Figur des Films spielt. Gastaldi der Regisseur scheint außerdem Gastaldi den Autoren nicht ganz im Griff gehabt zu haben: "sensible Rocker" wurde zu einem geflügelten Begriff bei diesem Terza, weil die vergewaltigenden, brutalen Rocker in sehr, sehr, sehr ausgedehnten Monologen und sehr, sehr, sehr zähen Dialogen ihren "Gefühlen" freien Lauf ließen. Was sie über die "conditio humana", die Leerheit des Lebens, das Zerbrechen von Idealen etc. sagen, klingt leider furchtbar drehbuchraschelnd, als wäre der Subtext des Films (ja, es ist ein 1968er-Kater-Film) in Text umgewandelt worden. Insofern haben wir es bei LA LUNGA SPIAGGIA FREDDA nicht ganz mit einem "vergessenen" Meisterwerk zu tun – aber muss ja auch nicht, sehenswert und interessant ist er allemal!
20.00 Uhr
LE 7 FATICHE DI ALI BABÀ ("Die Rache des Ali Baba", wörtlich: "Die sieben Taten des Ali Baba")
Regie: Emimmo Salvi
Italien 1962
35mm, deutsche Fassung
Ali Baba hat zwar nicht wirklich sieben Aufgaben zu erledigen, und ist auch nicht rachsüchtig unterwegs: vielmehr soll er eine heilige Krone in eine Stadt bringen – und kämpft gegen einen Tyrannen, der sein Volk unterdrückt.
Gepflegte Langeweile. Das ist nicht abwertend, sondern als Prädikat gemeint, das erst einmal erreicht werden muss. LE 7 FATICHE DI ALI BABÀ ist ein schöner kleiner eskapistischer Abenteuerfilm mit Muskelmännern, schönen Frauen, exotisch-farbenprächtigen Kostümen und hübschen Sets. Das Drehbuch ist eigentlich kein mehrbändiges Werk für Raketenwissenschaftler, aber nach etwa 20 Minuten habe ich hoffnungslos aufgegeben zu verfolgen, welche Objekte von wo nach wo von wem und wie und zu welchem Zweck gebracht werden müssen, weil das irgendwie gefühlt umständlich erzählt war. Macht nichts... dann bewegen sich die Muskelmänner und schönen Frauen eben, reden zwischendurch (zugegeben: manchmal etwas zu viel) und keilen sich ab und zu. Ein Film, der entspannt vor sich hinplätschert.
Ab und zu gibt es doch kleine Höhepunkte, die einen aus dem allzu seichten Dahinplätschern aufrütteln. Gleich zweimal soll Ali Baba zusammen mit zwei seiner Kumpanen hingerichtet werden. Einmal müssen Sklaven an einer Drehvorrichtung stemmen, die ein Gerüst hochdreht, an dem die zwei Kumpanen langsam zwecks Erhängung hochgezogen werden, während auf Ali Baba Dolche niedergedrückt werden – aber Ali Baba stemmt seine Beine gegen das Gerüst und stoppt den Fortgang der Hinrichtungsmaschine. Und einmal werden die drei – viel einfacher – an ein Pferdegeschirr gehängt: Pferde sollen sie in eine Feuergrube ziehen, aber Ali Baba ist stärker! Bei beiden Versuchen haben die Böswatze offenbar nur 60 Trommelschläge Zeit, die ein Trommler rhythmisch schlägt: nach dem 60. Schlag wird alles fallen- und liegen gelassen und die Hinrichtung verschoben. Ordnung muss sein!
Das macht schon Spaß, aber der Höhepunkt ist dann doch die Musical-Nummer: eine Tänzerin im durchsichtigen Oberteil (funkelnde Edelsteine über den Brustwarzen!) wird von männlichen Tänzern, die in engen purpurfarbenen und sehr stark genitalbetonten Strumpfhosen gekleidet sind, aus einer Falltür gehoben, dann tanzen sie alle in einer sehr ausgeklügelten Choreografie, begleitet von einer – im Vergleich zum restlichen Film – sehr dynamischen Kamera, die auch mal das Ganze von oben herab in spektakulären Ansichten filmt.
An einer anderen Stelle – zufällig direkt nach einem Rollenwechsel – beginnt ein Tänzer als eine Art "Vorredner" eine Hinrichtungszeremonie (ja, es werden viele Hinrichtungen in diesem Film geplant – aber kaum eine glückt!) einzuführen in Form eines wortlosen, fast abstrakten Ausdruckstanzes und schaut, während die Kamera ihn begleitet, die vierte Wand quasi brechend, die ganze Zeit intensiv in den Kinosaal hinein. Ein absolut faszinierender, hypnotischer Moment.
22.30 Uhr
IL NIDO DEL RAGNO ("The Spider Labyrinth", wörtlich: "Das Netz der Spinne")
Regie: Gianfranco Giagni
Italien/Ungarn 1988
35mm, Originalfassung mit englischen Untertiteln
Der junge US-amerikanische Professor Alan Whitmore (Roland Wybenga) reist im Auftrag einer internationalen Forschungsgemeinschaft nach Budapest, um dort zu untersuchen, warum der renommierte Religionshistoriker Roth keine Nachrichten mehr von sich gibt. Whitmore findet Roth zutiefst verstört und paranoid wieder. Wenig später wird Roth unter mysteriösen Umständen ermordet und Whitmore versucht mit Roths Assistentin Genevieve Weiss (Paola Rinaldi) den Fall zu lösen und der möglicherweise dahinter steckenden Sekte auf die Spur zu kommen.
Ein Slow-Burner, der etwas Zeit zum Entflammen brauchte, aber nach der Entzündung nicht mehr zu löschen war!
Nach einem kurzen Prolog, der einen Tierhorrorfilm mit Spinnen andeutet, fühlt sich IL NIDO DEL RAGNO in der ersten Hälfte vor allem wie ein mit altbekannten Zutaten des Kalten Kriegs gewürzter Paranoia-Thriller an: ein Amerikaner im realsozialistischen Mitteleuropa (Budapest Ende der 1980er Jahre), einem unbekannten, leicht bedrohlichen Ort, an dem er das Gefühl hat, von unbekannten, okkulten Mächten beschattet und bedroht zu werden. Ein Uneingeweihter an einem Ort, an dem mysteriöse, brutale Morde geschehen und alle um ihn herum (darunter eine Hotelgeschäftsführerin, denkwürdig von Stéphane Audran gespielt!) scheinen "irgendetwas" zu wissen. Das gothisch-bedrohliche Setting des Films wurde übrigens an Originalschauplätzen, also tatsächlich in Budapest eingefangen (eine Szene spielt dann auch in einem der berühmten Budapester Thermalbäder: meine oberflächliche Recherche ergibt, dass es sich vielleicht um das im 16. Jahrhundert entstandene Rudas-Bad handeln könnte – in diesem Fall wäre es das gleiche Bad, in dem zur etwa gleichen Zeit die denkwürdige Eingangssequenz von RED HEAT gedreht wurde, für dessen "Moskau" die ungarische Hauptstadt als Stand-In diente).
(Eine mögliche Assoziation im Rahmen des italienischen Genrekinos ist Aldo Lados LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO aka MALASTRANA: auch ein Film mit einer paranoiden, beklemmenden, kafkaesken Atmosphäre, ein Giallo der über weite Strecken nicht wie ein handelsüblicher Giallo wirkt – so wie IL NIDO DEL RAGNO sich über weite Strecken nicht wie ein handelsüblicher Horrorfilm anfühlt –, beide Filme in realsozialistischen, mitteleuropäischen Metropolen mit starkem Habsburgischem Touch angesiedelt und auch gefilmt)
Mit einfachen, sehr präzisen Mitteln baut der Film Spannung auf: ein Diner in einem Hotel-Restaurant entwickelt sich nach und nach von habsburgisch anmutender barocker Gemütlichkeit zu einem paranoiden Panorama, mit Gästen, die den Protagonisten scheinbar spionierend anschauen und dann Stück für Stück den Saal verlassen – bis nur noch bedrohliche Leere übrig bleibt.
Ein Glanzstück ist Alans Versuch, ein naheliegendes, mysteriöses Antiquariat zu finden: "zwei Mal nach links, dann ein bisschen geradeaus" – so ungefähr der Richtungshinweis, den er erhält. Daraus wird eine kleine, bedrohliche Odyssee durch die gespenstisch entvölkerten Straßen der Budapester Altstadt, schöne Postkartenmotive, die durch ihre Menschenleere extrem beunruhigend wirken, immer beunruhigender werden, während Alan mit seinem Wagen, dann zu Fuß sich verirrt, sich scheinbar im Kreis dreht, während Wolken aufziehen und ein kräftiger Wind Blätter durch die Straßenschluchten weht.
Über weite Strecken ist IL NIDO DEL RAGNO vor allem ein extrem dichtes Atmosphärenstück, ein Film, der von seiner Stimmung unbestimmter, undefinierbarer Gefahr lebt. Nur eine schwarze Kugel, die durch Fenster fliegt, kündigt unheilvoll äußerst brutale Morde an – der zweite Mord, eine Verfolgungsjagd durch ein Labyrinth mannshoher weißer Laken, erinnert in seiner stilisierten Todeschoreografie und seinem heftigen Höhepunkt an ähnliche Szenen bei Dario Argento. Für lange Zeit ist dies nur eine kurze Gewaltspitze in einem verblüffend zurückhaltenden Film, dem im Showdown dann allerdings sämtliche Sicherungen durchbrennen und der in seiner sehr expliziten, grotesken und sehr effizienten Grausamkeit bei mir (und wohl auch bei anderen Terzianern, die sich assoziativ an die Spezialeffekte von THE THING erinnert fühlten) für einen Schock gesorgt hat, wie ich ihn schon lange nicht mehr so intensiv im Angesicht eines Films im Kino erlebt habe.
Ein überraschender Höhepunkt dieses Terza Visione – im Angesicht der eher unbekannten Beteiligten wohl die große (Wieder)entdeckung.
Freitag, 19. Juli 2024, Tag 3: Das wilde Auge und Klaus Kinski reisen durch die Welt und Jessica Moore spaziert durch New Orleans
12.30 Uhr
L'OCCHIO SELVAGGIO ("Das wilde Auge")
Regie: Paolo Cavara
Italien 1967
35mm, deutsche Fassung
Der Regisseur Paolo (Philippe Leroy) möchte die Realität filmen – eine besonders spektakuläre, wenn nötig mit unlauteren und unmoralischen Mitteln erzeugte Version davon. Seine totale Rücksichtslosigkeit gegenüber seiner Umwelt (und sich selbst) bringt ihn immer mehr in Konflikt mit seiner Geliebten (Delia Boccardo) und seinem Kameramann (Gabriele Tinti).
L'OCCHIO SELVAGGIO wurde bei diesem Festival dankenswerterweise als zweiter Teil eines Mondofilm-Nebenschwerpunkts programmiert: Paolo Cavara, Co-Regisseur von MONDO CANE, zerstritt sich im Laufe der Arbeit an AFRICA ADDIO mit seinen Co-Regisseuren Gualtiero Jacopetti und Franco Prosperi. L'OCCHIO SELVAGGIO entstand kurz darauf als eine kritische Auseinandersetzung mit den moralisch dubiosen Methoden des Mondo-Filmemachens – oder doch als persönliche, rachsüchtige Abrechnung mit Gualtiero Jacopetti?
Die Hauptfigur "Paolo" zu nennen scheint tatsächlich das einzige Element der "Selbstkritik" in einem Film zu sein, der vor allem ein überzeichnetes Monster portraitiert, der nicht zögert, seine Mitmenschen auflaufen zu lassen, sie in Lebensgefahr zu bringen (oder falls möglich sogar ihren gewaltsamen Tod live zu filmen) – dabei aber in einer Art suizidalen Trieb auch sich selbst nicht schont. Ein Co-Zuschauer wies nach der Vorführung darauf hin, dass der Film unabhängig vom Thema Mondofilm vor allem als Portrait eines Obsessiven und Getriebenen sehr interessant sei, als Darstellung eines Mannes, der offenbar von inneren Dämonen zerfressen wird und zu massiv zerstörerischen und selbstzerstörerischen Neigungen getrieben wird. Dass man dabei eigentlich "nur" seine Versuche sieht, einen Film zu drehen und die inneren Dämonen niemals richtig erklärt würden, sei die große Stärke von L'OCCHIO SELVAGGIO.
Interessant ist der Film aus meiner Sicht auch als Film über das Filmemachen im Allgemeinen und besonders über das Filmemachen außerhalb der gängigen Filmindustrie-Standards im Speziellen. Bei aller beabsichtigten Verleumdung von Jacopetti bewahrt sich L'OCCHIO SELVAGGIO doch auch eine gewisse Naivität und Begeisterung für das Filmemachen: Abrechnung und Hommage vermischen sich teilweise – ein recht interessanter Effekt. Da ist ein tiefer Glaube daran, dass man zum Filmemachen nicht mal das sprichwörtliche Mädchen und die Pistole braucht, sondern nur ein Wille und eine Kamera! "Das Mädchen" gibt es in L'OCCHIO SELVAGGIO aber trotzdem: der Aufwand, den der Film betreibt, um Paolos "neue" Liebschaft einzuführen und der Subplot um ihre Eroberung waren für mich etwas verschenkte Mühe, und die Beziehung zwischen Paolo und Barbara hat mich ehrlich gesagt furchtbar gelangweilt.
Der Film scheitert aus meiner Sicht dann auch daran, das Phänomen Mondo mit filmischen Mitteln wirklich zu erfassen: der Mondo-Film hat keine klassische Erzählung, keine klassische Dramaturgie, entfaltet sich nur als Strudel audiovisueller Eindrücke – eigentlich eine wahnsinnige Art des Filmemachens, die einen wahnsinnigen Film bräuchte. CANNIBAL HOLOCAUST kommt diesem Erfassen wohl wesentlich näher als der letztendlich sehr konventionelle L'OCCHIO SELVAGGIO.
Eine kleine Tour de Force ist allerdings der Showdown des Films, bei dem Paolo das Filmen eines Bazooka-Anschlags auf einen Nachtclub in Süd-Vietnam vorbereitet: also das "Set" prüft, die Position der Kamera bestimmt, die Lichter vorbereitet und testet (zum Unmut der angetrunkenen Gäste, denen plötzlich ein Set-Spot ins Gesicht scheint) in dem Wissen, dass gleich alles in die Luft fliegt, während die Gäste um ihn herum weiterhin unbekümmert feiern. Die Explosion kommt, aber es kommt auch anders: sicher ist nur, dass die Kamera weiter laufen muss.
16.00 Uhr
AD OGNI COSTO ("Top Job", wörtlich: "Um jeden Preis")
Regie: Giuliano Montaldo
Italien/Spanien/BRD 1967
35mm, deutsche Fassung
Ein Englischlehrer aus Rio de Janeiro (Edward G. Robinson) geht in Rente – und gleich am Ende seines letzten Arbeitstags fliegt er nach New York, um mit einem alten Schulkameraden und Mafiaboss (Adolfo Celi) einen spektakulären Raubüberfall auf eine Bank gegenüber seinem langjährigen Arbeitsplatz zu planen. Der Mafiaboss stellt vier Spezialisten zur Verfügung: einen Armeemann (Klaus Kinski), einen Safe-Knacker (George Rigaud), einen Spezialisten für Alarmsysteme (Riccardo Cucciolla) und einen Playboy (Robert Hoffmann) – letzterer soll die Direktionsassistentin der Bank (Janet Leigh) verführen, die im Besitz des Tresorschlüssels ist.
Ein Heist in Rio de Janeiro zu Beginn des Karnevals, Edward G. Robinson und Klaus Kinski und Adolfo Celi und Janet Leigh – was kann da schon schief gehen? Beim Heist selbst und danach natürlich vieles, denn das gehört so zum Genre dazu. Beim Film AD OGNI COSTO: nicht ganz so viel. Ja, es ist etwas schade, dass Robinson und Celi nach dem Prolog im Prinzip aus dem Film verschwinden. Auch der Subplot um die Verführung der Direktionsassistentin durch den extra dafür angeheuerten "Playboy" im Heist-Team ist eher wenig gelungen, um nicht zu sagen schwer verdaulich (Interessant: es ist der gleiche Schauspieler, Robert Hoffmann, der auch den Führer der vergewaltigenden Rocker in LA LUNGA SPIAGGIA FREDDA spielte – auf eine gewisse Weise strahlt er hier aber wesentlich mehr Creepiness und Rapeyness aus. Bezüglich des Subplots: wer genau hinschaut, wird bemerken, dass die Augen von Janet Leighs Figur an einer Stelle des Films ein wichtiges Detail offenbar bewußt aufschnappen – ein sehr irritierendes Detail, das dem aufmerksamen Zuschauer im Gedächtnis bleiben MUSS und das die aus heutiger Sicht sehr unangenehme Oberfläche des Verführungs-Subplots sehr schön "bricht").
Aber ansonsten ist AD OGNI COSTO genau der tolle, leichtfüßige, schön aussehende, mitreissend und spannend inszenierte Heist-Film, den man bei der Anteaserung so erwarten würde. Klaus Kinski als der Armeemann für das Grobe und das Logistische darf nicht nur das schönste und bunteste Kurzarmhemd tragen, sondern auch am grimmigsten reinschauen – zwischendurch gibt es auch einen schönen, knüppelharten Ausraster gegenüber dem Playboy. Die "Intention" war ursprünglich sicherlich, dass die Sympathien der Zuschauer beim Playboy liegen, es eine dramatische Situation sein soll – für mich und wohl auch andere Terzianer war es umgekehrt, und daher eine für die Seele sehr wohltuende Szene (schön, dass eine solche Szene in beide Richtungen "funktioniert"). Auch das Zusammenspiel zwischen George Rigaud als Safe-Knacker und Riccardo Cucciolla als Ingenieur und Spezialist für Alarmsysteme, zwei Professionals, die komplett in ihrem (top) Job aufgehen, ist großartig.
Sie bildet auch die Basis für die atemberaubende, zentrale Heist-Sequenz, der Höhepunkt des Films, zum Niederknien dicht und spannend inszeniert. Ein polizeilich streng überwachter Karnevalsumzug durch die Straßen von Rio als Kulisse kommt auch erzählerisch und visuell sehr kreativ zum Einsatz und die "Lösung" des Safe- und Alarmsysteme-Knacker-Duos für die eigentlich unüberwindliche Alarmanlage ist einfach nur großartig. Der Film spielt auf der Klaviatur der Spannung mit begnadetem Talent und mit der gleichen Präzision der Einbrecher. Eine Bedrohungssituation im Tresorraum wurde geschickt etabliert, verschärft, bis zur totalen Unaushaltbarkeit eskaliert: die sprichwörtliche fallende Stecknadel wäre im fast 100 Leute umfassenden Kinosaal des Frankfurter Filmmuseum zu hören gewesen, viele mussten sich wohl zurückhalten, um nicht vor Anspannung zu kreischen, die Luft wurde angehalten – als sich die Situation auflöste, ging ein raunender kollektiver Seufzer der Erleichterung durch das Publikum. Eine der spektakulärsten, genuin "kino'igen" Kino-Momente des Jahres!
20.00 Uhr
LA MASCHERA DEL DEMONIO ("Die Stunde, wenn Dracula kommt", wörtlich: "Die Maske des Dämon")
Regie: Mario Bava
Italien 1960
35mm, Originalfassung mit deutschen Untertiteln
Nach jahrhundertelanger Ruhe in einer Gruft wird eine brutal hingerichtete Hexe durch die Ungeschicklichkeit zweier Forschungsreisender wieder zum Leben erweckt.
Auch bei der Zweitsichtung: absolut nicht mein Film. Um nicht zu sagen, dass ich mich größtenteils knüppelhart gelangweilt habe. Ich könnte nicht wirklich erklären, warum ähnlich inszenierte Bava-Filme bei mir besser funktionieren und dieser überhaupt nicht.
Gezeigt wurde jedenfalls eine Fassung, in der mehrere aus der Erstaufführungs-Fassung herausgeschnittene Szenen wieder eingefügt worden waren. Wie Andreas in seiner Einführung sagte: bei mindestens einer Szene wäre es vielleicht ohne Re-Insert besser gewesen. Möglicherweise geht es darum: während einer dunklen, nächtlich-nebeligen Spannungsszene in einem morastigen Wald wird urplötzlich eine Rückblende gezeigt, die in einem Schlossgarten bei Tageslicht spielt und bei der zwei Figuren, die in der unterbrochenen Spannungsszene überhaupt nicht vorkommen, einen recht zähen Expositionsdialog durchsprechen. Falls ja: das war in der Tat kein besonders kluges Editing bei der Post-Erstaufführungs-Fassung.
Aber wie gesagt: ich könnte nicht behaupten, dass dies die Ursache dafür ist, dass LA MASCHERA DEL DEMONIO mich so furchtbar gelangweilt hat.
22.30 Uhr
TOP MODEL
Regie: Joe D'Amato
Italien 1988
35mm, Originalfassung mit deutschen Untertiteln
Sarah (Jessica Moore) schreibt ein Buch über Prostitution und sammelt ihr Quellenmaterial, indem sie selbst als "Top Model" unter dem Namen Gloria arbeitet. Ihr Doppelleben gefällt ihr, gerät aber ins Schwanken, als sie dem schnuckeligen, bi-neugierigen IT-Speziaisten Cliff (James Sutterfield) begegnet (der die Terminplanungssoftware der Escort-Agentur updaten soll!) und sogar in Gefahr, als ein Kunde ihre Doppelidentität entdeckt und sie zu erpressen beginnt.
Sarah aka Gloria spaziert durch New Orleans: in der Geburtsstadt des Jazz steht natürlich auch mal ein Saxofonspieler an der Straßenecke und spielt ein Ständchen |
Nachdem beim letzten Terza bereits ein (thematisch ganz anders gelagerter) Film von Joe D'Amato auf meiner persönlichen Platz 1 landete (wenn auch geteilt mit einem zweiten Film) war es nicht unwahrscheinlich, dass TOP MODEL zu den denkwürdigsten Filmen dieses Terza zählen würde. Am Ende wurde er die unerreichbare Nummer 1 dieser Terza-Edition. Cinekstase pur. Ein totaler audiovisueller Rausch.
Getragen von einer fantastischen Hauptdarstellerin, die nicht nur in sämtlichen Graden der Bekleidung (bekleidet, wenig bekleidet, gar nicht bekleidet) sehr ansehnlich aussieht, sondern auch mit einem kraftvollen, mitreissenden Charisma gesegnet ist. Erzählt mit einem luftigen Hauch von Nichts, von Abhängen, von Spazieratmosphäre – no clothes, no plot, just mood... und auch wenn es etwas dramatischer wird (der Subplot mit dem Erpresser) ist es noch lange kein Hindernis, um danach gleich wieder entspannt runterzukommen und auch mal durch New Orleans zu spazieren und zu flanieren. Verführerisch fotografiert mit der wieder einmal fantastischen Kameraführung von "Fred Sloniscko Jr." aka Aristide Massaccesi aka Joe D'Amato höchstpersönlich, der Bilder mit einer außerweltlichen Aura erschafft. Gewürzt mit unzähligen tollen, unfassbaren, wilden Ideen: eine Sexszene in einem Lagerraum für Mardi-Gras-Umzugswagen, die wild zwischen der "Action" und den Figuren (u. a. ein grinsender Weihnachtsmann) hin- und herschneidet; natürlich das nackte Posieren zwischen den ganzen Schaufensterpuppen am Anfang des Films; der unfassbare, geil-langweilige Vierer mit den zwei "Cowboys" aus Texas; die energische Massage-Session mit dem schwarzen Bodybuilder.
Großes Kino ist auch die Magie, Vorgänge, die uns in der Realität trivial, langweilig, gar dubios oder total eklig erscheinen würden, als epiphanische, ekstatische Vision erscheinen zu lassen – zumindest für echte Liebhaber, die sich mitreissen lassen wollen. Eigentlich nicht ganz unähnlich zu Sex: da werden Sachen gemacht, die man in einem anderen Kontext komplett widerlich finden würde. Der Gedanke, halbgare Garnelen an Brustbereich oder gar Genitalbereich rumzurubbeln, ist erst mal nicht so sexy: im Rahmen eines Films, im Rahmen dieses Films und im Rahmen eines Moments, der quasi die zärtliche "Entjungferung" Cliffs bedeutet, ist das the most sexy thing in the whole world.
James Sutterfield aka Cliff sieht übrigens irgendwie aus wie der etwas weniger melancholische, aber wesentlich schüchternere amerikanische Cousin von Jean-Claude Van Damme. Was mich zum Gedanken bringt, dass ein Erotikfilm von Joe D'Amato mit Jean-Claude Van Damme auch eine interessante Sache gewesen wäre (und wahrscheinlich eine sehr spannende Rollenspektrumserweiterung für den Belgier hätte bedeuten können).
Samstag, 20. Juli 2024, Tag 4: Zwischen Selbstjustiz und Großstadt-Odysseen
13.30 Uhr
NON C'È PACE TRA GLI ULIVI ("Es gibt keinen Frieden unter den Oliven")
Regie: Giuseppe de Santis
Italien 1950
35mm, Originalfassung mit englischen Untertiteln
Der Kriegsveteran und -gefangene Francesco Dominici (Raf Vallone) kehrt nach dem Zweiten Weltkrieg in Heimatdorf in der Ciociara zurück. Dort hat sich der Kriegsgewinnler Agostino Bonfiglio (Folco Lulli) nicht nur seine ganze Schafsherde unter den Nagel gerissen, sondern auch seine Verlobte Lucia (Lucia Bosè). Als Francesco seine Schafe zurücknimmt, vergewaltigt Agostino dessen Schwester und bringt ihn auch noch mittels erpresster Falschaussagen ins Gefängnis. Nach einem Ausbruch schwört Francesco Rache.
Verfremdungseffekte sind manchmal schon des Teufels! Ich hatte große Mühe, mich auf NON C'È PACE TRA GLI ULIVI einzulassen, denn es hat sich bestätigt, dass ich Raf Vallone offenbar einfach auf den Tod nicht ausstehen kann. Es ist ein reines Bauchgefühl, mit Ratio nicht zu erklären, aber er ist mir in seiner ganzen Erscheinung und seiner ganzen Art (hier auch noch unterstrichen durch die "ultra-männliche" Zeichnung seiner Figur) zutiefst unsympathisch: keine gute Voraussetzung, wenn man mit der Helden-Figur, die er verkörpert, mitfiebern soll. In einem Paralleluniversum hätte Vallone hier den Antagonisten gespielt (oh, wie sehr hätte ich es geliebt, ihn zu hassen!), während der wunderbare Folco Lulli den Helden gespielt hätte.
Ich musste mich also mit anderen Dingen begnügen. Wie gesagt: Folco Lulli ist natürlich eine absolute Wucht, in seiner massigen Körperlichkeit und mit seinem wie aus Felsen gehauenen Gesicht eine absolut beeindruckende Präsenz und natürlich ein toller Bösewicht (ich kenne ihn als ambivalenten, rachesüchtigen Witwer in André Cayattes großartigem Wüste-Rachethriller ŒIL POUR ŒIL). Lucia Bosè ist hier 19-jährig in ihrer ersten Rolle in einem abendfüllenden Spielfilm nicht nur eine Schönheit, sondern auch schon eine starke Darstellerin.
Sie bzw. ihre Figur stößt auch die unfassbarste Szene des Films an: damit Francesco von einer Polizeitruppe ungesehen eine Landstraße überqueren kann, beginnt sie im titelgebenden Olivenhain zur Ablenkung einen lasziven Tanz, zeigt dabei einiges von ihren Beinen und steckt sämtliche anwesenden Bäuerinnen, ob jung oder alt, mit dem Tanzfieber an, sodass für einige Zeit unter den Oliven wenn nicht Frieden, so doch ausgelassener Tanz stattfindet. Das Sahnehäubchen: der "Dorf-Trottel", der da offenbar auch abhängt, wird ebenso von der Tanzeslust ergriffen, tanzt besonders expressiv und schneidet dabei die wildesten Grimassen. Das passiert nicht als "Comic-Relief", sondern wirkt in diesem Moment sehr emotional ergreifend und poetisch.
Einen Comic-Relief gibt es trotzdem: ein Co-Insasse von Francesco, der mit ihm flieht und der trotz seiner holzschnittartigen Konzeptionierung durch die charismatische Darstellung (ich kann leider den Namen des Schauspielers nicht identifizieren) mein Herz erobert hat. Ein Neapolitaner, der immer kurz vor Ostern ausbricht, um bei seiner Familie zu feiern, der anhand seiner Erfahrung mit Strafverurteilungen immer vorab berechnet, wie viel er für welche Arten von Diebstählen aufgebrummt bekommen wird und der überhaupt ein lustiger Geselle ist.
Filmgeschichtlich ist NON C'È PACE TRA GLI ULIVI eigentlich ein "neorealistisches Bauerndrama". Alternativ könnte man auch sagen: ein Ciociara-Western (so Christoph bei seiner schönen Einführung), ein Heimatfilm-Melodrama oder vielleicht auch ein Selbstjustiz-Thriller.
Das Thema Selbstjustiz verbindet dann tatsächlich auch IL GRANDE RACKET, NON C'È PACE TRA GLI ULIVI und CONFESSIONE DI UN COMMISSARIO DI POLIZIA AL PROCURATORE DELLA REPUBBLICA (zu letzterem weiter unten mehr). Nico Palmieri und Francesco Dominici sind sich in vielerlei Hinsicht nicht unähnlich, agieren zumindest in ähnlich skizzierten Welten (wenngleich politisch einmal eher von rechts, einmal eher von links): Die Ineffizienz des Polizei- und Justizsystems wird in beiden Filmen mit groben Strichen veranschaulicht – der rechtschaffene "kleine" Mann wird bestraft wenn er sich wehrt, während die Kriminellen sich ins Fäustchen lachen. Ganz so hemmungslos haut De Santis aber nicht auf die Kacke wie später Castellari: hier ist der Gesellschaftsvertrag noch intakt und die Rache wird in akzeptable Bahnen gelenkt.
16.00 Uhr
Komödien von Lucio Fulci sind beim Terza Visione keine Unbekanntheit mehr. Auch das Komiker-Duo Franco und Ciccio sind den Terzianern bekannt (durch ihren kurzen Auftritt in Fulcis LE MASSAGGIATRICI). Doch jetzt ging es in die Vollen: ein kompletter Film mit den beiden in der Hauptrolle!
Nach der schönen Einführung des Franco-und-Ciccio-Spezialisten Giacomo Di Nicolò gab es eine Überraschungs-Videoeinführung: die Söhne von Franco Franchi und Ciccio Ingrassia sendeten eine kleine Grußbotschaft und bedankten sich herzlich für die Ehrung an ihre Väter, die die Projektion von IL LUNGO, IL CORTO, IL GATTO im Frankfurter Filmmuseum darstellte.
IL LUNGO, IL CORTO, IL GATTO ("Der Lange, der Kurze, die Katze")
Regie: Lucio Fulci
Italien 1967
35mm, Originalfassung mit englischen Untertiteln
Franco und Ciccio heuern bei einer reichen, exzentrischen Adeligen an. Deren größte Extravaganz: besondere Pflege soll eine Katze erhalten, die sie für die Reinkarnation ihres verstorbenen Ehemanns hält. Die "Spaziergänge" mit der Katze sind für Franco und Ciccio eher strapazierend und daher befördern sie das Tier nur zu gerne mit einem großen Tritt aus der Villa, als die Adelige stirbt. Zu blöd, dass die Verstorbene den beiden tollpatschigen Dienern eine saftige monatliche Rente vermacht hat unter der Bedingung, dass sie sich weiter um die Katze kümmern. Für die beiden beginnt eine Suche nach dem verlorenen Haustier durch ganz Rom.
Franco und Ciccio sind grundsätzlich eine Geschmacksache. Ich persönlich liebe sie! Die eskalierende Gesichtsakrobatik Francos, dazu der (relativ) "geerdete" Gegenpol Ciccios – einfach herrlich! Wenn ein Großmeister der Komödie auf dem Gipfel seiner humoristischen Inszenierungskunst wie Lucio Fulci 1967 die beiden dirigiert, kommt eine Perle des anarchischen Slapstickkinos wie IL LUNGO, IL CORTO, IL GATTO raus.
Der Film hat in seinem Aufbau durchaus etwas von einer Sketch-Revue und Franco und Ciccio stehen beständig im Mittelpunkt. Wer die beiden Komiker liebt, wird hier königlich bedient. Wer sie nicht liebt, wird trotzdem vom größten Set-Piece des Films weggefegt werden (so wie einige bekennende Franco-und-Ciccio-Skeptiker – oder seien wir deutlicher: -Hasser! – danach auch bestätigten): die etwa 15-minütige Diner-Sequenz in der Villa einer Adeligen, die (auch) abergläubisch ist und deshalb vermeiden möchte, dass 13 Leute an ihrer Tafel sitzen. Ihr Ehemann lässt daher die zwei komischen Käuze, die nach einer entflohenen Katze suchen, nur zu gerne rein, um einen von ihnen suchen zu lassen und den anderen an den Tisch (als 14. Person) zu setzen: ein absolut kolossaler Fehler für Gastgeber, die anderen Gäste und die Bediensteten des Hauses und ein gnadenloser Stresstest für die Lachmuskeln des Publikums.
Das ganze beginnt mit kleinen Irritationen, wenn Ciccio (der eigentlich "Normale" der zwei) an die Tafel gesetzt wird und trotz langer Berufserfahrung als Ober-Butler doch seine niedere Herkunft erkennen lässt, wenn er beherzt die Serviette um den Hals bindet und zu essen beginnt: inszenatorisch sehr schön aufgelöst in einem 360-Grad-Kameraschwenk aus der Mitte der Tafel über die völlig entsetzt-entgeisterten Gesichter aller "hochrangigeren" Anwesenden (ein groteskes Diner gibt es bei Fulci dann auch vier Jahre später im Giallo UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA zu bewundern). Da adelige Schnösel furchtbar sensibel und unzuverlässig sind, verabschieden sich immer wieder welche von der Tafel, während andere verspätet dazustoßen – und dazwischen wird Ciccio immer wieder zwischen Tafel und Küche hin- und her-geschoben. Die Eskalationsschraube wird dann allmählich gedreht, aber nachdem Ciccio an der Tafel durch Franco ersetzt wird (eine wahrhaft göttlich-bescheuerte Idee) UND die Katze auch wirklich auftaucht, kippt es dann endgültig in Anarchie und Chaos und der totalen Verwüstung des piekfeinen Diner-Saals.
Lacher und Thrills liegen nahe beieinander, und wer nach Vorboten von Fulci als Thriller-/Giallo-Regisseur suchen möchte, wird hier fündig. Das Rezept: Franco, Ciccio und deren Arbeitskollegin, die Bedienstete Gina, gefesselt an Stühlen, während auf einem Tisch neben ihnen eine eiförmige Zeitbombe tickt und in wenigen Minuten explodieren wird (und die Katze wird dann auch auftauchen!). Ohne das Gag-Dauerfeuerwerk zu unterbrechen schneidet der Film mit zunehmender Dringlichkeit immer näher an die angsterfüllten Gesichter der Protagonisten, bis schließlich die Augen in extremen Closeups die komplette Leinwand ausfüllen: Fulci-Augen des Schreckens. Extreme Spannung und Unbehagen zeitgleich mit Blödelei und hemmungslosem Gelächter.
20.00 Uhr
CONFESSIONE DI UN COMMISSARIO DI POLIZIA AL PROCURATORE DELLA REPUBBLICA ("Der Clan, der seine Feinde lebendig einmauert", wörtlich: "Geständnis eines Polizeikommissars an den Staatsanwalt der Republik")
Regie: Damiano Damiani
Italien 1971
35mm, deutsche Fassung
Der desillusionierte Polizeikommissar Bonavia (Martin Balsam) setzt sich für die Freilassung eines Kleinkriminellen aus einer Irrenanstalt ein – der kurz darauf einen gescheiterten Mordanschlag auf den Bauunternehmer (bzw. "Bauunternehmer" und in Palermo als einflussreicher Mafiaboss bekannten Mann) Lomunno verübt. Der kürzlich aus Norditalien nach Sizilien transferierte Staatsanwalt Traini (Franco Nero) untersucht den Fall mit idealistischem, gesetzestreuem Eifer, enthüllt einen Sumpf aus Korruption, Gewalt und kriminellen Verstrickungen – und feindet sich auch mit Bonavia an, der von einer persönlichen Racheagenda angetrieben wird.
Meine Erwartungen an Damianis Film waren eher so mittelmäßig: ich bin kein großer Fan italienischer Polizeifilme, Damianis PIZZA CONNECTION beim letzten Terza hatte mir eher so-la-la gefallen und IL GRANDE RACKET drei Tage zuvor noch weniger. Am Ende verließ ich nach CONFESSIONE DI UN COMMISSARIO DI POLIZIA AL PROCURATORE DELLA REPUBBLICA den Kinosaal völlig begeistert und zugleich dem emotionalen Kollaps nahe, nachdem mich dieser großartige Film ordentlich hart in den Boden gestampft hatte.
Vielleicht liegt meine Begeisterung darin begründet, dass Damianis Film sich durchaus sehr "amerikanisch" dicht anfühlt (und nicht "italienisch" ausgefranst, wie viele "polizieschi" der Zeit für mich wirken). Die eigensinnige Mischung aus explodierender Wut, politischem Engagement, ausgewählten Genre-Schauwerten, einer Erzählung über Figuren weniger als über Plot und einer "spröden" Sichtweise auf systemische Probleme wie Korruption und Machtmissbrauch macht ihn ein bisschen zu einer Art entfernter, gemeinsamer Cousin von Sidney Lumets SERPICO und Yves Boissets UN CONDÉ (wenn man Boisset gerne als "amerikanischen Franzosen" begreifen möchte).
Trotz einer wilden Schießerei relativ zu Beginn des Films ist CONFESSIONE DI UN COMMISSARIO DI POLIZIA AL PROCURATORE DELLA REPUBBLICA ein Slow-Burner, ein langsamer Film, der sich viel Zeit zum Erzählen nimmt und der dies vor allem über seine Figuren macht (das unterscheidet ihn vielleicht von anderen "polizieschi", die eher Nummern aneinander reihen).
CONFESSIONE DI UN COMMISSARIO DI POLIZIA AL PROCURATORE DELLA REPUBBLICA ist natürlich auch ein sehr spektakulärer Schauspieler(innen)-Film. Natürlich sind da zunächst die beiden Protagonisten des italienischen Originaltitels. Franco Nero, der einen etwas steifen, überkorrekt-peniblen, pedantischen Staatsanwalt spielt – ein trotz seines bizarren Mutter-Komplexes etwas langweiliger und biederer Bürokrat, aber eben auch ein sichtbar integrer Mann: eine sehr schöne, mal andere Rolle, wenn man Franco vor allem als ruppigen Revolverhelden aus Western-Kontexten kennt.
Aber der große Star ist ohne Zweifel Martin Balsam als von der Mafia nicht korrumpierbarer und doch moralisch zwielichtiger Polizist, der aus Verzweiflung und Rache das System (und schließlich auch sich selbst) aufgibt: ein großer US-amerikanischer Schauspieler, der fern von seiner Heimat ganz in dieser komplexen und explosiven Rolle aufblüht. Wobei: ein großartiger Schauspieler war Balsam ja schon immer, aber hier auch in einer zentralen Hauptrolle. Es lag ja immer ein wenig Melancholie in seinen Augen, hier kann er zu ganz großer Weltmüdigkeit aufspielen. Ein fantastischer Balsam-Moment ist ein kleines Detail bei der oft erwähnten Szene mit der verbal eskalierenden Konfrontation zwischen dem Staatsanwalt und dem Polizeikommissar, die in eine Verwechslung ihrer ähnlich aussehenden Autos mündet: Franco lehnt sich mit den Armen auf das Dach des Autos und legt seinen Kopf drauf, als hätte er eben einen Schwächeanfall – Balsams Mine wechselt von zornig zu einfühlsam-besorgt, und er schaut kurz so, als ob er den Mann, den er eben noch wüst beschimpft und gar bedroht hat, gleich fragen würde, ob alles in Ordnung ist oder als ob er sich bei ihm sogar entschuldigen würde. Doch er reagiert nicht oder zu spät: Franco-Traini hat sich wieder gefangen und öffnet schon die (falsche) Autotür. Beide Männer werden doch verfeindet auseinandergehen. Und das ist auch die bittere, kaum auszuhaltende Tragik des ganzen Films, der wie eine Art auf den Kopf stehender Buddy-Movie funktioniert: zwei Männer, die eigentlich geeint sein müssten in ihrem Kampf gegen die Mafia, finden nicht zueinander, sondern kämpfen gegeneinander. Weil sie sich persönlich nicht ausstehen können: der hemdsärmlige, in den Straßen arbeitende Bonavia verachtet sichtlich den intellektuellen, arroganten, "verzärtelten" bürokratischen "Sesselpupser" Traini, während dieser den grobschlächtigen und von seiner "Street-Credibility" und Seniorität etwas zu sehr eingenommenen Grobian verachtet. Und natürlich auch weil das System Mafia (das Wort wird glaube ich kein einziges Mal im Film ausgesprochen, weil es immer um oberflächlich respektable "Bauunternehmer" geht) durch Misstrauen und Paranoia sämtliche zwischenmenschliche Beziehungen von vorne herein vergiftet: beide Männer verdächtigen sich gegenseitig, ein korruptes Rädchen im System zu sein.
Neben diesen beiden Schwergewichten ist CONFESSIONE DI UN COMMISSARIO DI POLIZIA AL PROCURATORE DELLA REPUBBLICA auch voller wunderbarer Nebendarsteller-"Charakterfressen". Besonders erwähnen möchte ich aber Marilù Tolo: in den meisten Filmen wäre ihre Figur ein Klischee, die verschüchterte Mafiosi-Braut, die schlussendlich selbst auf die Abschussliste kommt und dann für einen schnellen und schnell wieder vergessenen Schock um die Ecke gebracht wird – doch Tolos charismatische, starke Darstellung (und ihre stechenden Augen!) machen aus Serena, der Schwester des kleinkriminellen Attentäters, eine ganz große tragische Figur.
Damiani zeigt auch ein großes Gespür für seine Locations, er lässt Palermo und die Umgebung der Stadt im Laufe des Films zu überaus lebendigen Orten werden, erschafft aus der Hauptstadt Siziliens ein ganzes sozioökonomisches Biotop: architektonische Brutalismus-Wüsten aus schnell errichteten Plattenbauten und werdenden Hochhäusern inmitten von bracher Grünfläche, mit denen die Mafiosi (also: lokale Bauunternehmer) ihr Geschäft machen; ein hässlicher, industrieller Hafen, in denen sich zum Beispiel schwule Informanten vor dem Zugriff der repressiven Polizei zu verstecken versuchen; eine pittoreske Einkaufs- und Bummelpassage, die zum Verweilen und Flanieren einlädt (aber Obacht vor den schlecht beleuchteten Nebenstraßen, besonders wenn der Begleiter ein Bauunternehmer ist); eine hügelige Umgebung, in denen zwei Männer sich gegenseitig anbrüllen und bedrohen können, mit einem wunderschönen Panorama-Blick auf die große sizilianische Hauptstadt; malerische Bergdörfchen am Ausgang der Stadt, auf deren Hauptplatz es sich vor versammelter Dorfgemeinschaft gut verbluten lässt; dann wiederum pittoreske Plazas und Nebenstraßen, echte mediterrane Postkartenansichten; weniger postkartenmäßig dann die Elendsviertel, mit heruntergekommenen Behausungen, wo potentielle Opfer der Mafia hinflüchten.
Wenn ich schreibe, dass CONFESSIONE DI UN COMMISSARIO DI POLIZIA AL PROCURATORE DELLA REPUBBLICA sich eher "amerikanisch" anfühlt, so ist zumindest seine musikalische Begleitung so italienisch wie es nur geht: Riz Ortolani übersetzt die Haupt-Emotionen des Films, Zorn und Melancholie, in ein kongeniales musikalisches Thema voller Pathos, das noch lange, lange, lange in Ohren und Kopf nachhallt. Vor allem nach dem markerschütternden Ende: oberflächlich "unspektakulär" und "harmlos" (ein Mann stellt einem anderen Mann eine total banale, beiläufige Smalltalk-Frage) stößt das Filmende, wie die Schergen der "Bauunternehmer" es mit ihren Opfern manchmal tun, den Zuschauer in einen tiefen Abgrund.
Einen sehr lesenswerten Text von Sebastian zur streng-symmetrischen Erzählstruktur des Films gibt es hier.
22.45 Uhr
TOUGH GUYS ("Zwei Fäuste des Himmels")
Regie: Duccio Tessari
Italien/Frankreich 1974
35mm, deutsche Fassung
In Chicago tun sich ein nach einer Intrige gefeuerter, integrer Polizist (Isaac Hayes) und ein Streetworker-Priester (Lino Ventura) zusammen, um einen Mordfall aufzuklären.
Isaac Hayes kann seine Pistole ruhig wieder einpacken, denn Lino Ventura kommt gegen den Böswatz auch mit seinen bloßen Fäusten klar |
"Die Zeit der Meisterwerke ist jetzt vorbei." – so Sven in seiner Einführung zum Film. Ja, irgendwie schon. Die Prämisse, dass Lino Ventura und Isaac Hayes als street-smarter Priester bzw. desillusionierter, gefeuerter Ex-Cop im Chicago der 1970er Jahre sich zusammen tun, um sich durch die Unterwelt zu prügeln und zu schießen, ist schon sehr appetitanregend. Sichtlich anstrengen tut sich der Film leider damit nicht: eine allmähliche Müdigkeit am Ende des vierten Festivaltages hatte sich langsam in meine Glieder geschlichen, zugegeben, aber TOUGH GUYS hat sich dann doch erstaunlich gezogen und trübte größtenteils etwas unmotiviert vor sich hin. Umso erstaunlicher mit jemanden wie Duccio Tessari hinter der Kamera, Regisseur von solch tollen Filmen (gar Meisterwerken) wie der von der Rückkehr des Odysseus inspirierte Western IL RITORNO DI RINGO und dem leidenschaftlichen, schmerzhaften Giallo UNA FARFALLA CON LE ALI INSANGUINATE.
Andererseits prügeln sich Lino Ventura und Isaac Hayes durch Chicago! Und wenn sie das nicht tun, dann räkelt sich Ventura nur in T-Shirt und Unterhose breitbeinig (also: wirklich, wirklich, WIRKLICH sehr breitbeinig!) auf Hayes' Bett, während dieser dessen durch Böswatz-Überfälle beschmutzte Hose wäscht und bügelt und danach Frühstück zubereitet: Spiegeleier sunny side up, gebraten auf der Unterseite des Bügeleisens, der in einen nicht ganz bündig zusammengeschobenen verlängerbaren Esstisch geklemmt wird. Ein Festmahl für den Magen der beiden und das Gemüt des Publikums! Wenn Chicago zu langweilig wird, dann geht es eben nach Venedig – so in der Bruchbude eines hoffnungslosen Säufers und ur-sympathischen Comic-Relief-Nebencharakters, die nur aus Regalen voller leergesoffener Flaschen und einem riesigen (wirklich: riesigen!) Poster des Markusplatz besteht. Und wenn Hayes das schickere Gefährt (eine etwas verbeulte Cabrio-Limousine) besitzt, so hat Ventura das proletarischere und multifunktionsfähigere Gefährt, um von A nach B zu kommen: mit seinem Fahrrad (vor Aufsteigen und nach Absteigen immer schön die Hosenklammern auf- und absetzen!) ist er sportlich unterwegs und er kann es bei Prügeleien dem Böswatz auch mal um die Ohren hauen!
Kleine Info am Rand: der große italienische Komödien-Regisseur Luciano Salce ist hier als Bischoff von Chicago (eine Sprechrolle mit einigen Minuten Screen-Time) zu sehen.
Sonntag, 21. Juli 2024: Der internationale Tag zwischen Stockholm, Benidorm, Fort Boyard und Adriaküste
Bei diesem zehnten Terza Visione gab es nun die dritte Edition des "internationalen Tages", der dazu dient, nach einer intensiven Beschäftigung mit dem italienischen Genrekino auch über den Tellerrand zu blicken und das Fokusland des Festivals auch in einen internationalen Kontext zu setzen, sich Querverbindungen, aber auch Unterschiede zwischen Genre-Kinematografien aus aller Welt anzuschauen.
Gestartet wurde diesmal mit einem hyperstilisierten Kriminalfilm um einen teilweise schwarze Handschuhe tragenden Serienmörder, der seine Opfer im Umfeld eines Mode-Salons um die Ecke bringt, also einem Ort, der zu fetischistisch-farbenfrohen Set-Designs und Kostüm-Kreationen einlädt, das ganze gefilmt in ausgewählt eleganter und komplexer Kameraführung. Wir schauen also...? Was? Mario Bavas SEI DONNE PER L'ASSASSINO aka "Blutige Seide" aka "Blood and Black Lace" von 1964? Der Film, der als "der erste echte Giallo" gilt? Nein, es geht nach Schweden anno 1958!
12.45 Uhr
MANNEKÄNG I RÖTT ("Mannequin in Rot")
Regie: Arne Mattsson
Schweden 1958
35mm, schwedische Originalfassung mit deutschen Untertiteln
Das Detektivgespann John und Kasja Hillman untersucht Serienmorde in einem Modesalon. Kasja heuert zwecks Ermittlung in der Boutique an, um dem Mörder auf die Schliche zu kommen.
Beim Terza Visione gab es dieses Jahr keinen "echten" italienischen Giallo, dafür aber nun diesen schwedischen Giallo oder Proto-Giallo, diesen... "Gul". Wenn man von der gesprochenen schwedischen Sprache abstrahiert und von den in Westeuropa eher unbekannten Schauspielergesichtern, dann glaubt man tatsächlich einen archetypischen, frühen italienischen Giallo zu sehen (auch wenn der Film tatsächlich "nur" der zweite Teil eines Filmzyklus zum Ermittler-Ehepaar Kajsa und John Hillman ist, in den Credits wird der Film dem wissenden schwedischen Publikum sogar original als "Hillmanthriller" präsentiert).
Dank der "Sub-Zero"-Lagerungspolitik schwedischer Filmarchive erstrahlte MANNEKÄNG I RÖTT, gedreht auf nicht-farbstabilem Eastmancolor, in knackigen, wunderschönen, prachtvollen und kräftigen Farben – rotstichig hätte der Film tatsächlich einiges von einer Strahlkraft eingebüßt. Denn MANNEKÄNG I RÖTT ist in erster Linie ein Triumph von Kameraführung und Ausleuchtung (Hilding Bladh, der auch drei frühe Filme von Ingmar Bergman fotografiert hat), Produktions- und Setdesign (Bibi Lindström, ebenfalls bei Bergman in frühen und mittleren Filmen – u. a. PERSONA – tätig) und Kostümdesign (mit Mago – geborener Max Goldstein – ein weiterer und von den dreien der langjährigste Bergman-Mitarbeiter). Es ist ein Prachtstück, das mit seinen extravaganten Kostümen, den modernistischen Set-Designs und Einrichtungsgegenständen und der ultra-fluiden Kameraarbeit in der kompletten Länge des Films einfach nicht aufgehört hat, mich zum Staunen zu bringen: jede Szene ein Ereignis, mit mindestens einem tollen Regie-Einfall. Das mag etwas technokratisch klingen, aber MANNEKÄNG I RÖTT war neben TOP MODEL zwar nicht der beste, aber doch der schönste und eleganteste Film des diesjährigen Terzas.
Außerdem kommen auch die Charaktere keineswegs zu kurz. Das Ermittlungsehepaar Hillman sind die geerdeten (man könnte negativ sagen: die biederen, langweiligen) Charaktere des Films. Der interessantere Part des Paars ist Kajsa (Annalisa Ericson), die als verdeckte Ermittlerin im Mode-Geschäft als Model anheuert und mir als treibende Kraft der Hllmans erschien. Für Humor, Grimassen und Slapstick (meistens erfolgreich) zuständig war John Hillmans tollpatschiger Assistent, gespielt von Nils Hallberg. Die Rolle der Femme Fatale spielte Gio Petré: ihre in verführerischer Glitzergarderobe gekleidete Gabrielle führt einen Mann namens Oscar Svensson im gleichnamigen Lied singend ins Verderben, während sie laszive Blicke mit einer Frau namens Peter (sic! – faszinierend androgyn: Lissi Alandh) austauscht, einer Mitarbeiterin im Modesalon, die möglicherweise ihre Liebhaberin ist. Diese Gesangsnummer in einem Nachtclub erweckt wiederum deutliche Erinnerungen den amerikanischen Film Noir: zwischen Los Angeles und New York auf der einen Seite des Atlantiks und Rom und Mailand auf der anderen Seite kann man eben auch einen Zwischenhalt in Stockholm einlegen; und MANNEKÄNG I RÖTT kann dann auch als Versuch eines schwedischen Film Noir gesehen werden.
Soweit ich es mitbekomme habe, war ich mit meiner großen Begeisterung für diesen "Gul" recht alleine. Trotz des umstrittenen Regisseurs schien der nächste Film dann auf eine breitere Zustimmung zu stoßen: von Stockholm ging es nach Benidorm.
16.30 Uhr
Vorfilm:
ERHOLUNGSLANDSCHAFT SPANISCHE MITTELMEERKÜSTE
Regie: Herberg Apelt
BRD 1983
16mm, deutsche Originalfassung
Ein Kurzfilm des Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU) über die spanische Küstenstadt Benidorm und deren touristische Erschließung.
"Willkommen in der Hölle" lautet der deutsche Titel von Cesare Canevaris Western MATALO! (der beim Terza in einer frühen Nürnberger Edition lief). Potentiell würde er aber auch zu diesem Kurzfilm des Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (kurz: FWU) ganz gut passen.
"Erholungslandschaft" – das ist ein Begriff, der so kalt-technokratisch, ultra-teutonisch und durch und durch unsexy ist wie vielleicht nur noch "Sättigungsbeilage". Gezeigt wird Benidorm als wirtschaftlich boomende Touristen-Sehenswürdigkeit: während "schöne" Panoramen das bestialisch-brutalistische Massaker aus Plattenbauten, Hochhäusern und Baustellen-Infernos zeigen, rattert der Voice-Over mit der Beflissenheit eines besonders selbstvergessenen Buchhalters Statistiken über Einwohnerzahlen, Touristenzahlen, nationale Zusammensetzung der Touristen, offizielle Bettenzahlen in Hotels und geschätzte zusätzliche Bettenzahlen über Privatwohnungen und Campingplätze zusammen, dass einem innerlich alles zusammenschrumpft und zusammenwelkt.
Ein bisschen menschlicher wird es, als es um den Lebensalltag der örtlichen Tourismus-Beschäftigten geht. Besonders interessant fand ich den Aspekt, dass in der zweiten Hälfte des Films tatsächlich vieles von einer spanischen Hotelangestellten erzählt wird (oder zumindest eine weibliche Stimme mit spanischem Akzent in ihrem Namen in der ersten Person spricht): nachdem sehr kalt ÜBER Benidorm und deren Bewohner gesprochen wird, werden letztere tatsächlich zu aktiven Erzählern gemacht.
Trotzdem der Film auch "schön" gefilmt ist, bleibt doch die Frage, wozu er eigentlich für wen gemacht war? Als etwas "trockener" Informationsfilm ist er sicherlich mehr gelungen denn als potentieller Werbefilm für die Region, den der Titel verspricht.
Für letzteres könnte auf eine gewisse Art und Weise eher LAS CHICAS DEL TANGA genutzt werden: Benidorm sehen und sterben... ähm... nein! Benidorm sehen und sich verlieben! Und abhängen. VIEL abhängen!
Hauptfilm:
LAS CHICAS DEL TANGA ("Thong Girls")
Regie: Jess Franco
Spanien 1983
35mm, spanische Originalfassung mit englischen Untertiteln
Abhängen in Benidorm: Liebeleien, Neckereien, kleine Betrügereien, Sonne, Strand, Sex, Musik, Rollschuhfahren und einiges mehr.
LAS CHICAS DEL TANGA als Strandkomödie zu bezeichnen dürfte vielleicht zu ambitioniert oder besser gesagt einschränkend sein, denn er ist vor allem ein leichtfüßiger Abhängfilm, der das Publikum dazu einlädt, relativ ziellos, heißt also: frisch, frech und frei durch Benidorm zu schlendern. Ein Regisseur wie Jess Franco, der immer an der Grenze zwischen narrativem Genrekino und kontemplativer Cine-Experience angesiedelt ist, war dafür offenbar der ideale Mann.
Der Film beginnt zunächst mit charakterfreien Impressionen von Benidorm am frühen Morgen. Für kurze Zeit (wenige Tage), die uns der Film präsentiert, dienen einige Figuren als lockerer "roter Faden": zwei kleine Kinder, die versuchen Kleingeld von Touristen abzubetteln, um Spielautomaten zu füttern; eine französische Touristin und der spanische Beau, der sich an sie ranhängt (der Beginn einer Liebesgeschichte); eine Prostituierte, die auf der Straße landet und von einem Bodybuilder beherbergt wird (der Beginn einer anderen Liebesgeschichte); eine kapriziöse Sängerin (Lina Romay) verbringt einen Kurzurlaub mit ihrer Sekretärin; ein holländischer Architekt fotografiert wie besessen den architektonischen Brutalismus der Stadt und wird immer wieder von der gleichen Rollschuhfahrerin umgefahren.
Einige der Dialoge wirken so, als wäre ein improvisierter Probetake gedruckt worden: im klassischen narrativen Erzählkino wäre das nicht so gut, in LAS CHICAS DEL TANGA entfaltet diese Spontanität einen immer wieder unwiderstehlichen Charme. Kino als Ansammlung kleiner flüchtiger Momente. Plaudern. Rumblödeln.
Interessante Info: der Film hat als Regie-Credit "Rosa Almirall". Das ist kein Pseudonym von Jess Franco, sondern der bürgerliche Name von Lina Romay. Regie führte tatsächlich Franco selbst, aber – so Christoph in seiner schönen Einführung zum Benidorm-Filmblock – er schenkte seiner Stammschauspielerin und Lebensgefährtin diesen Credit, damit sie persönlich auch nach seinem Tod weiter Tantiemen-Einnahmen bekommt (in der Annahme, dass er vor ihr sterben würde, wollte er ihr vor seinem Tod etwas "vererben" – tatsächlich starb sie tragischerweise im Alter von nur 57 Jahren vor Franco).
20.00 Uhr
LES AVENTURIERS ("Die Abenteurer")
Regie: Robert Enrico
Frankreich/Italien 1967
35mm, deutsche Fassung
Roland (Lino Ventura) und Manu (Alain Delon) sind Träumer und Abenteurer, tüfteln tagein, tagaus an Rennwagen und anderen Erfindungen, riskieren ihr Leben bei waghalsigen Flugzeugmanövern und haben überhaupt eine gute Zeit. Noch besser wird es, als die Künstlerin Lætitia (Joanna Shimkus) sich zu ihnen gesellt und das Trio schließlich aufbricht, um vor der Küste des Kongos nach einem Goldschatz zu suchen.
Für mich eine Zweitsichtung. Hier eine Umkehrung der Situation von MANNEKÄNG I RÖTT: die meisten Co-Zuschauer waren komplett begeistert, hin und weg. Ich kann intellektuell die meisten Argumente für den Film sehr gut nachvollziehen. In einem Nebengespräch nach dem Film habe ich einen Vergleich mit TWO-LANE BLACKTOP kurz mitgehört: ein eingespieltes Duo von Geschwindigkeits-Getriebenen, zu denen eine junge Frau dazustößt und die eine neue Dynamik reinbringt, alle auf einer flüchtigen und vergeblichen Suche nach einem Traum. Auch einen Vergleich zu L'AVVENTURA habe ich aufgeschnappt – LES AVENTURIERS als eine von Genre-Thrills getriebene Variation dessen. Ein Film über Abenteuer als Welt, in der man einfach selbst seine Träume erschafft und ihnen nachjagt – und wenn es verpufft, einfach zum nächsten. Alles nachvollziehbar und durchaus richtig.
Mich hat der Film leider auch beim zweiten Mal nicht so ganz begeistert und mitgenommen (der Verfremdungseffekt durch die deutsche Synchro war wenig hilfreich: Lino Venturas und Alain Delons Stimmen sind halt unersetzlich). Ich konnte nicht so richtig in den Rhythmus des Films "rein-grooven", wenn man das so formulieren möchte. In der ersten Hälfte zu viele kleine Episoden, die spektakuläre Elemente haben, aber irgendwie auch bei mir verpufft sind. Ein Overkill an "kleinen" Abenteuern (der verhinderte Flug durch den Arc de Triomphe, das Drag-Race-Auto, die Spielepisode im Casino). Das "größere" Abenteuer, das Tauchen nach einem versunkenen Goldschatz an der kongolesischen Küste, schafft zunächst einen klareren Fokus für das Abenteuer-Trio – und dadurch auch einen Raum, in dem sich Dynamik und Chemie der drei komplett entfalten dürfen. Eine lange Montage, die sie beim Fischen, Tauchen, Kochen, Essen und ganz einfach auch nur beim Rumblödeln zeigt, war für mich der schönste Moment des Films: hier hat sich der Zauber auf mich übertragen. Nach dem Verschwinden von Lætitia aus dem Film stellte sich bei mir dann leider keine Trauer ein, sondern einfach nur Leere. Manu und Roland wirkten für mich danach nur noch wie Trüblinge.
Das klingt leider alles schärfer, als ich es meine: LES AVENTURIERS ist fantastisch fotografiert in den ruhigen wie auch in den actionreichen Szenen, sieht von A bis Z wunderschön aus, als Zuschauer hängt man knapp unter zwei Stunden mit den zwei Weltklasse-Schauspielern Lino Ventura und Alain Delon ab und Joanna Shimkus wirkt tatsächlich wie eine – Paraphrase – "Jane Birkin in Gold", so Silvia Szymanski in ihrer poetischen Einführung. Sie bekommt dann auch ein eigenes musikalisches Thema im tollen Score von François de Roubaix.
Dennoch: aus der Feder des Drehbuchautors José Giovanni bevorzuge ich im gleichen Themenbereich LE RUFFIAN. Der kam 16 Jahre später raus, auch mit (einem natürlich reiferen) Lino Ventura, statt Alain Delon gibt es Bernard Giraudeau, statt Joanna Shimkus gibt es eine (auch reifere) Claudia Cardinale, statt von François de Roubaix gibt es von Ennio Morricone was Schönes auf die Ohren, aber ein Schatz wird da auch gesucht (allerdings am Fuß eines Wasserfalls in Kanada), wenn nicht grad Abenteurer-Unsinn betrieben wird.
22.30 Uhr
UBIJ ME NEŽNO ("Kill Me Softly")
Regie: Boštjan Hladnik
Jugoslawien 1979
35mm, slowenische Originalfassung mit englischen Untertiteln
In der Villa einer älteren Übersetzerin zünftig-erotischer Genreliteratur versammeln sich deren Nichte und ihr Ehemann, der Liebhaber der Nichte und die Verlegerin, die ein Auge auf die Nichte ihrer Angestellten geworfen hat. Mysteriöse Mordfälle wirbeln die Situation auf.
Möglicherweise lief der Film nicht zur idealsten Tageszeit, und ein Umtausch des Zeit-Slots mit dem Franco-Film wäre vielleicht ganz gut gewesen. Soweit ich es mitbekam, gehört er zu den ungeliebtesten Filmen des Terza. Schade, denn ein bisschen Liebe hat er schon verdient, dieser Film, den man – wenn er schon als Teil eines italienischen Genrefilm-Festivals läuft – wohl als eine surrealistisch-groteske, schwul-lesbische Giallo-Komödie bezeichnen könnte.
Das liest sich etwas spritziger als der Film schlußendlich war: ausgelassene Albernheit und eine manchmal sehr sperrige Erzählweise, tolle Einfälle und Halbgares, frei-assoziative Bilderpoesie und sprödes, fast bürokratisch anmutendes Auserzählen wechseln sich ab. Zwei junge Damen erscheinen beim Frühstück im Garten der Villa mit einem großen gelben Eimer voll Wasser, erzählen, dass da Fische drin sind, schnappen sich die Katze und werfen sie rein: das Wasser blubbert rot und sie holen dann ein Katzenskelett raus – die Fische waren nämlich Piranhas. Eine witziger, dunkel-humoriger, aus dem Handgelenk inszenierter Gag, der bei mir auf jeden Fall gezündet hat. Auf der anderen Seite des Spektrums: nach dem Showdown des Films folgt ein Twist, der relativ schnell klar ist, aber der Film formuliert das trotzdem gefühlt eine geschlagene Viertelstunde aus, bevor er in den letzten Sekunden wieder etwas Fahrt annimmt.
Tolles und Mittelmäßiges nebeneinander auch bei den Darstellern: die Männer, zumindest jene, die nicht in knappen Leder-Fetisch-Anzügen rumlaufen, waren kaum erinnerungswürdig. Aber die Frauen! Duša Počkaj, die bereits in Hladniks PLES V DEŽJU ("Dancing in the Rain") von 1961 mitgespielt hatte, gibt hier die enthemmte, saufende, immer leicht zornige und angepisste Übersetzerin und Villen-Herrin. Die schöne, androgyne Marina Urbanc spielt ihre Verlegerin, die in die entgleisende Dreier-Beziehung reinpfuscht und schließlich auch die Frau im Trio verführt.
Der Slowene Boštjan Hladnik war, so André in seiner improvisierten, sehr liebevollen Einführung, der erste offen schwule Regisseur Jugoslawiens und einer der ersten, der queere Figuren und Themen in jugoslawische Filme brachte. In der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien war Homosexualität seit den 1950er Jahren gesetzlich verboten, 1977 wurden die kriminalisierenden Gesetze in einigen Teilrepubliken (Slowenien, Kroatien, Montenegro) und in der autonomen serbischen Provinz Vojvodina abgeschafft. UBIJ ME NEŽNO erschien also zwei Jahre nach einer Teil-Liberalisierung. Am explizitesten wird UBIJ ME NEŽNO bei der lesbischen Beziehung zwischen der Verlegerin und der Nichte der Übersetzerin. Die Motorrad-Gang, die ab und zu die Villa besucht, ist allerdings implizit (oder auch nicht so implizit) schwul.
Womit wir beim absoluten Höhepunkt des Films wären, zwei Momente, in denen der Film in einen "ecstatic queer gangbang-like-dancing disco"-Modus umschaltet: die Übersetzerin hat sich eine Gruppe von Bikern nach Hause eingeladen, um mit ihnen Disco zu tanzen und sich an ihren knackigen, geilen, schwitzenden, in bis knapp vor dem Schritt aufgezippten Leder-Fetisch-Monturen gekleideten Körpern zu laben – und die Kamera tanzt mit und labt sich auch, zoomt pumpend in Schritte ein, wirkt manchmal fast so als würde sie durch die Kraft des Zoom-Ins die Reißverschlüsse weiter nach unten reißen wollen, während "Just kill me softly, na-na-na na-na-na, na-na-na na-na-na, na-na-na na-na-na, ha-ha!" aus den Lautsprechern hämmert! Zu solcher Ekstase schwingt sich der Film dann nie wieder auf (ja, danach kommt teilweise eben nur noch: Kater). Kein Ersatz, das auf einer großen Leinwand von einer wunderbaren, farbigen 35mm-Kopie zu erleben, aber hier zumindest eine kleine Impression.