Polen 1961
Regie: Jerzy Kawalerowicz
Darsteller: Lucyna Winnicka (Mutter Joanna), Mieczysław Voit (Jozef Suryn/Rabbi), Anna Ciepielewska (Schwester Małgorzata), Stanisław Jasiukiewicz (Chrząszczewski), Kazimierz Fabisiak (Pater Brym), Maria Chwalibóg (Antosia), Zygmunt Zintel (Wirt)
Pater Jozef trifft zunächst Pater Brym, den örtlichen Pfarrer der Gegend. Der hält sich von den Angelegenheiten des Klosters mit ihren theologischen Fallstricken fern und kümmert sich lieber um seine Pfarrei. Außerdem sorgt er für die beiden kleinen Kinder des hingerichteten Pater Garniec, der also den "fleischlichen Gelüsten" nicht ganz abgeneigt war. Brym warnt Suryn vor seiner schweren und gefährlichen Aufgabe. Dessen erste Begegnung mit Mutter Joanna verläuft zunächst in normalen Bahnen. Man begrüßt sich förmlich, und Joanna erzählt von ihren angeblichen nächtlichen Begegnungen mit Garniec, und sie bittet darum, von ihren acht Dämonen - die sie namentlich aufzählt - befreit zu werden. Als sie sich bereits verabschiedet hat, schlägt ihr Verhalten jäh um. Mit raubtierhaften Bewegungen umkreist sie den Innenhof des Klosters, sie beschimpft und bespuckt Suryn, und sie behauptet, dass sie nicht Joanna, sondern ein Dämon sei. Als sie den Hof verlässt, hinterlässt sie an der Wand neben der Tür einen schwarzen Handabdruck. Wenig später beobachtet der schockierte Pater, wie die übrigen Nonnen in kreisenden Bewegungen wie Derwische sich in Trace tanzen.
Die einzige der Nonnen, die offenbar immun gegen die befremdlichen Vorgänge ist, ist Schwester Małgorzata, die bodenständige und lebenslustige Pförtnerin des Klosters. Sie äußert sich spöttisch über die Vorfälle und bezeichnet den rußigen Handabdruck als "Mutter Joannas Trick". Ihre Funktion als Pförtnerin erlaubt es ihr, gelegentlich das Kloster zu verlassen, um sich im Gasthaus mit Antosia, der Bedienung, und den Gästen zu unterhalten. Bei einem dieser Ausflüge trifft sie einen jungen Adligen mit dem leicht zu merkenden Namen Chrząszczewski, der gekommen ist, um sich über die Dinge im Kloster zu informieren. Małgorzata trinkt diesmal sogar ein Glas Honigwein und singt ein Ständchen zu Antosias Lautenspiel, und Chrząszczewski flirtet mit ihr.
Am nächsten Tag findet in der Klosterkirche eine Sitzung statt, bei der die Dominikaner versuchen, im Beisein aller Nonnen Mutter Joannas Dämonen auszutreiben, doch der Erfolg ist begrenzt. Die Szene, einer der Höhepunkte des Films, gibt Lucyna Winnicka die Gelegenheit zu einer ziemlich spektakulären Performance. Pater Suryn beschließt daraufhin, Mutter Joanna in einem Raum auf dem Dachboden des Klosters zu isolieren, um ihre Heilung voranzubringen. Bei der ersten "Einzelsitzung" der beiden wird offensichtlich, dass Joannas emotionales und erotisches Interesse - das zuvor auf Garniec gerichtet gewesen sein mag - nun Pater Jozef gilt. Sie spricht es nicht aus, doch ihre Blicke sprechen Bände. Doch auch Jozef wird von entsprechenden Anwandlungen überfallen, die er - natürlich erfolglos - mit Selbstgeißelungen zu bekämpfen versucht. Als sich etwas später Jozef und Joanna beide gleichzeitig im Dachgeschoß mit bloßem Oberkörper geißeln, nur durch zum Trocknen aufgehängte Wäsche getrennt, ist die erotisch aufgeladene Spannung zum Greifen.
Der zunehmend verwirrte und auch körperlich angeschlagene Pater Jozef sucht unabhängigen Rat bei einem Rabbi (der vom selben Darsteller, Mieczysław Voit, gespielt wird). In einer Schlüsselszene des Films entspinnt sich ein theologischer und philosophischer Diskurs um Dämonen und Engel, das Böse in der Welt und die Natur des Menschen. Der Pater gerät im Disput mit dem Rabbi, der als Ursache für das menschliche Unglück ausgerechnet die Liebe anführt, in die Defensive und ist am Ende mehr verwirrt als zuvor. In einer weiteren Schlüsselszene gesteht Joanna dem Pater, der nun selbst Erlösung von den "Dämonen" sucht, dass sie es genießt und stolz darauf ist, "besessen" zu sein, weil es ihr erlaubt, ihre Bedürfnisse auszuleben, die ihr sonst absolut verwehrt wären. Wenn sie keine Heilige sein kann, dann will sie lieber besessen und verdammt sein, als das eintönige Leben einer gewöhnlichen Nonne zu führen.
Pater Brym ist besorgt über den schlechten Zustand seines Kollegen und gibt ihm den Rat, sich in sein Kloster zurückzuziehen, um sich zu erholen, doch Suryn lehnt ab. Unterdessen sind sich Schwester Małgorzata und Chrząszczewski nähergekommen. Sie fasst den Entschluss, das Kloster zu verlassen, um Chrząszczewski zu heiraten. Im Gasthof hat sie bereits ihre Nonnentracht abgelegt und tanzt mit ihm. Dabei werden sie von Suryn überrascht, doch in seinem inzwischen desolaten Zustand nimmt er kaum Notiz davon. Małgorzata verbringt die Nacht mit Chrząszczewski, doch der bekommt kalte Füße und macht sich im Morgengrauen mit seinem Diener aus dem Staub. Der gedemütigten Małgorzata bleibt nichts anderes übrig, als ins Kloster zurückzukehren. Pater Suryn ist mittlerweile zur Überzeugung gelangt, dass die Dämonen von Joanna auf ihn übergegangen sind. Aus Liebe zu ihr will er dafür sorgen, dass das so bleibt, dass die Dämonen also nicht in sie zurückkehren können. Um das zu gewährleisten, begeht er eine unfassbare Tat ...
Die Handlung von MUTTER JOHANNA VON DEN ENGELN beruht auf realen Ereignissen, die sich in den 1630er Jahren in Loudun in Frankreich zutrugen. Nach Anschuldigungen der Oberin Jeanne des Anges (bürgerlich Jeanne de Belcier) und weiterer Nonnen wurde der Priester Urbain Grandier 1634 gefoltert und verbrannt, und der Jesuitenpater Jean-Joseph Surin spielte eine prominente Rolle in der Angelegenheit. Die Vorfälle von Loudun inspirierten eine Reihe von Künstlern, u.a. Alexandre Dumas d.Ä. zu seinem Stück "Urbain Grandier" (1850), Aldous Huxley zu seinem Roman-Essay "The Devils of Loudun" (1952), Krzysztof Penderecki zur Oper "Die Teufel von Loudun" (1969) und Ken Russell zu seinem (auch für Russell-Verhältnisse) recht wüsten Film THE DEVILS (1971). Der polnische Schriftsteller Jarosław Iwaszkiewicz verlegte seine Kurzgeschichte "Matka Joanna od Aniołów" (geschrieben 1942, veröffentlicht 1946) ins polnisch-ukrainisch-russische Grenzgebiet. Die angebliche Besessenheit von Loudun wird heute üblicherweise als durch unterdrückte Sexualität hervorgerufene Massenneurose der Nonnen interpretiert, und Kawalerowicz schließt sich dieser Deutung an. Sie wird im Film nicht mit dem Holzhammer präsentiert, ergibt sich aber zwanglos aus der Handlung, und sie wurde von Kawalerowicz in einem Interview von 2001 explizit bestätigt:
MATKA JOANNA OD ANIOŁÓW ist ein Film gegen Dogmen. Das ist die universelle Botschaft des Films. Es ist eine Liebesgeschichte über einen Mann und eine Frau, die Kirchenkleider tragen, und deren Religion ihnen nicht erlaubt, sich zu lieben. Sie reden und lehren oft über die Liebe - wie man Gott liebt, wie man den Anderen liebt - und doch können sie wegen ihrer Religion die Liebe eines Mannes und einer Frau nicht besitzen. Dieses Dogma ist selbst inhuman. Die Teufel, die diese Charaktere besessen, sind die externen Manifestationen ihrer unterdrückten Liebe. Die Teufel sind wie Sünden, ihrer menschlichen Natur entgegengesetzt. Es ist, als ob die Teufel dem Mann und der Frau eine Entschuldigung für ihre menschliche Liebe geben. Durch diese Entschuldigung sind sie fähig zu lieben.
Die Stilisierung des kargen, öden Schauplatzes hebt den Film aus einem zu engen historischen und antikatholischen Kontext heraus und verleiht ihm eine gewisse Zeitlosigkeit, die weitere Interpretationen erlaubt, beispielsweise als verschlüsselte Kritik an der erstarrten kommunistischen Orthodoxie, worauf ich hier nicht weiter eingehen will. Dennoch, die katholische Kirche mochte die Botschaften des Films nicht. MUTTER JOHANNA VON DEN ENGELN lief 1961 bei den Filmfestspielen in Cannes und gewann den Spezialpreis der Jury. Im selben Wettbewerb gewann Luis Buñuels VIRIDIANA die Goldene Palme. Unmittelbar nach der Preisverleihung griff der Korrespondent des Vatikan-Blattes L'Osservatore Romano, ein gewisser Padre Fierro, VIRIDIANA und MUTTER JOHANNA VON DEN ENGELN in einem Artikel seiner Zeitung scharf an. Es sei eine Schande, meinte er, dass ausgerechnet aus zwei katholischen Ländern wie Spanien und Polen zwei so blasphemische Filme kämen. Weitere Angriffe von katholischer Seite gegen beide Filme folgten. Der Skandal war kostenlose Werbung für VIRIDIANA, und Buñuel freute sich sehr darüber. Ob Kawalerowicz das auch so sah, ist mir nicht bekannt, aber MUTTER JOHANNA VON DEN ENGELN war jedenfalls nicht nur künstlerisch, sondern auch kommerziell einer seiner erfolgreichsten Filme. Er gewann weitere Preise, darunter 1963 einen in Oberhausen, und auch für Lucyna Winnicka, zwei der Nebendarsteller und Kameramann Jerzy Wójcik gab es Auszeichnungen. In der Tat ist die Kameraarbeit, die die kargen Schauplätze kontrastreich und ausdrucksstark einfängt, bemerkenswert, und die Darsteller sind ausgezeichnet, allen voran die phänomenale Lucyna Winnicka. Sie war Kawalerowicz' zweite Frau und spielte in sechs seiner Filme, meistens Hauptrollen.
Jerzy Kawalerowicz (1922-2007) drehte von 1952 bis 2001 17 Filme, und 1961 war er bereits ein arrivierter Regisseur. Als es 1955 zu einer Liberalisierung und Umorganisation im polnischen Filmwesen kam, wurde das Filmstudio Kadr gegründet, und der noch junge Kawalerowicz wurde dessen künstlerischer Leiter, was er bis 1968 blieb und nach Auflösung und Neugründung des Studios 1972 wieder wurde. Chefdramaturg bei Kadr war der Schriftsteller und Regisseur Tadeusz Konwicki, der zusammen mit Kawalerowicz die Kurzgeschichte von Iwaszkiewicz zum Drehbuch von MUTTER JOHANNA VON DEN ENGELN verarbeitete. Konwicki war auch an zwei weiteren von Kawalerowicz' Filmen am Buch beteiligt. Zu den Regisseuren von Kadr, wo Kawalerowicz fast alle seine Filme drehte, gehörten beispielsweise auch Andrzej Munk und Andrzej Wajda. Das Studio wurde so zu einer Keimzelle der "Polnischen Schule", deren Regisseure sich hauptsächlich mit dem Zweiten Weltkrieg und den Nachwirkungen des Kriegs und der Besatzung auf die polnische Nachkriegsgesellschaft beschäftigten. Kawalerowicz selbst widmete sich mit DER SCHATTEN (1956) und DAS WAHRE ENDE DES GROSSEN KRIEGES (1957) diesen Themen, bevor er sich allgemeineren psychologischen und existentiellen Stoffen zuwandte. Mit dem in Deutschland gedrehten BRONSTEINS KINDER (1991), nach einem Stoff von Jurek Becker, behandelte er nochmals die Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Doch er bewältigte mit PHARAO (1966) und QUO VADIS? (2001) auch zwei sehr aufwendige Historienepen. Kawalerowicz war 1966 einer der Gründer und von 1966 bis 1978 Präsident der Vereinigung der polnischen Filmschaffenden und von 1985 bis 1989 Abgeordneter im Sejm. Er erhielt zwei Ehrendoktorwürden und weitere Auszeichnungen und Preise für seine Filme.
MUTTER JOHANNA VON DEN ENGELN ist in England bei Second Run und in den USA bei Facets auf DVD erschienen (engl. MOTHER JOAN OF THE ANGELS).
Von Jerzy Kawalerowicz kenne ich nur seinen epochalen Historienfilm "Pharao", der mich schon als junger Mann stark fasziniert hatte. Immerhin gibt es davon ja eine brauchbare DVD. Leider sieht es sonst hierzulande mit weiteren Titeln nicht so gut aus. Von der englischen DVD habe ich wenig Gutes gehört. Andererseits wären englische oder deutsche Untertiel für mich notwendig. Wenn ich lese, dass dieser Film in Cannes und in Oberhausen ausgezeichnet wurde, dann ist es wieder mal sehr beschämend für den deutschen DVD-Markt, wie wenig selbst herausragende Filme aus den Nachbarländern gepflegt werden.
AntwortenLöschenDanke also für die sehr ausführliche und sehr aufschlussreiche Pionierarbeit zur Wiederentdeckung. Schon die wenigen Screenshots strahlen dieselbe Bildkraft aus, die ich auch an "Pharao" bewundert habe. Den Film würde ich sofort kaufen, ja, ließe man mich nur ;)
Da kann ich Sieben Berge nur zustimmen, mag ich vom polnischen Film auch mal wieder gar keine Ahnung haben (diesem Manquo in Sachen Film aus dem ehemaligen Ostblock muss ich bei Gelegenheit auf den Grund gehen!).
AntwortenLöschenUnd: Mensch, Manfred! Könnte man deine Entscheidung mit einem österlicheren Film toppen? Da dürfte sogar Jaques Rivettes "La religieuse" (1966) mit Liselotte Pulver als lesbischer Mutter Oberin vor Neid erblassen, obwohl laut "Stern" schon den ein unschuldiges, auf Erbauung hoffendes Grüppchen schwarzweisser Nönnchen entsetzt geflohen sein soll. - Überhaupt interessant, dass gerade die 60er die "Klosterproblematik" derart aufgrifen.
@Sieben Berge:
AntwortenLöschenDie Bildqualität der engl. DVD ist wirklich schlecht, wie man auch an meinen Screenshots sieht, wenn man sie vergrößert. Da wurde offenbar ein Magnetband als Vorlage benutzt, das auch noch recht alt sein soll. Über die US-DVD weiß ich nichts, allerdings ist Facets allgemein dafür berüchtigt, keine guten DVD-Transfers hinzubekommen.
@Whoknows:
Eigentlich war die Besprechung gar nicht als Osterei geplant. Mit einem etwas anderen Timing hätte sie ja vor der CURRYWURST, also vor einer Woche oder noch etwas eher, erscheinen können. Aber so passt es jetzt perfekt.
PS: Ich hoffe, die verschreckten Nonnen haben sich nicht in Su Friedrichs DAMNED IF YOU DON'T verirrt.
"Damned If You Don't"! :) - Das ging ja zu in den Nonnenklöstern! --- Nein, ich denke, die Nönnchen schlugen eher den Rückwärtsgang ein und fühlten all die Zweifel, mit denen sie in jungen Jahren zu kämpfen hatten, in Zinnemann's "The Nun's Story" (1956) gut aufgehoben. Wer hätte nicht Verständnis für Audrey Hepburn aufgebracht, die auch ohne Aussicht auf Peter Finch dem Klosterleben am Ende entsagte?
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