Donnerstag, 15. November 2012

Fūkeiron - Landschaft mit Serienmörder

A.K.A. SERIAL KILLER (RYAKUSHŌ RENZOKU SHASATSUMA)
Japan 1969/75
Regie: Masao Adachi


Um es vorwegzunehmen: A.K.A. SERIAL KILLER hat mit dem Genre des Serienkillerfilms nichts zu tun, obwohl die reale Geschichte eines vierfachen Mörders nacherzählt wird. Der Film wird gelegentlich als Dokumentation bezeichnet, aber das trifft es auch nicht ganz. Es gibt keine Aufnahmen des Mörders aus Fernseh- oder Wochenschauberichten zu sehen, keine aktuellen Aufnahmen der unmittelbaren Tatorte, keine Interviews mit Zeugen, Polizisten, Anwälten oder Angehörigen der Opfer. Was es zu sehen gibt, sind Bilder der Orte, in denen der Mörder im Lauf seines Lebens gelebt hat, und von denen er - nach Ansicht Adachis und seiner Mitstreiter - geprägt wurde. Ich würde A.K.A. SERIAL KILLER am ehesten als Essayfilm bezeichnen. Tatsächlich hat er mich etwas an SANS SOLEIL von Chris Marker erinnert, der als der Essayfilm schlechthin gilt und zu einem großen Teil in Japan gedreht wurde. Sein (nicht unberechtigtes) Image als Vertreter des unabhängigen japanischen Sexfilms (pink film, japan. pinku eiga) hat Adachi mit diesem Film unterlaufen, und sein (erst recht berechtigtes) Image als politischer Radikalinsky scheinbar auch - aber nur scheinbar.


Der Film beginnt mit einer Texttafel: "Im Herbst letzten Jahres gab es vier Mordfälle, die in vier Städten mit derselben Schusswaffe begangen wurden. Diesen Frühling wurde ein 19-jähriger Mann verhaftet. Er wurde als der "Schusswaffen-Serienmörder" bekannt". Der Name des Täters wird weder hier noch später im Film genannt, aber das war auch nicht notwendig, weil damals in Japan auch so jeder wusste, wer gemeint war. Zwischen dem 11. Oktober und dem 5. November 1968 erschoss der 19-jährige Norio Nagayama bei vier Überfällen jeweils einen Mann. In einem Land mit einer so geringen Verbrechensquote wie damals in Japan war das ein ungemein spektakulärer Vorgang. Bei einem erneuten versuchten Überfall im April 1969 wurde Nagayama festgenommen. Er wurde zum Tod verurteilt, und nach langwierigen Gerichtsverhandlungen wurde das Todesurteil 1990 endgültig bestätigt. Nagayama, der im Gefängnis ein erfolgreicher Schriftsteller geworden war, wurde 1997, fast 29 Jahre nach seinen Taten, gehängt, auf die in Japan übliche Art: Der Delinquent erfährt erst am Tag der Hinrichtung von seinem unmittelbar bevorstehenden Ableben, Angehörige und Anwälte erfahren erst hinterher davon, und die Öffentlichkeit wird von den Behörden überhaupt nicht informiert.


Doch das lag 1969 noch in weiter Zukunft. Nach der Texttafel wird die Geschichte Nagayamas bis zu seiner Verhaftung von einem Sprecher verlesen: Adachi selbst, der mit sachlicher Stimme, ohne Anteilnahme oder Sensationalismus, in kleinen Texthäppchen die wichtigsten äußeren Stationen von Nagayamas Biographie vorträgt: Ort und Jahr der Geburt, Zahl der Geschwister, wann die Familie von dieser in jene Stadt umzog. Dialoge oder sonstigen gesprochenen Text außer diesen kurzen Statements gibt es nicht. Schon als Grundschüler reisst Nagayama zum ersten Mal aus, wird wieder eingefangen und zurückgebracht. Über die Gründe dafür, allgemein über Nagayamas Innenleben, erzählt der Text nichts. Mehrere Anläufe Nagayamas, eine höhere Schule zu besuchen, bricht er schnell wieder ab, und in den Gelegenheitsjobs, die er dazwischen ausübt, hält er es auch nicht lange aus. Er wohnt in irgendwelchen provisorischen Unterkünften, und es gibt weitere Ausreissversuche, sogar als blinder Passagier auf einem Schiff, aber alle scheitern. Er wird mehrfach durch kleine Diebstähle auffällig, aber immer glimpflich oder gar nicht bestraft. Meist hilft ihm einer seiner Brüder aus der Patsche. Als er nichts besseres mehr mit sich anzufangen weiß, meldet er sich freiwillig zur Armee, aber er wird abgewiesen. Anfang Oktober 1968 stiehlt er in einer amerikanischen Militärbasis den kleinkalibrigen Revolver, mit dem er kurz darauf mit den Überfällen beginnt.


Dazu gibt es, wie gesagt, dokumentarische Bilder von den jeweiligen Orten: Angefangen mit der Kleinstadt in Hokkaido, in der Nagayama geboren wurde, über seine verschiedenen Stationen bis Harajuku in Tokyo. Es gibt Straßen und Gebäude zu sehen, öffentliche Verkehrsmittel, Passanten, Menschen bei der Arbeit, zwischen den meist urbanen Schauplätzen gelegentlich auch ländliche Gegenden. Statische Aufnahmen, Zooms, lange Schwenks, Aufnahmen aus dem fahrenden Auto heraus. Wer mag, kann die Stationen hier nachvollziehen. Adachi und sein Team brauchten vier Monate, um sie abzuklappern. Die wichtigste Erkenntnis, die sie dabei für sich selbst gewannen, war der Eindruck einer weit fortgeschrittenen Homogenisierung, einer Uniformisierung der Landschaften: Überall im japanischen Archipel sah es im Grunde gleich aus. Das unterschied ihre Reise von derjenigen Nagayamas - dessen "Reise" hatte ja 19 Jahre gedauert.


Der gesprochene Text nimmt zusammengenommen nur einen sehr kleinen Teil der Laufzeit des Films ein. Dazwischen gibt es lange bis sehr lange wortlose Passagen, in denen neben den Bildern auch der free-jazzige Soundtrack dominiert, der Schlagzeug und traditionelle japanische Schlaginstrumente mit Saxophon vereint. Neben ruhigen Passagen gibt es dabei immer wieder schrille Misstöne und jähe Crescendi, die die Bilder wirkungsvoll akzentuieren. Eingespielt wurde der Score vom Schlagzeuger Masahiko Togashi und dem Saxophonisten Mototeru Takagi, und der Musikkritiker Hisato Aikura war auch irgendwie an der Entstehung beteiligt.


Nach einer guten Dreiviertelstunde, etwas mehr als Halbzeit des Films, sagt der Sprecher folgendes: "Der erste Zwischenfall ereignete sich am 11. Oktober beim Tokyo Prince Hotel, der zweite am 14. Oktober beim Yasaka-Schrein in Kyoto, der dritte am 26. Oktober auf einer Straße in einer Vorstadt von Hakodate in Hokkaido, und der vierte am 5. November auf einer Straße in Nagoya." Die "Zwischenfälle" sind die Überfälle mit den Morden, und mehr als das erfährt man über die Tathergänge nicht. Nach diesem Angelpunkt des Films folgt die mit 24 Minuten bei weitem längste wortlose Passage. Danach gibt es nur noch zwei Texthäppchen: Nach den Morden vergräbt der Täter die Waffe in einem Versteck, und nach einigen Monaten gräbt er sie wieder aus, um den Überfall zu begehen, bei dem er dann geschnappt wird. Am Ende des Films schließt sich der Kreis: Es wird nochmal dieselbe Texttafel wie am Anfang eingeblendet.


Was will uns Adachi mit diesem Film sagen? Will er überhaupt etwas sagen? Ja, er will. Adachi, dessen Anfänge um 1960 im studentischen Experimentalfilm lagen, verfolgte schon damals Ansätze zum Kollektivfilm, in dem der einzelne Autor (oder auteur) in den Hintergrund tritt. 1969 nahm er diese Tendenzen wieder auf, wohl inspiriert von der Groupe Dziga Vertov, die Jean-Luc Godard, Jean-Pierre Gorin und andere 1968 aus der Taufe hoben. Adachi, der Drehbuchautor Mamoru Sasaki, der Filmkritiker Masao Matsuda und einige weitere Gleichgesinnte gründeten die Gruppe "Kritische Front" (Hihyō Sensen) und entwarfen gemeinsam eine "Theorie der Landschaft" (fūkeiron). Unter "Landschaft" verstanden sie nicht nur natürliche Landschaften, sondern auch und vor allem die vom Menschen geschaffenen Kultur- und Stadtlandschaften, die, so die Theorie, die herrschenden politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse widerspiegeln, und die einen bestimmenden Einfluss auf die darin lebenden Menschen ausüben. Gesellschaftskritische Filme sollten sich nun nicht mehr mit "Situationen", sondern mit diesen "Landschaften" auseinandersetzen. A.K.A. SERIAL KILLER war der erste und prototypische Film, der die Prinzipien von fūkeiron in die Tat umsetzen sollte. In einer Filmzeitschrift, die die Gruppe 1970 gründete, wurden fūkeiron und andere Aspekte linken Filmschaffens weiter diskutiert. Der kürzlich verstorbene Kōji Wakamatsu, mit dem Adachi jahrelang eng zusammenarbeitete, gehörte zwar nicht zu Hihyō Sensen, aber zumindest sein RUNNING IN MADNESS, DYING IN LOVE von 1969, zu dem Adachi das Drehbuch schrieb, ist auch von fūkeiron geprägt. Ungefähr zur selben Zeit entwickelte auch Nagisa Ōshima (mit dem Adachi ebenfalls zusammengearbeitet hat) ähnliche Ideen, die einige seiner Filme beeinflussten, v.a. BOY (1969).


Ich muss gestehen, dass mir Adachis Absichten beim ersten Sehen von A.K.A. SERIAL KILLER weitgehend verborgen blieben. Da ich seine radikalen politischen Ansichten schon länger kannte, erwartete ich etwas in der Richtung "der Mörder wurde erst vom Staat oder der Gesellschaft dazu gemacht" - allein, ich konnte es aus dem Film nicht herauslesen. Allenfalls Bilder von Militär und martialisch auftretender Polizei gegen Ende des Films schienen Gesellschaftskritik zu transportieren. Der gesprochene Text vermeidet jede Schuldzuweisung oder Erklärung für Nagayamas Taten, und die Gesamtheit der Bilder, unterstützt vom Soundtrack, wirkte auf mich wie ein Filmgedicht oder eine filmische Meditation über die japanische Gegenwart von 1969, ohne klare politische Stoßrichtung. Das wurde dadurch befördert, dass ein Teil der Bilder trotz ihres dokumentarischen Charakters von erlesener Schönheit ist - da war ein Könner an der Kamera am Werk. (Kameramann Yutaka Yamasaki gibt mir übrigens Rätsel auf. Laut IMDb war A.K.A. SERIAL KILLER sein erster Film, und sein zweiter war AFTER LIFE (1998) von Hirokazu Koreeda, für den Yamasaki seitdem noch mehrmals arbeitete. Was hat Yamasaki in den 29 Jahren zwischen seinem ersten und zweiten Film gemacht? Ich weiß es nicht.) Trotz oder vielleicht auch wegen seiner Uneindeutigkeit hat mich A.K.A. SERIAL KILLER schon bei der ersten Sichtung fasziniert. Nachdem ich nachgelesen habe, was es mit fūkeiron auf sich hat, und ihn dann nochmals ansah, hat sich die Faszination durchaus gehalten, wenn nicht sogar noch gesteigert. Aus Gründen, die mir nicht bekannt sind, wurde A.K.A. SERIAL KILLER nach seiner Fertigstellung zunächst nicht veröffentlicht, sondern er kam erst 1975 heraus. Mich würde interessieren, inwieweit das damalige japanische Publikum Adachis Absichten verstand, ohne vorher in Interviews oder Manifesten davon gelesen zu haben, aber leider weiß ich nichts darüber.


Nachdem im Juli 1973 Terroristen der "Japanischen Roten Armee" (Nihon Sekigun oder JRA für Japanese Red Army) ein japanisches Flugzeug über den Niederlanden entführt hatten, trat Adachi als Sprecher dieser Gruppierung in Erscheinung. Die JRA war u.a. für das Gemetzel im Flughafen von Tel Aviv im Jahr 1972 (26 Tote und Dutzende Verletzte) verantwortlich. 1974 tauchte Adachi im Libanon unter, um sich endgültig der JRA anzuschließen. Erste Kontakte zu der Gruppe hatte er schon 1971 geknüpft. Adachi und Kōji Wakamatsu legten auf der Rückreise von Cannes einen Zwischenstopp in Beirut ein und drehten dort (wiederum mit fūkeiron im Hinterkopf) die Propaganda-Doku SEKIGUN - PFLP: SEKAI SENSŌ SENGEN (RED ARMY - PFLP: DECLARATION OF WORLD WAR) über die JRA, die sich gerade erst im Libanon etabliert hatte, und ihre Gastgeber von der "Volksfront zur Befreiung Palästinas" (PFLP). Adachis Leben im Untergrund dauerte bis 1997. Dann wurden er, die JRA-Gründerin und -Führerin Fusako Shigenobu und drei weitere Mitglieder im Libanon verhaftet und zu einer dreijährigen Haftstrafe wegen Passfälschung verurteilt. Im Jahr 2000 wurden dann vier der fünf, darunter Adachi und Shigenobu, nach Japan ausgeliefert. Weil man ihm keine direkte Beteiligung an Anschlägen nachweisen konnte, wurde Adachi in Japan wiederum wegen Passfälschung zu einer weiteren kurzen Haftstrafe verurteilt, und seit September 2001 ist er frei (Shigenobu wurde dagegen zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt). Was genau Adachi in den 23 Jahren im Untergrund gemacht hat, ist noch ziemlich im Dunkeln. In den Interviews, die er seit 2001 gegeben hat, wird das Thema weitgehend umschifft (zumindest in denen, die ich gelesen habe). Man könnte fast den Eindruck gewinnen, er sei nur auf einem sehr langen Abenteuerurlaub gewesen. Die Journalistin Regine Igel schreibt aber in einem Artikel in Telepolis, dass sich anhand von Stasi-Dokumenten nachweisen lasse, dass Adachi sich als Strippenzieher der JRA im Hintergrund betätigte. Mindestens seit 1987 und wahrscheinlich schon vorher waren Adachi und Shigenobu auch als Agenten der Stasi registriert, so Igel in ihrem Artikel. Was immer Adachi da nun tatsächlich getrieben hat - er ist und bleibt eine schillernde Figur.


Mehr über Masao Adachi gibt es hier auf Deutsch und hier auf Englisch. 2011 drehte der Künstler Eric Baudelaire als Teil einer Ausstellung, die in Frankreich, Spanien und England gezeigt wurde, den Dokumentarfilm L'ANABASE DE MAY ET FUSAKO SHIGENOBU, MASAO ADACHI ET 27 ANNÉES SANS IMAGES (Mei oder May Shigenobu ist die Tochter von Fusako), und zwar interessanterweise nach den Prinzipien von fūkeiron. Der Miterfinder der "Theorie der Landschaft" wird also selbst zum Untersuchungsobjekt seiner Theorie. Ob man daraus wirklich etwas Konkretes über Adachis Aktivitäten erfährt, weiß ich aber nicht. - 1970 drehte Kaneto Shindō den Spielfilm HEUTE LEBEN, MORGEN STERBEN (HADAKA NO JŪKYŪ-SAI), der eng an die Geschichte von Norio Nagayama angelehnt ist.

2 Kommentare:

  1. In der Tat eine interessante und schillernde Figur.
    Wenn „A.K.A. Serial Killer“ erst sechs Jahre nach Fertigstellung veröffentlicht wurde, gab doch eine massive Entfernung vom realen Kontext, da die Erinnerung an Nagayama in der Zwischenzeit wohl verblasst war. Das muss auf das Publikum sehr befremdlich gewirkt haben. Besonders in dem Wissen, dass der Regisseur ein Jahr zuvor als Rotbrigadist im Libanon untergetaucht war.
    Vom Konzept her erinnert mich das ganze spontan an Sergej Loznicas Dokumentar-Essay „Fabrika“: lange fixe Einstellungen und Kamerafahrten durch eine russische Metallfabrik, die durch ihre schlichte Schönheit und ihre (scheinbare) Aussagenlosigkeit eine ungeheure Faszination entwickeln. Eine gewisse ästhetische Beeinflussung scheint hier durchaus möglich zu sein (wenngleich dann ohne den politisch radikalen Hintergrund).
    Und wieder einmal kann ich nur kopfschüttelnd – über mich selbst – sagen: Oh Japan, du unbekanntes Land. In diesem Jahr nur einen japanischen Film gesehen, und das auch nur, weil der geschätzte vannorden mich damit versorgt hatte...

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    1. Ganz verblasst war das Thema Nagayama 1975 vermutlich nicht, weil das Verfahren gegen ihn noch andauerte (der erste Prozess kam erst 1979 zum Ende, und dann gingen die Berufungen weiter bis 1990), aber so akut wie 1969 war es sicher nicht. Ich weiß auch gar nicht, wie groß die Verbreitung des Films dann in regulären Kinos war. RED ARMY - PFLP: DECLARATION OF WORLD WAR wurde wegen seiner politischen Brisanz der Zugang zu den Kinos ganz verwehrt. Stattdessen tourte er in einem roten Kino-Bus durch die Lande, das Publikum bestand wohl hauptsächlich aus Studenten, Gewerkschaftern etc. Adachi wurde nach seinem Abtauchen unter Japans Linken zu einer Art Mythos, weil keiner genau wusste, was er da so trieb. Aber ich weiß nicht, ob das allgemeine Kinopublikum davon grioß Notiz nahm.

      A.K.A. SERIAL KILLER kann man übrigens komplett und mit Untertiteln auf YouTube ansehen, natürlich in bescheidener Qualität.

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