Freitag, 10. Mai 2013

Eine Landpartie fällt ins Wasser ... und taucht wieder auf

PARTIE DE CAMPAGNE (EINE LANDPARTIE)
Frankreich 1936/46
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Sylvia Bataille (Henriette), Georges Darnoux (als Georges Saint-Saens, Henri), Jane Marken (als Jeanne Marken, Madame Dufour), Gabriello (Monsieur Dufour), Jacques-Bernard Brunius (als Jacques Borel, Rodolphe), Paul Temps (Anatole), Gabrielle Fontan (Großmutter), Jean Renoir (Père Poulain), Marguerite Renoir (Kellnerin)

"Mit PARTIE DE CAMPAGNE (Sommer 1936) beginnt die vielleicht ›Renoirst'sche Periode‹. Der Film ist wie ein Bild seines Vaters und aller anderen Impressionisten zusammen." (Jacques-Bernard Brunius: En marge du cinéma français, Paris 1954)

Ankunft
Es beginnt mit zwei Texteinblendungen, unter denen das träge dahinfließende Wasser eines Flusses zu sehen ist. Die erste klärt über die Entstehungsgeschichte des Films auf: Jean Renoir konnte den Film nicht beenden, und erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er in seiner Abwesenheit fertiggestellt, und um die Verständlichkeit zu gewährleisten, wurden zwei Zwischentitel hinzugefügt. Der erste davon folgt unmittelbar darauf: An einem Sonntag im Sommer 1860 macht Monsieur Dufour, ein Eisenwarenhändler aus Paris, mit seiner Frau, seiner Schwiegermutter, seiner Tochter und mit Anatole, der sein Gehilfe, designierter Nachfolger und zukünftiger Schwiegersohn ist, mit einem vom Milchmann geliehenen Pferdewagen einen Ausflug aufs Land, um die Natur zu entdecken und zu genießen. - Die Handlung beginnt mit der vormittäglichen Ankunft der Dufours am Landgasthaus des bodenständigen Père Poulain am Ufer der Seine. Schon die ersten Dialoge und das Aussteigen aus der Kutsche bringen uns die Familie Dufour näher: Sie wirken sympathisch, ihr Umgang miteinander ist respekt- und liebevoll. Monsieur Dufour ist ein großer dicker Mann, während der schlanke Anatole linkisch und etwas beschränkt wirkt - zusammen erinnern sie etwas an Laurel & Hardy, Anatole allein auch an einen jungen Karl Valentin. Madame Dufour, um die 40, ist auch schon vollschlank, aber recht proper, und die ca. 18-jährige Tochter Henriette ist hübsch. Der schwerhörigen Großmutter nimmt niemand übel, dass man ihr alles zwei- oder dreimal sagen muss, bis sie es versteht. Gemeinsam beschließt man, das bei Père Poulain bestellte Mittagessen als Picknick auf der Wiese hinter dem Gasthaus einzunehmen, wo es auch Schaukeln für die Gäste gibt.

Père Poulain und die Kellnerin; Henri (links), die Kellnerin und Rodolphe
In der Gaststube des Wirtshauses sitzen bereits zwei andere Gäste: Henri und Rodolphe, zwei sportliche junge Männer aus der Gegend, die mit ihren Ruderbooten einen ihrer regelmäßigen Ausflüge machen. In ihrer legeren Sportkleidung bilden sie einen augenfälligen Kontrast zu den bis oben hin zugeknöpften, gutbürgerlichen Dufours in ihrem Sonntagsstaat. Als sie die neuen Gäste ankommen hören, sind sie wenig begeistert. Sie mokieren sich auf arrogante Art über die Großstädter, die sich "wie die Mikroben" breitmachen und jetzt ihre Ruhe stören werden. Aber als sie von der Kellnerin hören, dass sich auch Damen in der Gesellschaft befinden, werden sie neugierig und öffnen die bisher geschlossenen Fensterläden, um sich die Fremden anzusehen. Das Ergebnis ist eine fast schon spektakuläre Einstellung: Renoir arbeitet wie so oft mit deep focus, und das Gastzimmer wird zur Nebensache. Durch das offene Fenster, das jetzt wie ein Bilderrahmen wirkt, flutet das Licht herein und zeigt die Dufours auf der Wiese, wobei Madame und Henriette auf den Schaukeln sitzen bzw. stehen. Die auf ihrer Schaukel stehende Henriette erinnert dabei an ein Gemälde von Renoirs Vater, La Balançoire von 1876. Der Anblick der beiden schaukelnden Damen fasziniert Rodolphe, und er überredet den zögernden Henri, die Ankunft der Pariser ins Positive zu wenden, indem man die beiden verführt. Unterdessen beschäftigen sich die Dufours, nach Geschlechtern getrennt, mit dem, was sie in der "Natur" sehen. Für Monsieur Dufour und Anatole ist es ein Abenteuerspielplatz, den sie in Form von Angeln erkunden wollen. Dufour erzählt vom Hecht, dem "Süßwasserhai", der einen Finger bis auf den Knochen durchbeissen könne, und Anatole hört gebannt zu, als ginge es um Großwildjagd in Afrika. Mutter und Tochter dagegen sitzen unter einem Kirschbaum, beobachten das Krabbeln auf der Wiese und geben sich einer sentimentalen Naturschwärmerei hin. Die fast erwachsene Henriette spürt eine vage, unbestimmte Sehnsucht in sich, die sie auf die Natur projiziert, und sie fragt ihre Mutter, ob sie das in ihrer Jugend auch kannte. Diese weiß, dass die Schmetterlinge im Bauch ihrer Tochter auch andere Ursachen haben, und sie erwidert, dass sie dieses Gefühl immer noch kennt, aber durch ihre Vernunft im Zaum hält.

Schaukeln (l.o. La Balançoire von Pierre-Auguste Renoir)
Nach dem Mittagessen schlägt die Stunde für Henri und Rodolphe. Mutter und Tochter Dufour möchten etwas unternehmen, aber die Männer haben etwas zu sehr dem Essen und dem Wein zugesprochen und sind entsprechend träge. Zuerst machen sie ein Schläfchen, dann wollen sie angeln. Da lassen sich die beiden Damen gern zu einer Ruderpartie einladen, und Dufour gibt auch gern seine Zustimmung, als er von Rodolphe die Angelruten erhält, die er selbst nicht dabei hat. Eigentlich wollte der extrovertierte Rodolphe Henriette "übernehmen" und die Mutter dem verschlosseneren und etwas zynischen Henri überlassen, aber der ist zunehmend von Henriette fasziniert und schnappt sie sich selbst, was Rodolphe sportlich gelassen hinnimmt. So fahren also Henri und Henriette sowie Rodolphe und Madame Dufour mit ihren Booten auf der Seine, um getrennt einsame Uferabschnitte anzusteuern. Während Rodolphe auf einer Lichtung wie ein bocksfüßiger Pan mit Madame herumschäkert, um dann mit ihr hinter einem Busch zu verschwinden, bringt Henri seine ausersehene Beute auf eine kleine Insel. Von der idyllischen Stimmung und vom Gesang einer Nachtigall ist Henriette in eine so sentimentale Stimmung versetzt, dass ihr die Tränen kommen. In diesem Zustand gelingt es Henri mühelos, sie zu verführen. Danach sieht man ihr Gesicht in einer extremen Großaufnahme, und wieder stehen ihr Tränen im Gesicht, aber jetzt vielleicht auch aus anderen Gründen. Ihr kommt wohl die Erkenntnis, dass sich dieser Augenblick nicht festhalten lässt, und dass ihr bald eine vermutlich langjährige und sicher monotone Ehe mit dem unbedarften Langweiler Anatole bevorsteht. Ein Unwetter, das sich schon angekündigt hatte, beendet den Ausflug. Im strömenden Regen wird zurückgerudert, und zugleich schwemmt der Regen symbolisch die Ereignisse des Nachmittags weg, ertränkt sie in bleierner Schwermut. Der zweite Zwischentitel leitet zum Epilog über: "Jahre vergingen, mit Sonntagen so trist wie Montage. Anatole heiratete Henriette, und eines Sonntags ...". Henri rudert wieder einmal zu "seiner" Insel, da läuft er dort Henriette in die Arme. Anatole liegt im Gras und schläft. Henriettes Gesicht ist erwachsener, die naive Schwärmerei ist daraus verschwunden. Henri sagt, dass er oft hierher kommt, weil es seine glücklichsten Erinnerungen zurückbringt, wobei er sentimental wie ein Dackel dreinblickt, und Henriette erwidert, dass sie sich jede Nacht daran erinnert. Da erwacht Anatole und ruft nach Henriette. Wortlos trennen sich Henri und Henriette, die wieder Tränen in den Augen hat. Sie rudert mit ihrem Mann davon, Henri bleibt zurück und steckt sich eine Zigarette an. Die letzten Bilder gehören dem Fluss.

Der "Süßwasserhai" wird beobachtet
PARTIE DE CAMPAGNE ist mit 40 Minuten der kürzeste Film von Renoir in den 30er Jahren. Eigentlich hätte er etwas länger ausfallen sollen, so um die 50 Minuten, dafür waren die zwei Zwischentitel nicht vorgesehen. Dass es anders kam, lag am Wetter. Es hätte für die Beteiligten ein Wohlfühlfilm werden sollen. Vorgesehen waren acht Drehtage vor Ort in der Landschaft, danach noch zwei Drehtage im Studio in Paris. Da es an der Seine im weiten Umkreis von Paris keine unberührten Uferabschnitte mehr gab, wurde in der Nähe des Walds von Fontainebleau am Loing und an der Essonne gedreht, zwei Nebenflüssen der Seine. Das Gasthaus von Père Poulain gehörte in Wirklichkeit einem Förster, dessen Frau mit Renoir befreundet war, und die Equipe war in einem nahe gelegenen Hotel untergebracht. Renoir kannte die Gegend seit seiner Kindheit gut, denn sein Vater hatte hier oft gemalt, und sein erster eigener Film LA FILLE DE L'EAU wurde ganz in der Nähe gedreht. Renoir beschäftigte bei seinen Filmen in den 30er Jahren oft Freunde und Familienmitglieder, und bei PARTIE DE CAMPAGNE war das mehr denn je der Fall. Sein Neffe Claude führte, wie mehrfach in diesem Jahrzehnt, die Kamera, und seine Lebensgefährtin Marguerite Renoir (eigenlich Marguerite Houllé, denn sie waren nicht verheiratet) war nicht nur wie üblich seine Cutterin, sondern sie spielte auch die Kellnerin - keine große Rolle, aber immerhin mit einigen Dialogen. Renoirs damals 14-jähriger Sohn Alain spielte einen fischenden Jungen, ebenfalls mit etwas Text, und er war gleichzeitig Clapper Boy. Dazu kamen einige von Renoirs Freunden, die schon öfters mit ihm gearbeitet hatten. Jacques-Bernard Brunius war schon als Darsteller, Regieassistent und in weiteren Funktionen an Renoir-Filmen beteiligt, Georges Darnoux (eigentlich ein Comte Georges d'Arnoux oder D'Arnoux) ebenfalls schon als Statist und Regieassistent (nebenbei war er auch Autorennfahrer). Renoir beschäftigte neben den offiziellen, in den Credits genannten ein oder zwei Regieassistenten oft noch weitere - hier waren es insgesamt gleich sechs. An erster Stelle gelistet war Jacques Becker, der diese Position in den 30er Jahren am häufigsten inne hatte, an zweiter Stelle Henri Cartier-Bresson, der auch schon Renoir-Erfahrung bei LA VIE EST À NOUS gesammelt hatte, und ungenannt blieben Brunius, Luchino Visconti (der schon bei TONI als Praktikant dabei war), Claude Heymann (der immerhin schon ein Drehbuch zusammen mit Renoir geschrieben hatte), und als Renoir-Neuling Yves Allégret, wie Becker und Visconti später selbst ein Regisseur von Rang. Die meisten der Freunde und Familienmitglieder arbeiteten für wenig oder gar keinen Lohn und wurden dafür am zu erwartenden Gewinn beteiligt, was sich hier aber nicht auszahlte. Becker, Cartier-Bresson, Sylvia Batailles erster Mann, der Schriftsteller und Philosoph Georges Bataille, sowie Pierre Lestringuez, der als Darsteller und Drehbuchautor an Renoirs ersten Stummfilmen beteiligt war, haben auch einen Cameo-Auftritt als drei Priester-Seminaristen und der beaufsichtigende Pfarrer, der einen davon zurechtweist, als er zu auffällig der schaukelnden Henriette zusieht. Renoir war der Meinung, dass seine Assistenten solche Kurzauftritte absolvieren sollten, um zu wissen, wie es sich anfühlt, vor statt hinter der Kamera zu stehen.

Mutter und Tochter unterhalten sich über das Leben der Raupen und der Menschen
Die Arbeit begann im Juni 1936, und laut Drehbuch spielten alle Szenen bei schönem Wetter. Aber dummerweise war der Sommer 1936 im Norden Frankreichs der verregnetste seit Menschengedenken. Es konnte nur sehr sporadisch in den kurzen Schönwetterphasen gedreht werden, ansonsten saß man herum und wartete, und es verging Woche um Woche. Es gibt unterschiedliche Berichte darüber, wie sich das auf die Stimmung auswirkte. Laut Sylvia Bataille stellte sich bald der Lagerkoller ein, und alle gingen sich auf die Nerven. Renoir dagegen behauptete später, dass alle außer Bataille guter Dinge waren. Die Wahrheit wird wohl irgendwo dazwischen liegen. Auf jeden Fall war das knappe Budget bald aufgebraucht, und je länger sich die Sache hinzog, desto klarer wurde, dass es keinen finanziellen Gewinn geben würde. Renoir glänzte mehrfach durch längere Abwesenheit, weil er (je nach Bericht) entweder zunehmend das Interesse verlor oder in Paris weiteres Geld auftreiben wollte, während er den Mitwirkenden Anwesenheitspflicht auferlegte, damit bei schönem Wetter unverzüglich gedreht werden konnte. So sollen auch einige Szenen von Becker und Heymann statt von Renoir inszeniert worden sein. Wie immer die Stimmung nun war, dem Film sieht man nichts Negatives davon an. Das Ensemblespiel der Akteure wirkt immer entspannt und natürlich, und gerade Sylvia Bataille liefert eine vorzügliche Leistung. Produzent Pierre Braunberger bewies so viel Geduld, wie man sich nur wünschen konnte, aber schließlich erklärte Renoir selbst das Projekt für beendet, weil sein nächster Film LES BAS-FONDS (mit einem anderen Produzenten) keinen Aufschub mehr duldete. Es fehlten keine wirklich wichtigen Szenen vom Land, aber die Drehtage im Studio fielen ersatzlos weg. Sie hätten zwei Szenen erbringen sollen. Zunächst die Familie Dufour, wie sie sich in Paris den Wagen leiht und dann aufbricht. Und dann eine weitere Szene in Paris, die einige Wochen nach dem Hauptteil spielt: Henri taucht im Eisenwarengeschäft auf, erkundigt sich nach Henriette und erfährt von Madame Dufour, dass ihre Tochter jetzt mit Anatole verheiratet ist. Enttäuscht macht Henri kehrt, nachdem sich Madame noch nach dem Befinden von Rodolphe erkundigt hat.

Beim Picknick und nach dem Picknick
Braunberger unternahm Versuche, die Situation zu retten. Er ließ zunächst von Marguerite Renoir einen Rohschnitt anfertigen, der ungefähr die Länge des jetzigen Films hatte, aber so erschien der Film nicht veröffentlichungsfähig. Braunberger hatte dann die Idee, einen kompletten Spielfilm daraus zu machen, und er ließ Pierre Prévert ein Drehbuch dafür schreiben. Das hätte knapp die Hälfte des bereits gedrehten Materials integriert und einige Charaktere stark verändert. Renoir hielt überhaupt nichts davon und lehnte jede Mitarbeit ab. Daraufhin bot Braunberger den Stoff anderen Regisseuren an, darunter Douglas Sirk, der gerade von Deutschland über Frankreich in die USA emigrierte, aber keiner hatte Lust. Braunberger ließ noch ein weiteres Drehbuch schreiben, aber Renoir hatte endgültig das Interesse verloren, und der Film schien jetzt endgültig gescheitert. 1940 emigrierte Renoir in die USA, und Braunberger, der Jude war, musste untertauchen. Doch nach dem Krieg nahm er seine Pläne wieder auf. Das geschnittene Positiv war von den Nazis zerstört worden, aber ein ungeschnittenes Negativ hatte überlebt. Marguerite Renoir, unterstützt von ihrer Schwester Marinette Cadix, die ebenfalls Cutterin war, schnitt den Film erneut, wobei sie sich am Drehbuch und an ihrer Erinnerung an die erste Fassung orientierte. Laut Braunberger war die zweite Fassung dann sogar besser als die erste. Renoir, der noch in Hollywood unter Vertrag stand, beteiligte sich nicht daran, und er war von Braunbergers Aktivitäten überhaupt nicht begeistert. Er fürchtete, dass die Veröffentlichung dieses unvollendeten Films seinem Ruf eher schaden als nützen würde, aber Braunberger ließ sich nicht beirren. Die Idee, die beiden fehlenden Szenen durch Zwischentitel zu ersetzen, war für jemanden, der wie Braunberger seine Produzentenlaufbahn noch im Stummfilm begonnen hatte, eigentlich naheliegend (er hatte auch schon einige von Renoirs ersten Filmen produziert). Eine weitere gute und ebenfalls naheliegende Idee Braunbergers war es, die Musik von Joseph Kosma schreiben zu lassen, der zu MONSIEUR LANGE ein Lied beigesteuert und dann von LA GRANDE ILLUSION bis LA RÈGLE DU JEU vier Renoir-Filme hintereinander vertont hatte. Kosmas ausdrucksstarke, aber unaufdringliche Musik fügt sich perfekt in den Rhythmus des Films ein, der mit Dialogen und Geräuschen, aber ohne Musik, noch immer keinen veröffentlichungsreifen Eindruck gemacht hatte. Sylvia Bataille formulierte das später so: "Nach dem Krieg, als uns Braunberger den geschnittenen Film ohne Musik zeigte, glaubte keiner, dass es möglich war, das zu veröffentlichen. [...] Aber ehrlich, als Kosma seinen wunderbaren Score hinzugefügt hatte, war der Film mit einem Schlag fertig, fehlerlos - eine echte Überraschung!" Als PARTIE DE CAMPAGNE dann 1946 in den Pariser Kinos anlief, war er ein voller Erfolg bei Kritik und Publikum, und Renoir war auch zufrieden, und er beglückwünschte Braunberger. Die Kritik lobte neben Renoir und Braunberger (für sein Beharrungsvermögen) vor allem Sylvia Bataille, doch deren Karriere, die trotz ihres Talents nie so recht abgehoben hatte, war da ironischerweise kurz vor ihrem Ende. 1946 drehte sie mit Marcel Carnés LES PORTES DE LA NUIT ihren vorletzten Spielfilm, dann folgte noch ein Kurzfilm und 1950 ein letzter Spielfilm. Danach betätigte sie sich als Mitarbeiterin ihres zweiten Mannes, des Psychoanalytikers und Philosophen Jacques Lacan.

Ruderpartie mit impressionistischer Uferstimmung
PARTIE DE CAMPAGNE ist eine Verfilmung der (fast) gleichnamigen Erzählung Une partie de campagne von Guy de Maupassant (der trotz völlig unterschiedlicher künstlerischer Temperamente mit Pierre-Auguste Renoir befreundet war), die 1881 in der Sammlung La Maison Tellier erschien (eine etwas altertümlich angestaubte Übersetzung kann man hier lesen). Renoir hielt sich eng an die Handlung, dagegen änderte er den Ton der Erzählung gründlich. Während Maupassant seine Protagonisten mit der kühlen Distanziertheit eines Insektenforschers beschreibt, mit gelegentlichen Anflügen von Spott und Zynismus, ist der Film von vorn bis hinten von Renoirs warmherzigem Humanismus erfüllt. Dieser durchzieht fast alle seine Filme, aber selten in einer solchen Reinkultur wie hier. Und wo Maupassant die Charaktere nur sehr skizzenhaft schildert, erfüllt sie Renoir mit Leben und Charakter, durch Details im Dialog, im Schauspiel, in der Ausstattung, immer möglichst fern von vorgefertigten Klischees. Auch das zieht sich durch Renoirs Werk, aber im direkten Vergleich mit Maupassant sieht man es wie in einem Brennglas. Ebenso wichtig wie das bittersüße (fast) Nichts an Handlung ist das Drumherum, die Atmosphäre. Abgesehen von den kurzen Szenen mit Henri und Rodolphe in der Gaststube ist PARTIE DE CAMPAGNE ein kompletter Freiluftfilm, und mit Claude Renoirs Aufnahmen von der Schaukel, vom Garten mit dem Kirschbaum, vom flirrenden Licht auf dem Wasser, mit der am Ufer entlanggleitenden Kamera in den Ruderbooten ist er ein Pendant zur impressionistischen Freiluftmalerei. Renoir hat gelegentlich betont, dass er von den Bildern seines Vaters vor allem den Sinn für eine gute Bildkomposition gelernt habe. Den besaß er zweifellos, aber aus den Renoir-Filmen im Allgemeinen lässt sich dieser Einfluss kaum herauslesen, wenn man es nicht schon weiß. Doch bei PARTIE DE CAMPAGNE (und beim Spätwerk LE DÉJEUNER SUR L'HERBE von 1959) ist der Einfluss der impressionistischen Malerei direkt greifbar. PARTIE DE CAMPAGNE ist eine Ode an den Fluss, an die Natur, an das Leben. Es ist doch noch ein Wohlfühlfilm geworden, im besten Sinn des Wortes.

Eine Nachtigall leistet Henri Schützenhilfe
PARTIE DE CAMPAGNE ist in England auf einer DVD des British Film Institute mit (nicht ausblendbaren) Untertiteln und mit einem Audiokommentar erschienen. Es gibt auch eine französische Ausgabe auf zwei DVDs, die aber derzeit nur stark überteuert zu haben ist. - Der rumänisch-französische Fotograf und Kameramann Eli Lotar war als Standfotograf beim Dreh dabei. Seine Bilder vom Set sind in einem Buch erhältlich.

4 Kommentare:

  1. Der Fluss scheint ja ein immer wieder kehrendes Motiv bei Renoir zu sein: die entsprechenden Aufnahmen am Schluss von BOUDU hatte ich sehr beeindruckend gefunden. Aber bis du THE RIVER besprichst, dürfte es ja noch ein paar Wochen dauern.
    Die zwei kurzen Ausschnitte, die ich bei youtube gefunden habe (hier und hier) sind höchst interessant, nicht nur im Hinblick auf den angesprochenen deep-focus-shot mit den Fensterläden. Die Kamera-auf-der-Schaukel-Einstellung ist nicht nur sehr lebendig und unmittelbar, sondern erscheint auch höchst modern. Sehr nettes Detail: Henri und Rodolphe trinken Absinth... so viel zu entdecken in knapp zwei Minuten Film!
    Zu deinen Ausführungen über die Produktionsumstände ist ja nicht mehr sehr viel hinzuzufügen. Interessant zu wissen wäre wohl, ob der Film für sich selbst oder als Vor- bzw. Nachfilm in Double-Features aufgeführt worden ist. Schließlich war er ja doch arg kurz für eine „einfache“ Kino-Vorstellung. Und wie hatte es Renoir eigentlich ursprünglich vorgesehen?
    Und da du die Verbindung zum Vater hier ansprichst: hast du eigentlich den neuen RENOIR mit Michel Bouquet als Pierre-Auguste gesehen?
    P.S.: Auf der Suche nach Filmausschnitten bin ich übrigens auf eine andere Landpartie aus dem selben Jahr gestoßen ;-)

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    1. Ja, Flüsse kommen in Renoirs Filmen öfters von. Das beginnt schon 1925 mit LA FILLE DE L'EAU, auch wenn da der Fluss keine so große Rolle spielt, wie es der Titel vielleicht vermuten lässt. Renoir war wohl schon seit seiner Kindheit davon fasziniert. In seinem Buch "Pierre-Auguste Renoir, mon père", in dem es auch um seine eigene Kindheit und Jugend geht, schreibt er (zitiert nach A. Sesonskes Renoir-Buch): "There is nothing so mysterious as a river. Away from other human beings, lost in the overhanging foliage, fearful of breaking in on the sound of the water gliding over the weeds ... we lay on our stomachs in the skiff, silent and motionless, our faces near the surface of the water, watching the movements of a large fish, which in turn was watching its prey."

      Den Film mit Michel Bouquet habe ich noch nicht gesehen, aber das werde ich bestimmt noch nachholen. In welcher Form PARTIE DE CAMPAGNE aufgeführt würde, oder 10 Jahre früher hätte aufgeführt werden sollen, weiß ich nicht.

      Der Film von Disney ist nett. Und "La cucaracha" war offenbar ein internationaler Dauerbrenner. 1934 gab es ja dem ersten Dreifarben-Technicolor-Realfilm den Titel, und 1936 wurde es in LA VIE EST À NOUS von den Schulkindern, denen anfangs die Reichtümer Frankreichs nahegebracht werden, auf dem Heimweg gepfiffen.

      Auf Dailymotion kannst Du übrigens noch einen längeren "Ausschnitt" von PARTIE DE CAMPAGNE (nämlich den ganzen Film, aber nicht weitersagen :) ansehen.

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  2. Vielen Dank für die Anregung Manfred. Der deep focus-shot war mir bereits bekannt und ich habe ihn in einem eigenen kleinen Beitrag, mit Verweis auf deinen Text, nochmal kurz verwurstet. Beim Wiedersehen dieses umwerfend schönen Films gibt es, wie david schreibt, in der Tat viel zu entdecken. Zum Thema "Fluß" fallen mir spontan noch andere literarische Bezüge ein, vor allem was Landpartien und Seine betrifft. Thérèse Raquin von Zola etwa und der Mord (?) an Robert Dandurand in "Der große Bob", ein non-Maigret, von Simenon.

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    1. Die beiden Bücher kenne ich nicht, aber Renoir könnte sie durchaus gekannt haben. Mit Simenon war er ja befreundet, seit sie bei LA NUIT DU CARREFOUR zusammengearbeitet hatten, und mit NANA (1926) und LA BÊTE HUMAINE (1938) hat er immerhin zwei Zola-Romane verfilmt.

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