Montag, 27. Januar 2014

Lateinamerika, gegen den Strich gebürstet

Kürzlich habe ich hier anhand dreier Beispiele die spanische DVD-Box "Del Éxtasis Al Arrebato" vorgestellt, die von der Firma Cameo in Zusammenarbeit mit diversen kulturellen und politischen Körperschaften herausgebracht wurde. Dieselben Herausgeber stellten als Nachfolgeprojekt unter dem Titel "Cine A Contracorriente" - was ungefähr "Film gegen den Strom" oder "gegen den Strich" bedeutet (auf Englisch als "against the grain" wiedergegeben) - ein Filmprogramm und eine DVD auf die Beine, die sich dem lateinamerikanischen Avantgardefilm widmen, was der Untertitel "Un recorrido por el otro cine latinoamericano" (A journey through the other Latin American cinema) zum Ausdruck bringt. Wieder ist das Booklet zweisprachig Spanisch/Englisch, und im Menü und bei den Untertiteln ist sogar noch Portugiesisch als weitere Sprache dazugekommen. Hier also nicht zwei, sondern nur eine DVD, aber immerhin fast drei Stunden, die sich auf 19 Filme verteilen. Diesmal will ich nicht einige YouTube-Videos herausgreifen, sondern alle Filme kurz vorstellen. Die Anordnung auf der DVD ist chronologisch, und ich folge diesem Schema.



TRAUM
2:18, 16mm
Deutschland 1933
Regie: Horacio Coppola und Walter Auerbach


Nicht nur der älteste und zweitkürzeste Film in der Kompilation, sondern auch der einzige, der gar nicht in Lateinamerika entstand. Horacio Coppola war ein argentinischer Fotograf und (gelegentlich) Filmemacher, der seinerzeit am Bauhaus in Dessau studierte, und sein Freund und Coregisseur Walter Auerbach (nicht der gleichnamige SPD-Politiker) war ebenfalls am Bauhaus. Coppola heiratete die Fotografin Grete Stern, Auerbach Sterns Freundin und Kollegin Ellen Auerbach (geb. Rosenberg). Noch mehr über das Quartett, vor allem die beiden Frauen, erfährt man hier und hier. - TRAUM ist eine kurze surrealistische Fingerübung. Zwei Männer (vielleicht die Regisseure, aber ich weiß es nicht) begegnen und verfolgen sich, Dinge (darunter Hüte) fliegen durch die Luft, am Ende gibt es eine Serie von Jump Cuts. TRAUM ist sicher von den diversen europäischen surrealistischen Filmen beeinflusst, die es damals schon gab, am meisten vielleicht von Hans Richters VORMITTAGSSPUK, aber wie im Booklet der DVD ganz richtig angemerkt wird, weist er auch schon etwas auf Maya Deren voraus. Die verwendete Kopie ist schon von Zersetzung befallen, die Bildqualität ist also schlecht.



ESTA PARED NO ES MEDIANERA
9:31, 35mm
Peru 1952
Regie: Fernando de Szyszlo


Noch ein surrealistischer Film (der Titel bedeutet wohl ungefähr "Diese Wand ist keine Zwischenwand"). Ein junger Mann, der hinter (symbolischen) Gitterstäben gefangen ist - vielleicht ein Symbol für einen Ehe-Käfig -, bricht aus, trifft an einem Strand eine schöne junge Frau, kämpft mit einem anderen Mann, und am Ende landet er in einem Zirkus wieder hinter Gitterstäben und muss die Frau mit dem anderen Mann davongehen sehen. - Der lange verschollene Film tauchte als Betamax-Kopie wieder auf, die ebenfalls sehr schlechte Bildqualität trägt aber vielleicht gerade zum visuellen Reiz mancher Szenen bei. Fernando de Szyszlo hatte einige Zeit in Paris verbracht, wo er die modernen avantgardistischen Strömungen kennenlernte, bevor er nach Peru zurückging und den Film drehte.



LA CIUDAD EN LA PLAYA
11:52, 16mm
Uruguay 1961
Regie: Ferruccio Musitelli


Veristische bis poetische Impressionen von einem Badestrand bei Montevideo, für die Nationale Tourismuskommission gedreht. Was eine dröge Auftragsarbeit hätte werden können, geriet dem vor einem Jahr mit 85 Jahren verstorbenen Ferruccio Musitelli zu einer gut komponierten und unterhaltsam gefilmten Studie, die den Bogen spannt von der noch menschenleeren Küste im Morgengrauen bis zu Hubschrauberaufnahmen über dem dicht bevölkerten Strand am Nachmittag. Die variable und bisweilen kommentierende Musik von einem Eduardo Gilardoni komplettiert den schönen Film, der wie die beiden vorhergehenden und der nächste ohne Worte auskommt. LA CIUDAD EN LA PLAYA erhielt eine lobende Erwähnung beim Festival in Karlovy Vary.



REVOLUCIÓN
9:10, 16mm
Bolivien 1963
Regie: Jorge Sanjinés


Jorge Sanjinés ist einer der führenden progressiven Regisseure seines Landes, und sein früher Kurzfilm REVOLUCIÓN macht schon im Titel klar, worum es geht. Es beginnt mit Bildern der Armut der (vorwiegend indigenen) Bevölkerung, der Minenarbeiter, Bauern und Bettler, deren Realismus nur durch die Musik abgemildert wird. Aufnahmen aus der Werkstatt eines Sargmachers, der Kindersärge in Serie fertigt, sind ein unmissverständlicher Hinweis auf hohe Kindersterblichkeit. Danach spricht ein Politiker oder Gewerkschaftsführer vor einer jubelnden Masse, doch paramilitärische Polizei schießt die Versammlung zusammen. Man sieht Tote, Inhaftierte, und eine Hinrichtung Gefangener durch ein Erschießungskommando. Aber das ist nicht das Ende: Arbeiter bewaffnen sich, es kommt zum Aufruhr, zur Revolution. Die Armee rückt aus, doch das Ergebnis der Konfrontation wird nicht gezeigt. Am Ende des Films hört man Schüsse fallen, doch die Kamera blickt in die Gesichter von Kindern, die so oder so zu den Opfern gehören. In Bolivien fand 1952 eine Revolution statt, doch gerade die dadurch an die Macht gekommene Regierung war es, die nach einer Vorführung im Präsidentenpalast die öffentliche Aufführung von REVOLUCIÓN untersagte. So kann es gehen. Dafür gewann der Film bei der Internationalen Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche einen nach Joris Ivens benannten Preis.



NOW!
5:27, 35mm
Kuba 1965
Regie: Santiago Álvarez


Nach der Vorspann-Sequenz, die mit einer jazzigen Instrumentalversion von "Hava Nagila" unterlegt ist, besteht der Soundtrack der restlichen gut vier Minuten aus "Now!" von Lena Horne, das auf derselben Melodie beruht. Lena Horne war nicht nur eine große Sängerin und brauchbare Schauspielerin, sondern auch langjährige Bürgerrechtsaktivistin, und passend zum Thema des Songs zeigt der Film dazu Fotos und dokumentarische Filmschnipsel von zeitgenössischen Rassenunruhen in den USA, insbesondere von Polizei, die Demonstranten verprügelt. In einer kurzen und vielleicht allzu polemischen Sequenz ist auch eine Aufnahme von einer Nazi-Parteiveranstaltung eingeschnitten. Am Ende wird der Titel des Songs und des Films mit einer Maschinenpistole in eine Wand geschossen (wie man es ähnlich im einen oder anderen Edgar-Wallace-Film sah). Santiago Álvarez hat mit einfachen, aber wirkungsvollen Mitteln eine zornige Anklage gegen den Rassismus in den USA gestaltet. Man könnte kleinlich beanstanden, dass er (im Gegensatz zur Bürgerrechtsbewegung) seine Attacke gegen den Klassenfeind aus sicherer Distanz geritten hat, doch andererseits: Welcher US-Regisseur hätte statt seiner diesen tollen Film gemacht? Auch NOW! errang einen Preis in Leipzig, nämlich eine "Goldene Taube". - Hier gibt es noch etwas über Lena Hornes Song, und als Zugabe den kompletten Film.



FOME
5:07, Super 8
Brasilien 1972
Regie: Carlos Vergara


Aus Bohnen ist ein Quadrat und darin in den Ecken die Buchstaben des Filmtitels (Portugiesisch für "Hunger") ausgelegt. Die Bohnen keimen aus, wodurch im Zeitraffer die Buchstaben langsam verschwimmen, dazwischen gibt es Makroaufnahmen der sprießenden Pflänzchen, und am Ende zeigt sich der bärtige Künstler selbst, halb verdeckt von seinem Miniatur-Urwald aus Bohnen. Nette Idee, aber wirklich vom Hocker gerissen hat mich der gänzlich stumme Super-8-Film nicht.



OFRENDA
4:18, Super 8
Argentinien 1978
Regie: Claudio Caldini


In einer Zeit, in der in Argentinien unter der Militärjunta Tausende gefoltert wurden und "verschwanden" (viele wurden aus dem Flugzeug ins offene Meer geworfen), machte Claudio Caldini diesen erstaunlichen Film, dessen Titel "Opfergabe" bedeutet. Man sieht: Gänseblümchen. Genauer gesagt, Blüten von Gänseblümchen vor einem schwarzen Hintergrund, immer mehrere in (scheinbar) willkürlicher Anordnung, schräg oder frontal von oben. Die Bilder wechseln in rasendem Tempo, synchron zur Musik, die von perlenden Harfenklängen dominiert wird (gespielt von Alice Coltrane, Witwe von John Coltrane und eine Pianistin und Harfenistin von Rang). Von hohem ästhetischen Reiz, und zugleich von einer künstlerischen Stringenz, die an Filme von Stan Brakhage erinnert (vergleiche etwa MOTHLIGHT).



AGARRANDO PUEBLO (auch LOS VAMPIROS DE LA MISERIA)
28:33, 16mm
Kolumbien 1978
Regie: Luis Ospina und Carlos Mayolo


Mit einer knappen halben Stunde ist AGARRANDO PUEBLO der deutlich längste Film in der Kompilation, und der erste mit Dialogen. Der Titel bedeutet wörtlich ungefähr "das Volk anfassen" oder "ergreifen", bei den Oberhausener Kurzfilmtagen 1979 lief er als DAS VOLK VERLADEN/VAMPIRE DES ELENDS. Es beginnt wie ein Film der Nouvelle vague: Auf den Straßen der Großstadt Cali dreht ein (fiktives) kleines Filmteam mit mobiler Kamera und rückt einem Bettler auf den Leib, unbeteiligte Passanten schauen zu. Von diesen in Schwarzweiß gedrehten Bildern wechselt es kurz zu Farbe: Die eben vom Team gedrehte Szene mit dem Bettler. So geht es weiter: Lange schwarzweiße Passagen, in denen man dem Filmteam über die Schulter schaut, dazwischen kurze farbige Sequenzen mit dem "dokumentarischen" Material. Aus Unterhaltungen der Teammitglieder erfährt man, dass sie im Auftrag des deutschen Fernsehens unterwegs sind, um möglichst malerisch Not und Elend an diesem Brennpunkt der Armut zu dokumentieren. Dass die Subjekte ihres Interesses gar nicht gefilmt werden wollen, interessiert sie wenig. In einer längeren Passage in ihrem Hotelzimmer beraten die Filmleute mit einem der Geldgeber und untereinander das weitere Vorgehen, dann geht es wieder auf die Straße. Mit einer "Familie" aus bezahlten Komparsen wird eine Szene gespielt, dann spricht der Reporter sein "aufrüttelndes" (und schon im Hotel durchgesprochenes und aufgeschriebenes) Fazit direkt in die Kamera - doch dabei geht etwas gründlich schief ... Und am Ende erklimmt der Film eine weitere Meta-Ebene.

AGARRANDO PUEBLO von Ospina und Mayolo ist eine äußerst sarkastische und gut gemachte Fake Documentary, die sich über Journalisten und Filmemacher echauffiert, die - im übertragenen Sinn natürlich - Vampire sind, die das Elend der Dritten Welt ausbeuten, ohne sich wirklich für die Ursachen und mögliche Lösungen der Probleme zu interessieren. Das Team im Film dreht, wie ein aufgebrachter Passant schimpft, einen "Armutsporno", mißachtet die Würde der Gefilmten aufs Gröbste, inszeniert bei Bedarf auch gefälschte Szenen, ist letzlich nur am Honorar und an möglichen Festivalpreisen im Ausland interessiert. Ironischerweise gewann auch AGARRANDO PUEBLO Preise - neben einem nationalen in Bogotá internationale in Bilbao, Lille, und den evangelischen Interfilm-Preis in Oberhausen (geteilt mit einem indischen Film).



AMA ZONA
10:37, Super 8
Argentinien 1983
Regie: Narcisa Hirsch


Bei dem Titel könnte man zunächst an den Amazonas denken, doch der Film kommt aus Argentinien, das bekanntlich ein gutes Stück vom Strom der Ströme entfernt ist. Tatsächlich geht es um Amazonen - irgendwie jedenfalls. Zur kontemplativen Musik von Stephan Micus gibt es anfangs Bilder von Gewässern und von einem Volleyballspiel auf einem Hof, ohne (für mich erkennbaren) Zusammenhang. In der dann folgenden langen zentralen Sequenz, die bewusst äußerst unscharf gefilmt ist, legt eine Frau langsam ihre Oberkleidung ab und zieht sich etwas, das Klebestreifen sein könnten, sukzessive von der Brust ab. In kurzen Momenten, wenn das Bild etwas schärfer wird, erkennt man, dass eine Flüssigkeit (Blut?) an ihrer rechten Brustseite herabfließt. Das ganze ist wohl eine Anspielung darauf, dass sich Amazonen in manchen Versionen des Mythos die rechte Brust abschnitten, um besser mit Pfeil und Bogen schießen zu können. Dann folgt eine schwarzweiße und ebenfalls unscharfe Sequenz, in der Trapezkünstler ihre Arbeit ausüben - dieser Abschnitt, der wiederum keinen für mich erkennbaren Zusammenhang mit dem Rest aufweist, hat mich etwas an Jonas Mekas' NOTES ON THE CIRCUS erinnert. Und schließlich wird ein Bogen (kein antikes Gerät und auch keine Indianerwaffe, sondern ein moderner Sportbogen) in Zeitlupe vom Boden aufgenommen, gespannt und in mehrfacher Wiederholung auf eine Zielscheibe abgeschossen. Der Pfeil trifft ins Schwarze, er federt aus, der Film ist zu Ende. AMA ZONA hat mich etwas ratlos zurückgelassen, trotzdem hat mir der Film nicht schlecht gefallen. - Die 1928 in Berlin geborene Narcisa Hirsch war 2012 Gast auf der Viennale, unter den dort gezeigten Filmen von ihr war auch AMA ZONA.



CHAPUCERÍAS
10:46, 35mm
Kuba 1987
Regie: Enrique Colina


CHAPUCERÍAS (was ungefähr "schlampige Arbeit" oder "Pfusch" bedeutet) von Enrique Colina ist eine wilde Collage: Es gibt Ausschnitte aus DR. JEKYLL AND MR. HYDE (die Version von 1931 mit Fredric March), eine Szene mit Laurel & Hardy, immer wieder eine Folge eines kubanisches Fernsehquiz im Stil von WAS BIN ICH, in dem ein Rateteam dem Moderator Ja/Nein-Fragen stellt, um einer Person oder einem Begriff auf die Schliche zu kommen. Und dazwischen ständig dokumentarische Szenen aus der kubanischen Gegenwart, die eines gemeinsam haben: Im Arbeits- oder Wirtschaftsleben geht etwas gründlich schief, aus Unfähigkeit oder Schlamperei. Da verliert ein LKW mitten in der Fahrt einen Teil der Ladung, da entpuppt sich ein Rohbau als Fehlkonstruktion, und dergleichen mehr. Im vorletzten Ausschnitt aus dem Quiz verrät der Moderator, dass der Gesuchte "schlimmer als AIDS" sei, und im letzten Ausschnitt wird seine Identität enthüllt: "der schlampige Arbeiter". Spätestens beim zweiten Sehen begreift man auch, wie Mr. Hyde da hineinpasst: Auch der Wissenschaftler Dr. Jekyll hat schlampig gearbeitet, schließlich lässt sich nicht bestreiten, dass sein Experiment gründlich in die Hose ging (und Laurel & Hardy versenken einen Wagen in einem großen wassergefüllten Loch in der Straße). Was sich am Anfang des Films schon angedeutet hat, erfüllt sich am Ende: Die Filmemacher werden von ihrer eigenen Inkompetenz eingeholt, und sie verpfuschen den Schluss komplett ... natürlich nicht wirklich, sondern nur inszeniert. Ich bin nicht ganz sicher, wie man CHAPUCERÍAS verstehen soll: Prangert er den Schlendrian an, der sich in vielen Ländern des "real existierenden Sozialismus", offenbar auch in Kuba, im Lauf der Jahrzehnte eingeschlichen hat? Oder gab es staatliche Kampagnen gegen solchen Schlendrian, und der Film macht sich darüber lustig? Das Booklet der DVD legt erstere Variante nahe. Für uns Außenstehende, im zeitlichen Abstand eines Vierteljahrhunderts, spielt es keine große Rolle - CHAPUCERÍAS ist in jeden Fall eine überraschende, witzige und handwerklich kompetente Auseinandersetzung mit der kubanischen Gegenwart der 80er Jahre.



ILHA DAS FLORES
13:13, 35mm
Brasilien 1989
Regie: Jorge Furtado


Der sehr, sehr böse ILHA DAS FLORES von Jorge Furtado beginnt mit drei Texteinblendungen: "Dies ist kein fiktionaler Film", "Es gibt einen Ort namens Ilha das Flores [Blumeninsel]", "Gott existiert nicht". Den ganzen Film hindurch doziert unermüdlich ein Sprecher im trocken-sachlichen Ton einer Lektion des TELEKOLLEG über den Lebensweg einer Tomate: Vom Anbau auf dem Feld eines japanischstämmigen Farmers über den Supermarkt in die Küche einer Mittelstandsfamilie. Doch statt verzehrt zu werden, landet die Tomate im Mülleimer und schließlich in Ilha das Flores - so heißt eine Müllkippe bei Porto Alegre (der Heimatstadt des Regisseurs). Eingestreut in den Text des Sprechers sind immer wieder in diesem Kontext absurde pseudo-formelle Definitionen wie "ein Mensch ist ein Wesen mit Großhirn und opponierbarem Daumen". Gezeigt wird dazu eine ebenso absurde Abfolge an Filmschnipseln, Collagen und Info-Grafiken. Das alles ist recht komisch - bis es in den letzten Minuten gar nicht mehr komisch wird. Wie man vom Sprecher (im selben nüchternen Tonfall wie bisher) nämlich erfährt, ist es mit der Ankunft der Tomate in der Müllkippe noch nicht zu Ende. Denn jetzt dürfen sich Schweine und arme Menschen über den Müll hermachen - und zwar in dieser Reihenfolge. Zwar haben Schweine kein Großhirn und keinen Daumen (wie man erfährt, falls man es noch nicht gewusst hat), doch Schweine haben Besitzer, und diese Besitzer haben nicht nur ein Großhirn und (sogar opponierbare) Daumen, sondern auch Geld. Arme Menschen dagegen haben weder Geld noch Besitzer, und damit sind die Prioritäten festgelegt. Damit das alles geregelt zugeht, werden abgezählte Gruppen von je zehn Menschen für fünf Minuten in die umzäunten Pferche eingelassen, und sie dürfen einsammeln, was die Schweine übriggelassen haben. Fünf Minuten sind 300 Sekunden. Seit 1958 ist eine Sekunde definiert als 9.192.631.770 Schwingungszyklen eines Cäsium-Atoms. Cäsium ist eine anorganische Substanz, die ... wie gesagt, ILHA DAS FLORES ist ein sehr böser Film. Er gewann jede Menge Preise, darunter einen Silbernen Bären in Berlin.



CORAZÓN SANGRANTE
4:18, Video
Mexiko 1993
Regie: Ximena Cuevas


Ximena Cuevas lernte ihr Handwerk in der mexikanischen Filmindustrie, bevor sie sich der Videokunst zuwandte. CORAZÓN SANGRANTE (Blutendes Herz) ist ein Musikvideo, das sie gemeinsam mit der Sängerin und Schauspielerin Astrid Hadad gestaltete. Hadad singt ihr wie der Film betiteltes Lied, in dem es in verschiedenen Bedeutungsebenen um den aztekischen Brauch des Heraustrennens des Herzens und um eine Frau, die ihrer Liebe nachtrauert, geht. Das Video ist farbenfroh, üppig-barock und (vielleicht ironisch gebrochen, aber das ist für mich schwer zu entscheiden) bewusst kitschig-naiv (manche Bilder haben mich an frühe Pathécolor-Filme von Ferdinand Zecca, Segundo de Chomón und Gaston Velle erinnert). CORAZÓN SANGRANTE errang zahlreiche Preise.



HAMACA PARAGUAYA
8:17, Video
Paraguay 2000
Regie: Paz Encina


Irgendwo im Wald, es regnet. Ein älteres Ehepaar geht (in gemäßigter Zeitlupe) auf einem schlammigen Weg auf eine im Bildvordergrund aufgespannte Hängematte zu (der Titel des Films bedeutet "Paraguayanische Hängematte"), setzt sich darauf und beginnt (in der indigenen Sprache Guarani) eine Unterhaltung über belanglose Dinge. Irgendwo im Hintergrund bellt ständig ein Hund. Am Ende der Unterhaltung kommen die beiden auf ihren Sohn zu sprechen, dessen Rückkehr sie erwarten, dann stehen sie auf und gehen den selben Weg zurück. Es donnert einmal kräftig, und eine Einblendung informiert uns darüber, dass jetzt auch der Hund aufgehört hat zu bellen. Aus dem Booklet erfährt man, dass es 1935 ist und der Sohn als Soldat in einen Krieg zwischen Paraguay und Bolivien gezogen ist. 2005 drehte dieselbe Regisseurin mit denselben beiden Darstellern auf 35mm unter demselben Titel eine 78 Minuten lange Fassung des Stoffes (in dem der Sohn wohl nicht mehr aus dem Krieg zurückkehrt). Diese Langfassung gewann einen FIPRESCI-Preis in Cannes und den Prix de L'Âge d'Or in Belgien, die kurze Urfassung hat mich jedoch gelangweilt.



CAMAL
15:50, 16mm
Ecuador 2001
Regie: Miguel Alvear


Dokumentarische schwarzweiße Aufnahmen aus dem städtischen Schlachthof von Quito ("camal" heißt in diesem Zusammenhang "Schlachthaus"), ohne Text, nur mit getragener Musik und wenigen dezenten Hintergrundgeräuschen unterlegt. Der Soundtrack besteht aus "Salvation" von Ryūichi Sakamoto - ich wusste nicht, dass Sakamoto, den ich bisher vor allem als Elektropop-Musiker (und als Schauspieler) kannte, auch solche neutönend-ernsten Klänge geschaffen hat. Für westeuropäische Augen befremdlich wirkt die Tatsache, dass auch kleine Kinder ganz unbefangen im Schlachthaus zugange sind. Die Bilder sind weniger krass als in Georges Franjus LE SANG DES BÊTES, empfindsame Tierfreunde seien aber trotzdem gewarnt: Auch bei diesem Film könnte sich ihnen der Magen umdrehen. Doch ebenso wie LE SANG DES BÊTES, übt auch CAMAL einen großen poetischen Reiz auf den Betrachter aus. Inspiriert wurde Alvear aber nicht von Franju, sondern von dem mir unbekannten THE HART OF LONDON des Kanadiers Jack Chambers. Gedreht wurden die Aufnahmen zu CAMAL schon 1991, aber nach Experimenten mit verschiedenen Schnittfassungen wurde er erst 2000 fertiggestellt. Angeblich ist ein Teil der Aufnahmen in Farbe entstanden, auf der DVD ist der Film aber komplett in Schwarzweiß.



JUQUILITA
2:22, 16mm
Mexiko 2004
Regie: Elena Pardo


Semi-abstrakte Stop-Motion-Animation, bunt und funkelnd wie ein Kaleidoskop. Einige kurze Bildfolgen wirken wie ein farbiges Update zu Man Rays LE RETOUR À LA RAISON. Der schöne kurze Film ist Nuestra Señora de Juquila gewidmet, einer regionalen Ausprägung des Madonnenkults im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca. Der Soundtrack besteht aus der Toccata des holländischen Percussionisten Henk de Vlieger und wurde von der Gruppe Tambuco eingespielt, und er komplettiert JUQUILITA zu einem sehr ansprechenden Werk.



GALLERY DOGS
2:19, Video
Peru 2005
Regie: Diego Lama/Quentin Tarantino


Der Film besteht komplett aus einem Ausschnitt aus Tarantinos RESERVOIR DOGS: Harvey Keitel, Steve Buscemi, Tarantino selbst und noch zwei oder drei weitere Männer sitzen diskutierend an einem Tisch und werden langsam von der Kamera umkreist. Laut Booklet will Lama damit diesen "extrem gewalttätigen Film dekontextualisieren", mit der Rekreation einer Szene, die "eine Gesellschaft, die zu weit gegangen ist, hinterfragt und kritisiert". Was sich mir aber nicht erschlossen hat.



DOCUMENTAL
2:13 (auf DVD 1:06), Video
Venezuela 2005
Regie: Alexander Apóstol


In einem dunklen, in Braun gehaltenen Raum läuft im Fernseher ein Bericht aus den 50er Jahren über den damaligen Bauboom in Caracas, der von den Petrodollars befeuert wurde: Alte Gebäude wurden abgerissen, dafür neue Hochhäuser errichtet. Von der Einrichtung des Raums oder von den Bewohnern bekommt man nicht viel mit (was aber möglicherweise auf einer schlechten Kopie oder schlechtem Mastering beruht, denn auf diesen beiden Screenshots ist das Bild viel heller, und man erkennt alles bestens), aber aus dem Booklet erfährt man, dass es sich um eine Wohnung in den Chabolas handelt, Slum-ähnliche Bezirke am Stadtrand, die gerade in jener Zeit des Baubooms entstanden. Als der Sprecher des Fernsehberichts als Fazit den Fortschritt preist, beginnt die Kamera plötzlich entfesselt und wie im Delirium um den Fernseher zu kreisen. Aus mir unerfindlichen Gründen ist von dem ohnehin sehr kurzen Film nur die Hälfte auf der DVD enthalten. Ich bin zwar nicht sicher, aber ich habe den Eindruck, dass es die erste Hälfte ist, so dass das visuelle Delirium noch eine Minute weitergehen könnte. Schade, denn vom enthaltenen Ausschnitt sind die letzten Sekunden am interessantesten - davon hätte es noch mehr geben können.



OPUS
4:49, Video
Kuba 2005
Regie: José Ángel Toirac


Man hört die etwas mühsam, machmal fast verzweifelt klingende Stimme eines (vermutlich älteren) Mannes, die Zahlen aufsagt, kleine und große Zahlen, ohne irgendein erkennbares System. Synchron dazu sieht man diese Zahlen in nüchternen weißen Ziffern vor einem schwarzen Hintergrund. So geht das knapp fünf Minuten dahin, und so unvermittelt, wie der Film begonnen hat, hört er auf. Was soll das nun wieder bedeuten? Die äußerst verblüffende Auflösung erfährt man aus dem Booklet: Die Stimme gehört keinem Geringeren als Fidel Castro, und man lauscht einer Rede, die der Comandante zum Beginn des Schuljahres 2003/2004 auf einem öffentlichen Platz in Havanna gehalten hat. Die Rede wurde nur etwas gekürzt: Alles außer den enthaltenen Zahlwörtern wurde rausgeschnitten. José Ángel Toirac weist so dezent auf die Zahlenhuberei in (nicht nur) Castros Reden hin. Und wenn schon diese eingedampften Zahlen fast fünf Minuten brauchen, dann wird man auch daran erinnert, dass der Máximo Líder für seine oft stundenlangen Reden berüchtigt war.



OJO DE PEZ
15:16, Video
Kolumbien 2008
Regie: Gabriel Enrique Vargas


Vargas' Abschlussfilm an einer Filmschule in Bogotá, dessen Titel "Fischauge" bedeutet. In einem quadratischen Filmformat mit unscharfen Rändern, in kontrastreichem Schwarzweiß, sieht man, wohl in und um einen Bauernhof, Tiere: Nutztiere, eine Katze, Insekten. Und immer wieder einen Fisch, der auf einer Tischplatte liegt und nach Luft schnappt. Dazwischen auch Menschen, die man aber nur in Ausschnitten, in einzelnen Körperteilen sieht. Vor allem eine Frau, die sich die Hände wäscht, Verrichtungen in der Küche ausführt, und dergleichen. Zu so etwas wie einer Handlung verdichtet sich das ganze nicht, was es für mich etwas mühsam machte, bei der Stange zu bleiben. Ebenso prägnant wie die Bilder ist der Soundtrack, der aus Naturgeräuschen besteht: Fließen von Wasser, Zwitschern von Vögeln, Summen von Insekten, das Miauen der Katze. Die als "Appendix" vom Rest abgetrennten letzten zwei Minuten gehören dem (immer noch lebenden) Fisch und einer Biene, die sich auf ihm niederlässt, scheinbar, um interessiert seinen Körper zu untersuchen. Als sie mitten über sein offenes Auge krabbelt, hätte ich dem Fisch einen schnellen, schmerzlosen Tod gewünscht. Diese zwei Minuten waren für mich unangenehmer anzusehen als jede einzelne Szene aus dem Schlachthof von Quito.



Fazit

Für mich eine interessante Exkursion in eine unbekannte Welt - von keinem der Filme oder Regisseure hatte ich zuvor gehört. Meine Favoriten sind LA CIUDAD EN LA PLAYA, REVOLUCIÓN, NOW!, OFRENDA, AGARRANDO PUEBLO, CHAPOCERÍAS, ILHA DAS FLORES, CAMAL und JUQUILITA. Die wenigen Filme, die mir wenig oder gar nicht gefallen haben, konnte ich problemlos verschmerzen. Wie man sich denken kann, findet man etliche der Filme auch auf den üblichen Videoportalen. Aber wer jetzt neugierig geworden ist, sollte in Erwägung ziehen, die durchaus preiswerte DVD zu kaufen.

3 Kommentare:

  1. Wieder mal eine interessante Besprechung exotischer Kurzfilme. Schön :-)
    LA CIUDAD EN LA PLAYA: tja, Industriefilmemacher können manchmal die kreativsten Köpfe sein. Siehe natürlich Geoffrey Jones. Oder Herk Harvey, über den ich vielleicht gerne hier mal was schreiben möchte.
    NOW! Ich werde dieses fürchterliche déjà-vu-Erlebnis nicht los, dass ich dieses ikonische In-die-Wand-Schießen mit der Maschinenpistole schon irgendwo gesehen habe – also genau dieses „NOW!“. Ich weiß nur nicht mehr, wo, da ich gerade den Film selbst auch zum ersten Mal gesehen habe. Ist natürlich auch ein extrem markantes künstlerisches Statement! Und hat (wie man sieht) einen großen (und wohl auch gewünschten) Wiedererkennungswert. Zu deiner Frage: „Welcher US-Regisseur hätte statt seiner diesen tollen Film gemacht?“ Diesen eher essayistischen Film nicht, aber spontan hätte ich Roger Corman gesagt, der drei Jahre zuvor mit THE INTRUDER ziemlich krasse Bilder zum Rassismus im tiefsten Süden geschaffen hatte. Ein Film, der allerdings seinerzeit komplett floppte (und Morddrohungen für die Beteiligten nach sich ziehte) und erst Ende der 1990er Jahre wieder in Umlauf gebracht wurde.
    OFRENDA: legt auf den ersten Blick ein politisches Statement nahe (wegen der Symbolik der Blumen), aber die Informationen auf der verlinkten Seite sprechen ja eher dagegen.
    AMA ZONA: paradoxer Zufall... ich war da – habe es aber trotzdem verpasst.
    OPUS: Glaubt man einer Episode aus LA NUIT AMÉRICAINE, ließ Fellini seine Schauspieler beim Drehen Zahlenreihen sprechen, wenn er keinen Direktton nutzte. Vielleicht hätte aus Castro also ein Fellini-Stammschauspieler werden können ;-) Großartige Konzeptkunst!

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    1. Herk Harvey: CARNIVAL OF SOULS ist natürlich ganz toll, sonst kenne ich überhaupt nichts von ihm. Also mal sehen, was da kommt!

      THE INTRUDER habe ich noch nicht gesehen, nur bei Oliver Nöding darüber gelesen. Der gäbe vielleicht ein gutes Double Feature mit dem ähnlich betitelten INTRUDER IN THE DUST von Clarence Brown. An dem gefällt mir, dass Brown und sein Autor Ben Maddow (und vielleicht die Vorlage von Faulkner, aber die kenne ich nicht) der von Juano Hernandez gespielten schwarzen Hauptfigur die Klischee-Opferrolle ersparen und ihn ziemlich souverän dastehen lassen, Jahre bevor Sidney Poitier solche Rollen gespielt hat. Was den alltäglichen Rassismus in den 60er Jahren ohne (sichtbare) Gewaltexzesse betrifft, ist auch M. Roemers NOTHING BUT A MAN ein interessanter Beitrag.

      Bei OFRENDA habe ich jetzt gesehen, dass es bei YouTube und Vimeo eine Version mit einem neuen Soundtrack von 1990 gibt. Ich frage mich nur, warum Caldini das gemacht hat. Ich finde die Musik von Alice Coltrane viel passender als dieses etwas langweilige Gedudel. Wenigstens gibt es hier noch einen kurzen Ausschnitt mit der Originalmusik.

      Narcisa Hirsch in Wien: Tja, was must Du deine Zeit auch mit diesem obskuren ... wie heißt er gleich? ... ach ja: Fritz Lang verschwenden? :-Þ

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    2. Harvey: ich habe eine DVD von CARNIVAL OF SOULS, wo es als Bonus etwa eine Stunde Ausschnitte aus seinen Industriefilmen gibt. Muss ich erst noch sichten. Also Geduld!
      THE INTRUDER würde hier bestimmt ebenfalls eine eigene Besprechung verdienen (ich denke auch darüber nach): ein emotional ungeheuer verheerender Film.
      Irgendwie kam mir die Version von OFRENDA bei youtube tatsächlich komisch vor – als wären Alice Coltranes Harfenklänge sehr sehr sehr stark elektronisch verfremdet worden...
      Ach ja, dieser Franz, ähm, Fritz Lang... völlig überschätzt ;-)

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