Montag, 3. Juli 2017

Im Wald, da sind die Räu-häu-ber!

Friedrich Fehérs schräge Räubersymphonie

THE ROBBER SYMPHONY (dt. RÄUBERSYMPHONIE (BRD) bzw. DIE RÄUBERSINFONIE (DDR))
Großbritannien 1936
Regie: Friedrich Fehér
Darsteller: Hans Fehér (Giannino), Magda Sonja (seine Mutter), George Graves (Großvater), Michael Martin Harvey (der Räuber mit dem Strohhut), Alexandre Rignault (Black Devil), Tela Tchaï (die Räuberin), Webster Booth (der singende Räuber), Jack Tracy und Al Marshall (die musizierenden Räuber), Jim Gérald (der Köhler), Vinette (die Wahrsagerin), Ivor Wilmot (Magistrat)

"Wir sind keine Banditen!"
"Was sind wir denn?"
"Räuber!"

Giannino, der Held der Geschichte
HAROLD HOLT presents the FIRST "COMPOSED" FILM - so verkündet es stolz gleich das erste Titelblatt der Credits von THE ROBBER SYMPHONY. Gemeint ist damit, dass zuerst die (von Friedrich Fehér selbst geschriebene) Musik entstand und dann der Film nach der Musik gedreht und geschnitten wurde. Ob THE ROBBER SYMPHONY tatsächlich der erste Film nach diesem Prinzip war, sei mal dahingestellt (ich habe leise Zweifel daran), aber er ist jedenfalls so konstruiert. Wie um das gleich nochmal zu verdeutlichen, beginnt nach der zweiminütigen Titelsequenz nicht gleich die Handlung, sondern es folgt erst noch eine fünfeinhalbminütige Ouvertüre mit einem Symphonieorchester in einem Konzertsaal (nämlich Queen's Hall in London), dirigiert von Fehér selbst (man sieht ihn dabei allerdings nur von hinten), aber ohne sichtbares Publikum (und in den letzten zehn Sekunden des Films ist als abschließende Klammer nochmals das Orchester zu sehen und zu hören). Schon hier stellt sich eine merkwürdige Stimmung ein, weil das Orchester (einschließlich des Dirigenten) sonderbar aussehende Hüte trägt.

Ouvertüre mit merkwürdigen Hüten
Dann geht es nun endlich richtig los - Überblendung vom Orchester zu einer mediterranen Küstenlandschaft irgendwo in Südfrankreich (gedreht wurden die Außenaufnahmen des ersten Filmteils bei Nizza). Aufgrund der teils märchenartigen bis leicht surrealen Handlung, die nun folgen wird, ist die Zeit nicht genau bestimmt. Die Uniformen der Gendarmen, die meisten Kleider und das Walzenklavier, das im Film eine zentrale Rolle spielt, deuten ins 19. Jahrhundert, während die auf die Räuber ausgesetzte Belohnung von 1000 Louis d'or auf spätestens das 18. Jahrhundert verweist (und der Tatsache, dass mindestens einmal Strommasten und -leitungen zu sehen sind, sollte man in dieser Hinsicht überhaupt keine Bedeutung beimessen). Einigen wir uns also darauf, dass der Film "vor mehr als hundert Jahren" (von 1936 aus gerechnet) spielt.

Hier beginnt die Geschichte
Wir befinden uns nun in einer kleinen Stadt, und ein Steckbrief (mit den besagten 1000 Louis d'or als ausgesetzter Belohnung) klärt uns darüber auf, dass die berüchtigte Räuberbande von Alfred Galotti, besser bekannt als The Black Devil, seit einiger Zeit die Gegend unsicher macht. Was die braven Bürger nicht ahnen: Die Räuber sind mitten unter ihnen! Denn der Wirt eines Gasthauses in der Stadt ist kein anderer als der "Schwarze Teufel", seine Kellnerin ist das einzige weibliche Bandenmitglied, und ein unscheinbarer älterer Herr mit Strohhut, scheinbar nur ein harmloser Gast des Wirtshauses, gehört auch zu den Räubern. Komplettiert wird die Bande von zwei Oboe bzw. Fagott spielenden Musikern und einem öligen Tenor. Ein riesiges leeres Weinfass, auf einer Pferdekutsche montiert, dient den Räubern als fahrende Einsatzzentrale.

Mutter und Großvater, Esel und Hund
Gleich in der Nähe des Gasthauses logiert eine Familie von fahrenden Straßensängern aus Italien, bestehend aus dem ca. 14-jährigen Giannino, seiner Mutter und seinem Großvater. Die beiden Erwachsenen unterhalten die Gäste des Wirtshauses mit ihren Liedern, während Giannino mit einer Kurbel das Walzenklavier bedient, das auf einem fahrbaren Untersatz montiert ist, der von einem Esel gezogen wird. Mit von der Partie ist auch ein schwarzer Hund, der auf Gianninos Kommando hin zahlungsunwilligen Gästen der Gesangsdarbietungen ans Bein pinkelt. Außer das Klavier zu bedienen und dem Hund fragwürdige Kunststücke beizubringen, beherrscht Giannino auch die Kunst, mit einem kleinen Blasrohr Kügelchen sehr zielgenau zu verschießen. Für die Dauer ihres Aufenthalts wohnen die fahrenden Künstler im Erdgeschoss (mit angrenzendem Stall) eines Hauses, dessen obere Stockwerke von der Besitzerin, einer zänkischen Wahrsagerin, bewohnt werden. Die Dame ist mit ihrer zweifelhaften Profession zu Reichtum gelangt - mehr als 12.000 Golddukaten, die sie in einem Sparstrumpf sicher verwahrt (wie sie meint).

Räuber: Der Wirt, die Kellnerin, der Tenor und der mit dem Strohhut
Doch genau diese Dukaten sind das nächste Ziel der Räuber. Giannino wird dabei zum unfreiwilligen Helfer: Nachdem seine Mutter einen heftigen Streit mit der Wahrsagerin hatte, flüstert die Kellnerin ihm ein, in der nächsten Nacht die Stalltür nicht zu verschließen, weil sie der Wahrsagerin einen Streich spielen wolle. In Wirklichkeit nützt der Räuber mit dem Strohhut den Zugang ins Haus, um den Sparstrumpf zu entwenden. Doch der Abtransport der Beute misslingt, weil Giannino durch eine achtlos weggeworfene Zigarette einen Brand auslöst. In dem Tohuwabohu weiß sich der Räuber nicht anders zu helfen, als die Beute ausgerechnet im Walzenklavier zu verstecken. Ein erster Versuch zur nächtlichen Bergung der Beute in einem heftigen Sturm scheitert kläglich, und so muss ein raffinierter Plan her - der strikt ohne Blutvergießen auskommen muss, weil Black Devil nicht eines Tages am Galgen baumeln will.

Oben der Rest der Bande
Der Plan besteht nun darin, dass der Tenor Gianninos Mutter mit einer Belcanto-Arie anschmachten und dabei betrunken machen soll, während die Kellnerin den Großvater zu einem wilden Tanz zu südländischen Rhythmen verführt. Dieser Tanz gerät zu einer ziemlich unglaublichen und sehr komischen Szene. Die beiden musizierenden Räuber, der Räuber mit dem Strohhut, vor allem aber der wie unter Strom stehende Großvater geraten dabei in wilde, geradezu frenetische Zuckungen. Am Ende sinkt er völlig ermattet ins Stroh des Stalls und verfällt in einen Dornröschenschlaf, während Gianninos Mutter weinselig und beduselt vor sich hin dämmert. Doch der schöne Plan der Räuber war nicht ganz perfekt, denn sie hatten Giannino nicht auf der Rechnung. Der schläft jetzt nämlich ausgerechnet auf dem Klavier, und so wird er kurzerhand mit abtransportiert. Durch die Schusseligkeit der Räuber und die Wachsamkeit des Hundes endet diese Szene damit, dass der immer noch schlafende Giannino, das Klavier, der Esel und der Hund in einem Ruderboot auf dem Mittelmeer treiben, während die konsternierten Räuber an Land das Nachsehen haben.

Die Wahrsagerin in ihrem Kabinett
Unterdessen wurde Gianninos Mutter verhaftet, weil man sie verdächtigt, zur Räuberbande zu gehören. Die ob des finanziellen Verlusts hysterisch kreischende Wahrsagerin geht dem Magistrat, der die Untersuchung führt, gehörig auf die Nerven, doch sie bringt nicht ganz zu Unrecht vor, dass der Dieb durch den Stall gekommen sein muss. Weil die Mutter nichts von Gianninos unwissentlicher Beihilfe weiß, kann sie nichts zu ihrer Verteidigung aussagen. - Als Giannino am nächsten Morgen erwacht, kann er problemlos ans Ufer rudern, wird dort aber auch gleich festgenommen, zu einer Polizeiwache in den Bergen gebracht und nach dem Verbleib der Beute befragt. Natürlich weiß er nichts darüber, und so wird er erst mal eingekerkert, kann sich aber durch einen Kunstschuss mit seinem Blasrohr befreien. Mit dem Klavier, Esel und Hund macht er sich nun auf die Suche nach seiner Mutter, ohne konkret zu wissen, wo er eigentlich hin muss - verfolgt von den Räubern in ihrem riesigen fahrenden Fass.


Giannino kommt in ein kleines Bergstädtchen, wo zu seiner Verblüffung vier weitere von Eseln gezogene fahrbare Walzenklaviere auftauchen. Es handelt sich um einen weiteren Plan der nun als Artisten und Clowns verkleideten Räuber: Während der mit dem Strohhut, mit einer Pappnase getarnt, eine öffentliche Vorstellung als Seiltänzer gibt, soll Giannino im allgemeinen Trubel eines der falschen Klaviere untergejubelt und das mit der Beute abspenstig gemacht werden. Doch auch dieser reichlich absurde Plan scheitert kläglich, und es kommt für die Räuber noch schlimmer: Als Giannino dem Mann mit dem Strohhut mit seinem Blasrohr die Pappnase wegschießt, wird dieser von einem Polizisten erkannt und verhaftet. Unterdessen begeht die Wahrsagerin einen fatalen Fehler: In ihrer Hysterie schreit sie, dass jeder, der ihr auch nur einen ihrer Dukaten zurückbringt, den Rest als Belohnung behalten darf. Der Magistrat befiehlt geistesgegenwärtig, diese Aussage schriftlich festzuhalten.

Ein Brand bringt einen Räuber in Nöte
Auf seiner mehr oder weniger ziellosen Fahrt kommt Giannino immer höher ins Gebirge, immer noch von der (um einen Mann dezimierten) Bande verfolgt, und er erfriert fast, wird aber von einem Köhler gerettet, der da oben als Eremit haust. Und die Räuber bleiben weiterhin glücklos: Black Devil, der Giannino in einer öden Schnee- und Eiswüste zuletzt zu Fuß verfolgt hat, bleibt in einem Schneeloch wie in Treibsand stecken, während die anderen in ihrem zugefrorenen Fass eingeschlossen sind. Um es kurz zu machen: Giannino und der Köhler erkennen den Wirt anhand der Beschreibung aus dem Steckbrief als Räuberhauptmann, bringen ihn und seine Komplizen in die Stadt zum Magistrat, und beweisen so die eigene Unschuld. Und Giannino kassiert nicht nur die 1000 Louis d'or, sondern auch das Vermögen der Wahrsagerin (abzüglich eines Dukaten). Und damit ist diese merkwürdige Geschichte zu Ende. Nein, noch nicht ganz. Der Großvater, der ungefähr eineinhalb Stunden des Films verschlafen hat, erwacht im Stroh, räkelt sich und mischt sich unters Volk, als sei nichts gewesen. Nun ja, für ihn ist auch nichts gewesen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute ...

Der Tenor macht sich an die Mutter ran, während Opa in Zuckungen gerät
Weite Strecken von THE ROBBER SYMPHONY, vor allem Gianninos Odyssee mit Klavier, Esel und Hund, folgen mehr einer Traumlogik als einem rationalen Bauplan. Der mit über 140 Minuten nicht gerade kurze Film ist dabei durchweg unterhaltsam. Vieles trägt dabei zur absurden Verfremdung der Handlung bei. Immer wieder gibt es skurrile, absonderliche Handlungseinfälle. Das Drehbuch schrieben Friedrich Fehér und sein englischer Coproduzent Jack Trendall nach einer Vorlage von dem österreichischen Journalisten und Schriftsteller Anton Kuh. Gelegentlich gibt es Slapstick-Elemente, manchmal auch mit Zeitraffer oder rückwärts laufendem Film, Zeitlupe kommt aber auch ein- oder zweimal zum Einsatz. Als Giannino fast erfriert, sieht er sich selbst in einer Halluzination als Seiltänzer, was zu einer schönen Montagesequenz mit stark verdrehten Kamerawinkeln gerät. Im Soundtrack gibt es längere dialoglose Passagen, in denen (gemäß dem in den Credits angekündigten Grundkonzept) die Musik dominiert und den Filmrhythmus vorgibt. Es gibt aber auch einige extravagante Soundeffekte. Als sich etwa ein Insekt auf der Pappnase des seiltanzenden Räubers niederlässt, ist dessen Summen in stark übertriebener Lautstärke zu hören. Und mehrfach gibt es Geräusche mit starken Halleffekten.

Der Abtransport der Beute scheitert zum wiederholten Mal
Insgesamt zeigt THE ROBBER SYMPHONY eine mild surreale Grundstimmung. Im visuellen Bereich weist er aber auch Einflüsse des Expressionismus auf, vor allem bei Szenen, die nachts spielen. Hierfür konnte Friedrich Fehér auf die Mithilfe dreier bewährter Fachkräfte des Stummfilms und frühen Tonfilms der Weimarer Republik zurückgreifen. CALIGARI-Regisseur Robert Wiene, unter dem Fehér von 1916 bis 1925 viermal als Schauspieler gearbeitet hatte, und der nun wie Fehér im englischen Exil war, fungierte als Produktionsleiter. Eugen Schüfftan, der mit seinen Kameratricks schon METROPOLIS veredelt hatte, war Kameramann. Und der aus Ungarn stammende Filmarchitekt und Kostümbildner (und gelegentliche Regisseur) Ernö Metzner, der etwa schon mehrfach für Lubitsch und Pabst gearbeitet hatte, war auch hier für die Bauten zuständig. Etliche der von Metzner für THE ROBBER SYMPHONY entworfenen Gebäude zeigen einen leicht expressionistischen Touch. Es handelt sich um keine scharfkantigen, spitzwinkligen, flächig-gemalten Kulissen wie bei CALIGARI, sondern mehr um organisch-runde Formen, wie sie etwa schon Hans Poelzig für DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM kreiert hatte.

Ungewollter Ausflug zur See
THE ROBBER SYMPHONY zeigt somit deutliche Einflüsse des Weimarer Films. Gelegentlich denkt man an einzelne Filme von Pabsts DREIGROSCHENOPER bis zu EMIL UND DIE DETEKTIVE, aber auch an THE DEVIL'S BROTHER (FRA DIAVOLO) mit Stan Laurel und Oliver Hardy (nur eben ohne Laurel & Hardy). Apropos: Die beiden von Jack Tracy und Al Marshall gespielten musizierenden Räuber sind (allerdings nur in diesem Film) auch so etwas wie ein Komikerpaar. Zwar haben sie nichts mit Stan & Ollie zu tun, aber in ihrem Habitus und ihrem lakonischen Zusammenspiel haben sie mich etwas an Pat & Patachon erinnert. - Trotz aller Einflüsse lässt sich festhalten: Mit seinen vielen skurrilen und absurden Einfällen ist THE ROBBER SYMPHONY ein ganz eigenständiger und fast singulärer Film.

Die Wahrsagerin macht sich bei den Behörden unbeliebt, während die Mutter im Gefängnis sitzt

Friedrich Fehér: Von Caligari zu (der Flucht vor) Hitler


Wer spielte 1919 die Hauptrollen in DAS CABINET DES DR. CALIGARI? Werner Krauß, Conrad Veidt, Lil Dagover - viele Cineasten können die Namen nennen, ohne nachsehen zu müssen. Aber wer war gleich nochmal Franzis, der Erzähler der bizarren Geschichte? Genau: Es war der österreichische Schauspieler, Regisseur, Komponist und Dirigent Friedrich Fehér. Da war er schon seit einigen Jahren gut im Geschäft. Geboren wurde der aus einer jüdischen Familie stammende Fehér (oft auch Feher geschrieben) 1889 als Friedrich Weiß in Wien. Laut Geburtsregister der Jüdischen Kultusgemeinde in Wien war sein Vater ein "Börsebesucher" (also wohl ein Spekulant oder Börsenmakler) aus Budrea, vermutlich in Rumänien (eine Wiener Archivarin meinte in REQUIEM VOOR EEN FILM (siehe unten), dass es sich dabei um Budapest handelt, aber ich glaube, da täuschte sie sich). Seinen Künstlernamen entlehnte er dem Ungarischen - "fehér" bedeutet "weiß". Ob er selbst Ungarisch sprach, weiß ich nicht.

Die mobile Kommandozentrale der Räuber
Nachdem er das Wiener Konservatorium absolviert hatte, wurde Fehér Theaterschauspieler an deutschen und österreichischen Bühnen, dann auch Theaterregisseur, und ab 1911 als Schauspieler bzw. seit 1913 als Regisseur war er beim Film, wobei er ebenfalls zwischen Deutschland und Österreich pendelte. Zeitweise hatte er eine eigene Produktionsgesellschaft, und Mitte der 20er Jahre leitete er ein Theater in Wien. Fehérs bekannteste und wichtigste Rolle als Filmschauspieler war zweifellos die in CALIGARI. Bei vielen seiner Filme als Regisseur spielte Fehérs Frau, die tschechisch-österreichische Schauspielerin und Sängerin Magda Sonja, die weibliche Hauptrolle. Magda Sonja, 1886 als Venceslava Vesely im tschechischen Hradisko geboren, war einer der größten weiblichen Stummfilmstars in Österreich. Ihre bekanntesten Stummfilme waren vielleicht MATA HARI und der zweiteilige MARIA STUART, beide 1927 von Fehér inszeniert. 1922 wurde Hans Fehér als einziges Kind des Paars in Wien geboren. In IHR JUNGE (1931) und GEHETZTE MENSCHEN (1932), Fehérs einzigen deutschsprachigen Tonfilmen (wobei es von beiden auch eine tschechische Sprachfassung gibt), spielte Hans Fehér erstmals neben seiner Mutter und unter der Regie seines Vaters. Bei der deutschen Version von IHR JUNGE spielte auch Friedrich Fehér selbst mit, sowie Szöke Szakáll, der später als S.Z. Sakall ein vielbeschäftiger Nebendarsteller in Hollywood war.

In einem Bergstädtchen ...
1933 emigrierte die jüdische Familie über die Tschechoslowakei nach England. Hier wurde THE ROBBER SYMPHONY Fehérs einziger und insgesamt sein letzter Spielfilm, und er legte alles hinein, was er hatte. Er gründete zur Produktion die Concordia Films Ltd., Fehér war also (zusammen mit dem erwähnten Jack Trendall) auch Produzent des Films, der mit ca. 80.000 £ für einen britischen Film dieser Jahre nicht gerade billig war - neben den Studioaufnahmen in England und den Außenaufnahmen in Südfrankreich wurde auch in Österreich und am Montblanc-Massiv gedreht. Bei den Darstellern griff Fehér auf eine Mischung englischer und französischer Akteure zurück. Die in der IMDb genannte Françoise Rosay spielt allerdings nur in der parallel gedrehten französischen Sprachfassung LA SYMPHONIE DES BRIGANDS - sie ersetzt hier anscheinend Vinette als die Wahrsagerin. Über die sonstigen Darsteller in dieser französischen Version weiß ich nichts - man findet so gut wie keine Informationen über diese Fassung (LA SYMPHONIE DES BRIGANDS wird heute auch als franz. Titel der engl. Fassung verwendet, deshalb kursieren diesbezüglich irreführende Informationen). Möglicherweise ist die franz. Fassung verschollen, aber sicher bin ich da auch nicht.

... kommt es zur wundersamen Esels- und Klaviervermehrung
Um noch einmal auf die Darsteller zurückzukommen: Tela Tchaï, die eigentlich Martha Winterstein hieß, wurde zwar in Roubaix geboren, und sie wird in der franz. Wikipedia als Französin (mit Sinti/Roma-Wurzeln) bezeichnet, aber sie hatte offenbar auch deutsche Wurzeln. Darauf deutet nicht nur ihr richtiger Name hin, sondern auch die Tatsache, dass sie in REQUIEM VOOR EEN FILM abwechselnd deutsch und französisch (aber mehr deutsch) antwortet. Tela Tchaï spielte 1932 in DIE HERRIN VON ATLANTIS (einschließlich der engl. und der franz. Parallelversion) von G.W. Pabst, wo Eugen Schüfftan hinter der Kamera stand, und der hatte sie dann Fehér für die Rolle der Räuberin mit dem leicht exotischen Aussehen empfohlen. Im Interview erzählte sie, dass sie ihn damals "Schüffi" nannte. Ihren letzten Film drehte Tela Tchaï 1945, später widmete sie sich der Malerei.

Das Ende einer Räuberlaufbahn
Für die Aufnahme der von ihm geschriebenen Musik sowie die Filmaufnahme der Ouvertüre engagierte Fehér das renommierte London Symphony Orchestra. In den Credits wird es "Concordia Symphony Orchestra" genannt, aber das ist ein Fantasiename - die von Fehér gegründete Firma betrieb natürlich nicht gleich ein eigenes Symphonieorchester. Weil für die Filmaufnahme der Ouvertüre in den Shepperton-Studios nicht genug Platz für das große Orchester war, wurde mit der Queen's Hall (die im Zweiten Weltkrieg durch eine Bombe zerstört wurde) ein echter Konzertsaal herangezogen. Fehér ist wie erwähnt als Dirigent (von hinten) zu sehen, aber bei den Tonaufnahmen der Musik (die separat von den Filmaufnahmen an einem anderen Ort stattfanden) dirigierte er nicht selbst, oder zumindest nicht alles. Vielmehr griff er dazu auf die Mithilfe des jüdischen Komponisten und Dirigenten Alfred Tokayer zurück. Tokayer wurde 1900 in Köthen in Sachsen-Anhalt geboren. Er wirkte als Orchesterleiter in Bremen und Berlin. Ab 1935 war er in Frankreich im Exil, und 1936 reiste er nach London, um für Fehér zu arbeiten. Danach wieder in Frankreich, wurde er dort 1943 verhaftet und nach Sobibor deportiert, wo er noch im selben Jahr starb.

Immer höher ins Gebirge
Leider war die teure ROBBER SYMPHONY ein ziemlicher Misserfolg, und die Concordia Films Ltd. ging pleite. Fehér reiste schon 1936 in die USA, um den Film dort zu vermarkten und doch noch zu einem Erfolg zu machen, aber auch damit hatte er kein Glück. Er blieb dann gleich in den USA, und Magda Sonja und Hans kamen wenig später nach. Die Familie ließ sich im Raum Los Angeles nieder. Die von Fehér wohl erhoffte Hollywood-Karriere blieb aber leider aus. Er inszenierte mehrere kurze Konzertfilme mit Symphonieorchestern, wobei er teilweise auch dirigierte, aber keinen Spielfilm mehr. Zwar gab es einen Anlauf dazu - für MGM hätte er einen Film über den "Butzemann" (bogeyman) inszenieren sollen, aber das verlief wegen Problemen mit den Rechten letztlich im Sand. Zum letzten Mal als Schauspieler sah man Fehér 1943 in einer Nebenrolle in JIVE JUNCTION seines österreichischen Landsmannes im Exil Edgar G. Ulmer. Für Magda Sonja war schon THE ROBBER SYMPHONY ihr letzter Film. 1950 reiste Fehér nach Deutschland, wo er einen Film vorbereiten wollte. Ich weiß nicht, ob das schon konkrete Formen angenommen hatte oder mehr Wunschdenken war. Es spielte keine Rolle mehr, denn im September 1950 erlitt er in Stuttgart einen Herzanfall und starb kurz darauf. Magda Sonja verschwand nach dem Tod ihres Mannes komplett in der Obskurität. In REQUIEM VOOR EEN FILM wurde ihr Verbleib 1989 als völlig unbekannt bezeichnet. Immerhin weiß man heute, dass sie 1974 in Los Angeles starb.

Ein Köhler rettet Giannino vor dem Erfrieren
Hans Fehér hatte schon in THE ROBBER SYMPHONY (und vielleicht auch in seinen vorherigen beiden Filmen) mit wenig Begeisterung für die Filmerei mitgespielt (was seiner Leistung aber nicht abträglich war - er spielte wirklich gut). Jetzt, in den USA, hatte er überhaupt keine Lust, als Kinderstar weiterzumachen, und auch als Erwachsener wollte er nicht Schauspieler werden. Stattdessen wurde Hans, oder Jack Anthony Feher, wie er dann in den USA hieß, Croupier in Las Vegas - sehr zum Verdruss seines Vaters, der ihn in einem künstlerischen Beruf sehen wollte. Aber ihm hat diese Tätigkeit Spaß gemacht, wie sich seine (angeheiratete) Tante in REQUIEM VOOR EEN FILM erinnerte. Am Zweiten Weltkrieg nahm er als Unteroffizier der US Army teil. Später war er auch Manager eines Varietés, wohl ebenfalls in Las Vegas, und in seinem Totenschein ist als Beruf writer verzeichnet - ich weiß aber nicht, was er geschrieben hat. Jack Anthony Feher starb schon 1958 mit nur 35 Jahren an einer chronischen Erkrankung der Leber - laut REQUIEM VOOR EEN FILM war er Alkoholiker.

Die Räuber sitzen in der Falle
Erstmals 1940 lief THE ROBBER SYMPHONY in den Niederlanden, und das war anscheinend einer der wenigen Orte, wo er Erfolg hatte. Der holländische Autor K. Schippers sah den Film als Kind und liebte ihn sehr. In dem 1989 erschienenen 98-minütigen Dokumentarfilm REQUIEM VOOR EEN FILM begibt sich Schippers auf Spurensuche nach den Entstehungsumständen des Films und den Lebensläufen der Fehérs. Schippers recherchiert in Wien, London, Los Angeles und anderswo, und es werden u.a. der Fagottist Cecil James vom London Symphony Orchestra (der in THE ROBBER SYMPHONY zwar nicht zu sehen, aber zu hören ist), Tela Tchaï, die besagte Tante von Hans Fehér und weitere Zeitzeugen interviewt. Leider ist der Kommentar des Films nur auf Holländisch ohne Untertitel, aber etliche der Interviews sind zumindest auf Seiten der Antwortenden auf Englisch oder Deutsch, so dass sich auch ohne holländische Sprachkenntnisse (wie bei mir) ein Mehrwert ergibt.

Semi-expressionistisches Flair
THE ROBBER SYMPHONY wurde schon bald nach seiner Entstehung gekürzt und (ohne Erfolg) erneut herausgebracht. 2005 hat das Niederländische Filmmuseum (heute EYE Film Instituut Nederland) den Film mit Material aus Amsterdam und London restauriert und auf seine ursprüngliche Länge von 144 Minuten gebracht. Diese Version ist zusammen mit REQUIEM VOOR EEN FILM als Bonusfilm auf einer holländischen DVD erschienen.


Friedrich Fehér in DAS CABINET DES DR. CALIGARI

3 Kommentare:

  1. Wow. Wieder einmal kann ich spontan nur ausrufen: was für ein toller Fund! Den muss ich mir gleich vormerken, dein Text und die Screenshots machen richtig Lust. Und dass der Darsteller des CALIGARI-Erzählers vor allem Regisseur war, ist mir bislang auch nicht bekannt gewesen.
    Wenn du schreibst, dass du leise Zweifel daran hast, dass ROBBER SYMPHONY der erste Film war, der um die im Voraus komponierte Musik herum inszeniert wurde, an was denkst du da? Oskar Fischinger? Die Looney Tunes? Frühe Musicals?
    Bei der ofdb und der IMDb habe ich zufällig entdeckt, dass ROBBER SYMPHONY offenbar ein Remake/eine Version von GEHETZTE MENSCHEN ist? Aber darüber lässt sich wohl leider bestimmt nicht allzu viel erfahren.

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    1. Der Film lief vor ein paar Wochen in einer Retrospektive des Wiener Filmmuseums. Ich war zwar nicht da, hab aber in einer Ankündigung die Kurzbeschreibung gelesen, und das klang so interessant, dass ich das sehen musste.

      Wenn du schreibst, dass du leise Zweifel daran hast, dass ROBBER SYMPHONY der erste Film war, der um die im Voraus komponierte Musik herum inszeniert wurde, an was denkst du da? Oskar Fischinger? Die Looney Tunes? Frühe Musicals?

      Der Anspruch, das sei der erste Film nach diesem Muster, ist ja eigentlich eh nur sinnvoll, wenn man ihn nur auf Spielfilme bezieht. Da hatte ich jetzt kein konkretes Gegenbeispiel im Sinn, aber ich hab schon oft gesehen, dass ein Film, der angeblich "erster" ist, eben doch einen (wenig bekannten) Vorläufer hat. Bei Musicals ist klar, dass bei den Musiknummern meistens die Musik zuerst da ist, und je nachdem, wieviel Raum die Nummern im Verhältnis zur Rahmenhandlung einnehmen, kann man da selbst gewichten, ob da jetzt zuerst die Musik oder der Film da war.

      Bei abstrakten Filmen, sofern sie überhaupt mit Musik unterlegt sind (was ja meistens der Fall ist, aber z.B. nicht bei denen von Stan Brakhage oder bei ERE ERERA BALEIBU...), wird meistens schon vorhandene verwendet - das wären also Gegenbeispiele, wenn man die Behauptung nicht auf Spielfilme beschränkt. Da hätte man dann Fischinger, frühe Filme von Norman McLaren, Len Lye, Mary Ellen Bute und Ted Nemeth, und wahrscheinlich noch mehr. Weitere Gegenbeispiele wären Animationsfilme, neben Cartoons z.B. auch UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE von Alexeïeff & Parker. Eine weitere Kategorie wären Tanzfilme. Damit meine ich jetzt nicht Musicals, sondern z.B. sowas wie DANSE MACABRE von Dudley Murphy. Aber wie gesagt, sinnvoll ist Fehérs Anspruch eigentlich nur in Bezug auf Spielfilme. Da behaupte ich nicht, dass er geschwindelt hat, sondern ich habe eben nur leichte Zweifel.

      Bei der ofdb und der IMDb habe ich zufällig entdeckt, dass ROBBER SYMPHONY offenbar ein Remake/eine Version von GEHETZTE MENSCHEN ist? Aber darüber lässt sich wohl leider bestimmt nicht allzu viel erfahren.

      Ich bin sicher, dass das eine Ente ist. GEHETZTE MENSCHEN beruht laut IMDb auf dem Roman "Le Loup Garou" eines Alfred Machard, während der Stoff von THE ROBBER SYMPHONY ja von Anton Kuh stammt. Hier kann man etwas über eine frühere Verfilmung dieses Romans lesen (wobei GEHETZTE MENSCHEN auch erwähnt wird), und das hat mit der RÄUBERSYMPHONIE überhaupt nichts zu tun. In REQUIEM VOOR EEN FILM ist auch ein kurzer Ausschnitt aus GEHETZTE MENSCHEN zu sehen. Das ist offenbar ein Drama, das (den Kleidern nach) in der damaligen Gegenwart angesiedelt ist.

      Also eine der diversen halbgaren oder ganz falschen Informationen, die über THE ROBBER SYMPHONY kursieren. Irgendwo hab ich auch gelesen, dass da ein Pianist auf der Flucht vor den Räubern sein soll (dabei funktionieren Walzenklaviere eben mit gekurbelten Walzen, ähnlich wie in kleinerem Maßstab Spieldosen). Sowas wird anscheinend von Leuten geschrieben, die den Film gar nicht gesehen haben (Hans Schmid weist auch gelegentlich auf sowas hin). Jedenfalls gibt es laut Wikipedia-Artikel zu Fehér (der einen soliden Eindruck macht) als Tonfilme IHR JUNGE mit der tschechischen Version KDYŽ STRUNY LKAJÍ (nach einem Stoff von Leo Tolstoi), GEHETZTE MENSCHEN mit der tschechischen Version ŠTVANÍ LIDÉ und eben THE ROBBER SYMPHONY mit der franz. Version, und diese drei Stoffe haben nichts miteinander zu tun. Der in Wikipedia noch erwähnte WILLIAM TELL von 1939 ist einer der kurzen (hier nur eine Filmrolle) Musikfilme von und mit Fehér (als Dirigent), hier mit Musik aus der Oper von Rossini. AVE MARIA von 1938 sicher auch, aber über den habe ich nichts gefunden.

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    2. Danke für die umfangreichen Ausführungen.
      „schon oft gesehen, dass ein Film, der angeblich "erster" ist, eben doch einen (wenig bekannten) Vorläufer hat“ –– Wie richtig! Sicher einer der Gründe, warum ich Stummfilme so mag. Da gibt es immer wieder Sachen zu entdecken, die angeblich erst in den 1940er/50er[etc.]90er „neu“ waren (deep focus, postmoderne Erzählweise, bestimmte Spezialeffekte, MTV-Videoclip-Ästhetik, gewisse Tabuthemen) und dabei mit einer absoluten Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit genutzt werden.
      Die Remake-/Versions-Ente zu ROBBER SYMPHONY und GEHETZTE MENSCHEN dürfte wohl einer dieser Fehler sein, die einfach „weiter kopiert“ werden, wenn es um relativ unbekannte Filme geht.

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