Sonntag, 6. Mai 2018

MIQUETTE - Henri-Georges Clouzot auf Abwegen

MIQUETTE ET SA MÈRE
Frankreich 1950
Regie: Henri-Georges Clouzot
Darsteller: Danièle Delorme (Miquette Grandier), Louis Jouvet (Monchablon), Saturnin Fabre (Marquis Aldebert de la Tour Mirande), Bourvil (Graf Urbain de la Tour Mirande), Mireille Perrey (Hermine Grandier), Pauline Carton (Perrine), Henri Niel (Prosper Lahirel), Madeleine Suffel (Noémie), Maurice Schutz (Larborissière), Raymond Dandy (Panouillard), Jean Témerson (de Saint-Giron)

"Le Cid" von Monchablon und Corneille
Henri-Georges Clouzot, ein Regisseur, dem profunde Humorlosigkeit nachgesagt wurde (was er selbst freimütig bestätigte), drehte im Herbst 1949 eine Komödie - die einzige seiner Laufbahn. MIQUETTE ET SA MÈRE, was "Miquette und ihre Mutter" bedeutet (es gibt aber keinen offiziellen deutschen Titel), hatte bei der Kritik ebenso wie beim Publikum wenig Erfolg, geriet ein wenig in Vergessenheit und gilt heute als einer der schwächsten Filme von Clouzot. Angesichts vorhergehender (LE CORBEAU, QUAI DES ORFÈVRES) und nachfolgender Großtaten (LE SALAIRE DE LA PEUR, LES DIABOLIQUES) könnte man MIQUETTE ET SA MÈRE tatsächlich als Durchhänger bezeichnen. Aber das würde ihm nicht gerecht, denn so schlecht ist der Film gar nicht.

Miquette und ihre Mutter im Theater
Es handelt sich um die Verfilmung eines schwankhaften Theaterstücks von Flers & Caillavet. Marie Joseph Louis Camille Robert de Pellevé de La Motte-Ango, marquis de Flers, und Mathurin Cyprien Auguste Gaston Arman de Caillavet, oder etwas griffiger Robert de Flers (1872-1927) und Gaston Arman de Caillavet (1870-1915), schrieben manchmal einzeln, aber oft gemeinsam Theaterkomödien, Opern- und Operettenlibretti. Ihr "Miquette et sa mère" erschien 1906, und es war anscheinend recht erfolgreich, denn Clouzots Version war schon die dritte Verfilmung. MIQUETTE ET SA MÈRE (1934) wurde von gleich drei Regisseuren inszeniert (wie es zu diesem Triumvirat kam, weiß ich nicht). Aus der Besetzung stechen zwei Namen hervor - Michel Simon spielt Monchablon (hier wäre der direkte Vergleich mit Jouvet interessant), und Roland Toutain (der Flieger André Jurieux in Renoirs LA RÈGLE DU JEU) gibt den Urbain. Auch MIQUETTE (1940) von Jean Boyer kann mit einem prominenten Namen aufwarten: Lilian Harvey spielt in ihrem letzten Film die Titelrolle.

Monchablon taucht im Tabakladen auf
Die Handlung spielt um 1900 herum in Frankreich, nacheinander an drei verschiedenen Orten, und entsprechend kann man den Film in drei Akte einteilen, wenn man mag. Es beginnt in einer Kleinstadt irgendwo in der Provinz. Dort gastiert gerade eine drittklassige reisende Schauspieltruppe, die geleitet wird von dem pompös-genialischen Schauspieler Monchablon, der auch abseits der Bühne theatralische Auftritte liebt und mit pathetischer Stimme großspuriges Zeug schwurbelt. Man spielt gerade "Le Cid" von Monchablon und Corneille. Nun ja, eigentlich "Le Cid" von Corneille, aber Monchablon hat das Stück "modernisiert", um auch seinen eigenen Namen als Autor daruntersetzen zu können - so macht er das öfters. Unter den Zuschauern sind die junge Miquette Grandier und ihre verwitwete Mutter Hermine, die zusammen einen Tabakladen in der Stadt betreiben. Miquette ist begeistert von dem Stück, von der Welt der Schauspielerei im Allgemeinen und von Monchablon (der zufällig im Tabakladen auftaucht) im Besonderen, dagegen ist Hermine etwas indigniert wegen unmoralischer Tendenzen, die sie in dem Stück ausgemacht hat. Miquette hat einen heimlichen Verehrer, den schüchternen und schusseligen Grafen Urbain de la Tour Mirande. Auch Miquette schwärmt für ihn, doch vorerst wissen beide nichts davon, dass ihre Liebe erwidert wird. Dieser Urbain, man muss es sagen, er ist schon ein ziemlicher Depp. Gewiss, er ist schüchern und nervös in der Gegenwart von Miquette, aber eben auch doof. Einmal steht er triefnass im prasselnden Regen, und als Miquette dazukommt, sagt er, dass er seinen Schirm vergessen habe - dabei hängt er zusammengeklappt an seinem Arm. Man mag sich fragen, was Miquette eigentlich an ihm findet, aber es ist halt ein Schwank, und da stellt man solche Fragen besser nicht.

Urbain klitschnass im Regen
Schließlich schaffen es die beiden doch noch auf recht umständliche Art, sich ihre Liebe zu erklären, und wollen heiraten. Doch da haben sie die Rechnung ohne Urbains Onkel gemacht, dem Marquis Aldebert de la Tour Mirande, auf dessen Schloss auch Urbain wohnt. Der durchsetzungsstarke alte Herr hat gerade die Ehe seines Neffen mit einer wenig ansehnlichen, aber reichen Dame arrangiert, und das Weichei Urbain lässt sich erst mal widerstandslos überfahren. Miquette fühlt sich nun von ihm hintergangen und will sich rächen, indem sie nach Paris geht und Schauspielerin wird. Klingt etwas dämlich, aber wir erinnern uns: Wir sind in einem Schwank. Auf jeden Fall spielt sie dem Marquis in die Karten, denn der verfolgt zur Abrundung seiner Pläne einen doppelten Zweck: Der alte Bock und Schürzenjäger hat nun selbst ein Auge auf Miquette geworfen. Deshalb bietet er ihr an, sie nach Paris in seine Stadtvilla mitzunehmen und ihr Kontakte zur Theaterwelt zu vermitteln. Gleichzeitig würde sie damit endgültig außer Reichweite für Urbain sein. Und Miquette geht tatsächlich darauf ein. Sie packt hastig ihre Koffer, schreibt nur einen Brief für ihre Mutter, in dem sie die Lage erklärt, und verduftet mit dem Marquis.

Urbain weint vor Liebesglück, doch das währt vorerst nicht lange
Zweiter Akt, ein paar Tage später. Es sind nun alle in Paris versammelt: Monchablon und seine Theatertruppe, Miquette und der Marquis, und schließlich auch noch Hermine, die ihrer Tochter sofort hinterhergefahren ist, um sie dem Sündenpfuhl Paris zu entreißen und sie in ihr braves Leben zurückzuholen. Miquette wird als Elevin in Monchablons Truppe aufgenommen, und als Hermine in der Stadtvilla auftaucht, um dem Hausherrn die Leviten zu lesen und Miquette zu "retten", wird sie vom Marquis in kürzester Zeit "umgedreht", entdeckt ihre lang verschüttete flamboyante Ader - und heuert stante pede ebenfalls als Schauspielerin bei Monchablon an. "Glaubwürdig" geht anders, aber wiederum gilt: In einem Schwank fragt man nicht danach. Die Pläne des Marquis gehen aber nicht ganz auf: Miquette verweigert "Aldebert" (wie er sich von ihr gerne nennen lassen möchte) das erhoffte Techtelmechtel und hält ihn auf Distanz. Und Urbain entwickelt ungeahnte Willensstärke und taucht ebenfalls in der Villa auf. Allerdings verhält er sich dabei so ungestüm und ungeschickt, dass der Graben zwischen ihm und Miquette eher noch größer wird.

Der Marquis macht sich an Miquette heran - oben im Laden, unten in Paris
Dritter Akt, ein halbes Jahr später. Miquette und Hermine sind Teil von Monchablons Truppe, und der Marquis ist sozusagen als Miquettes Privatbegleiter (aber immer noch nicht als ihr Liebhaber) mit von der Partie. Man ist wieder auf Tournee, in irgendeiner Kleinstadt im südlichen Frankreich, und gibt auf einer Freiluftbühne ein historisches Stück um die Belagerung von La Rochelle durch die Truppen Kardinal Richelieus. Dabei kommt es nun zu sich steigernden Turbulenzen, und die Geschehnisse auf und hinter der Bühne beginnen sich zu vermengen. Der schon etwas tattrige Larborissière, ältestes Mitglied der Schauspieltruppe und momentan Darsteller von Kardinal Richelieu, vermisst seinen (anzuklebenden) Ziegenbart, der nun mal zwingend zu Richelieu gehört. Hermine kommt zu spät zur Aufführung und gesteht zerknirscht den Grund: Sie war im Spielcasino und hat die gesamten bisherigen Tourneeeinnahmen, 40.000 Francs, verzockt. Und Urbain taucht auch wieder mal auf. Mal will er es wieder mit Miquette versuchen, aber sie will nicht, mal ist es umgekehrt. Aber nach allerhand Konfusion auf und hinter der Bühne fügt sich schließlich alles so, wie man es erwartet: Der Marquis lässt von Miquette ab und erobert nun schnell und ohne Probleme deren Mutter (womit auch die Frage von Hermines Schulden geklärt ist), und Miquette und Urbain finden endlich zueinander. Die Vorstellung (auf der Bühne ebenso wie im Film) ist zu Ende, alle verbeugen sich vor dem Publikum. Vorher hatte der Film noch in einer kleinen Wendung eine selbstbezügliche Meta-Ebene erklommen: Die jungen Theaterautoren Robert de Flers und Gaston Arman de Caillavet aus Paris tauchen auf, um die begabte Miquette für ihr Theater zu engagieren (was im Vergleich zu Monchablons chaotischer Truppe ein Karrieresprung für sie wäre). Miquette lehnt ab, weil sie ja jetzt auf den Hafen der Ehe zusteuert, aber als Ausgleich wollen die beiden Autoren ihre Geschichte zu einem Theaterstück mit dem Titel "Miquette et sa mère" verarbeiten.

Schauspieler. Links oben Monchablon und Noémie, rechts oben Lily und Larborissière,
links unten de Saint-Giron, rechts unten in der Mitte Panouillard
Über Clouzots Leben und Werk habe ich in meinem Artikel über LE CORBEAU ausführlich berichtet. Wenn man glaubt, was zu lesen ist, dann wollte Clouzot MIQUETTE ET SA MÈRE gar nicht machen, war aber vertraglich dazu verpflichtet. In Anbetracht seiner schon erwähnten Humorlosigkeit ist der Film dann gar nicht schlecht gelungen. Zwar hat er schon einige Längen (die Dauer beträgt 102 Minuten), und Urbains Doofheit am Anfang ist schon ziemlich klamottig und könnte einem sogar auf die Nerven gehen. Aber der Film nimmt dann doch Fahrt auf, vor allem im letzten Drittel, wo Clouzots Regie Drive und Witz entfaltet. Auch vorher schon gibt es nette Regieeinfälle. Gelegentlich gibt es Zwischentitel wie in einem Stummfilm, oder einer der Darsteller durchbricht die "vierte Wand" und spricht einen Kommentar direkt in die Kamera. Wie schon in LE CORBEAU, genehmigt sich Clouzot im ersten Teil ein paar böse Kommentare zum französischen Kleinstadtleben, etwa darüber, wie schnell sich Gerüchte ausbreiten. Aber hier fehlt dann doch der Zynismus des früheren Films, letztlich ist alles ins Versöhnliche gewendet. Vor allem erweist sich der Marquis, der in einem Drama eine sehr negative Figur hätte sein können, hier letztlich als ein Sympathieträger, auch wenn es am Anfang nicht so aussah.

Urbain entwickelt Initiative und taucht in Paris auf
Clouzot, der immer viel Wert auf Schauspielerführung legte, konnte sich hier auf ausgezeichnete Darsteller stützen. Wie ich erst neulich schrieb, war Louis Jouvet eigentlich immer grandios, und das bestätigte er auch hier. Es war eine maßgeschneiderte Rolle: Der großspurige Monchablon, der sich nur einmal eingesteht, dass er eigentlich ein Schmierenkomödiant ist, bietet Jouvet viel Raum zur Entfaltung. Aber auch der Marquis bot eine dankbare Rolle, und der knorrige Saturnin Fabre spielt ihn mit Schalk im Nacken und wendet den durchaus fragwürdigen Charakter ins Positive. Bourvil als romantischer Liebhaber, noch dazu aus der Aristokratie, das ist erst mal gewöhnungsbedürftig, wenn man seine spätere Karriere kennt, wo er eher auf bäuerliche Typen abonniert war (auch wenn er mal einen harten Kommissar bei Melville oder eine James-Bond-Parodie spielen durfte). Aber er gibt den liebenswürdigen und etwas trotteligen Urbain durchaus überzeugend. Und Danièle Delorme schließlich spielt die Titelheldin lebhaft und sympathisch. Sie hatte kurz zuvor in GIGI (1949) ihren Durchbruch geschafft, einer Verfilmung der Novelle von Colette, die auch dem Musical mit Leslie Caron zugrunde liegt. In ihrer langen Karriere spielte sie in so unterschiedlichen Werken wie Jean Isidore Isous radikalem Avantgardefilm TRAITÉ DE BAVE ET D'ÉTERNITÉ (1951), in der Sartre-Verfilmung HUIS-CLOS (1954), in CASA RICORDI (1954), in VOICI LE TEMPS DES ASSASSINS... (DER ENGEL, DER EIN TEUFEL WAR, 1956) von Julien Duvivier an der Seite von Jean Gabin, in LES MISÉRABLES (1958) mit Gabin und Bernard Blier, im sehr bösen LA SEPTIÈME JURÉ (DER SIEBTE GESCHWORENE, 1962) von Georges Lautner, in LE VOYOU (1970) von Claude Lelouch an der Seite von Jean-Louis Trintignant, und in UN ÉLÉPHANT ÇA TROMPE ÉNORMÉMENT (EIN ELEFANT IRRT SICH GEWALTIG, 1976) von Yves Robert. Mit Letzterem war Danièle Delorme seit 1956 bis zu Roberts Tod 2002 verheiratet. Sie spielte auch in einigen weiteren Filmen von Robert, und gemeinsam mit ihm produzierte sie auch Filme anderer Regisseure. Sie starb 2015 kurz nach ihrem 89. Geburtstag.

Hochdramatisches vor La Rochelle
Nachdem MIQUETTE ET SA MÈRE auch in Frankreich für längere Zeit der relativen Obskurität anheimgefallen war, wurde er 2017 restauriert und als Blu-ray/DVD-Combo mit englischen Untertiteln veröffentlicht.

2 Kommentare:

  1. Ah... wieder Louis Jouvet! Mit ihm kann man bestimmt leicht vergessen, überflüssige Fragen zum Schwank zu stellen.
    Ein bisschen skeptisch bin ich bei Bourvil. In Komödien finde ich ihn meist im negativen Sinne "overacting" und die Rolle des Urbain scheint seinen Hang zum Klamauk besonders hervor zu kitzeln (beim Screenshot mit dem Initiative zeigenden Urbain wird mir diesbezüglich ganze bange). In ernsten Rollen finde ich ihn allerdings großartig: wie du erwähnst, bei Melvilles LE CERCLE ROUGE, hart, aber auch katzenliebend, oder bei Robert Enricos LES GRANDES GUEULES, als unnachgiebiger Sägereibesitzer, der auf Bewährung freigelassene Strafgefangene als Arbeiter anstellt.

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    1. Bange werden muss Dir nicht gleich, denn bei diesem Screenshot habe ich gerade den Moment gewählt, wo er am blödesten ausschaut, und der dauert nur kurz. Aber es stimmt schon, dass der Film seinem Hang zum Klamauk etwas entgegenkommt. Aber Urbain ist eben nicht nur ein Kasper, sondern in erster Linie ein schwer verliebter junger Mann, und Bourvil bringt das schon gut rüber. Aber wenn man eine grundsätzliche Abneigung gegen seinen Stil in Komödien hat, dann wird man durch diesen Film nicht davon kuriert.

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