Sonntag, 16. August 2020

SPRING NIGHT SUMMER NIGHT: Neorealismus und Sexploitation in den Appalachen

SPRING NIGHT SUMMER NIGHT (fälschlich auch SPRING NIGHT, SUMMER NIGHT; Sexploitation-Version MISS JESSICA IS PREGNANT)
USA 1967
Regie: Joseph L. Anderson
Darsteller: Larue Hall (Jessie), Ted Heimerdinger (Carl), John Crawford (Virgil), Marj Johnson (Mae), Mary Cass (Rose), Betty Ann Parady (Donna), Ronald B. Parady (Tom), David Ayres (Lou), Jon Webb (Frank), Bob Jones (Jacob), Tracy Smith (Chris), Isabel Stott (Großmutter)


We gotta get out of this place
If it's the last thing we ever do
We gotta get out of this place
'Cause girl, there's a better life for me and you


(Eric Burdon und die Animals im Sommer 1965, als SPRING NIGHT SUMMER NIGHT gedreht wurde)
Diesmal geht es um einen Film, der vielleicht ein Klassiker des amerikanischen Independent-Kinos hätte werden können - doch in Wirklichkeit ist er kläglich gescheitert und verschwand für Jahrzehnte komplett in der Versenkung, bis er in einem langwierigen Prozess, der sich rund 15 Jahre hinzog, wieder hervorgeholt und restauriert wurde und seine verdiente Würdigung erfuhr.

Jessie und Carl, Mae und Virgil
Regisseur Joseph L. Anderson (in den Credits als J. L. Anderson) war und ist in Theorie und Praxis des Films gleichermaßen bewandert. Nachdem er in jungen Jahren beim militärischen Geheimdienst CIC war, war er in den 50er Jahren an Filmproduktionen in Japan beteiligt, z.B. Daniel Manns THE TEAHOUSE OF THE AUGUST MOON mit Marlon Brando, Glenn Ford und Machiko Kyō, und er hatte auch mit Kurosawa zu tun. 1959 veröffentlichte er zusammen mit Donald Richie, dem 2013 verstorbenen Altmeister der amerikanischen Japan-Rezeption, The Japanese Film: Art and Industry, das erste ernstzunehmende Buch über den japanischen Film in englischer Sprache, er beteiligte sich führend an einem Kongress des New American Cinema in Yellow Springs (Ohio), bei dem u.a. auch Albert und David Maysles und Shirley Clarke zugegen waren, und er schrieb eine große Zahl an Artikeln über Filmthemen in diversen Zeitschriften. In den 60er Jahren lehrte er Film an der Ohio University in der beschaulichen Kleinstadt Athens im Südosten des Bundesstaats, die gut 20.000 Einwohner aufweist (nicht zu verwechseln mit der Ohio State University in der Hauptstadt Columbus, an der Anderson zuvor auch tätig war). Anfang der 60er Jahre drehte er einige Kurzfilme, und als Teil der Ausbildung der Studenten machten diese auch welche, doch dann reifte die Idee, dass man auch mal zusammen einen Spielfilm herstellen sollte, um den Nachwuchs an größere Aufgaben heranzuführen. Mit einem seiner fortgeschrittenen Studenten (graduate student), Franklin Miller, und einem weiteren Partner, Doug Rapp, nahm er das Projekt in Angriff. Die drei kannten sich schon länger und waren befreundet, Miller hatte auch schon an Andersons Kurzfilmen als Musiker, Cutter und teilweise an der Kamera mitgearbeitet. Als Dreh- und Handlungsort des Films waren die Ausläufer der Appalachen im südöstlichen Ohio vorgesehen, also im erweiterten Umkreis von Athens. Ursprünglich war geplant, ein Bühnenstück aus den 30er Jahren als Vorlage zu nehmen. Aber das lief gerade am Broadway, was komplizierte Verhandlungen und erhöhte Kosten wegen der Rechte bedeutet hätte, und so ließ man die Idee fallen und verlegte sich auf einen eigenen Stoff.

Familie mit Kindern und Großmutter
Anderson, Miller und Rapp begannen 1963 ernsthaft mit ihren Recherchen für die Handlung und Location-Suche im ruralen Hügelland und schrieben dann also ein Original-Drehbuch für den Film. Doug Rapp war auch für die Hauptrolle vorgesehen, aber dann starb er noch vor den Dreharbeiten bei einem Motorradunfall. Anderson und Miller ließen sich davon nicht entmutigen, sondern trieben nun zu zweit das Projekt voran. Während Anderson allein die Regie übernahm, waren er und Miller gemeinsam die Produzenten und erledigten auch zusammen den Schnitt. Aber bei der familiären Atmosphäre beim Dreh gab es ohnehin keine strenge Arbeitsteilung - fast jeder übernahm mehrere Aufgaben, für die gerade jemand gebraucht wurde. Franklin Miller, immerhin einer der beiden Produzenten, war sich etwa nicht zu schade, eigenhändig den Dolly anzuschieben, und er fuhr auch mal einen Traktor eine Meile zum Drehort. Seine Frau Judy, die eigentlich nichts mit Film zu tun hatte, war continuity girl, ansonsten bestand die Crew aus Filmstudenten, was ja der ursprüngliche Zweck des ganzen Projekts war. Vor allem kamen gleich drei angehende Kameramänner zum Einsatz. Was nach einer potentiellen Problemquelle klingt, erwies sich als Glücksgriff, denn die Kameraarbeit ist eine der großen Stärken von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT. Nicht wenige Szenen wurden mit zwei Kameras gleichzeitig gefilmt, und dann meist zwei Handkameras, was einige äußerst dynamische Schnittfolgen ermöglichte.

Die Farm
Die Dreharbeiten fanden schließlich in zwei Monaten im Frühsommer 1965 im Perry County statt, das direkt ans Athens County angrenzt, und dort vor allem in und bei der Siedlung Shawnee, sowie im etwas weiter südlich gelegenen Meigs County, wo die Farm stand. Nur einige Szenen in einer Bar, auf die ich noch zurückkomme, wurden in Athens gedreht (aber es gibt in SPRING NIGHT SUMMER NIGHT überhaupt keine Studioaufnahmen), und ein oder zwei Szenen mussten etwas später gedreht werden, weil die alle 17 Jahre massenweise auftretenden Zikaden die Straßen verunstalteten. Obwohl es sich also in einem gewissen Sinn um einen Studentenfilm handelt, wurde von allen auf professionelle Arbeitsweise geachtet - die Studenten sollten ja lernen, wie es im "richtigen" Filmgeschäft zugeht. Deshalb wurde auch mit zwar etwas alten, aber industrietauglichen 35-mm-Kameras gedreht, und nicht, wie bei solchen Projekten eher üblich, auf 16 mm. Die Nachvertonung übernahm ein professioneller Tontechniker, der sich modernes Equipment aus New York besorgt hatte und damit, neben anderen Arbeiten, viele weitere Studentenfilme aus Athens veredelte. Gekostet hat das alles am Ende 25.000 bis 30.000 Dollar, also auch für damalige Verhältnisse fast ein Nichts für einen Spielfilm.


Worum geht es nun? Die Handlung dreht sich um eine Familie, die ein Farmhaus etwas außerhalb der Siedlung bewohnt. Es ist eine ärmliche, vergleichsweise rückständige Gegend. Zwar kann sich auch hier fast jeder irgendeinen fahrbaren Untersatz leisten, aber das "stille Örtchen" der Farm ist ein abseits vom Haus stehendes Plumpsklo. Der Film beschäftigt sich nicht weiter damit, wie die Farm bewirtschaftet wird - SPRING NIGHT SUMMER NIGHT ist ein Drama, aber keine Pseudodokumentation über das Landleben. Trotzdem vermittelt er über seine präzisen Bilder eine Ahnung der Lebensumstände dort. Die Familie (den Familiennamen Roy erfährt man erst spät und nebenbei) besteht aus dem Vater Virgil, der Mutter Mae, dem erwachsenen Sohn Carl, seiner nur wenig jüngeren Schwester Jessie, sowie vier jüngeren Geschwistern (und eine Oma gibt es auch noch, aber sie spielt in der Handlung keine Rolle). Carl ist der Sohn von Virgils erster Frau, die bei seiner Geburt gestorben ist, die anderen Kinder sind von Mae. Während die vier jüngeren Kinder noch unbeschwert sind, sind Virgil, Mae, Carl und Jessie unzufrieden mit ihrem Dasein, was dazu führt, dass man sich gegenseitig auf die Nerven geht. Früher gab es am Ort, wie vielerorts in den Appalachen, ein Kohlebergwerk, das für Prosperität sorgte. Mae trauert diesen Zeiten hinterher, denn irgendwann war das Bergwerk unrentabel geworden und wurde geschlossen, und seitdem ging es mit der Gegend bergab. Mae, die auch das Leben in der Großstadt und in Kalifornien kennengelernt hat, sieht sich nun hier in der Abgeschiedenheit versauern und kompensiert das mit häufigen (zu häufigen für Virgils Geschmack) Besuchen in der Bar, wo sie sich mit Bekannten trifft. Virgil sieht durch Carls Aufsässigkeit seine Autorität schwinden, und auch er trauert alten Zeiten hinterher. Wenn ihm Mae auf die Nerven geht, erinnert er an seine erste Frau, die den traditionellen Vorstellungen von einer Ehefrau wohl mehr entsprochen hat als die eigensinnige Mae. Und in einer langen Sequenz, als er in der Bar sitzt und zu tief ins Glas geschaut hat, erzählt er seinem Gegenüber (der nie antwortet, so dass es sich eigentlich um einen Monolog handelt) von den besseren Zeiten, als er bei der Armee in Europa stationiert war. Damals hatte er genug Geld, keine Sorgen, und für ein paar Schachtel Zigaretten konnte man jede Frau bekommen. Dann geht er ins Grundsätzliche: Man versucht, sein Leben richtig zu führen, aber irgendwie klappt das nie richtig. Und er meint, er hätte besser nie hierher zurückkehren sollen.


Carl wiederum möchte sich von Virgil und Mae nichts mehr sagen lassen, und er sieht am Ort absolut keine Perspektiven für sich. Deshalb will er weg, und er versucht, Jessie zu überreden, mit ihm zu kommen. Doch die ist zögerlich. Zwar ist sie auch nicht wirklich glücklich hier, aber sie glaubt nicht, dass es woanders besser ist. Carls Drängen hat einen Grund, der lange nicht ausgesprochen wird, der sich aber in Gesten und Blicken langsam offenbart: Er ist heimlich in Jessie verliebt. Das wird offensichtlich in einer Szene in der oben erwähnten Bar, die proppenvoll ist, weil eine Bluegrass-Band zum Tanz aufspielt. Carl, der angetrunken ist, wird handgreiflich und macht Jessie eine Szene, weil die mit anderen jungen Männern tanzt. Diese Sequenz ist ein früher Höhepunkt im Film. Anderson und Miller griffen dafür zu einem Trick: In Absprache mit dem Besitzer annoncierten sie, dass am fraglichen Termin eine Art Spielgeld ausgegeben wird, das man in der Bar (und nur dort) gegen echte Getränke eintauschen konnte, und zwar in rauen Mengen. Wenn sich die beiden Filmemacher Jahrzehnte später korrekt an die Zahlen erinnerten, dann reichte es für 20 Flaschen Bier pro Kopf. Diese mit Alkohol bezahlten Komparsen sollten sich ansonsten benehmen wie immer und sich nicht um das Filmteam kümmern. Der Plan ging auf. Die Schauspieler, die dem Drehbuch folgten, die Bluegrass-Band und die angeheiterten Komparsen, die tranken, tanzten und sich unterhielten, bilden eine untrennbare Einheit und sorgen für eine sehr dicht und dynamisch gefilmte Szene.


Nach dem Streit in der Bar folgt die Schlüsselszene des Films. Carl hat Jessie regelrecht in sein altes Auto gezerrt und fährt in der Dunkelheit heimwärts. Durch die Windschutzscheibe sieht man, dass sie sich in angespannter Atmosphäre unterhalten, aber man hört nichts davon. Nach einem Schnitt sieht man eine Großaufnahme von Jessie in der Morgendämmerung. Sie sieht etwas betreten und ängstlich aus, dann geht sie schweigend davon. Carl zieht sich die Hose hoch über den nackten Hintern. Huch! War das wirklich das, wonach es aussieht? Der Film lässt einen hier bewusst einige Zeit im Unklaren, aber, um es vorwegzunehmen, die beiden haben nächtens in irgendeiner Wiese miteinander geschlafen. Und damit ist die Spring Night vorbei.

Remmidemmi in der Bar
Harter Schnitt. Carl steigt am hellichten Tag aus einem Auto, das ihn mitgenommen hat, und geht die letzten paar hundert Meter zur Farm. Man könnte zunächst meinen, dass es der Tag nach dem Tabubruch ist, doch wie man in den folgenden Minuten erfährt, war Carl direkt danach in die Großstadt Columbus entschwunden, ohne vorher Bescheid zu sagen, und ohne von dort zu schreiben oder anzurufen, so dass keiner wusste, wo er war. Und nun, Monate später, wir sind jetzt im Sommer, ist er wieder da. (Es wurden auch Szenen mit Carl in Columbus gedreht, aber die haben es dann nicht in den Film geschafft.) Seinen Aussagen nach wollte er Geld verdienen, aber schlechtes Gewissen oder Unsicherheit nach dem Fehltritt war wohl der eigentliche Grund (und er hat auch nicht viel verdient und musste sogar sein Auto verkaufen). Bei seiner Rückkehr ist Jessie gerade die einzige im Haus - und man sieht, dass sie schwanger ist. Damit wird ohne Worte bestätigt, was man schon ahnte. Aber Jessie hat niemandem verraten, wer der Vater des Kindes ist, und sie macht sehr deutlich, dass es dabei bleiben wird. Carl ist also vorerst nicht in Gefahr. Doch die Situation nagt an Virgil, der meint, dass er dadurch zum Gespött im Ort wird, und er bedrängt Jessie pausenlos, mit dem Namen des "Täters" herauszurücken. Aber eigentlich interessiert sich außer Virgil selbst und Jessies Freundin Donna niemand sonderlich dafür, nicht einmal Mae.

Jessie tanzt mit Tom, was Carl nicht gefällt; Streit zwischen Virgil, Mae und Rose
Bei Carls Rückkehr sind Virgil und Mae wieder einmal in der fraglichen Bar und geraten in Streit. In den wird auch Maes etwas angetrunkene Freundin Rose verwickelt. Um sich wichtig zu machen, oder um Virgil eins auszuwischen, macht sie ihm weis, dass Tom Morgan der Vater sei, ein früherer Schulkamerad von Jessie. In Wirklichkeit hat Rose keine Ahnung, aber Virgil fällt darauf herein. An der Tankstelle im Dorf stellt er Tom zur Rede und will ihn zum "Geständnis" zwingen. Nur mit Mühe kann er von Tom und dem Tankstellenbesitzer Lou beschwichtigt werden. Unterdessen hatten Carl und Jessie viel Zeit, um ihre Situation zu besprechen. Einerseits stehen da noch Vorwürfe im Raum, aber andererseits kommt man sich auch entgegen. Carl sei betrunken gewesen, meint Jessie entschuldigend, doch der erwidert, nicht so betrunken, dass er nicht mehr gewusst hätte, was er tat. Und Jessie sagt, sie hätte das Geschehen auch stoppen können, wenn sie gewollt hätte. So wird klar, dass das in jener Nacht keine Vergewaltigung war. Und Carl rückt nun damit heraus, dass er Jessie liebt, dass er deshalb zurückgekehrt sei, und dass er eine gemeinsame Zukunft mit ihr will. Aber Jessie hält das aus offensichtlichen Gründen für unmöglich und absurd. Carl hat aber einen vagen Hoffnungsschimmer, an den er sich klammert. Wie der Dorftratsch weiß, führte Mae damals, als sie Virgil heiratete, ein lockeres Leben mit vielen Männerbekanntschaften. Vielleicht ist also Virgil gar nicht Jessies Vater? Dann wären die vermeintlichen Halbgeschwister gar nicht biologisch verwandt, und die Situation wäre viel entspannter.

Nach der ominösen Nacht schleicht Jessie betreten davon
Anfangs möchte Jessie nichts von dieser Idee hören, doch Carl beschwatzt sie so lange, bis sie es zumindest nicht mehr ausschließt. So machen sich die beiden schließlich auf in die inzwischen wieder gut gefüllte Bar, um Mae zu befragen. Doch das wird zu einer herben Enttäuschung. Mae ist erst einmal erstaunt über die indiskrete Frage, ob Virgil wirklich Jessies Vater ist. Doch sie ist nicht doof und erkennt schnell, was dahinter steckt. Damit ist also Carl zunächst mal für Mae als der Kindsvater enttarnt. Und zu allem Überfluss kann sie die Frage nicht beantworten - wie sie glaubhaft versichert, weiß sie selbst nicht, wer Jessies Vater ist. Als Jessie und Carl danach in der Dunkelheit (wir sind jetzt in der Summer Night) frustriert und ratlos nach Hause gehen, begegnet ihnen zufällig Virgil. Er fängt Streit an wegen Carls langer unentschuldigter Abwesenheit, in der er auf dem Hof benötigt worden wäre. Carl platzt jetzt regelrecht heraus damit, dass er der gesuchte Übeltäter ist. Es kommt zum Handgemenge, Virgil zückt sogar sein Gewehr, aber Carl nimmt es ihm weg und schlägt ihn nieder. Als sich Virgil wieder aufrappelt, ist er nur noch ein Häufchen Elend. Am nächsten Morgen steigen Carl und Jessie in den Bus und fahren weg - irgendwohin. Schweigend sitzen sie nebeneinander und blicken ins Leere. Ende offen.

Carls Freund Frank fährt eine BMW, Jacob ein langsameres Gefährt, und die Autos auf der Farm sind nicht mehr ganz neuwertig
Jugendliche Tristesse und Perspektivlosigkeit in einer Kleinstadt im Nirgendwo - das erinnert thematisch an Peter Bogdanovichs THE LAST PICTURE SHOW (1971), und auch Barbara Lodens WANDA von 1970 wird in diesem Zusammenhang gern genannt, mit einer etwas älteren Protagonistin, aber im Rust Belt und damit näher an den Appalachen angesiedelt als das Texas von Bogdanovich. - Joseph Anderson brachte seinen Studenten nicht nur die praktischen Dinge des Filmemachens bei, sondern machte sie auch mit aktueller und älterer europäischer Filmkunst vertraut, neben den damals aktuellen "neuen Wellen" auch mit dem Neorealismus, und dabei nicht nur den Klassikern, sondern auch Nachzüglern wie den Frühwerken von Ermanno Olmi. Und der Neorealismus sollte auch als Vorlage für die Produktionsweise von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT dienen: Drehen vor Ort an Originalschauplätzen mit wenig oder gar keiner Studiozeit, Einsatz von Laiendarstellern neben professionellen Schauspielern, und aus dem Leben einfacher Leute gegriffene Themen. Im Cast von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT finden sich keine bekannten Namen, aber die vier Hauptrollen wurden nicht von Amateuren, sondern mindestens semiprofessionellen Bühnendarstellern gespielt. Es gab keine Castings, sondern Anderson hatte alle Kandidaten schon irgendwann auf der Bühne gesehen und für gut befunden und sprach sie an, ob sie nicht in einem Film mitspielen wollten.

Mae lässt sich von ihren Freunden in die Bar abholen
Ted Heimerdinger aus Youngstown, einem ehemaligen Zentrum der Stahlindustrie, hatte am Kenyon College in einer Kleinstadt in Ohio (wo auch Franklin Miller geboren wurde) irgendwann die jährlich verliehene Paul Newman Trophy für Dance & Drama als bester männlicher Schauspieler erhalten (Paul Newman, der selbst aus Ohio stammte, hatte in Kenyon studiert), und Marj (vollständig Marjorie) Johnson stand in Kenyon oft gemeinsam mit Heimerdinger auf der Bühne (während sie in SPRING NIGHT SUMMER NIGHT seine Stiefmutter ist, war sie in Ibsens "Rosmersholm" seine Frau). Angeblich war es Marj Johnson, die Paul Newman aufgrund seines Talents riet, eine Schauspielkarriere anzustreben. Auf jeden Fall lebte sie damals in Mount Vernon in unmittelbarer Nähe des Kenyon College. Larue Hall hatte einen Abschluss an der Ohio University gemacht, und sie war schon als Schauspielerin aktiv, als sie das Angebot für ihre Rolle erhielt. Sie drehte auch Filme in Europa, darunter in Island, aber darüber konnte ich nichts herausfinden. Mary Cass, die meist angesäuselte Rose im Film, war auch schon in Columbus und in New York auf der Bühne gestanden. Tom Morgan und Donna werden von Ron und Betty Ann Parady gespielt, und ich nehme an, dass die Paradys damals miteinander verheiratet waren, habe aber keine Bestätigung dafür gefunden. Falls das tatsächlich der Fall war, waren sie spätestens 1970 wieder geschieden. Beide verfolgten ab den 70er Jahren Karrieren als TV- und Theaterschauspieler. Ron, der auch einige Jahre einen Lehrauftrag für Theater an der Northwestern University in Illinois hatte, war beispielsweise in einigen Folgen der Krimiserie HILL STREET BLUES zu sehen. Noch erfolgreicher war Betty, die sich nun Hersha Parady nannte, denn sie ergatterte eine Serienrolle in Michael "Little Joe" Landons LITTLE HOUSE ON THE PRAIRIE (UNSERE KLEINE FARM), was ihr bis heute treue Fans bescherte. Die Rolle des Virgil wird in der IMDb und anderen Quellen dem Schauspieler John Crawford (1920-2010) angedichtet, aber das ist der Falsche. Der weniger bekannte richtige Crawford ist John W. Crawford (1931-2017). Er war u.a. Bühnenkomiker, der Grimassen wie Jerry Lewis schnitt, er spielte in Musicals wie "Oklahoma", er trat in Radio und Fernsehen auf, und als Produzent und Regisseur hat er sich auch betätigt. Hier findet man einen Nachruf, den er zum größten Teil selbst verfasst hat. Während also die Hauptrollen mit richtigen Schauspielern besetzt sind, werden Nebenrollen von lokalen Amateurdarstellern ausgefüllt, und einige der Filmschaffenden hinter der Kamera treten auch in Minirollen auf.

Das Plumpsklo
1967 war man mit der Postproduction fertig, und SPRING NIGHT SUMMER NIGHT wurde in diesem Jahr beim Filmfestival von Pesaro in Italien gezeigt, allerdings mit eher mäßigem Erfolg. Laut Anderson und Miller hatten die überwiegend linken italienischen Kritiker nicht verstanden oder akzeptiert, dass man in den USA ein Auto besitzen und trotzdem arm sein konnte, und waren deshalb gegen den Film eingestellt. Einige Schweizer und deutsche Kritiker sollen den Film in Pesaro gelobt haben, aber die waren wohl deutlich in der Unterzahl. Mehr Erfolg versprach man sich dann vom New York Film Festival 1968, wo SPRING NIGHT SUMMER NIGHT im Programm war - aber dann wurde er kurzfristig und ohne große Umstände wieder aus dem Programm geworfen, zugunsten von FACES von John Cassavetes. Und das war es dann schon fast mit SPRING NIGHT SUMMER NIGHT in seiner ursprünglichen Form. Es gab einzelne, halb private Vorstellungen hier und da in Ohio, aber der Film fand keinen Verleih für einen regulären Vertrieb, obwohl Willard Van Dyke, ein Pionier des amerikanischen Independentfilms und damals Filmkurator am Museum of Modern Art in New York, dafür die Werbetrommel rührte (Van Dyke, der 1966 eine Vorabversion gesehen hatte, war wohl auch dafür verantwortlich, dass der Film nach Pesaro geschickt wurde). Als die Lage schon sehr betrüblich war, kam ein Rettungsangebot mit Pferdefuß von Joseph Brenner Associates.

Bei Donna; rechts unten Rose
Joseph Brenner war ab den frühen 50er Jahren für dreieinhalb Jahrzehnte einer der führenden unabhängigen Distributoren von Genre- und (S)Exploitationfilmen in den USA. Er kaufte beispielsweise alte Horrorfilme auf, darunter Tod Brownings FREAKS, und verschaffte ihnen ein Re-release (oder auch mal ein Re-re-release). Immer warb er mit spektakulären und oft spekulativen Plakaten und Trailern. Beispielsweise bewarb er MAU-MAU (1955) von Elwood Price, eine Doku über die gleichnamige Freiheitsbewegung im Kenia der 50er Jahre, mit dem mehr als fragwürdigen Slogan "Weird, mysterious love rites, performed by sex-mad natives!". Oft versprach die aggressive Werbung viel mehr, als der jeweilige Film einhielt. Zu Brenners Strategie gehörte auch, ein und demselben Film gleichzeitig oder nacheinander mehrere Titel zu verpassen. Das selbst für damalige Verhältnisse zahme Nudisten-Drama ELYSIA (1934) von einem Carl Harbaugh hieß dann bei Brenner zunächst ELYSIA, VALLEY OF THE NUDES. Dort, wo ein Titel mit dem Wort NUDES auf Schwierigkeiten stieß, hieß der Film dann aber LAND OF THE SUN WORSHIPPERS, in besonders liberalen Gegenden wiederum NAKED AND UNASHAMED NUDISTS. Brenner importierte auch jede Menge geeignet erscheinender Filme aus Europa. Roger Fritz' MÄDCHEN MIT GEWALT hieß bei ihm nacheinander THE BRUTES, GIRL AND THE BRUTES und schließlich CRY RAPE. Zu Brenners Maßnahmenkatalog gehörte es auch, die Filme unter seinen Fittichen mit Schnitten und/oder nachgedrehten Sexszenen "nachzubessern". Dieses Schicksal ereilte sogar Fritz Umgelters Komödie MIT EVA FING DIE SÜNDE AN von 1958, der dann 1962 bei Brenner THE BELLBOY AND THE PLAYGIRLS hieß. Kein Geringerer als Francis Ford Coppola (unter Mitwirkung seines Studienfreunds Jack Hill, später eine Exploitation- und Blaxploitation-Größe und noch später ein Favorit von Tarantino), drehte unter Brenners Aufsicht die eingeschobenen Szenen. Ab den 70er Jahren importierte Brenner bevorzugt italienische Genre-Ware - Gialli, Poliziotteschi, Horror. Die manchmal länglichen Titel kürzte er dabei gerne auf ein Wort, so hieß Sergio Martinos I CORPI PRESENTANO TRACCE DI VIOLENZA CARNALE bei Brenner kurz und griffig TORSO. Brenners Manipulationen an bestehenden Filmen machten auch vor aktuellen einheimischen Werken, denen bislang der Erfolg versagt blieb, nicht halt (und damit kommen wir langsam wieder zum eigentlichen Thema). So gab es da einen offenbar begabten Nachwuchsregisseur namens Martin Scorsese, dessen erster Spielfilm I CALL FIRST aber keinen Verleih finden wollte. Brenner bot sich an, unter zwei Bedingungen: Es sollten Nacktszenen eingefügt werden, und der Titel sollte in WHO'S THAT KNOCKING AT MY DOOR geändert werden. Scorsese tat, wie ihm geheißen, und drehte die Sexszenen mit Harvey Keitel in einem Bordell in Amsterdam. - Joseph Brenner verabsäumte es, sich rechtzeitig auf die Video-Revolution einzustellen, die ihm schließlich in den 80er Jahren das Wasser abgrub. Seinen letzten Film, Michael Stanleys ATTACK OF THE BEAST CREATURES, brachte er 1985 in Umlauf. Dreizehn Jahre später starb Brenner.

Zeit zum Nachdenken über die Situation
1968 geriet nun auch SPRING NIGHT SUMMER NIGHT in die Fänge von Joseph Brenner, und wie der geneigte Leser schon ahnt, war das an Bedingungen gebunden: Der Film musste durch Schnitte "gestrafft" werden, es mussten nachgedrehte Sexszenen eingefügt werden, und der Titel musste zu MISS JESSICA IS PREGNANT geändert werden. Zum letzten Punkt sollte man wissen, dass "pregnant" (schwanger) eines der Worte war, die vom Production Code für Hollywoodfilme praktisch verboten waren. Zwar war der Production Code in den 60er Jahren erodiert und wurde 1967 formell abgeschafft, und für einen abseits von Hollywood agierenden Distributor wie Brenner hatte er ohnehin nie Gültigkeit. Trotzdem war MISS JESSICA IS PREGNANT damals noch ein spekulativer, wenn auch nicht wirklich reißerischer, Titel. Joseph Anderson war alles andere als begeistert, biss aber zähneknirschend in den sauren Apfel und willigte in die Bedingungen ein, damit sein Film überhaupt noch irgendwie unter die Leute kam. Die geforderten Sexszenen hat er selbst inszeniert. Noch weniger begeistert war allerdings Franklin Miller. Er beteiligte sich nicht an der "Nachbearbeitung", und seiner eigenen Aussage nach hat er MISS JESSICA IS PREGNANT nie angesehen. Geholfen hat die Brenner-Kur wenig. MISS JESSICA IS PREGNANT wurde im Februar 1970 auf seine Tour durch die Autokinos der USA geschickt. Nun ist der Februar kein besonders günstiger Monat für Autokinos, außerdem lief der Film immer in Double-Bills, also zusammen mit einem anderen Film, und füllte dabei die Rolle des B-Films aus. (Wobei der jeweilige "A-Film" eigentlich auch eher ein B-Film war - es ist halt alles relativ ...) Zwar lassen sich Vorführungen von MISS JESSICA IS PREGNANT noch bis 1974 nachweisen, aber er war trotzdem ein ziemlicher Flop. Statt also wenigstens zu einem Sexploitation-Klassiker zu werden, verschwand SPRING NIGHT SUMMER NIGHT bzw. MISS JESSICA IS PREGNANT komplett in der Obskurität. Dafür gab es noch ein kriminalistisches Nachspiel: Irgendjemand hatte MISS JESSICA IS PREGNANT bei den Behörden als "pornografisch" angezeigt, und so erschien eines Tages ein Trupp vom FBI aus Cincinnati bei Anderson, befragte ihn und durchsuchte sein Haus in Athens nach belastendem Filmmaterial. Man fand allerdings nur wissenschaftliche Lehrfilme, die Anderson für die eine oder andere Universität gedreht hatte, und anderes harmloses Material, und die Sache verlief dann wohl im Sand.

Virgil möchte von Jessie einen Namen hören
Die Wiederentdeckung begann vor 15 Jahren. Ein früherer Student von Franklin Miller programmierte eine kleine wandernde Filmschau mit dem Titel Rural Route Film Festival, die durch diverse Städte der USA tourte. Eher zufällig hatte er herausgefunden, dass auch Miller an einem passenden Film für die Tour beteiligt gewesen war, und er konnte ihn mit Mühe dazu überreden, SPRING NIGHT SUMMER NIGHT herauszurücken - der wollte eigentlich keine schmerzhaften alten Erinnerungen aufgewärmt sehen. Es handelte sich um die einzige verbliebene Vorführkopie der Originalfassung des Films. Miller hatte sie wohl früher öfters seinen Studenten in Iowa vorgeführt, jedenfalls war sie schon sehr ramponiert. Trotzdem begeisterte SPRING NIGHT SUMMER NIGHT den damaligen Mitbetreiber eines Arthouse-Kinos in Albuquerque, wo das Rural Route Film Festival 2005 halt machte. Zusammen mit einem Filmrestaurator machte er es sich zur Aufgabe, SPRING NIGHT SUMMER NIGHT vor dem endgültigen Verlust zu retten und soweit wie möglich zu restaurieren. Die Initiative dazu ging also nicht von Anderson oder Miller aus, aber nachdem die Sache erst einmal in Gang gekommen war, beteiligten sie sich mit ihrer Expertise daran. Freilich ging es anfangs nur schleppend voran, weil kaum Geld dafür da war. Doch vor einigen Jahren stieß Nicolas Winding Refn dazu, der Material für seine alternative Streaming-Plattform byNWR suchte, und mit einer größeren Geldspritze aushalf. Dabei konnte auf das erfreulich gut aussehende Negativ zurückgegriffen werden, und das ist gleich mehreren Glücksfällen zu verdanken. Erstens hatte Joseph Brenner das Negativ nach seiner "Umarbeitung" irgendwann an Anderson und Miller zurückgegeben, was alles andere als selbstverständlich war. Zweitens wäre das Negativ beinahe ein Raub der Fluten geworden. Es lagerte in einem Keller der University of Iowa in Iowa City, wo Franklin Miller Professor war. 2008 traten der Iowa River und weitere Flüsse im Mittleren Westen über die Ufer, und das Universitätsgelände wurde überflutet. Aber ein beherzter Student von Miller rettete die mit dessen Namen beschriftete Kiste mit dem Negativ im letzten Moment vor den anrückenden Wassern. Das Negativ war freilich nicht das von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT, sondern das von MISS JESSICA IS PREGNANT. So glaubte man lange, dass man die darin fehlenden Teile des Originalfilms mit dem zerschlissenen Positiv würde ersetzen müssen, was eine stark schwankende Bildqualität bedeutet hätte. Doch dann fand sich, drittens, wundersamerweise irgendwo ein Kanister mit fast allen Schnittabfällen beider Versionen des Films. Zwar war das Material stark fragmentiert, wie das bei Schnittabfällen eben so ist, aber mit dem Positiv als Referenz bereitete es keine grundlegenden Schwierigkeiten, alles in die richtige Reihenfolge zu bringen und digital zu scannen, und das Geld von Winding Refn erlaubte es, diese Arbeiten auf höchstem Niveau durchzuführen. So existiert jetzt also eine Fassung von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT, die auf Blu-ray das Auge mit ihren klaren Schwarzweißbildern erfreut. Schon 2018, 50 Jahre nach dem gescheiterten ersten Anlauf, wurde der Film doch noch auf dem New York Film Festival gezeigt, und er lief auf weiteren Festivals. Er erschien auch wie geplant auf byNWR und kann dort nach wie vor kostenlos angesehen werden, in verschiedener Auflösung bis zu 1080p (also Blu-ray-Qualität) und wahlweise auch mit Untertiteln. Und heuer erschienen in den USA und in England zwei Blu-rays, die laut DVD Beaver bis auf Menue und Cover praktisch identisch sind, und die vorzügliches Bonusmaterial besitzen. Die US-Ausgabe von Flicker Alley hat zusätzlich auch eine DVD. Diese fehlt bei der englischen Edition von Indicator/Powerhouse, dafür ist diese zumindest bei den üblichen Quellen deutlich preiswerter. Beide Ausgaben sind regionalcodefrei.

Virgil monologisiert über frühere Zeiten
Franklin Miller übernahm nach seinem Studium einen Lehrauftrag für Film an der University of Iowa, wo er heute emeritierter Professor ist, und er verlegte sich auf experimentelle Filmtechniken, während er offenbar keinen weiteren Spielfilm mehr gemacht hat. Joseph Anderson dagegen inszenierte noch einen zweiten Spielfilm, mit dem heute unfreiwillig aktuellen Titel AMERICA FIRST (1972, gedreht im Sommer 1970). Neben David Prince, einem der drei Kameramänner von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT, war dabei auch der heute arrivierte Ed Lachman an der Kamera, der auch einen Abschluss an der Ohio University in Athens erworben hatte und vielleicht von daher Anderson kannte. AMERICA FIRST lief laut IMDb 1972 auf mehreren Festivals, darunter in Deutschland auf der Veranstaltung, die heute Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg heißt, fand aber auch wieder keinen Verleih, und auch keinen zweiten Joseph Brenner. Peter Conheim, einer der beiden Restauratoren von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT, schrieb über AMERICA FIRST: "It's a sort-of follow up to SNSN, though very different in tone. Filmed in color, in the same area, but more like ZABRISKIE POINT than SNSN!" Das gesamte Material von AMERICA FIRST befindet sich jetzt in den Händen von Conheim, und vorausgesetzt, das nötige Geld kann aufgetrieben werden, soll auch dieser Film restauriert und endlich veröffentlicht werden. Falls es wirklich dazu kommt, hat Ed Lachman seine Mitwirkung zugesagt. - Joseph Anderson hat später, neben anderen Tätigkeiten, auch Aufgaben im nichtkommerziellen Fernsehen der USA (Public Broadcasting Service) übernommen.


Es gibt die Geschichte, dass ausgerechnet Martin Scorsese von Joseph Brenner damit beauftragt wurde, die von diesem gewünschten Schnitte an SPRING NIGHT SUMMER NIGHT durchzuführen, und Scorsese soll (offenbar ohne Erfolg) erwidert haben "I think you should leave it like it is". Eine Bestätigung von Scorsese dafür scheint es aber nicht zu geben. Vielleicht ist das also nur eine schöne Legende.

3 Kommentare:

  1. SPRING NIGHT SUMMER NIGHT habe ich im Sommer 2019 zum ersten Mal gesehen auf der byNWR-Seite (wo es sowieso viel Tolles zu entdecken gibt). Da fand ich ihn schon sehr gut. Gestern habe ich ihn noch mal geschaut, und da hat er mir noch mal ein ganzes Stück besser gefallen – "der vielleicht ein Klassiker des amerikanischen Independent-Kinos hätte werden können" trifft es perfekt. Unglaublich, wie toll der Film für 30.000 Dollar aussieht!
    Die Szene in der Bar während der Frühlingsnacht ist wirklich ganz großartig, aber ich mochte gestern auch diese kleinen unscheinbaren Momente und Nebenstränge: das Fastfood-Picknick mit Mae, Rose und George in dem kleinen Pavillon, die Motorradfahrt mit Eisessen oder wie Virgil sein Bier in der Bar salzt.

    Ein kleiner Widerspruch: "So wird klar, dass das in jener Nacht keine Vergewaltigung war." – würde ich so nicht unterschreiben. Mir erschien das Geschehen in der Frühlingsnacht bei beiden Sichtungen eindeutig als Vergewaltigung: Carls ohnehin latent gewalttätiges Verhalten, der ausgestummte aber heftige Streit zwischen den beiden, Jessies verstört-verängstigtes Gesicht im Mondlicht, wie sie dann wie in Trance durch die Nacht läuft – für mich fügte sich das alles zu einem Gesamtbild von Vergewaltigung zusammen. Im Gespräch später schien es mir dann so, dass ER tatsächlich seine Schuld eingesteht, während SIE alles eher zu verdrängen versucht und ihn wohl aus Scham entschuldigt. Aber nun: der Film ist da wie auch sonst nicht explizit, erklärt nichts aus und überlässt es letztlich der Interpretation.

    Bei beiden Sichtungen hat mich die Darstellerin von Jessies Freundin Donna, Betty Ann Parady bzw. Hersha Parady, sehr stark an Kathy Bates erinnert. Eine tolle kleine Rolle, aber der Film ist sowieso bis in die kleinste Komparsenrolle mit tollen Darstellern oder zumindest markanten Gesichtern besetzt.

    Und Bogdanovichs THE LAST PICTURE SHOW habe ich ja immer noch nicht gesehen! Diese Lücken...

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    1. Ja, es gibt wirklich viele schöne Szenen, in denen der Plot mal pausiert. Neben denen, die Du genannt hast, beispielsweise das Herumtollen mit den jüngeren Geschwistern auf der Wiese, der davonschwimmende und wieder eingefangene Schuh, und noch mehr. Deshalb hat es mich geradezu verblüfft, dass Patrick Holzapfel in einem engl. Text bei Mubi gerade die Existenz solcher Szenen komplett in Abrede stellt und den Film (auch deshalb) als "reaktionär" bezeichnet.

      Das mit der möglichen Vergewaltigung ist natürlich ein diffiziles Thema. Ja, man kann das wohl so sehen wie Du, aber Du hast mich trotzdem nicht überzeugt. Die Szene selbst gibt ja keine eindeutigen Hinweise in die eine oder andere Richtung, aber ich finde, dass Jessies Verhalten nach Carls Rückkehr eher dagegen spricht. Sie macht ihm zwar Vorwürfe, aber eigentlich nur wegen seines Verschwindens. Ich sehe auch keinen versteckten oder unterschwelligen Vorwurf wegen einer Vergewaltigung, etwa in Form von Sarkasmus (und Jessie ist zu Sarkasmus fähig, wie etwa der Dialog mit Donna zeigt, wo sie etwas über ihre "tolle Figur" sagt, oder so ähnlich). Stattdessen fragt sie ihn nach seiner Rückkehr zuerst, ob er Hunger hat, und sie kocht ihm etwas. Das passt für mich nicht so recht zu einer noch nicht aufgearbeiteten Vergewaltigung, und ich neige dazu, ihr zu glauben, wenn sie sagt "I could have stopped you". Aber, wie Du ganz richtig schreibst, der Film lässt vieles offen, und man kann es so oder so sehen.

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    2. Gerade die Plotpausen haben den Film für mich beim zweiten Mal noch viel schöner gemacht. Auch ich kann die Argumentation in Patrick Holzapfels MUBI-Text nicht wirklich nachvollziehen. Gerade seinem Punkt, dass der Film wie im Zoo auf seine Figuren herunterblickt, würde ich vehement widersprechen: es gehört meiner Meinung nach zu den großen Stärken von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT, dass er eben die dargestellte Verwahrlosung nicht exploitativ ausschlachtet, eben keine Redneck-Freakshow daraus macht, sondern jede Figur voll und ganz ernst nimmt und würdevoll darstellt.
      Der Film ist ja nicht gefühllos, aber doch unsentimental und frei von offensichtlicher Manipulation: er drängt dem Zuschauer nie auf, was er gerade zu denken und fühlen hat (keine drängende Musik aus dem Off, kein erklärender Off-Kommentar). Das bestätigt sich in der möglichen Vergewaltigung: da kann ich deine Punkte durchaus nachvollziehen – aber eine Antwort gibt der Film da tatsächlich nicht, die muss jeder für sich finden. Genau so wie bei der schwebenden Frage, ob die beiden biologisch Halbgeschwistern sind. Genau wie beim Ende: werden sie anderswo Glück finden? Haben sie eine gemeinsame Zukunft? Ein Film, der so offen ist, als "reaktionär" zu bezeichnen, ist tatsächlich schon merkwürdig.

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