Mittwoch, 18. November 2020

Von einem Kinoträumer, von jungen und alten Männern, Bäumen und Hunden

 Sam Firstenberg

Ich habe mich dieses Jahr in Sam Firstenbergs Filme verliebt. Dabei fing alles sehr banal an. "Hast du Lust, Stories from the Trenches zu rezensieren?" wurde ich im März gefragt... Oder mit vollem Titel: Stories from the Trenches: Adventures in Making High Octane Hollywood Movies with Cannon Veteran Sam Firstenberg... Ja klar, warum nicht? Ich kannte bislang aber keinen einzigen Film von Sam Firstenberg: nicht AMERICAN NINJA, nicht AMERICAN NINJA 2, nicht BREAKIN' 2: ELECTRIC BOOGALOO. Ein Cannon-Regisseur, soweit ich wusste eher ein routinierter Handwerker als ein wirklich eigensinniger Auteur (wie zum Beispiel jemand à la Michael Winner). Ein fast 800-seitiges Buch zu rezensieren, ohne einen einzigen der besprochenen Filme zu kennen, ist aber ein wenig blöd, deshalb habe ich mir, bevor ich mit der Lektüre begann, ein "Firstenberg-Starter-Kit" aus eben den drei oben genannten Filmen zusammengestellt und in wenigen Tagen geschaut... Aus wenigen "Pflichtsichtungen" heraus entstand vor lauter Begeisterung die umfangreichste, ambitionierteste und obsessivste Regisseur-Retrospektive seit meinen John-Carpenter- und Jacques-Rivette-Werkschauen in den Jahren 2016/2017. Filmografisch etwas unvollständiger als bei Carpenter und Rivette (einige wenige Filme konnte ich mangels Verfügbarkeit nicht schauen), aber zugleich auch wesentlich tiefer in die Materie eingetaucht durch die parallele Lektüre von Stories from the Trenches. Film und Kontext eben!


Das Buch ist fantastisch und ich kann es jedem Filmeliebhaber nur wärmstens empfehlen. Nach dem klassischen Hitchcock-Truffaut-Rezept ist es als Interview-Sammlung konzipiert (ergänzt mit Anektoden Firstenbergs, zahlreichen Bildern, Abbildungen von Filmplakaten, Storyboards und Zeitungsausschnitten u.v.m.). Jeder abendfüllende Film Firstenbergs wird in mehreren Interviews besprochen. Firstenberg selbst wird zu jedem Film befragt. Hinzu kommen Interviews mit an den jeweiligen Filmen beteiligten Personen: Darsteller, Kameramänner, Stunt-Koordinatoren, Cutter, Drehbuchautoren, Produzenten etc. Mit fast der Hälfte des Umfangs bilden die Filme, die Firstenberg direkt bei Menahem Golans und Yoram Globus' Cannon drehte, den Kern des Buchs. Doch auch die "Ränder" von Firstenbergs Karriere sind faszinierend. Neben einer Geschichte des Filmemachens bei Cannon bietet Stories from the Trenches auch viele kleine Einblicke in die Filmindustrien Israels, Südafrikas, der Philippinen, Indonesiens, Indiens und Bulgariens (Länder und Filmindustrien, in denen Firstenberg gearbeitet hat): Globalisierung des Films, erzählt anhand einer Regisseurkarriere. Stories from the Trenches handelt von US-amerikanischem Genrekino, das außerhalb des etablierten Hollywoods produziert wird: der Band bietet viele Einblicke in die Herstellung mittel- und niedrigbudgetierter Filme, in die kreativen Möglichkeiten eines solchen Kinos, aber auch in seine unzähligen logistischen Begrenzungen. Zu guter letzt, um es auch ganz naiv zu sagen: Stories from the Trenches erzählt auch von der Magie von Filmen.


Und Firstenberg? Seine Filme haben mich begeistert durch ihre unverstellte Freude, durch ihre "Naivität" (damit meine ich die unverstellte Begeisterung für die Essenzen ihrer Genres: Bewegung, Rhythmus, Atmosphäre und oft auch einfach Spaß an Unfug), durch ihre Menschlichkeit in einem oft zynischen, abgebrühten Genre. Firstenberg wiederholt im Verlauf des Buchs immer wieder, dass er "nur" ein "Auftragsregisseur" sei. Dass er Filme "nur" nach der "Formel" des jeweiligen Genres mache und dass er kein "Rebell" sei. Er wiederholt sogar mehrmals im Verlauf des Buchs "seine" "Formel" für den Actionfilm: maximal 90 Minuten Laufzeit; eine große Actionszene am Anfang, in der Mitte und am Ende; mehrere kleinere Actionszenen zwischendrin; jede Actionszene soll eine eigene Geschichte mit Anfang, Mittelteil und Schluss erzählen. Formel, das kommt bei Firstenberg nicht von Formular, sondern von Zauberformel. An einer anderen Stelle im Buch fügt er seiner Formel hinzu: "Action is action, but if you don't care about the people in the scene, you don't care about the action as well." Sam Firstenberg = Genrekino nach Formel + Charaktere + punktgenau Inszenierung? AMERICAN NINJA funktioniert vielleicht auch nur, weil Michael Dudikoff (kein im "klassischen" Sinne "guter" Schauspieler, aber eine charismatische Präsenz mit einer leicht verträumten Note) seinen Joe Armstrong als träumenden Außenseiter und nicht als Drauhauf-Typen präsentiert? Weil der großartige Steve James als Curtis Jackson diesen Träumer mit seiner Streetsmart-Präsenz erdet?

Ebenso wenig wie Menschen sind Orte bei Firstenberg austauschbar. Es ist bewundernswert, wie Firstenberg den Raum einfängt, in dem gehandelt, gekämpft, getanzt, getötet und gestorben wird: der Kampf auf dem Hochhausdach vor einem breiten Stadtpanorama am Ende von REVENGE OF THE NINJA, die karibisch-entspannte Urlaubsatmosphäre von AMERICAN NINJA 2: THE CONFRONTATION, die archaischen, verregneten Sümpfe von Louisiana als Kulisse der brachialen Kämpfe in AVENGING FORCE...


Meine Firstenberg-Favoriten sind (sehr unspektakulär) seine für Cannon gedrehten Filme: REVENGE OF THE NINJA, NINJA III: THE DOMINATION, BREAKIN' 2: ELECTRIC BOOGALOO, AMERICAN NINJA, AMERICAN NINJA 2: THE CONFRONTATION, AVENGING FORCE. Filme mit zwar nicht großen, aber doch vernünftigen Bugdets und verhältnismäßig wenig Eingriffen und Einmischungen seitens des Studios bzw. der Produktionschefs. Stories from the Trenches erzählt anhand von Firstenbergs Karriere auch vom Niedergang eines bestimmten Typen von Genre-Kino, für das Cannon stand. Die 1990er Jahre verzweigten auf gewisse Weise das Genre-Kino und besonders das Actionkino: entweder in Richtung des Blockbusters, oder in Richtung der niedrig-budgetierten Videotheken-Produktion. Firstenberg stieg nie in Hollywood-Blockbuster-Ehren auf. Seine Filme aus den 1990er Jahren haben nicht mehr die materiellen und finanziellen Ressourcen, die Cannon bot und man sieht es ihnen auch an. Die Firstenberg-Brillanz kommt eher in kleinen Momenten, in einzelnen Szenen, in manchen Figuren zum Tragen als in der Gesamtheit des Films.


Selbstverständlich haben mich nicht alle gesichteten Werke Firstenbergs (bislang 18 abendfüllende Spielfilme, 2 Kurzfilme, 3 TV-Serien-Episoden) vollkommen begeistert. Ich glaube, der einzige Film, der mich fast rundum angeödet hat, ist BLOOD WARRIORS (1993), sein indonesisch koproduziertes Remake von THE THIRD MAN bzw. besser gesagt seine Action-Neubearbeitung von Motiven aus Carol Reeds Klassiker. Wobei eben nur "fast rundum": die Idee, eine Verfolgungsjagd auf ein typisch südostasiatisches Baugerüst aus Bambus zu filmen, ist schon sehr nett (wenn auch leider lasch inszeniert); einige der Straßenimpressionen aus den Außenbezirken Jakartas sind sehr bemerkenswert, weil sie einen tropisch-exotischen Touch mit quasi-apokalyptischer Großstadt-Moloch-Atmosphäre verbinden (wieder so ein unvergesslicher Firstenberg-Ort). Der Dreh wird in Stories from the Trenches als logistischer Alptraum beschrieben. Auch sein Tierhorrorfilm SPIDERS II: BREEDING GROUND ist stellenweise besonders aufgrund der absolut bestialischen Digitaleffekte schmerzhaft anzuschauen. Doch auch hier gibt es wieder einige tolle Schauspieler, die den Tag retten, besonders die großartige und charismatische (und leider tragisch früh verstorbene) Stephanie Niznik.


Trotzdem: die Post-Cannon-Ära Firstenbergs hat neben einigen schönen Einzelmomenten in insgesamt schwächeren Werken trotzdem auch einige sehr bemerkenswerte Filme hervorgebracht, die seine Fähigkeiten auch außerhalb des engeren Genrebereichs Action und außerhalb des Systems Cannon unterstreichen: RIVERBEND (1989), ein komplett unabhängig finanzierter Film, der Elemente des Vietnamheimkehrerfilms und Westerns, der Blaxploitation und des engagierten Antirassismus-Dramas, des Belagerungs-Actionfilms und des Melodrama auf nicht immer konzise, aber doch sehr faszinierende Weise verbindet; MOTEL BLUE (1997), ein atmosphärisch unglaublich dicht gefilmter Neo-Noir bzw. Erotikthriller um eine junge Musteragentin, die nach und nach Gefallen findet am Lebensstil ihres Ermittlungsobjekts, einer femme fatale mit einem bewegten Liebesleben und einigen dubiosen Bekanntschaften; THE ALTERNATE (2000), eine Art Low-Budget-Ripoff von DIE HARD, der die Vorlage noch näher an ihre Western-Ursprünge bringt, mit Eric Roberts als einsamer Held, der in einem großen Luxushotel den Tag und den Präsidenten vor Terroristen retten muss; und Firstenbergs bizarrer und exzentrischer (bislang) letzter Film, THE INTERPLANETARY SURPLUS MALE AND AMAZON WOMEN FROM OUTER SPACE (2003), eine auf Video unter Quasi-Amateurfilm-Bedingungen gedrehte Sexkomödie um einen sexbesessenen Universitätsprofessor, der von Alien-Amazonen entführt wird, um als Samenspender-Sklave gehalten zu werden. Meiner Meinung nach Filme, die das Portfolio von Firstenbergs bekannteren und kanonisierteren (cannonisierteren?) Werken gut ergänzen. Filme, die ich gerne hier demnächst besprechen möchte.

Aber vorher noch etwas Kleines aus Firstenbergs Prä-Cannon-Phase – oder besser gesagt, zwei Kurzfilme.




Zwei frühe Kurzfilme Firstenbergs



THE TREE WAS HAPPY

USA 197[2?]

Regie: Shmulik Firstenberg

Erzähler: Dorian Boyle



Ein kleiner Junge spielt alleine in der Natur und geht immer wieder zum gleichen Baum, klettert darauf herum und legt sogar ein kleines Blumenbeet an dessen Fuß an (bzw. an deren Fuß: der Erzähler des Films bezeichnet den Baum mit "she"). Der Baum wiederum, so erfahren wir vom Erzähler, liebt den Jungen genauso, wie der Junge den Baum liebt.

Doch der Junge wird mit der Zeit älter, besucht den Baum seltener, und interessiert sich auch für das andere Geschlecht seiner eigenen Spezies. Der Junge (bzw. jetzt: der junge Mann) und der Baum können offenbar miteinander kommunizieren: der Baum fordert den Jungen dazu auf, doch auf ihn zu klettern. Dafür sei er doch zu alt, und er möchte lieber Geld haben. Nein, Geld habe der Baum nicht, aber der Junge könne doch die Äpfel nehmen und sie in der Stadt verkaufen. Was der junge Mann tut... und der Baum war glücklich ("And the tree was happy" – ein wiederkehrender Satz des Films).

Wieder etwas älter möchte der nun erwachsene Mann (richtig respektabel mit Aktentasche) ein Haus bauen, und sicher nicht auf dem Baum klettern, wie dieser wieder vorschlägt. Nein, ein Haus könne er nicht geben, aber der Junge ("the boy", wie der Baum ihn bis zum Ende nennt) könne doch seine Äste benutzen, um ein Haus zu bauen. Daraufhin sägt der Junge dem Baum die Äste ab (das markerschütternde Sägegeräusch könnte an dieser Stelle aus einem Horrorfilm entstammen)... und der Baum war glücklich.

Noch mal älter kommt der nun ältere Mann wieder beim Baum vorbei, und möchte ein Boot haben, um wegzusegeln. Nein, ein Boot habe der Baum nicht, aber der Junge könne doch einfach seinen Stamm abschneiden, um ein Boot daraus zu machen. Gesagt, getan... und der Baum war glücklich – aber doch nicht wirklich, wie der Erzähler nun zum ersten Mal ergänzt.

Als nunmehr alter Mann, der einen Stock zum Gehen braucht, besucht der Junge noch mal seinen Baum, der nur noch als Stumpf übrig geblieben ist. Wunschlos und ohne Worte setzt er sich auf den Baumstumpf... und der Baum war glücklich.


THE TREE WAS HAPPY ist einer von Shmulik Firstenbergs ersten Filmen (Sam nannte er sich erst später auf Vorschlag Menahem Golans für die Filmcredits um; in Stories from the Trenches nennen ihn allerdings auch viele nicht-israelische Interviewte Shmulik; in einem gewissen sozialen Kanal nutzt Firstenberg beide Vornamen). Er verließ Anfang der 1970er Jahre Israel in Richtung USA, um dort Film zu studieren und Filme zu machen. Die erste Station war ein Filmstudium am Columbia College in Hollywood, wo er nach eigenen, widersprüchlichen Angaben entweder drei oder vier Kurzfilme inszenierte: der erste fertiggestellte Film war THE TREE WAS HAPPY, ein weiterer hatte den Titel THE SAND CASTLE.


THE TREE WAS HAPPY ist eine Verfilmung von Shel Silversteins Kurzgeschichte "The Giving Tree": diese gehört in den USA mittlerweile zu den berühmtesten und meistverkauften Kurzgeschichten für Kinder, aber auch zu den kontroversesten. Die Geschichte des glücklich gebenden Baums hat zahlreiche Interpretationen hervorgerufen: sie kann als Geschichte christlicher Nächstenliebe gelesen werden, als ökologische Parabel, als Darstellung einer komplizierten Eltern-Kinder-Beziehung, aber auch als Geschichte einer toxischen, ausbeuterischen oder sadomasochistischen Beziehung, bei dem sich ein egoistischer Narzisst (der Junge) und ein Masochist (der Baum) gegenüberstehen.


Eine Liebesgeschichte zwischen einem kleinen Jungen und einem Baum, die mit fortgeschrittenem Alter zunehmend zerstörerisch wird


Ich selber, der nur Firstenbergs Film gesehen und die Vorlage nicht gelesen hat, neige zu letzterem: der Baum gibt sich selbst mit einer zunehmend masochistischen Inbrunst komplett in der Beziehung zum Jungen auf, gibt sich quasi einer Täuschung hin und muss gegen Ende auch einsehen, dass er doch nicht so glücklich ist. Wie bereits erwähnt: die Absägung seiner Äste wird mit einfachen Mitteln inszeniert (eigentlich nur eine Nahaufnahme mit Säge und dem entsprechenden, sehr lauten Geräusch), wirkt aber trotzdem unglaublich drastisch. Eine sehr finstere Geschichte, wenn man sie aus der Perspektive des Baums (bzw. der Natur) näher betrachtet.

Aus der Perspektive des Jungen (bzw. der Menschheit) könnte man eine Art Geschichte verlorener Kindheitsunschuld sehen, eines Menschen, der aus kindlicher Unbekümmertheit langsam in eine materialistische Kultur (bzw. kapitalistische Kultur, in der der Erfolg des einen von der Ausbeutung des anderen abhängt) hineinwächst. Aus dem unschuldigen Jungen wird ein gefühlskalter, materialistischer Erwachsener.

Am Ende sind beide Figuren "gebrochen" – und das letzte "And the tree was happy" wirkt fast zynisch, wie eine Art verbalisierte Rache: der Junge hat sein ganzes Leben lang den Baum ausgenommen, aber schlussendlich ist er nunmehr nur noch ein alter, gehbehinderter Mann. Man kann den Schluss alternativ auch als ernüchtert, aber trotzdem versöhnlich sehen.


Über die Beteiligten an THE TREE WAS HAPPY jenseits des Regisseurs ist kaum etwas zu finden. In Stories from the Trenches wird der Film nur an wenigen Stellen kurz erwähnt. Firstenberg beschreibt den Prozess des Filmemachens an der Universität als sehr kollaborativ: Studenten helfen sich bei ihren jeweiligen Filmen gegenseitig aus – so ist anzunehmen, dass Kommilitonen und Bekannte von Kommilitonen an der Entstehung von THE TREE WAS HAPPY beteiligt waren. Firstenberg erwähnt Yossi Peso, ein anderer israelischer Filmstudent, der am Columbia College offenbar für die Materialen (Kameras, Linsen etc.) verantwortlich war, aber ob dieser am Film beteiligt war, geht aus Firstenbergs Ausführungen nicht wirklich eindeutig hervor. Dorian Boyle, der Erzähler, der meiner Meinung nach eine sehr schöne Erzähler- und Sprecherstimme hat, dürfte auch aus dem Umfeld des Columbia College sein, ebenso die in den End-Credits genannten Darsteller Elia, Dan und Sol.


THE TREE WAS HAPPY ist in ganzer Länge in Sam Firstenbergs persönlichem YouTube-Channel zu sehen. Die Qualität ist leider ziemlich grausig: es sieht ein bisschen wie die Videokopie einer Videokopie aus, wobei die zu Grunde liegende 16mm-Kopie offensichtlich stark blaustichig war. In der Beschreibung des YouTube-Videos findet sich auch das Entstehungsdatum 1972, das ich allerdings nirgendwo mit einer anderen Quelle abgleichen kann, weil sich sonst nichts über diesen Film finden lässt.

Als mittlerweile gewachsener Firstenberg-Fan gehört THE TREE WAS HAPPY sicherlich nicht zu meinen persönlichen Highlights seiner Filmografie (eine Zweitsichtung hat daran nichts wesentlich geändert). Es ist trotzdem ein sehenswerter, früher Film und aufgrund der bescheidenen Qualität der verfügbaren Kopie würde ich ein definitives Urteil sowieso erst einmal aufschieben.




SIMPATYA BISHVIEL KELEV ("For the Sake of the Dog")

Israel 1979

Regie: Shmulik Firstenberg

Darsteller: Pesach Guttmark (Aaron Beckler)



Aaron Beckler, dessen komplette Familie im Vernichtungslager Auschwitz ermordet wurde und der selbst als Anti-Nazi-Partisan die Kriegsgefangenenlager, als Jude die Vernichtungslager und als Kommunist die Gefängnisse der Polen (ob die Vorkriegszeit oder die stalinistische Ära gemeint ist, bleibt klar) überlebt hat, lebt in einem Arbeiterviertel Tel Avivs alleine in einer bescheidenen Wohnung. Nun, nicht ganz alleine, denn sein kleiner Hund, Tina, lebt mit ihm. 

Wie jeden Tag seit nunmehr acht Jahren geht Herr Beckler mit Tina am Strand spazieren. Doch heute bekommt er von einem Polizisten einen Strafzettel, weil (wohl seit kurzem) Hunde am Strand nicht mehr erlaubt sind. Herr Beckler will den Strafzettel ignorieren, weil er schon so lange mit Tina am Strand spazieren geht, weil der Strand doch allen gehöre und überhaupt sei das doch nicht Sowjetrussland. Die Warnungen eines Bekannten, dass er bei Nichtzahlung Probleme mit der Polizei bekommen könnte, schlägt er in den Wind. Doch tatsächlich steht eines Morgens eine Polizistin vor seiner Tür, die ihn zur Polizeistation bittet.

Dort wird er gebeten, die Summe des Strafzettels einfach zu begleichen, ihm wird sogar eine Stundung des Betrags vorgeschlagen, doch Herr Beckler weigert sich aus Prinzip weiter, den Strafzettel zu bezahlen. Also muss er für sechs Tage ins Gefängnis. Doch hier kommt das weitere Problem: Hunde dürfen auch nicht ins Gefängnis, und die kleine Tina, die er auf die Polizeistation mitgenommen hat, soll er abgeben. Doch auch da weigert sich Herr Beckler: wenn der Hund nicht mit ins Gefängnis darf, dann geht er auch nicht ins Gefängnis! Auch hier finden die Polizisten schließlich eine unbürokratische Lösung: der Hund wird in die Obhut der Polizistin übergeben, die Herr Beckler abgeholt hat. Und Herr Beckler darf vorher die Wohnung der Polizistin, also den provisorischen Schlafplatz Tinas für die nächste Woche, inspizieren: trotz anfänglicher Skepsis und einigen ausführlichen Instruktionen an die Adresse der Polizistin bezüglich Ernährung und täglichen Geschäften gibt er sich zufrieden, zumal die jüngeren Geschwister der Polizistin gute Spielgefährten für den Hund sein werden. Jetzt kann Herr Beckler also ins Gefängnis.

In der Polizeistation, wo er bis zum Transfer in die Vollzugsanstalt festgehalten wird, kommt er zu einigen "Halbstarken" in die Zelle. Die latent bedrohliche Situation löst sich auf, als einer der jungen Männer, der in einem Strandcafé arbeitet, Herrn Beckler als den Spaziergänger mit dem kleinen Hund wieder erkennt. Als seine Zellengenossen erfahren, warum Herr Beckler "sitzt", bieten sie ihm – ganz offensichtlich aus spontaner Sympathie – an, für ihn den Strafzettel zu bezahlen. Wenig später folgt der Transfer ins Gefängnis und dort erfahren wir, dass Herr Beckler sich geweigert hat, die Quittung für die Zahlung des Strafzettels zu unterschreiben. Im Gefängnis geschieht im Prinzip das gleiche: die Zellengenossen des alten Mannes finden es furchtbar, dass ein solch alter und offensichtlich trauriger und einsamer Mann wegen einer Nichtigkeit einsitzt und wollen ihn mit der Summe des Strafzettels freikaufen. Der Gefängnisdirektor ist offensichtlich sehr unbürokratisch: er lädt Beckler vor, erklärt ihn für entlassen und als dieser sich weigert, irgendetwas zu unterschreiben, erklärt er ihm, dass eine Unterschrift in diesem Fall nicht nötig sei.

Also findet sich Herr Beckler unfreiwillig wieder draußen. Er holt seine Tina ab – und geht mit ihr am Strand spazieren. Wie beide zusammen gen Sonnenuntergang marschieren, erklärt er ihr, dass er sich natürlich geweigert hat, den Strafzettel zu bezahlen, dass aber ganz viele sympathische Menschen mit ihr, Tina, dem Hund, Mitleid gehabt und deshalb geholfen haben...


In den 1970er Jahren alternierte Firstenberg zwischen Studium, einem Kameramann-Job bei einem lokalen Fernsehsender in Los Angeles sowie diversen Assistentenjobs im Umfeld von Menahem Golan (damals noch nicht Cannon-Chef), den Firstenberg 1973 bei einer Silvesterparty kennen lernte und der ihn zunächst als Assistent für alle möglichen Dinge beschäftigte (als Maler von hebräischsprachigen Schildern bei LEPKE oder auch als persönlicher Bote und Aushilfsfahrer für Shelley Winters), später dann auch als Regieassistent. In dieser Zeit kam Firstenberg immer wieder nach Israel, sei es als Assistent bei US-israelischen Koproduktionen Menahem Golans, bei rein israelischen und hebräischsprachigen Produktionen oder bei Location-Shootings (Firstenberg war Assistent Director für die israelische Crew bei William Friedkins SORCERER). Während eines solchen längeren Aufenthalts in Israel entstand SIMPATYA BISHVIEL KELEV.


Herr Beckler geht täglich mit seinem Hund Tina spazieren, ist ansonsten aber ein einsamer Mensch
Für seine Weigerung, einen Strafzettel zu bezahlen, kommt er ins Gefängnis: die Zellengenossen sind Verkörperungen des Mottos "harte Schale, weicher Kern"


Sam Firstenberg ist heute vor allem für seine Actionfilme bei Cannon berühmt, doch in den 1970er Jahren plante er noch, ein "director of social issue stories" zu werden. Vorbild für SIMPATYA BISHVIEL KELEV war nach Firstenbergs eigenen Angaben der italienische Neorealismus, besonders De Sicas LADRI DI BICICLETTE, aber auch die populären Komödien von Boaz Davidson, die meist in ärmeren Milieus angesiedelt waren. Durch die Verbindung zwischen einem alten Mann und einem Hund kommt dem Kenner des italienischen Neorealismus natürlich auch UMBERTO D in den Sinn, doch das war wahrscheinlich eher ein Zufall. Als Co-Autor des Films wird Yigal Lev genannt. Lev war Journalist in Jaffa und schrieb in dieser Zeit jeden Freitag eine ganzseitige Geschichte über Nachrichten aus dem Alltagsleben der Stadt – eine Kolumne, die Firstenberg mit großer Begeisterung verfolgte. Die Geschichte des alten Mannes, der die Geldstrafe für seinen Hund nicht bezahlen möchte und dafür ins Gefängnis kommt, war eine von Levs Geschichten, die Firstenberg dann für seinen Film adaptierte (Lev arbeitete am Film nicht aktiv mit).

SIMPATYA BISHVIEL KELEV wurde privat von Firstenberg und Omri Maron finanziert. Maron arbeitete in den 1970er Jahren in Israel als Location-Manager für internationale Produktionen, außerdem verband ihn eine persönliche Freundschaft mit Firstenberg. Der Film wurde auf günstig eingekaufte 16mm-"short ends" von Wochenschauen gedreht. Die Crew wurde aus Firstenbergs und Marons professionellen Kontakten in der israelischen Filmindustrie sowie aus persönlichen Kontakten rekrutiert und arbeitete größtenteils ehrenamtlich. Teile des Films wurden zum Beispiel im Haus der Grossmutter von Marons Ehefrau gedreht. Gedreht wurde nicht kontinuierlich, sondern an Wochenenden über mehrere Monate hinweg (ein Prozedere, das Firstenberg auch für seinen ersten abendfüllenden Film ONE MORE CHANCE nutzen würde). Firstenberg bekam gemäß seiner eigenen Angaben auch die Unterstützung der örtlichen Behörden und konnte nicht nur echte Polizeiwagen nutzen, sondern auch im Inneren eines Gefängnisses drehen.


Aus privater Hand finanziert war SIMPATYA BISHVIEL KELEV auch gar nicht als kommerzielles Projekt gedacht, sondern als "Visitenkarte" für Firstenberg, der damit potentiellen Interessenten für andere Filmprojekte seine Fähigkeiten als Regisseur präsentierte. Gemäß Omri Maron (der im Buch Stories From the Trenches auch interviewt wird) hat das nur sehr bedingt funktioniert, weil Firstenberg nach Fertigstellung des Films keine Zeit hatte, sich um den Vertrieb des Films zu kümmern, weil sein Terminplan als Assistent zu dieser Zeit einfach zu voll war. Auf jeden Fall dürfte der Film 1980 beim Filmex (der Los Angeles International Film Exposition) gezeigt worden sein (im Buch ist jedenfalls eine Teilnahmeurkunde des Films abgebildet).


Die Atmosphäre von SIMPATYA BISHVIEL KELEV ist heiter, leicht und eher humorvoll, trotz der ernsten und teils auch finsteren Untertöne: es geht schließlich um einen Holocaust-Überlebenden und Überlebenden diverser Formen politischer Gewalt, der sich vereinsamt und verbittert von seinen Mitmenschen entfremdet hat und eigentlich nur noch mit seinem Hund richtig kommuniziert. Eine Wandlung macht Herr Beckler eigentlich auch nicht durch: am Ende des Films würde er wahrscheinlich diesen ganzen Prozess noch mal durchmachen. Aber seine Figur funktioniert auf mehreren Ebenen: als historisch und soziologisch verankerter Charakter (ein entfremdeter Holocaust-Überlebender) und auch als, wenn man so will, Genre-Figur, sprich als störrisch-sturer alter Mann, der alles an sich abprallen lässt. Der Film funktioniert als beides: als (neo-)neorealistisches Drama und als leise Komödie mit leicht absurden Einsprengeln. Der Darsteller Pesach Guttmark (auch zu finden mit der Schreibweise Pesah Gutmark) spielt den Herrn Beckler vorzüglich. Guttmark war ein Film- und Theaterschauspieler, den Firstenberg persönlich von einem früheren Dreh in Israel kannte. Guttmark war kein Star, sondern relativ unbekannt, und genau deshalb hat ihn Firstenberg auch gecastet: ein Nicht-Star für die Rolle eines "kleinen Mannes".


Bei der Erstsichtung fand ich SIMPATYA BISHVIEL KELEV ganz interessant, wenn auch nicht wirklich begeisternd. Die Zweitsichtung hat ihn mir allerdings noch mal viel näher gebracht. Vor allem hat mich jetzt begeistert, wie "übervoll" dieser scheinbar extrem "simple" Film mit Charakteren, Gesichtern und kleinen Mini-Nebengeschichten ist, die seiner einfachen Geschichte eine dichte Textur verleihen: am Strand etwa die sporttreibenden älteren Herrschaften; die dominospielenden alten Männer im Café; die beobachtenden Nachbarn bei der Verhaftung Becklers; die größere Familie der Polizistin mit (wahrscheinlich) der Mutter und (wahrscheinlich) den jüngeren Geschwistern; dazwischen immer wieder kleine Straßen-, Nebenstraßen- und Hinterhof-Impressionen. Manchmal längere Bilder, manchmal nur kleine Montage-Einschübe. In Stories from the Trenches hebt Firstenberg den Film vor allem als Zeitdokument der "dreckigen" 1970er Jahre hervor: als Alltagsportrait von Tel Aviv vor der Gentrifizierung.


SIMPATYA BISHVIEL KELEV ist als "For the Sake of a Dog" in Sam Firstenbergs persönlichem YouTube-Channel zu sehen. Die Qualität ist eher suboptimal (wenn auch nicht ganz so schlecht wie bei THE TREE WAS HAPPY), die 16mm-Kopie, die als Quelle zugrunde lag, scheint einen leichten Braunstich zu haben.

2 Kommentare:

  1. Da ist er also, der Firstenberg, den Du in einer Mail ja schon angekündigt hattest. Und der Artikel hat mich dann doch überrascht, weil ich von Firstenberg ähnlich wenig wusste wie Du vor der Lektüre des Buchs.Und mit sowas wie diesen beiden Kurzfilmen hätte ich da wirklich nicht gerechnet.

    In THE TREE WAS HAPPY wird der Kontrast zwischen dem Jungen und dem erwachsenen Protagonisten sogar noch etwas größer dadurch, dass er am Anfang eine Blume vor dem Baum einpflanzt und sogar noch ein Eimerchen mit Wasser zum Gießen holt. Das habe ich durchaus als Geschenk an den Baum interpretiert. Zuerst gibt er ihm also ein bisschen (aber aus kindlicher Sicht vielleicht eine große Tat), und dann nimmt er ihm alles.

    SIMPATYA BISHVIEL KELEV ist wirklich sehr dicht, aber auch ökonomisch erzählt. Am Anfang sieht man die Fotos der Verwandten in der Wohnung und ahnt vielleicht schon etwas, und dann gibt es einen kurzen Blick auf die tätowierte KZ-Nummer auf seinem Unterarm, und man weiß sofort, dass die wahrscheinlich alle umgebracht wurden. Ähnlich hat das Hal Ashby in HAROLD AND MAUDE gemacht. Da reicht auch ein Blick auf ihren tätowierten Arm, und man sieht ihr komplettes Verhalten in einem anderen Licht, ohne dass sie ein Wort darüber verliert.

    Ich glaube, dass Beckler im nationalistischen Polen der 30er Jahre im Gefängnis war. Denn er sagt ja, dass er da als "junger Kommunist" war. Wenn er jetzt um die 70 ist, wäre er um 1910 geboren und in den 30er Jahren in seinen 20ern.

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    1. dass er am Anfang eine Blume vor dem Baum einpflanzt und sogar noch ein Eimerchen mit Wasser zum Gießen holt. Das habe ich durchaus als Geschenk an den Baum interpretiert. Zuerst gibt er ihm also ein bisschen
      Ja, das stimmt. Dadurch wird die emotionale Fallhöhe noch mal deutlich höher und der "Fall" danach noch härter und schmerzhafter.

      Ich glaube, dass Beckler im nationalistischen Polen der 30er Jahre im Gefängnis war. Denn er sagt ja, dass er da als "junger Kommunist" war. Wenn er jetzt um die 70 ist, wäre er um 1910 geboren und in den 30er Jahren in seinen 20ern.
      Ja, das klingt auf jeden Fall plausibel.

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