Montag, 23. August 2021

Anatomie eines Mordes ...

... in den griechischen Bergen

ANAPARASTASI (REKONSTRUKTION)
Griechenland 1970
Regie: Theo Angelopoulos
Darsteller: Toula Stathopoulou (Eleni Gousis), Yannis Totsikas (Christos Gikas), Thanos Grammenos (Elenis Bruder), Michalis Fotopoulos (Kostas Gousis), Petros Hoedas (Staatsanwalt), Alexandros Alexiou und Yannis Balaskas (Polizeioffiziere), Theo Angelopoulos (Journalist)

Der Schauplatz des Verbrechens und der Rekonstruktion
Theo Angelopoulos untersucht in seinem ersten eigenen Spielfilm (er war schon 1965 ungenannter Co-Regisseur bei einer Musikkomödie) die Ursachen und die Nachwirkungen eines Verbrechens. Er wurde dazu von einem echten Mordfall inspiriert, von dem er in einer Zeitungsnotiz gelesen hatte. In der fiktiven Version kehrt der Ehemann und Familienvater Kostas Gousis, der Jahre als Gastarbeiter in Deutschland verbracht hatte, in sein Heimatdorf im gebirgigen Epirus im Nordwesten Griechenlands heim. Seine Frau Eleni empfängt ihn scheinbar herzlich - und bringt ihn kurz danach gemeinsam mit ihrem Geliebten Christos um, indem ihn die beiden mit einem Strick erdrosseln. Die Konstellation erinnert etwas an die klassische Geschichte von Agamemnon, Klytaimnestra und Aigisthos, aber die Ähnlichkeit ist nur oberflächlich und wird von Angelopoulos nicht vertieft. Auch der gelegentlich zu lesende Hinweis auf James M. Cains Roman The Postman Always Rings Twice und dessen Verfilmungen führt nicht viel weiter. Angelopoulos geht es mehr um eine Zustandsbeschreibung ausgemergelter Seelen, einer ausgemergelten Landschaft, und eines ausgemergelten Landes, und wie diese voneinander abhängen. Angelopoulos rekonstruiert das Verbrechen - und damit die Zusammenhänge von Individuen, Landschaft und Land - in einer Reihe von nichtchronologischen Rückblenden, und REKONSTRUKTION, die wörtliche Übersetzung von ANAPARASTASI, ist ein sehr treffender Titel dafür.

Eleni und Christos, die Mörder
Es beginnt mit einem achtminütigem Prolog vor den Credits. Eine karge Gebirgslandschaft im April 1970; es regnet. Man befindet sich nicht außerhalb der Zivilisation, so sind Strommasten zu sehen, aber es ist schon ein recht trostloser Ort. Ein Sprecher aus dem Off nennt in sehr sachlichem Ton einen der Gründe, indem er Bevölkerungszahlen des fraglichen Dorfs verkündet: 1939 1250 Einwohner, 1965 nur noch 85. Der Grund: Die Männer ziehen in die Großstädte Thessaloniki und Athen oder gleich nach Deutschland. Zurück bleiben die Alten (die dann irgendwann sterben), ein Teil der Frauen und Kinder, und nur sehr wenige erwachsene Männer. Elenis Liebhaber und Komplize Christos ist einer davon, er ist im Ort sowas wie der Dorfgendarm oder ein amtlich bestellter Flurwächter. Auf der nicht asphaltierten und im Regen schlammigen Passstraße hält ein klappriger Bus, ihm entsteigt jener Kostas, der bald tot sein wird. Der Anfang der Geschichte bildet also auch den Anfang des Films, aber danach wird die Chronologie aufgebrochen. Die meisten Häuser im Dorf bestehen aus nicht verputzten Natursteinmauern. Alles wirkt karg, trostlos, verlassen, und der Regen verstärkt noch die trübe Atmosphäre. Wenigstens wirkt das Innere von Kostas' Haus einigermaßen wohnlich, aber sein jüngster Sohn kennt ihn nicht, weil er zu lange weg war.

Kostas kommt nach Hause und ist für seinen jüngsten Sohn ein Fremder
Nach der nun folgenden Titelsequenz muss man sich als unvorbereiteter Zuseher komplett neu orientieren. Ein Mann geht durch die Tür in Kostas' Haus, hinter der Tür lauert schon der Attentäter, legt ihm die Schlinge um den Hals und zieht (scheinbar) zu. Das "Opfer" ist aber nicht Kostas, sondern ein von der Polizei gestelltes Double. Das Verbrechen ist weitgehend geklärt und wird nun bei einem Ortstermin rekonstruiert, Eleni und Christos müssen dabei mitwirken - den tatsächlichen Mord bekommt man im Film nie zu sehen. Beide legen ein Geständnis ab, aber sie schieben sich gegenseitig die Hauptschuld zu und behaupten, dass der jeweils andere die Schlinge zugezogen hat und sie selbst nur widerwillig in das Verbrechen hineingezogen wurden. Von der Eintracht eines Liebespaars, das sie ja waren, ist nichts übriggeblieben. Überhaupt wirken sie nie im Film wie ein glückliches Paar. Ob sie das vor dem Mord waren, lässt Angelopoulos offen. Jedenfalls bekommt man den Eindruck von zwei Verzweifelten, die aneinander hängen, weil sie sonst nichts haben. Die Rekonstruktion der Tat und die Geständnisse bilden chronologisch gesehen den Schluss der Handlung. Welcher Version am Ende das Gericht glauben wird, und zu welchen Strafen die Täter verurteilt werden, ist nicht mehr Gegenstand des Films.

Die Tat wird rekonstruiert
Die beiden ersten Szenen von REKONSTRUKTION bilden also die Pole der Handlung, und der große Rest des Films zeigt in zeitlich voneinander abgegrenzten Sequenzen verschiedene dazwischen liegende Episoden. Zunächst gilt es, die Leiche zu entsorgen. Die vorgesehene Deponierung in einem Fuchsbau erweist sich als nicht realisierbar, weil er zu klein dafür ist. Schließlich verscharren die beiden Kostas in der Nacht vor ihrer Mauer. Doch am nächsten Morgen erkennt Eleni, dass sich das frische Grab sehr deutlich dunkel am Boden abzeichnet. Sie improvisiert, indem sie sofort das verräterische dunkle Rechteck zu einem Beet erweitert und darin Zwiebeln setzt. Tage später fahren Eleni und Christos per Anhalter in einem LKW in die Provinzhauptstadt Ioannina. Christos gibt sich in einer Pension als Kostas Gousis aus, er kauft eine Eisenbahnfahrkarte nach Athen auf den Namen Kostas Gousis, er gibt einen alten Brief von Kostas an Eleni erneut auf. Kostas' Abreise, seine Rückkehr nach Deutschland, soll vorgetäuscht werden. Doch das sind lediglich dilettantische Versuche zweier Amateure, die auf Dauer nicht von Erfolg gekrönt sind. Im Dorf tuschelt man über Kostas' Verbleib, und eine ältere Frau, vielleicht eine Verwandte von Kostas, beschuldigt Christos in aller Öffentlichkeit unverblümt, ihn umgebracht zu haben. Schließlich informiert die Frau die Polizei über den Verdacht.

Die Leiche wird entsorgt
Auch Elenis Bruder taucht auf und stellt bohrende Fragen. Als Eleni erfährt, dass Christos bei der Vertuschungsexpedition in Ioannina von einem Zeugen erkannt wurde, hält sie dem Druck nicht mehr stand und offenbart sich dem Bruder, bei dem bald die "staatsbürgerliche Pflicht" gegenüber dem Familiensinn obsiegt. So fliegt schließlich alles auf, und die beiden Täter werden verhaftet. Nicht nur die Polizei unter Führung eines Staatsanwalts ermittelt vor Ort, sondern es trifft auch ein Journalistenteam aus Athen ein (den Chefreporter spielt Angelopoulos selbst) und befragt und filmt Dorfbewohner, die beiden Täter und den Staatsanwalt, so dass die "Rekonstruktion" quasi gedoppelt wird. Der Staatsanwalt erklärt den Journalisten, dass zweifellos Elenis moralische Verkommenheit die Triebfeder des Verbrechens sei.

Die Polizei rückt an und beginnt die Untersuchung
Doch in Wirklichkeit entfalten sich nach und nach die Facetten der Misere des ganzen Landstrichs. Schwere Arbeit für wenig Lohn, Armut, Perspektivlosigkeit, Landflucht, und der in Deutschland lockende relative Reichtum auch für einfache Gastarbeiter. Aber auch antiquierte soziale Normen sind ein Teil des Problems. Als am Schluss der Film zum Ortstermin zurückkehrt und Eleni und Christos nach ihren Geständnissen abgeführt werden, stürzen sich die Dorffrauen wie Furien auf Eleni. Nur mit Mühe können sie von den uniformierten Polizisten davon abgehalten werden, Eleni gleich an Ort und Stelle zu lynchen. Doch frappierenderweise wird der ebenfalls anwesende Christos von den Erinnyen überhaupt nicht behelligt. Hier offenbaren sich, wie zuvor schon im Zitat des Staatsanwalts, gesellschaftlich determinierte Schuldzuweisungen. Oder anders ausgedrückt, die wütenden Dorfweiber werden zum ausführenden Organ des Patriarchats. Wie zur Illustration der desolaten Verhältnisse herrscht über weite Strecken des Films schlechtes Wetter, oft regnet es, oder es hat Nebel. In der zweiten Hälfte gibt es dann doch noch Sonne, aber da sind die Protagonisten schon so in ihre Misere verstrickt, dass die Trübnis nicht weichen will.

Meistens regnet es
REKONSTRUKTION begann mit einem Prolog, und er endet mit einem gut dreiminütigen Epilog und kehrt damit zum Anfang zurück. Nach dem Abtransport der geständigen Täter ist die jetzt absolut statische Kamera von außen auf die Vorderseite von Elenis Haus gerichtet. Nach ein Paar Sekunden kommt Christos von irgendwoher und geht ins Haus. Eine Weile passiert überhaupt nichts, dann kommt auch Kostas und geht hinein. Wenn man am Anfang gut aufgepasst hat, dann begreift man sofort (und wenn man weniger gut aufgepasst hat, dann spätestens beim zweiten Sehen), dass man das schon gesehen hat. Allerdings nicht, wie jetzt, das "Original", sondern die "Rekonstruktion" mit dem Double, und nicht von außen, sondern von innen durch ein Fenster nach draußen. Anders ausgedrückt, genau jetzt geschieht der Mord, während die weiterhin unbewegliche Kamera das Haus fixiert, aber nicht hineinsehen kann. Wieder passiert eine Weile nichts, dann kommen die drei Kinder von Kostas und Eleni von der Schule nach Hause und tollen noch etwas vor dem Haus herum.

Elenis Bruder macht seine Aussage und liefert sie damit aus, l.u. sitzend der Staatsanwalt, der Regisseur (mit Hut) als Reporter
REKONSTRUKTION entstand mitten in der Diktatur der Obristen um Georgios Papadopoulos. Das erforderte für Angelopoulos besondere Vorsichtsmaßnahmen, um nicht in die Fänge der Zensur zu geraten oder sich gar in persönliche Gefahr zu begeben - manches konnte nicht direkt gesagt oder gezeigt, sondern nur angedeutet werden. Das galt in noch verstärktem Ausmaß auch bei Angelopoulos' zweitem Spielfilm TAGE VON 36, der, wie der Titel schon andeutet, im Jahr 1936 im Vorfeld der Diktatur des Generals Metaxas spielt. Indem der Film etwas über die Zeit von Metaxas sagte, sagte er zwangsläufig (und von Angelopoulos gewollt) auch etwas über Papadopoulos und Konsorten aus. Doch auch hier gelang es dem Regisseur, durch gezieltes knapp-daneben-Blicken und zwischen-den-Zeilen-Sagen, den Film unbeschadet durch die Zensur zu bringen und trotzdem das auszusagen, was er zu sagen hatte, und vom aufgeschlossenen Teil des Publikums auch verstanden zu werden.

Links oben das "Mörderhaus"
Angelopoulos war berühmt (und bei manchen berüchtigt) für seine langen und sorgfältig durchkomponierten Plansequenzen in teilweise sehr langen Filmen. Dieser Inszenierungsstil deutet sich bei REKONSTRUKTION (und mehr noch bei TAGE VON 36) bereits an, aber beide Werke haben noch normale Spielfilmlänge, und die Geduld des Zusehers wird keineswegs über Gebühr beansprucht (der nächste Film DIE WANDERSCHAUSPIELER dauert schon fast vier Stunden, da scheiden sich dann die Geister). REKONSTRUKTION ist Angelopoulos' einziger Spielfilm in Schwarzweiß, und es ist ein teilweise sehr kontrastreiches Schwarzweiß, das nicht nur gut aussieht, sondern auch perfekt zur einerseits tristen und andererseits quasidokumentarischen Ausrichtung des Films passt. Angelopoulos hatte schon bei der ganz oben erwähnten Musikkomödie und dann 1968 bei seinem Kurzfilm EKPOMBI mit dem Kameramann Giorgos Arvanitis gearbeitet. Daraus wurde eine Arbeitsgemeinschaft fast für's Leben, denn Arvanitis filmte dann rund 30 Jahre lang, bis DIE EWIGKEIT UND EIN TAG von 1998, sämtliche Filme von Angelopoulos. In den 90er Jahren war schon Andreas Sinanos als zweiter Kameramann mit dabei, der dann ab den 2000er Jahren Arvanitis ablöste.

Manches an REKONSTRUKTION erinnert noch an den Neorealismus, und dazu gehört, dass mit Toula Stathopoulou eine von Angelopoulos entdeckte Laiendarstellerin die Hauptrolle spielt - sie war eigentlich Schneiderin, und beinahe Analphabetin. Aber sie war ein wahres Naturtalent, fand Gefallen an der Darstellungskunst und wurde professionelle Schauspielerin am Nationaltheater, und gelegentlich in weiteren Filmen. Angelopoulos setzte sie nach REKONSTRUKTION noch viermal ein. Auch fast alle anderen Dorfbewohner werden von ortsansässigen Laien gespielt, echte Schauspieler waren aber auch mit von der Partie. Gekostet hat der Film damals 13.000 Dollar, das wären heute inflationsbereinigt wohl rund 90.000 Euro.

Die Dorffrauen attackieren Eleni
Im letzten Jahr erfuhr REKONSTRUKTION wohl aufgrund des 50-jährigen Jubiläums wieder verstärkte Aufmerksamkeit, er lief 2020 auf der Berlinale und zum Jahreswechsel 2020/21 im New Yorker Museum of Modern Art. REKONSTRUKTION und ca. ein Dutzend weitere Filme von Angelopoulos sind in der Schweiz bei trigon auf DVD erschienen, und in England gab es REKONSTRUKTION zusammen mit den nächsten drei Spielfilmen in der Theo Angelopoulos Collection Vol 1, aber die ist mittlerweile wohl vergriffen. Schon 1971 lief REKONSTRUKTION einmal auf der Berlinale, genauer gesagt im Internationalen Forum des Jungen Films. Ein damals gemachtes ausführliches Interview mit dem Regisseur (plus ein etwas abgehobener Artikel über den Film) findet sich hier als PDF.

2 Kommentare:

  1. So... nach Urlaub und stressigem Arbeitswiedereinstieg endlich dazu gekommen, deinen Text aufmerksam zu lesen – und jetzt eben auch die DVD bei trigon gleich gekauft.
    Meine erste Assoziation ging tatsächlich zu "The Postman Always Rings Twice" und konkret zu der ungarischen Verfilmung der frühen 1990er Jahre SZENVEDÉLY ("Leidenschaft") von Fehér György, die ich 2016 beim goEast sah und bei der auch mehr um kaputte Menschen in einer trostlosen Landschaft ging als um die Kriminalgeschichte (ich schrieb: "Schlammeinöde, trostlose Regenlandschaften, darin drei Menschen (später nur noch zwei), die wie leere Hüllen, Zombies, durch das Bild kriechen.").
    Eine weitere Assoziation, wegen des beschriebenen Lynchversuchs, war Lucio Fulcis Berg-Giallo NON SI SEVIZIA UN PAPERINO: auch hier geht es unter anderem um Patriarchat in einer "rückständigen", ländlichen Gesellschaft, darum, was Verbrechen in dieser Gesellschaft auslöst, und die Männer des Dorfes lynchen dann auch eine (unschuldige) Frau.
    Angelopoulos ist noch ein wenig eine blinde Stelle bei mir. Der Name ist natürlich bekannt, aber gesehen habe ich bislang nur DER BIENENZÜCHTER mit Marcello Mastroianni, der mir als sehr melancholisch und langsam-meditativ im Gedächtnis geblieben ist: keine konkreten Erinnerungen (ich glaube, dass die Landschaften da nebelig waren), aber ich glaube, er hatte mir ganz gut gefallen, und Mastroianni war sowieso großartig. Wer weiß, vielleicht startet REKONSTRUKTION eine größere Angelopoulos-Reihe.

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    1. Ah, SZENVEDÉLY - den kenne ich noch nicht, und deine Besprechung von damals war mir nicht mehr präsent. Aber wenn von REKONSTRUKTION und einer Cain-Verfilmung die Rede ist, dann meistens von OSSESSIONE. Der geht zwar noch etwas mehr in diese Richtung als die beiden bekannten amerikanischen Fassungen, aber auch da steht noch die individuelle Psychologie der Figuren im Vordergrund.

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