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Mittwoch, 23. Juli 2014

Ein Werwolf in der Pampa

NAZARENO CRUZ Y EL LOBO (NAZARENO CRUZ AND THE WOLF)
Argentinien 1975
Regie: Leonardo Favio
Darsteller: Juan José Camero (Nazareno Cruz), Marina Magali (Griselda), Alfredo Alcón (Teufel), Lautaro Murúa (Sebastian), Nora Cullen (Lechiguana), Juanita Lara (Fidelia), Elcira Olivera Garcés (Damiana), Yolanda Mayorani (Patentante des Teufels)


Während ein heftiges Gewitter tobt, stößt die alte Lechiguana, eine Art wohlwollende Hexe oder Schamanin, eine schreckliche Warnung aus: Jeremías, der schon sechs Söhne hat, müsse unbedingt eine erneute Schwangerschaft seiner Frau Damiana verhindern. Denn falls das siebte Kind auch wieder ein Sohn ist, wird er bei Vollmond unweigerlich zum Werwolf. Der Ausdruck, den sie für "Werwolf" benutzt, ist nicht hombre lobo oder licántropo, was man im europäischen Spanisch erwarten würde (der stilbildende THE WOLF MAN mit Lon Chaney Jr. von 1941 heißt auf Spanisch EL HOMBRE LOBO), sondern lobizón - die argentinische Schreibweise eines Wesens aus der Mythologie der indigenen Sprach- und Kulturgruppe Guaraní, das aus der Verschmelzung eines einheimischen Fabelwesens mit europäischen Werwolfmotiven hervorgegangen ist. So weist der Film schon nach wenigen Sekunden darauf hin, dass hier nicht einfach der Werwolfstoff mit seinen üblichen Zutaten (die zu einem beträchtlichen Teil gar nicht der europäischen Mythologie entstammen, sondern von Curt Siodmak, dem Drehbuchautor von THE WOLF MAN, erfunden wurden) von Hollywood nach Argentinien verpflanzt wurde, sondern dass auf einheimische volkstümliche Sagenstoffe zurückgegriffen wird. Weitere solche spezifisch argentinischen Elemente werden folgen.

Lechiguana (rechts unten ihr gar nicht toter Mann)
Lechiguanas Warnung verhallt ohne Wirkung - Damiana ist bereits schwanger. So hofft jeder, dass das Kind ein Mädchen wird, doch natürlich wird es ein Junge. Um das Schlimmste abzuwenden, wird Lechiguana die Patentante des Jungen, und er erhält besonders "heilige" Vornamen - Nazareno und Cruz (Nazarener = Synonym für Jesus, Cruz = Kreuz). Nazareno Cruz wird seinen Vater und seine sechs Brüder nie kennenlernen - beim Versuch, eine Rinderherde durch einen Fluss zu treiben, ertrinken alle noch vor Nazarenos Geburt in den Fluten. Zunächst scheint alles gutzugehen - Nazareno wächst ohne besondere Vorkommnisse zu einem allseits beliebten jungen Mann heran. Doch der Fluch seiner Geburt ist nicht aufgehoben - er tritt aber erst in Kraft, sobald sich Nazareno zum ersten Mal verliebt. Die Prophezeiung von einst ist in der Gemeinschaft nicht vergessen, aber Nazareno selbst weiß am wenigsten davon. Wenn in seiner Gegenwart Anspielungen oder Witze über Wölfe gemacht werden, weiß er nicht, was er damit anfangen soll.

Nazareno und Griselda, als für sie die Welt noch in Ordnung ist
Eines Tages trifft er bei einem Fest die schöne blonde Griselda. Bei beiden ist es Liebe auf den ersten Blick - und damit nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Schon bei ihrem ersten Tanz werden sie von einem Fremden in nobler Gaucho-Kleidung düster angestarrt. Und kurz darauf - am Tag vor Vollmond - begegnet Nazareno dem Fremden scheinbar zufällig auf freiem Feld. Dieser eröffnet Nazareno, dass seine Verwandlung in einen Werwolf unmittelbar bevorsteht. Nazareno lacht darüber, doch der Fremde macht klar, dass er es ernst meint. Und er macht ein Angebot: Wenn Nazareno der Liebe für immer abschwört, wird er seinem Schicksal entkommen, und als Bonus verspricht ihm der Fremde unermessliche Reichtümer. Doch Nazareno entscheidet sich für seine Liebe. Als Zuschauer hat man längst begriffen, dass der Fremde nur der Teufel persönlich sein kann, aber der etwas schlichte Nazareno braucht deutlich länger, bis er darauf kommt. Hier zeigt sich ein weiteres einheimisches Element: Der Teufel wird mandinga genannt, eine in Argentinien und Chile verbreitete Bezeichnung für den Teufel in Menschengestalt, der sich so unerkannt unter die Menschen mischen kann, um seine bösen Werke leichter zu verrichten. Doch wie sich im weiteren Verlauf des Films zeigt, ist dieser Teufel gar nicht so böse - mehr darüber gleich.

Der Teufel und seine Patentante
Die Vollmondnacht bricht an, und es kommt, wie es kommen muss. Nazareno in der Gestalt eines Wolfs nähert sich einer Schafherde. Vielleicht hätte er nur ein paar Schafe gerissen und die Hirtenhunde getötet, doch ein Schäfer stellt sich ihm in den Weg und muss dran glauben. Weil die alte Prophezeiung noch präsent ist, ist der Schuldige von vornherein bekannt, und so macht sich ein Mob auf die Suche nach Nazareno, um ihn zu töten. Die Führung übernimmt ausgerechnet Griseldas Vater Sebastian (in IMDb und Wikipedia wird er aus unerfindlichen Gründen Julián genannt, er heißt aber wirklich Sebastian). Sowohl Damiana als auch Griselda versuchen vergeblich, ihn zurückzuhalten. Es kommt zu einer nächtlichen Treibjagd, doch die scheitert zunächst, weil Kugeln aus Blei verwendet werden, und ein Werwolf nur mit solchen aus Silber verwundet werden kann (eine von Siodmaks Erfindungen, die hier übernommen wurde).

Sebastian und Damiana
Als Nazareno, wieder in Menschengestalt, am nächsten Morgen irgendwo in der Pampa aufwacht, springt ihn ein Huhn frontal an, wodurch er rücklings in ein Erdloch stürzt, das sich zu einer Höhle und dann zu einer labyrinthischen Unterwelt weitet. Das Huhn verwandelt sich in eine Greisin: die Patentante des Teufels - eine ähnliche Figur wie "des Teufels Großmutter" in einigen europäischen Märchen, und eine ebenso schrille Erscheinung wie Lechiguana. In schneller Folge nimmt sie verschiedene Tiergestalten an, und Nazareno weiß nicht, wie ihm geschieht. Der Ort ist eine Art Vorhölle, in der Anhänger des Teufels und solche, die es werden wollen, ausgebildet und geprüft werden. Der Name für solche Orte ist salamanca - vielleicht nach der spanischen Stadt, an deren alter Universität der Teufel persönlich Vorlesungen gehalten haben soll (andere Version hier). Mandinga selbst tritt auf und führt Nazareno durch dieses unterirdische Reich, das wirkt wie von Hieronymus Bosch erdacht. Mit seiner Patentante spricht der Teufel in Quechua (eine im Andenraum weit verbreitete Sprachfamilie).

In der Unterwelt
In dieser Unterwelt kommen sich die beiden unterschiedlichen Protagonisten auf unerwartete Weise näher. Schon bei einer früheren Begegnung hatte Nazarenos Frage, wie es ist, einen Sohn zu haben, den Teufel etwas aus der Fassung gebracht. Nun greift er selbst das Thema wieder auf: Er konnte die Frage nicht beantworten, weil er keinen Sohn haben kann, weil er aber auch selbst nie Sohn gewesen ist. Er wurde von "ihm" (gemeint ist Gott) sozusagen durch Willensakt in die Welt gesetzt, um seine Aufgabe als Unheilsbringer zu erfüllen, und es wird deutlich, dass Mandinga unter dieser einsamen Position leidet. Wie er Nazareno jetzt erklärt, war das Angebot, die Liebe gegen Reichtum einzutauschen, eine Prüfung, die Nazareno glänzend bestanden hat. Zwar sei sein baldiger Tod unausweichlich, aber dann werde er nicht in der Hölle, sondern bei "ihm" landen. Und dann äußert der Teufel eine erstaunliche Bitte: Weil er selbst nie zu "ihm" vordringen kann, soll Nazareno dort ein gutes Wort für ihn einlegen. Ähnlich wie Fritz Langs "müder Tod" ist er nämlich des Unheils und der Boshaftigkeit überdrüssig. Er sehnt sich nach Erlösung, um auf die "gute Seite" zu wechseln. Mandinga erweist sich hier als unerwartet komplexer und tragischer Charakter, der Nazareno jetzt auf Augenhöhe gegenübersteht.

Feuer ...
Mit Nazareno wieder in die Oberwelt entlassen, strebt die Geschichte ihrem Ende entgegen. Inzwischen wurden Kugeln aus Silber gegossen, und in der nächsten Nacht kommt es wieder zur Treibjagd. Nazareno hält sich versteckt, und Griselda ist bei ihm, aber man spürt sie auf. Sowohl Griselda, die sich schützend vor ihn stellt, als auch Nazareno werden von den Kugeln getroffen, und am Ende liegen beide im Gras und sehen aus wie Adam und Eva, schlafend im Paradies. Und Mandingas Stimme ruft Nazareno hinterher, er solle nicht vergessen, für ihn zu sprechen.

... und Wasser
NAZARENO CRUZ Y EL LOBO weicht nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch von den meisten Werwolffilmen ab. Während Leonardo Favio bei CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO Abstand von Sentimentalität und Dramatik hielt, drückt er hier ganz im Gegenteil voll auf die Tube. Vor allem die beiden nächtlichen Treibjagden sind ganz große Oper. Auch in musikalischer Hinsicht: Hier kommt Verdis "Rigoletto" zum Einsatz. Wirklich aus dem Rahmen fällt das aber nicht - im Gegensatz zu einigen ausgedehnten gemeinsamen Szenen von Nazareno und Griselda. Bei ihrer ersten Begegnung und ihrem ersten Tanz werden sie stark stilisiert in Szene gesetzt: Extreme Großaufnahmen, teilweise in Zeitlupe mit im Wind wehenden Haaren, und Überlagerung mit den Flammen eines Feuers durch Mehrfachbelichtung. Musikalisch unterlegt ist das mit dem Instrumental (präziser: Chor-Vokalise) "Soleado" des italienischen Daniel Sentacruz Ensemble, veröffentlicht 1974. Der ungemein populäre Titel zog viele Coverversionen nach sich, beispielsweise "Tränen lügen nicht" von Michael Holm (mit der Parodie "Dänen lügen nicht" von Otto Waalkes) und als Weihnachtslied "When a Child Is Born" (u.a. Johnny Mathis, Bing Crosby, Boney M). Direkt im Anschluss daran wird "Soleado" gleich nochmal gespielt, und Nazareno und Griselda lieben sich dazu an und in einem Fluss, einschließlich Unterwasser-Aufnahme. In einer weiteren Szene liegen die beiden wild knutschend in einem flachen Flussbett, untermalt von einem Instrumental, das immerhin nicht ganz so dick aufträgt wie "Soleado" - aber immer noch dick genug (da dieses Stück im Gegensatz zu "Rigoletto" und "Soleado" nicht im Vorspann erwähnt wird, dürfte es sich um eine Eigenkomposition von Favios Tonsetzer Juan José García Caffi handeln). Ganz am Schluss, als Nazareno mit Griselda in den Armen getroffen niedersinkt, kommt "Soleado" noch einmal zum Einsatz (und auch hier beginnt die Kamera zu delirieren). Diese Sequenzen und insbesondere die fast schon exzessive Verwendung des Schmachtfetzens "Soleado" entwickeln einen gewissen Kitsch- und Sleaze-Faktor, der an italienische Genrefilme der 60er und 70er Jahre denken lässt.

Ein gewisser Sleaze-Faktor
Ein weiteres auffälliges Merkmal von NAZARENO CRUZ Y EL LOBO sind Tiere, die immer wieder ohne offensichtlichen Bezug zur Handlung in Großaufnahme gezeigt werden. Hier eine Kröte, da eine Eidechse, dort eine Schlange, dazu die Geräuschkulisse der Pampa mit zirpenden Grillen etc. Und immer wieder in Zeitlupe aufstiebende Vögel. Aber sind es wirklich nur Tiere, die da zu sehen sind? Es könnten auch des Teufels Patentante oder der Teufel selbst sein ... Es wurde bisweilen vorgebracht, NAZARENO CRUZ Y EL LOBO sei stilistisch uneinheitlich, insbesondere die erwähnten Szenen mit Nazareno und Griselda würden nicht zum sehr schön und solide gefilmten Rest des Films passen. Ich sehe das aber nicht so. Wenn man von diesem Film so etwas wie Realität erwartet (in dem Sinn, dass der Horror aus dem Einbruch des Irrealen in die Realität erwächst), dann wirken diese Szenen in der Tat befremdlich. Doch an NAZARENO CRUZ Y EL LOBO ist eigentlich von vornherein nichts real - obwohl (oder gerade weil) ein Erzähler aus dem Off am Anfang behauptet, dies sei die "wahrste Geschichte der Welt", die der Teufel dem Großvater des Erzählers und dieser ihm selbst erzählt habe, und die er nun uns, den Zuschauern, erzählen wird. Das alles ist von Anfang an ein irreales Trugbild, eine Phantasmagorie. Das zeigt sich etwa an Lechiguana und den Personen in ihrem Umfeld. In ihrer bizarren Behausung (eine Art Wohnhöhle) liegt ihr Mann seit 40 Jahren im Bett und ist drapiert wie ein aufgebahrter Toter, obwohl ihm eigentlich nichts fehlt (wie sie zumindest behauptet). Noch rätselhafter ist Lechiguanas Enkelin Fidelia. Als Lechiguana am Anfang ihre Warnung ausstößt, sagt Fidelia dazu einen morbiden Kinderreim auf, der als Omen für das kommende Unheil dienen kann. Und dann, rund 20 Jahre nach dem Prolog, sagt sie den Reim immer noch auf, und sie ist nicht älter (oder zumindest nicht größer) geworden. Eine vollkommen mysteriöse Figur. Das alles wirkt wie ein Fiebertraumgebilde, und da passen stilistische Exzesse bestens hinein. Puristische Horrorfans mögen das aber anders sehen und die eine oder andere Szene nicht goutieren.

Fidelia
Das Drehbuch zu NAZARENO CRUZ Y EL LOBO schrieben Favio und sein Bruder Zuhair Jury nach der Vorlage eines Radio-Hörspiels von einem Juan Carlos Chiappe. Als der Film 1975 herauskam, brach er alle Kassenrekorde für einheimische Filme, und er ist mit 3,4 Mio. Zusehern immer noch der erfolgreichste argentinische Film aller bisherigen Zeiten (Favios Gaucho-Drama JUAN MOREIRA liegt mit 2,4 Mio. auch noch gut im Rennen). Er gewann auch drei Preise bei einem Festival in Panama, war in Moskau im Wettbewerb und wurde als argentinischer Beitrag zum Oscar für den besten fremdsprachigen Film nominiert (allerdings nicht für die Endrunde akzeptiert). - Nora González Pozzi, Gründerin und Leiterin des Estudio de Comedias Musicales in der argentinischen Großstadt Rosario sowie Präsidentin der Fundación Rosario Arte & Cultura, schrieb vor einigen Jahren eine Musical-Version von NAZARENO CRUZ Y EL LOBO, die erfolgreich im dortigen Teatro El Círculo aufgeführt wurde (hier die offizielle Website). Als besonderer Clou wurde Film-Nazareno Juan José Camero für das Ensemble verpflichtet. - NAZARENO CRUZ Y EL LOBO ist auf einer argentinischen DVD ohne fremdsprachige Untertitel erschienen. Englische Untertitel gibt es auf einschlägigen Websites zum Download.

Große Oper und das Ende

Donnerstag, 17. Juli 2014

Argentinische Chronik einer Kindheit

CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO (engl. CHRONICLE OF A BOY ALONE, auch CHRONICLE OF A LONELY CHILD)
Argentininen 1965
Regie: Leonardo Favio
Darsteller: Diego Puente (Polín), Victoriano Moreira (Fiori), Leonardo Favio (Fabián), Beto Gianola (Polizist), Tino Pascali (Justizbeamter)

Polín mit alter und neuer Frisur
Der elfjährige Celedón Rosas, von allen nur "Polín" genannt, ist Insasse eines Erziehungsheims für Jungen irgendwo im Großraum Buenos Aires. Der Ort gleicht mehr einer Kadettenanstalt als einer Schule, die Erwachsenen sind eher Wärter als Erzieher, etwa der knochentrockene Fiori, der mit den Jungen hauptsächlich per Trillerpfeife kommuniziert. Polín und die anderen träumen von Flucht, untereinander herrscht teilweise Solidarität, teilweise Rivalität - so kommt es zu einer Prügelei zwischen dem für sein Alter schon ziemlich abgebrühten Polín und einem anderen Jungen um die soziale Hackordnung, ohne große Begeisterung von beiden, aber die Spielregeln lassen keinen Rückzieher zu. Dummerweise werden sie von Fiori überrascht, was demütigende Strafmaßnahmen nach sich zieht. Als Fiori eines Tages wieder einmal Polín aus geringfügigem Anlass schlägt, kann sich dieser nicht mehr beherrschen und schlägt zurück. Das hätte er besser nicht getan, denn jetzt landet er zunächst auf dem Polizeirevier und dann in einer Arrestzelle. Doch mit Hilfe seines Gürtels und einer akrobatischen Einlage gelingt ihm die Flucht.

Im Heim
Zu Fuß und mit dem Bus macht sich Polín auf den Weg nach Hause, in eine Slumsiedlung (in Argentinien villa miseria genannt) in den Außenbezirken von Buenos Aires. Im Bus zeigt sich, wie abgebrüht Polín schon ist: Er klaut einem anderen Fahrgast ein Geldbündel aus der Tasche, und es ist offensichtlich, dass er das nicht zum ersten Mal macht. Zuhause nehmen Políns Eltern seine unerwartete Rückkehr mit gelinder Überraschung und wenig Begeisterung zur Kenntnis. Weil ein Nachbar auf etwas unklare Weise zu Tode gestürzt ist, herrscht in der Siedlung gerade erhöhte Polizeipräsenz, was Polín nervös macht. Deshalb macht er sich mit einem befreundeten Jungen erst mal davon, um einige Stunden beim Baden an einem nahen Fluss zu verbringen. Doch auch dort herrscht bald dicke Luft: Drei andere Jungen machen sich über Políns fast kahl geschorenen Schädel, den er im Gefängnis erhalten hat, lustig, und sie vergreifen sich an seinem Freund, mit dem sie noch eine Rechnung offen haben, während Polín aus sicherer Entfernung tatenlos zusehen muss. Zurück in der Siedlung, begegnet Polín dem jungen Zuhälter Fabián (von Favio selbst gespielt). Der will seine Kutsche, die von einer alten Schindmähre gezogen wird, demnächst gegen einen Ford eintauschen, deshalb macht er Polín das Angebot, ihm den Gaul zu verkaufen. Im Grunde ein illusorischer Vorschlag, aber Polín gerät darüber ins Träumen. Nach Einbruch der Dunkelheit schleicht sich Polín zu Fabiáns schäbigem Slum-Puff und beobachtet das Treiben der Schlange stehenden Freier, dann schnappt er sich das Pferd und macht damit einen nächtlichen Spaziergang. Doch er läuft geradewegs einem Polizisten in die Arme, der aufgrund Políns Gefängnisfrisur den Braten riecht und ihn mitnimmt. Políns Freiheit hat gerade mal einen Tag gedauert.

Fiori mit seinem bevorzugten Kommunikationsmittel
Leonardo Favios erster Spielfilm über ein Kind an der fließenden Grenze zwischen Rebellion und Kriminalität muss sich hinter Klassikern des Genres wie Buñuels LOS OLVIDADOS nicht verstecken - im Gegenteil, er ist selbst ein Klassiker des argentinischen Films. Favio hält sich von Sentimentalität und übertriebener Dramatik fern und betätigt sich als nüchterner Chronist der Zustände - das CRÓNICA im Titel hat durchaus seine Berechtigung. Neben Dialogpassagen gibt es immer wieder längere wortlose Sequenzen, teilweise als ausgetüftelte Plansequenzen gestaltet. Musik wird sehr sparsam eingesetzt, nur drei oder vier Passagen sind mit klassischer Musik unterlegt. Diese Szenen haben mich etwas an Bresson erinnert, speziell an EIN ZUM TODE VERURTEILTER IST ENTFLOHEN. Die eine oder andere Anleihe bei der Nouvelle Vague gibt es auch, und im Gestus steht der Film auch dem Neorealismus nicht fern, vor allem die zweite Hälfte in der villa miseria. Man kann gelegentlich lesen, CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO sei nicht nur eine Anklage gegen die Zustände in den staatlichen Besserungsanstalten und Waisenhäusern, sondern auch gegen das "faschistische Regime" in Argentinien im Allgemeinen. Allerdings war von 1963 bis 1966 eine zivile Regierung unter einem demokratisch gewählten Präsidenten an der Macht - im Argentinien der 50er und 60er Jahre nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Und der Präsident wurde denn auch 1966 durch einen Militärputsch gestürzt, und es regierten wieder Generäle. Dieses Regime war zwar weit weniger schlimm als die Militärjunta, die nach dem Putsch von 1976 Zehntausende foltern und ermorden ließ, aber alles andere als liberal war es dennoch. CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO gewann Preise auf den Festivals von Mar del Plata in Argentinien und Acapulco in Mexiko, und er erhielt den argentinischen Filmpreis Cóndor de Plata (Silberner Kondor) für den besten Film - und dann wurde er verboten. Das Verbot überdauerte auch die Wiederherstellung der Demokratie in den 80er Jahren. Erst 1996, nach drei Jahrzehnten, wurde CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO wieder aus dem Giftschrank geholt. Und noch heute ist er in Argentinien erst ab 18 freigegeben (was vielleicht daran liegt, dass Polín und zwei der anderen Jungen bei der langen Sequenz am Fluss keine Badehosen tragen).

In der Zelle
Leonardo Favio (1938-2012), als Fuad Jorge Jury in der argentinischen Provinz Mendoza geboren, entstammte einer Familie syrisch-libanesischer Herkunft. Favio hatte eine schwierige Kindheit und Jugend - er wuchs in einem Armenviertel auf, der Vater verließ die Familie früh, die Mutter strampelte sich ab, um die Kinder durchzubringen, und der halbwüchsige Leonardo kam mit dem Gesetz in Konflikt und sah auch das Gefängnis von innen. CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO trägt also autobiografische Züge - das Drehbuch schrieb Favio gemeinsam mit seinem Bruder Jorge Zuhair Jury, der regelmäßig als Co-Autor für Favio arbeitete und auch selbst einige Filme inszenierte. Nach Verirrungen als Priesterseminarist und bei der Marine wurde Favio als junger Mann schließlich Schauspieler und fand damit seinen Weg. Von 1957 bis 1971 spielte Favio in gut 20 Filmen, insbesondere in sechs Filmen von Leopoldo Torre Nilsson, der ihn förderte, und mit dem sich Favio befreundete. In einer Texttafel am Anfang von CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO widmet Favio den Film seinem Mentor Torre Nilsson. Seine frühen Auftritte, etwa in Torre Nilssons EL SECUESTRADOR und LA MANO EN LA TRAMPA verschafften dem gutaussehenden Favio den Ruf eines argentinischen James Dean. Doch bald zog es ihn auch hinter die Kamera. Nach zwei Kurzfilmen, einer davon unvollendet, war CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO wie erwähnt Favios erster Spielfilm, dem bis 2008 sieben weitere folgen sollten. Und seit den 60er Jahren verfolgte Favio noch eine dritte Karriere, nämlich als Sänger und Songschreiber von Balladen, mit denen er nicht nur in Argentinien, sondern auch in anderen lateinamerikanischen Ländern ungemein populär war.

Villa miseria
Favio war ein langjähriger und prominenter Anhänger von Juan Perón und seiner Politik. Als Perón 1972 von Spanien zu einem kurzen Besuch nach Argentinien flog, um das mögliche Ende seines Exils zu erkunden, war Favio auf Peróns Einladung mit an Bord der Maschine, und als es bei Peróns offizieller Rückkehr aus dem Exil 1973 beim Flughafen von Buenos Aires zum "Massaker von Ezeiza" (ein Anschlag des rechten Flügels der Peronisten auf den linken Flügel) kam, befand sich Favio mitten im Getümmel und versuchte vergeblich, die Schießerei zu beenden. 1975 drehte er mit NAZARENO CRUZ Y EL LOBO seinen kommerziell erfolgreichsten Film, 1976 folgte noch ein Film (in dem Argentiniens tragischer Box-Heroe Carlos Monzón eine Hauptrolle spielt), aber dann war Favios Regiekarriere schon fast vorbei. Als die peronistische Regierung unter Isabel Perón (Juan Perón war mittlerweile verstorben) 1976 vom Militär gestürzt wurde und der "schmutzige Krieg" gegen Oppositionelle (und solche, die man dafür hielt) begann, ging Favio ins Exil, das er größtenteils in Kolumbien verbrachte, und das für ihn bis 1987 dauerte. Filme drehte er in den Jahren des Exils nicht, aber seine Musikkarriere konnte er mit Plattenveröffentlichungen und ausgedehnten Tourneen durch halb Lateinamerika nahtlos fortsetzen.

Auszeit am Fluss
Nach seiner Rückkehr inszenierte er 1993 und 2008 noch zwei Spielfilme, wobei er insbesondere mit seinem letzten Film ANICETO (ein Remake seines zweiten Spielfilms EL ROMANCE DEL ANICETO Y LA FRANCISCA von 1967) wieder an alte Erfolge anknüpfen konnte. Dazwischen hatte er 1999 die fast sechsstündige Dokumentation PERÓN, SINFONÍA DEL SENTIMIENTO über sein politisches Idol (und damit über ein paar Jahrzehnte argentinischer Geschichte) veröffentlicht, die, wie nicht anders zu erwarten, von Anhängern und Gegnern des Peronismus sehr unterschiedlich beurteilt wurde. In den letzten 15 oder 20 Jahren von Favios Leben hatte bereits seine Kanonisierung eingesetzt. 1998 ließ das argentinische Magazin Tres Puntos in einer Umfrage unter 100 Filmschaffenden den besten argentinischen Regisseur und die besten fünf argentinischen Filme aller Zeiten ermitteln, und dabei landeten Favio und seine erste ANICETO-Version jeweils auf dem ersten Platz, und als zwei Jahre später das Museo Nacional de Cine Argentino in einer weiteren Umfrage unter 100 Kritikern und Filmhistorikern nach den 100 besten argentinischen Tonfilmen suchte, kam CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO mit mehr als 75% der Stimmen auf den ersten Platz. Neben weiteren Ehrungen wurde Favio 2010 von der Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner zum Kulturbotschafter des Landes ernannt.

Leonardo Favio als Zuhälter mit nicht standesgemäßem Fortbewegungsmittel
CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO ist in Argentinien auf einer DVD mit englischen Untertiteln erschienen. - Mehr von Leonardo Favio demnächst in diesem Theater: Ein Werwolf in der Pampa.

Montag, 27. Januar 2014

Lateinamerika, gegen den Strich gebürstet

Kürzlich habe ich hier anhand dreier Beispiele die spanische DVD-Box "Del Éxtasis Al Arrebato" vorgestellt, die von der Firma Cameo in Zusammenarbeit mit diversen kulturellen und politischen Körperschaften herausgebracht wurde. Dieselben Herausgeber stellten als Nachfolgeprojekt unter dem Titel "Cine A Contracorriente" - was ungefähr "Film gegen den Strom" oder "gegen den Strich" bedeutet (auf Englisch als "against the grain" wiedergegeben) - ein Filmprogramm und eine DVD auf die Beine, die sich dem lateinamerikanischen Avantgardefilm widmen, was der Untertitel "Un recorrido por el otro cine latinoamericano" (A journey through the other Latin American cinema) zum Ausdruck bringt. Wieder ist das Booklet zweisprachig Spanisch/Englisch, und im Menü und bei den Untertiteln ist sogar noch Portugiesisch als weitere Sprache dazugekommen. Hier also nicht zwei, sondern nur eine DVD, aber immerhin fast drei Stunden, die sich auf 19 Filme verteilen. Diesmal will ich nicht einige YouTube-Videos herausgreifen, sondern alle Filme kurz vorstellen. Die Anordnung auf der DVD ist chronologisch, und ich folge diesem Schema.



TRAUM
2:18, 16mm
Deutschland 1933
Regie: Horacio Coppola und Walter Auerbach


Nicht nur der älteste und zweitkürzeste Film in der Kompilation, sondern auch der einzige, der gar nicht in Lateinamerika entstand. Horacio Coppola war ein argentinischer Fotograf und (gelegentlich) Filmemacher, der seinerzeit am Bauhaus in Dessau studierte, und sein Freund und Coregisseur Walter Auerbach (nicht der gleichnamige SPD-Politiker) war ebenfalls am Bauhaus. Coppola heiratete die Fotografin Grete Stern, Auerbach Sterns Freundin und Kollegin Ellen Auerbach (geb. Rosenberg). Noch mehr über das Quartett, vor allem die beiden Frauen, erfährt man hier und hier. - TRAUM ist eine kurze surrealistische Fingerübung. Zwei Männer (vielleicht die Regisseure, aber ich weiß es nicht) begegnen und verfolgen sich, Dinge (darunter Hüte) fliegen durch die Luft, am Ende gibt es eine Serie von Jump Cuts. TRAUM ist sicher von den diversen europäischen surrealistischen Filmen beeinflusst, die es damals schon gab, am meisten vielleicht von Hans Richters VORMITTAGSSPUK, aber wie im Booklet der DVD ganz richtig angemerkt wird, weist er auch schon etwas auf Maya Deren voraus. Die verwendete Kopie ist schon von Zersetzung befallen, die Bildqualität ist also schlecht.



ESTA PARED NO ES MEDIANERA
9:31, 35mm
Peru 1952
Regie: Fernando de Szyszlo


Noch ein surrealistischer Film (der Titel bedeutet wohl ungefähr "Diese Wand ist keine Zwischenwand"). Ein junger Mann, der hinter (symbolischen) Gitterstäben gefangen ist - vielleicht ein Symbol für einen Ehe-Käfig -, bricht aus, trifft an einem Strand eine schöne junge Frau, kämpft mit einem anderen Mann, und am Ende landet er in einem Zirkus wieder hinter Gitterstäben und muss die Frau mit dem anderen Mann davongehen sehen. - Der lange verschollene Film tauchte als Betamax-Kopie wieder auf, die ebenfalls sehr schlechte Bildqualität trägt aber vielleicht gerade zum visuellen Reiz mancher Szenen bei. Fernando de Szyszlo hatte einige Zeit in Paris verbracht, wo er die modernen avantgardistischen Strömungen kennenlernte, bevor er nach Peru zurückging und den Film drehte.



LA CIUDAD EN LA PLAYA
11:52, 16mm
Uruguay 1961
Regie: Ferruccio Musitelli


Veristische bis poetische Impressionen von einem Badestrand bei Montevideo, für die Nationale Tourismuskommission gedreht. Was eine dröge Auftragsarbeit hätte werden können, geriet dem vor einem Jahr mit 85 Jahren verstorbenen Ferruccio Musitelli zu einer gut komponierten und unterhaltsam gefilmten Studie, die den Bogen spannt von der noch menschenleeren Küste im Morgengrauen bis zu Hubschrauberaufnahmen über dem dicht bevölkerten Strand am Nachmittag. Die variable und bisweilen kommentierende Musik von einem Eduardo Gilardoni komplettiert den schönen Film, der wie die beiden vorhergehenden und der nächste ohne Worte auskommt. LA CIUDAD EN LA PLAYA erhielt eine lobende Erwähnung beim Festival in Karlovy Vary.



REVOLUCIÓN
9:10, 16mm
Bolivien 1963
Regie: Jorge Sanjinés


Jorge Sanjinés ist einer der führenden progressiven Regisseure seines Landes, und sein früher Kurzfilm REVOLUCIÓN macht schon im Titel klar, worum es geht. Es beginnt mit Bildern der Armut der (vorwiegend indigenen) Bevölkerung, der Minenarbeiter, Bauern und Bettler, deren Realismus nur durch die Musik abgemildert wird. Aufnahmen aus der Werkstatt eines Sargmachers, der Kindersärge in Serie fertigt, sind ein unmissverständlicher Hinweis auf hohe Kindersterblichkeit. Danach spricht ein Politiker oder Gewerkschaftsführer vor einer jubelnden Masse, doch paramilitärische Polizei schießt die Versammlung zusammen. Man sieht Tote, Inhaftierte, und eine Hinrichtung Gefangener durch ein Erschießungskommando. Aber das ist nicht das Ende: Arbeiter bewaffnen sich, es kommt zum Aufruhr, zur Revolution. Die Armee rückt aus, doch das Ergebnis der Konfrontation wird nicht gezeigt. Am Ende des Films hört man Schüsse fallen, doch die Kamera blickt in die Gesichter von Kindern, die so oder so zu den Opfern gehören. In Bolivien fand 1952 eine Revolution statt, doch gerade die dadurch an die Macht gekommene Regierung war es, die nach einer Vorführung im Präsidentenpalast die öffentliche Aufführung von REVOLUCIÓN untersagte. So kann es gehen. Dafür gewann der Film bei der Internationalen Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche einen nach Joris Ivens benannten Preis.



NOW!
5:27, 35mm
Kuba 1965
Regie: Santiago Álvarez


Nach der Vorspann-Sequenz, die mit einer jazzigen Instrumentalversion von "Hava Nagila" unterlegt ist, besteht der Soundtrack der restlichen gut vier Minuten aus "Now!" von Lena Horne, das auf derselben Melodie beruht. Lena Horne war nicht nur eine große Sängerin und brauchbare Schauspielerin, sondern auch langjährige Bürgerrechtsaktivistin, und passend zum Thema des Songs zeigt der Film dazu Fotos und dokumentarische Filmschnipsel von zeitgenössischen Rassenunruhen in den USA, insbesondere von Polizei, die Demonstranten verprügelt. In einer kurzen und vielleicht allzu polemischen Sequenz ist auch eine Aufnahme von einer Nazi-Parteiveranstaltung eingeschnitten. Am Ende wird der Titel des Songs und des Films mit einer Maschinenpistole in eine Wand geschossen (wie man es ähnlich im einen oder anderen Edgar-Wallace-Film sah). Santiago Álvarez hat mit einfachen, aber wirkungsvollen Mitteln eine zornige Anklage gegen den Rassismus in den USA gestaltet. Man könnte kleinlich beanstanden, dass er (im Gegensatz zur Bürgerrechtsbewegung) seine Attacke gegen den Klassenfeind aus sicherer Distanz geritten hat, doch andererseits: Welcher US-Regisseur hätte statt seiner diesen tollen Film gemacht? Auch NOW! errang einen Preis in Leipzig, nämlich eine "Goldene Taube". - Hier gibt es noch etwas über Lena Hornes Song, und als Zugabe den kompletten Film.



FOME
5:07, Super 8
Brasilien 1972
Regie: Carlos Vergara


Aus Bohnen ist ein Quadrat und darin in den Ecken die Buchstaben des Filmtitels (Portugiesisch für "Hunger") ausgelegt. Die Bohnen keimen aus, wodurch im Zeitraffer die Buchstaben langsam verschwimmen, dazwischen gibt es Makroaufnahmen der sprießenden Pflänzchen, und am Ende zeigt sich der bärtige Künstler selbst, halb verdeckt von seinem Miniatur-Urwald aus Bohnen. Nette Idee, aber wirklich vom Hocker gerissen hat mich der gänzlich stumme Super-8-Film nicht.



OFRENDA
4:18, Super 8
Argentinien 1978
Regie: Claudio Caldini


In einer Zeit, in der in Argentinien unter der Militärjunta Tausende gefoltert wurden und "verschwanden" (viele wurden aus dem Flugzeug ins offene Meer geworfen), machte Claudio Caldini diesen erstaunlichen Film, dessen Titel "Opfergabe" bedeutet. Man sieht: Gänseblümchen. Genauer gesagt, Blüten von Gänseblümchen vor einem schwarzen Hintergrund, immer mehrere in (scheinbar) willkürlicher Anordnung, schräg oder frontal von oben. Die Bilder wechseln in rasendem Tempo, synchron zur Musik, die von perlenden Harfenklängen dominiert wird (gespielt von Alice Coltrane, Witwe von John Coltrane und eine Pianistin und Harfenistin von Rang). Von hohem ästhetischen Reiz, und zugleich von einer künstlerischen Stringenz, die an Filme von Stan Brakhage erinnert (vergleiche etwa MOTHLIGHT).



AGARRANDO PUEBLO (auch LOS VAMPIROS DE LA MISERIA)
28:33, 16mm
Kolumbien 1978
Regie: Luis Ospina und Carlos Mayolo


Mit einer knappen halben Stunde ist AGARRANDO PUEBLO der deutlich längste Film in der Kompilation, und der erste mit Dialogen. Der Titel bedeutet wörtlich ungefähr "das Volk anfassen" oder "ergreifen", bei den Oberhausener Kurzfilmtagen 1979 lief er als DAS VOLK VERLADEN/VAMPIRE DES ELENDS. Es beginnt wie ein Film der Nouvelle vague: Auf den Straßen der Großstadt Cali dreht ein (fiktives) kleines Filmteam mit mobiler Kamera und rückt einem Bettler auf den Leib, unbeteiligte Passanten schauen zu. Von diesen in Schwarzweiß gedrehten Bildern wechselt es kurz zu Farbe: Die eben vom Team gedrehte Szene mit dem Bettler. So geht es weiter: Lange schwarzweiße Passagen, in denen man dem Filmteam über die Schulter schaut, dazwischen kurze farbige Sequenzen mit dem "dokumentarischen" Material. Aus Unterhaltungen der Teammitglieder erfährt man, dass sie im Auftrag des deutschen Fernsehens unterwegs sind, um möglichst malerisch Not und Elend an diesem Brennpunkt der Armut zu dokumentieren. Dass die Subjekte ihres Interesses gar nicht gefilmt werden wollen, interessiert sie wenig. In einer längeren Passage in ihrem Hotelzimmer beraten die Filmleute mit einem der Geldgeber und untereinander das weitere Vorgehen, dann geht es wieder auf die Straße. Mit einer "Familie" aus bezahlten Komparsen wird eine Szene gespielt, dann spricht der Reporter sein "aufrüttelndes" (und schon im Hotel durchgesprochenes und aufgeschriebenes) Fazit direkt in die Kamera - doch dabei geht etwas gründlich schief ... Und am Ende erklimmt der Film eine weitere Meta-Ebene.

AGARRANDO PUEBLO von Ospina und Mayolo ist eine äußerst sarkastische und gut gemachte Fake Documentary, die sich über Journalisten und Filmemacher echauffiert, die - im übertragenen Sinn natürlich - Vampire sind, die das Elend der Dritten Welt ausbeuten, ohne sich wirklich für die Ursachen und mögliche Lösungen der Probleme zu interessieren. Das Team im Film dreht, wie ein aufgebrachter Passant schimpft, einen "Armutsporno", mißachtet die Würde der Gefilmten aufs Gröbste, inszeniert bei Bedarf auch gefälschte Szenen, ist letzlich nur am Honorar und an möglichen Festivalpreisen im Ausland interessiert. Ironischerweise gewann auch AGARRANDO PUEBLO Preise - neben einem nationalen in Bogotá internationale in Bilbao, Lille, und den evangelischen Interfilm-Preis in Oberhausen (geteilt mit einem indischen Film).



AMA ZONA
10:37, Super 8
Argentinien 1983
Regie: Narcisa Hirsch


Bei dem Titel könnte man zunächst an den Amazonas denken, doch der Film kommt aus Argentinien, das bekanntlich ein gutes Stück vom Strom der Ströme entfernt ist. Tatsächlich geht es um Amazonen - irgendwie jedenfalls. Zur kontemplativen Musik von Stephan Micus gibt es anfangs Bilder von Gewässern und von einem Volleyballspiel auf einem Hof, ohne (für mich erkennbaren) Zusammenhang. In der dann folgenden langen zentralen Sequenz, die bewusst äußerst unscharf gefilmt ist, legt eine Frau langsam ihre Oberkleidung ab und zieht sich etwas, das Klebestreifen sein könnten, sukzessive von der Brust ab. In kurzen Momenten, wenn das Bild etwas schärfer wird, erkennt man, dass eine Flüssigkeit (Blut?) an ihrer rechten Brustseite herabfließt. Das ganze ist wohl eine Anspielung darauf, dass sich Amazonen in manchen Versionen des Mythos die rechte Brust abschnitten, um besser mit Pfeil und Bogen schießen zu können. Dann folgt eine schwarzweiße und ebenfalls unscharfe Sequenz, in der Trapezkünstler ihre Arbeit ausüben - dieser Abschnitt, der wiederum keinen für mich erkennbaren Zusammenhang mit dem Rest aufweist, hat mich etwas an Jonas Mekas' NOTES ON THE CIRCUS erinnert. Und schließlich wird ein Bogen (kein antikes Gerät und auch keine Indianerwaffe, sondern ein moderner Sportbogen) in Zeitlupe vom Boden aufgenommen, gespannt und in mehrfacher Wiederholung auf eine Zielscheibe abgeschossen. Der Pfeil trifft ins Schwarze, er federt aus, der Film ist zu Ende. AMA ZONA hat mich etwas ratlos zurückgelassen, trotzdem hat mir der Film nicht schlecht gefallen. - Die 1928 in Berlin geborene Narcisa Hirsch war 2012 Gast auf der Viennale, unter den dort gezeigten Filmen von ihr war auch AMA ZONA.



CHAPUCERÍAS
10:46, 35mm
Kuba 1987
Regie: Enrique Colina


CHAPUCERÍAS (was ungefähr "schlampige Arbeit" oder "Pfusch" bedeutet) von Enrique Colina ist eine wilde Collage: Es gibt Ausschnitte aus DR. JEKYLL AND MR. HYDE (die Version von 1931 mit Fredric March), eine Szene mit Laurel & Hardy, immer wieder eine Folge eines kubanisches Fernsehquiz im Stil von WAS BIN ICH, in dem ein Rateteam dem Moderator Ja/Nein-Fragen stellt, um einer Person oder einem Begriff auf die Schliche zu kommen. Und dazwischen ständig dokumentarische Szenen aus der kubanischen Gegenwart, die eines gemeinsam haben: Im Arbeits- oder Wirtschaftsleben geht etwas gründlich schief, aus Unfähigkeit oder Schlamperei. Da verliert ein LKW mitten in der Fahrt einen Teil der Ladung, da entpuppt sich ein Rohbau als Fehlkonstruktion, und dergleichen mehr. Im vorletzten Ausschnitt aus dem Quiz verrät der Moderator, dass der Gesuchte "schlimmer als AIDS" sei, und im letzten Ausschnitt wird seine Identität enthüllt: "der schlampige Arbeiter". Spätestens beim zweiten Sehen begreift man auch, wie Mr. Hyde da hineinpasst: Auch der Wissenschaftler Dr. Jekyll hat schlampig gearbeitet, schließlich lässt sich nicht bestreiten, dass sein Experiment gründlich in die Hose ging (und Laurel & Hardy versenken einen Wagen in einem großen wassergefüllten Loch in der Straße). Was sich am Anfang des Films schon angedeutet hat, erfüllt sich am Ende: Die Filmemacher werden von ihrer eigenen Inkompetenz eingeholt, und sie verpfuschen den Schluss komplett ... natürlich nicht wirklich, sondern nur inszeniert. Ich bin nicht ganz sicher, wie man CHAPUCERÍAS verstehen soll: Prangert er den Schlendrian an, der sich in vielen Ländern des "real existierenden Sozialismus", offenbar auch in Kuba, im Lauf der Jahrzehnte eingeschlichen hat? Oder gab es staatliche Kampagnen gegen solchen Schlendrian, und der Film macht sich darüber lustig? Das Booklet der DVD legt erstere Variante nahe. Für uns Außenstehende, im zeitlichen Abstand eines Vierteljahrhunderts, spielt es keine große Rolle - CHAPUCERÍAS ist in jeden Fall eine überraschende, witzige und handwerklich kompetente Auseinandersetzung mit der kubanischen Gegenwart der 80er Jahre.



ILHA DAS FLORES
13:13, 35mm
Brasilien 1989
Regie: Jorge Furtado


Der sehr, sehr böse ILHA DAS FLORES von Jorge Furtado beginnt mit drei Texteinblendungen: "Dies ist kein fiktionaler Film", "Es gibt einen Ort namens Ilha das Flores [Blumeninsel]", "Gott existiert nicht". Den ganzen Film hindurch doziert unermüdlich ein Sprecher im trocken-sachlichen Ton einer Lektion des TELEKOLLEG über den Lebensweg einer Tomate: Vom Anbau auf dem Feld eines japanischstämmigen Farmers über den Supermarkt in die Küche einer Mittelstandsfamilie. Doch statt verzehrt zu werden, landet die Tomate im Mülleimer und schließlich in Ilha das Flores - so heißt eine Müllkippe bei Porto Alegre (der Heimatstadt des Regisseurs). Eingestreut in den Text des Sprechers sind immer wieder in diesem Kontext absurde pseudo-formelle Definitionen wie "ein Mensch ist ein Wesen mit Großhirn und opponierbarem Daumen". Gezeigt wird dazu eine ebenso absurde Abfolge an Filmschnipseln, Collagen und Info-Grafiken. Das alles ist recht komisch - bis es in den letzten Minuten gar nicht mehr komisch wird. Wie man vom Sprecher (im selben nüchternen Tonfall wie bisher) nämlich erfährt, ist es mit der Ankunft der Tomate in der Müllkippe noch nicht zu Ende. Denn jetzt dürfen sich Schweine und arme Menschen über den Müll hermachen - und zwar in dieser Reihenfolge. Zwar haben Schweine kein Großhirn und keinen Daumen (wie man erfährt, falls man es noch nicht gewusst hat), doch Schweine haben Besitzer, und diese Besitzer haben nicht nur ein Großhirn und (sogar opponierbare) Daumen, sondern auch Geld. Arme Menschen dagegen haben weder Geld noch Besitzer, und damit sind die Prioritäten festgelegt. Damit das alles geregelt zugeht, werden abgezählte Gruppen von je zehn Menschen für fünf Minuten in die umzäunten Pferche eingelassen, und sie dürfen einsammeln, was die Schweine übriggelassen haben. Fünf Minuten sind 300 Sekunden. Seit 1958 ist eine Sekunde definiert als 9.192.631.770 Schwingungszyklen eines Cäsium-Atoms. Cäsium ist eine anorganische Substanz, die ... wie gesagt, ILHA DAS FLORES ist ein sehr böser Film. Er gewann jede Menge Preise, darunter einen Silbernen Bären in Berlin.



CORAZÓN SANGRANTE
4:18, Video
Mexiko 1993
Regie: Ximena Cuevas


Ximena Cuevas lernte ihr Handwerk in der mexikanischen Filmindustrie, bevor sie sich der Videokunst zuwandte. CORAZÓN SANGRANTE (Blutendes Herz) ist ein Musikvideo, das sie gemeinsam mit der Sängerin und Schauspielerin Astrid Hadad gestaltete. Hadad singt ihr wie der Film betiteltes Lied, in dem es in verschiedenen Bedeutungsebenen um den aztekischen Brauch des Heraustrennens des Herzens und um eine Frau, die ihrer Liebe nachtrauert, geht. Das Video ist farbenfroh, üppig-barock und (vielleicht ironisch gebrochen, aber das ist für mich schwer zu entscheiden) bewusst kitschig-naiv (manche Bilder haben mich an frühe Pathécolor-Filme von Ferdinand Zecca, Segundo de Chomón und Gaston Velle erinnert). CORAZÓN SANGRANTE errang zahlreiche Preise.



HAMACA PARAGUAYA
8:17, Video
Paraguay 2000
Regie: Paz Encina


Irgendwo im Wald, es regnet. Ein älteres Ehepaar geht (in gemäßigter Zeitlupe) auf einem schlammigen Weg auf eine im Bildvordergrund aufgespannte Hängematte zu (der Titel des Films bedeutet "Paraguayanische Hängematte"), setzt sich darauf und beginnt (in der indigenen Sprache Guarani) eine Unterhaltung über belanglose Dinge. Irgendwo im Hintergrund bellt ständig ein Hund. Am Ende der Unterhaltung kommen die beiden auf ihren Sohn zu sprechen, dessen Rückkehr sie erwarten, dann stehen sie auf und gehen den selben Weg zurück. Es donnert einmal kräftig, und eine Einblendung informiert uns darüber, dass jetzt auch der Hund aufgehört hat zu bellen. Aus dem Booklet erfährt man, dass es 1935 ist und der Sohn als Soldat in einen Krieg zwischen Paraguay und Bolivien gezogen ist. 2005 drehte dieselbe Regisseurin mit denselben beiden Darstellern auf 35mm unter demselben Titel eine 78 Minuten lange Fassung des Stoffes (in dem der Sohn wohl nicht mehr aus dem Krieg zurückkehrt). Diese Langfassung gewann einen FIPRESCI-Preis in Cannes und den Prix de L'Âge d'Or in Belgien, die kurze Urfassung hat mich jedoch gelangweilt.



CAMAL
15:50, 16mm
Ecuador 2001
Regie: Miguel Alvear


Dokumentarische schwarzweiße Aufnahmen aus dem städtischen Schlachthof von Quito ("camal" heißt in diesem Zusammenhang "Schlachthaus"), ohne Text, nur mit getragener Musik und wenigen dezenten Hintergrundgeräuschen unterlegt. Der Soundtrack besteht aus "Salvation" von Ryūichi Sakamoto - ich wusste nicht, dass Sakamoto, den ich bisher vor allem als Elektropop-Musiker (und als Schauspieler) kannte, auch solche neutönend-ernsten Klänge geschaffen hat. Für westeuropäische Augen befremdlich wirkt die Tatsache, dass auch kleine Kinder ganz unbefangen im Schlachthaus zugange sind. Die Bilder sind weniger krass als in Georges Franjus LE SANG DES BÊTES, empfindsame Tierfreunde seien aber trotzdem gewarnt: Auch bei diesem Film könnte sich ihnen der Magen umdrehen. Doch ebenso wie LE SANG DES BÊTES, übt auch CAMAL einen großen poetischen Reiz auf den Betrachter aus. Inspiriert wurde Alvear aber nicht von Franju, sondern von dem mir unbekannten THE HART OF LONDON des Kanadiers Jack Chambers. Gedreht wurden die Aufnahmen zu CAMAL schon 1991, aber nach Experimenten mit verschiedenen Schnittfassungen wurde er erst 2000 fertiggestellt. Angeblich ist ein Teil der Aufnahmen in Farbe entstanden, auf der DVD ist der Film aber komplett in Schwarzweiß.



JUQUILITA
2:22, 16mm
Mexiko 2004
Regie: Elena Pardo


Semi-abstrakte Stop-Motion-Animation, bunt und funkelnd wie ein Kaleidoskop. Einige kurze Bildfolgen wirken wie ein farbiges Update zu Man Rays LE RETOUR À LA RAISON. Der schöne kurze Film ist Nuestra Señora de Juquila gewidmet, einer regionalen Ausprägung des Madonnenkults im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca. Der Soundtrack besteht aus der Toccata des holländischen Percussionisten Henk de Vlieger und wurde von der Gruppe Tambuco eingespielt, und er komplettiert JUQUILITA zu einem sehr ansprechenden Werk.



GALLERY DOGS
2:19, Video
Peru 2005
Regie: Diego Lama/Quentin Tarantino


Der Film besteht komplett aus einem Ausschnitt aus Tarantinos RESERVOIR DOGS: Harvey Keitel, Steve Buscemi, Tarantino selbst und noch zwei oder drei weitere Männer sitzen diskutierend an einem Tisch und werden langsam von der Kamera umkreist. Laut Booklet will Lama damit diesen "extrem gewalttätigen Film dekontextualisieren", mit der Rekreation einer Szene, die "eine Gesellschaft, die zu weit gegangen ist, hinterfragt und kritisiert". Was sich mir aber nicht erschlossen hat.



DOCUMENTAL
2:13 (auf DVD 1:06), Video
Venezuela 2005
Regie: Alexander Apóstol


In einem dunklen, in Braun gehaltenen Raum läuft im Fernseher ein Bericht aus den 50er Jahren über den damaligen Bauboom in Caracas, der von den Petrodollars befeuert wurde: Alte Gebäude wurden abgerissen, dafür neue Hochhäuser errichtet. Von der Einrichtung des Raums oder von den Bewohnern bekommt man nicht viel mit (was aber möglicherweise auf einer schlechten Kopie oder schlechtem Mastering beruht, denn auf diesen beiden Screenshots ist das Bild viel heller, und man erkennt alles bestens), aber aus dem Booklet erfährt man, dass es sich um eine Wohnung in den Chabolas handelt, Slum-ähnliche Bezirke am Stadtrand, die gerade in jener Zeit des Baubooms entstanden. Als der Sprecher des Fernsehberichts als Fazit den Fortschritt preist, beginnt die Kamera plötzlich entfesselt und wie im Delirium um den Fernseher zu kreisen. Aus mir unerfindlichen Gründen ist von dem ohnehin sehr kurzen Film nur die Hälfte auf der DVD enthalten. Ich bin zwar nicht sicher, aber ich habe den Eindruck, dass es die erste Hälfte ist, so dass das visuelle Delirium noch eine Minute weitergehen könnte. Schade, denn vom enthaltenen Ausschnitt sind die letzten Sekunden am interessantesten - davon hätte es noch mehr geben können.



OPUS
4:49, Video
Kuba 2005
Regie: José Ángel Toirac


Man hört die etwas mühsam, machmal fast verzweifelt klingende Stimme eines (vermutlich älteren) Mannes, die Zahlen aufsagt, kleine und große Zahlen, ohne irgendein erkennbares System. Synchron dazu sieht man diese Zahlen in nüchternen weißen Ziffern vor einem schwarzen Hintergrund. So geht das knapp fünf Minuten dahin, und so unvermittelt, wie der Film begonnen hat, hört er auf. Was soll das nun wieder bedeuten? Die äußerst verblüffende Auflösung erfährt man aus dem Booklet: Die Stimme gehört keinem Geringeren als Fidel Castro, und man lauscht einer Rede, die der Comandante zum Beginn des Schuljahres 2003/2004 auf einem öffentlichen Platz in Havanna gehalten hat. Die Rede wurde nur etwas gekürzt: Alles außer den enthaltenen Zahlwörtern wurde rausgeschnitten. José Ángel Toirac weist so dezent auf die Zahlenhuberei in (nicht nur) Castros Reden hin. Und wenn schon diese eingedampften Zahlen fast fünf Minuten brauchen, dann wird man auch daran erinnert, dass der Máximo Líder für seine oft stundenlangen Reden berüchtigt war.



OJO DE PEZ
15:16, Video
Kolumbien 2008
Regie: Gabriel Enrique Vargas


Vargas' Abschlussfilm an einer Filmschule in Bogotá, dessen Titel "Fischauge" bedeutet. In einem quadratischen Filmformat mit unscharfen Rändern, in kontrastreichem Schwarzweiß, sieht man, wohl in und um einen Bauernhof, Tiere: Nutztiere, eine Katze, Insekten. Und immer wieder einen Fisch, der auf einer Tischplatte liegt und nach Luft schnappt. Dazwischen auch Menschen, die man aber nur in Ausschnitten, in einzelnen Körperteilen sieht. Vor allem eine Frau, die sich die Hände wäscht, Verrichtungen in der Küche ausführt, und dergleichen. Zu so etwas wie einer Handlung verdichtet sich das ganze nicht, was es für mich etwas mühsam machte, bei der Stange zu bleiben. Ebenso prägnant wie die Bilder ist der Soundtrack, der aus Naturgeräuschen besteht: Fließen von Wasser, Zwitschern von Vögeln, Summen von Insekten, das Miauen der Katze. Die als "Appendix" vom Rest abgetrennten letzten zwei Minuten gehören dem (immer noch lebenden) Fisch und einer Biene, die sich auf ihm niederlässt, scheinbar, um interessiert seinen Körper zu untersuchen. Als sie mitten über sein offenes Auge krabbelt, hätte ich dem Fisch einen schnellen, schmerzlosen Tod gewünscht. Diese zwei Minuten waren für mich unangenehmer anzusehen als jede einzelne Szene aus dem Schlachthof von Quito.



Fazit

Für mich eine interessante Exkursion in eine unbekannte Welt - von keinem der Filme oder Regisseure hatte ich zuvor gehört. Meine Favoriten sind LA CIUDAD EN LA PLAYA, REVOLUCIÓN, NOW!, OFRENDA, AGARRANDO PUEBLO, CHAPOCERÍAS, ILHA DAS FLORES, CAMAL und JUQUILITA. Die wenigen Filme, die mir wenig oder gar nicht gefallen haben, konnte ich problemlos verschmerzen. Wie man sich denken kann, findet man etliche der Filme auch auf den üblichen Videoportalen. Aber wer jetzt neugierig geworden ist, sollte in Erwägung ziehen, die durchaus preiswerte DVD zu kaufen.