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Montag, 27. Januar 2014

Lateinamerika, gegen den Strich gebürstet

Kürzlich habe ich hier anhand dreier Beispiele die spanische DVD-Box "Del Éxtasis Al Arrebato" vorgestellt, die von der Firma Cameo in Zusammenarbeit mit diversen kulturellen und politischen Körperschaften herausgebracht wurde. Dieselben Herausgeber stellten als Nachfolgeprojekt unter dem Titel "Cine A Contracorriente" - was ungefähr "Film gegen den Strom" oder "gegen den Strich" bedeutet (auf Englisch als "against the grain" wiedergegeben) - ein Filmprogramm und eine DVD auf die Beine, die sich dem lateinamerikanischen Avantgardefilm widmen, was der Untertitel "Un recorrido por el otro cine latinoamericano" (A journey through the other Latin American cinema) zum Ausdruck bringt. Wieder ist das Booklet zweisprachig Spanisch/Englisch, und im Menü und bei den Untertiteln ist sogar noch Portugiesisch als weitere Sprache dazugekommen. Hier also nicht zwei, sondern nur eine DVD, aber immerhin fast drei Stunden, die sich auf 19 Filme verteilen. Diesmal will ich nicht einige YouTube-Videos herausgreifen, sondern alle Filme kurz vorstellen. Die Anordnung auf der DVD ist chronologisch, und ich folge diesem Schema.



TRAUM
2:18, 16mm
Deutschland 1933
Regie: Horacio Coppola und Walter Auerbach


Nicht nur der älteste und zweitkürzeste Film in der Kompilation, sondern auch der einzige, der gar nicht in Lateinamerika entstand. Horacio Coppola war ein argentinischer Fotograf und (gelegentlich) Filmemacher, der seinerzeit am Bauhaus in Dessau studierte, und sein Freund und Coregisseur Walter Auerbach (nicht der gleichnamige SPD-Politiker) war ebenfalls am Bauhaus. Coppola heiratete die Fotografin Grete Stern, Auerbach Sterns Freundin und Kollegin Ellen Auerbach (geb. Rosenberg). Noch mehr über das Quartett, vor allem die beiden Frauen, erfährt man hier und hier. - TRAUM ist eine kurze surrealistische Fingerübung. Zwei Männer (vielleicht die Regisseure, aber ich weiß es nicht) begegnen und verfolgen sich, Dinge (darunter Hüte) fliegen durch die Luft, am Ende gibt es eine Serie von Jump Cuts. TRAUM ist sicher von den diversen europäischen surrealistischen Filmen beeinflusst, die es damals schon gab, am meisten vielleicht von Hans Richters VORMITTAGSSPUK, aber wie im Booklet der DVD ganz richtig angemerkt wird, weist er auch schon etwas auf Maya Deren voraus. Die verwendete Kopie ist schon von Zersetzung befallen, die Bildqualität ist also schlecht.



ESTA PARED NO ES MEDIANERA
9:31, 35mm
Peru 1952
Regie: Fernando de Szyszlo


Noch ein surrealistischer Film (der Titel bedeutet wohl ungefähr "Diese Wand ist keine Zwischenwand"). Ein junger Mann, der hinter (symbolischen) Gitterstäben gefangen ist - vielleicht ein Symbol für einen Ehe-Käfig -, bricht aus, trifft an einem Strand eine schöne junge Frau, kämpft mit einem anderen Mann, und am Ende landet er in einem Zirkus wieder hinter Gitterstäben und muss die Frau mit dem anderen Mann davongehen sehen. - Der lange verschollene Film tauchte als Betamax-Kopie wieder auf, die ebenfalls sehr schlechte Bildqualität trägt aber vielleicht gerade zum visuellen Reiz mancher Szenen bei. Fernando de Szyszlo hatte einige Zeit in Paris verbracht, wo er die modernen avantgardistischen Strömungen kennenlernte, bevor er nach Peru zurückging und den Film drehte.



LA CIUDAD EN LA PLAYA
11:52, 16mm
Uruguay 1961
Regie: Ferruccio Musitelli


Veristische bis poetische Impressionen von einem Badestrand bei Montevideo, für die Nationale Tourismuskommission gedreht. Was eine dröge Auftragsarbeit hätte werden können, geriet dem vor einem Jahr mit 85 Jahren verstorbenen Ferruccio Musitelli zu einer gut komponierten und unterhaltsam gefilmten Studie, die den Bogen spannt von der noch menschenleeren Küste im Morgengrauen bis zu Hubschrauberaufnahmen über dem dicht bevölkerten Strand am Nachmittag. Die variable und bisweilen kommentierende Musik von einem Eduardo Gilardoni komplettiert den schönen Film, der wie die beiden vorhergehenden und der nächste ohne Worte auskommt. LA CIUDAD EN LA PLAYA erhielt eine lobende Erwähnung beim Festival in Karlovy Vary.



REVOLUCIÓN
9:10, 16mm
Bolivien 1963
Regie: Jorge Sanjinés


Jorge Sanjinés ist einer der führenden progressiven Regisseure seines Landes, und sein früher Kurzfilm REVOLUCIÓN macht schon im Titel klar, worum es geht. Es beginnt mit Bildern der Armut der (vorwiegend indigenen) Bevölkerung, der Minenarbeiter, Bauern und Bettler, deren Realismus nur durch die Musik abgemildert wird. Aufnahmen aus der Werkstatt eines Sargmachers, der Kindersärge in Serie fertigt, sind ein unmissverständlicher Hinweis auf hohe Kindersterblichkeit. Danach spricht ein Politiker oder Gewerkschaftsführer vor einer jubelnden Masse, doch paramilitärische Polizei schießt die Versammlung zusammen. Man sieht Tote, Inhaftierte, und eine Hinrichtung Gefangener durch ein Erschießungskommando. Aber das ist nicht das Ende: Arbeiter bewaffnen sich, es kommt zum Aufruhr, zur Revolution. Die Armee rückt aus, doch das Ergebnis der Konfrontation wird nicht gezeigt. Am Ende des Films hört man Schüsse fallen, doch die Kamera blickt in die Gesichter von Kindern, die so oder so zu den Opfern gehören. In Bolivien fand 1952 eine Revolution statt, doch gerade die dadurch an die Macht gekommene Regierung war es, die nach einer Vorführung im Präsidentenpalast die öffentliche Aufführung von REVOLUCIÓN untersagte. So kann es gehen. Dafür gewann der Film bei der Internationalen Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche einen nach Joris Ivens benannten Preis.



NOW!
5:27, 35mm
Kuba 1965
Regie: Santiago Álvarez


Nach der Vorspann-Sequenz, die mit einer jazzigen Instrumentalversion von "Hava Nagila" unterlegt ist, besteht der Soundtrack der restlichen gut vier Minuten aus "Now!" von Lena Horne, das auf derselben Melodie beruht. Lena Horne war nicht nur eine große Sängerin und brauchbare Schauspielerin, sondern auch langjährige Bürgerrechtsaktivistin, und passend zum Thema des Songs zeigt der Film dazu Fotos und dokumentarische Filmschnipsel von zeitgenössischen Rassenunruhen in den USA, insbesondere von Polizei, die Demonstranten verprügelt. In einer kurzen und vielleicht allzu polemischen Sequenz ist auch eine Aufnahme von einer Nazi-Parteiveranstaltung eingeschnitten. Am Ende wird der Titel des Songs und des Films mit einer Maschinenpistole in eine Wand geschossen (wie man es ähnlich im einen oder anderen Edgar-Wallace-Film sah). Santiago Álvarez hat mit einfachen, aber wirkungsvollen Mitteln eine zornige Anklage gegen den Rassismus in den USA gestaltet. Man könnte kleinlich beanstanden, dass er (im Gegensatz zur Bürgerrechtsbewegung) seine Attacke gegen den Klassenfeind aus sicherer Distanz geritten hat, doch andererseits: Welcher US-Regisseur hätte statt seiner diesen tollen Film gemacht? Auch NOW! errang einen Preis in Leipzig, nämlich eine "Goldene Taube". - Hier gibt es noch etwas über Lena Hornes Song, und als Zugabe den kompletten Film.



FOME
5:07, Super 8
Brasilien 1972
Regie: Carlos Vergara


Aus Bohnen ist ein Quadrat und darin in den Ecken die Buchstaben des Filmtitels (Portugiesisch für "Hunger") ausgelegt. Die Bohnen keimen aus, wodurch im Zeitraffer die Buchstaben langsam verschwimmen, dazwischen gibt es Makroaufnahmen der sprießenden Pflänzchen, und am Ende zeigt sich der bärtige Künstler selbst, halb verdeckt von seinem Miniatur-Urwald aus Bohnen. Nette Idee, aber wirklich vom Hocker gerissen hat mich der gänzlich stumme Super-8-Film nicht.



OFRENDA
4:18, Super 8
Argentinien 1978
Regie: Claudio Caldini


In einer Zeit, in der in Argentinien unter der Militärjunta Tausende gefoltert wurden und "verschwanden" (viele wurden aus dem Flugzeug ins offene Meer geworfen), machte Claudio Caldini diesen erstaunlichen Film, dessen Titel "Opfergabe" bedeutet. Man sieht: Gänseblümchen. Genauer gesagt, Blüten von Gänseblümchen vor einem schwarzen Hintergrund, immer mehrere in (scheinbar) willkürlicher Anordnung, schräg oder frontal von oben. Die Bilder wechseln in rasendem Tempo, synchron zur Musik, die von perlenden Harfenklängen dominiert wird (gespielt von Alice Coltrane, Witwe von John Coltrane und eine Pianistin und Harfenistin von Rang). Von hohem ästhetischen Reiz, und zugleich von einer künstlerischen Stringenz, die an Filme von Stan Brakhage erinnert (vergleiche etwa MOTHLIGHT).



AGARRANDO PUEBLO (auch LOS VAMPIROS DE LA MISERIA)
28:33, 16mm
Kolumbien 1978
Regie: Luis Ospina und Carlos Mayolo


Mit einer knappen halben Stunde ist AGARRANDO PUEBLO der deutlich längste Film in der Kompilation, und der erste mit Dialogen. Der Titel bedeutet wörtlich ungefähr "das Volk anfassen" oder "ergreifen", bei den Oberhausener Kurzfilmtagen 1979 lief er als DAS VOLK VERLADEN/VAMPIRE DES ELENDS. Es beginnt wie ein Film der Nouvelle vague: Auf den Straßen der Großstadt Cali dreht ein (fiktives) kleines Filmteam mit mobiler Kamera und rückt einem Bettler auf den Leib, unbeteiligte Passanten schauen zu. Von diesen in Schwarzweiß gedrehten Bildern wechselt es kurz zu Farbe: Die eben vom Team gedrehte Szene mit dem Bettler. So geht es weiter: Lange schwarzweiße Passagen, in denen man dem Filmteam über die Schulter schaut, dazwischen kurze farbige Sequenzen mit dem "dokumentarischen" Material. Aus Unterhaltungen der Teammitglieder erfährt man, dass sie im Auftrag des deutschen Fernsehens unterwegs sind, um möglichst malerisch Not und Elend an diesem Brennpunkt der Armut zu dokumentieren. Dass die Subjekte ihres Interesses gar nicht gefilmt werden wollen, interessiert sie wenig. In einer längeren Passage in ihrem Hotelzimmer beraten die Filmleute mit einem der Geldgeber und untereinander das weitere Vorgehen, dann geht es wieder auf die Straße. Mit einer "Familie" aus bezahlten Komparsen wird eine Szene gespielt, dann spricht der Reporter sein "aufrüttelndes" (und schon im Hotel durchgesprochenes und aufgeschriebenes) Fazit direkt in die Kamera - doch dabei geht etwas gründlich schief ... Und am Ende erklimmt der Film eine weitere Meta-Ebene.

AGARRANDO PUEBLO von Ospina und Mayolo ist eine äußerst sarkastische und gut gemachte Fake Documentary, die sich über Journalisten und Filmemacher echauffiert, die - im übertragenen Sinn natürlich - Vampire sind, die das Elend der Dritten Welt ausbeuten, ohne sich wirklich für die Ursachen und mögliche Lösungen der Probleme zu interessieren. Das Team im Film dreht, wie ein aufgebrachter Passant schimpft, einen "Armutsporno", mißachtet die Würde der Gefilmten aufs Gröbste, inszeniert bei Bedarf auch gefälschte Szenen, ist letzlich nur am Honorar und an möglichen Festivalpreisen im Ausland interessiert. Ironischerweise gewann auch AGARRANDO PUEBLO Preise - neben einem nationalen in Bogotá internationale in Bilbao, Lille, und den evangelischen Interfilm-Preis in Oberhausen (geteilt mit einem indischen Film).



AMA ZONA
10:37, Super 8
Argentinien 1983
Regie: Narcisa Hirsch


Bei dem Titel könnte man zunächst an den Amazonas denken, doch der Film kommt aus Argentinien, das bekanntlich ein gutes Stück vom Strom der Ströme entfernt ist. Tatsächlich geht es um Amazonen - irgendwie jedenfalls. Zur kontemplativen Musik von Stephan Micus gibt es anfangs Bilder von Gewässern und von einem Volleyballspiel auf einem Hof, ohne (für mich erkennbaren) Zusammenhang. In der dann folgenden langen zentralen Sequenz, die bewusst äußerst unscharf gefilmt ist, legt eine Frau langsam ihre Oberkleidung ab und zieht sich etwas, das Klebestreifen sein könnten, sukzessive von der Brust ab. In kurzen Momenten, wenn das Bild etwas schärfer wird, erkennt man, dass eine Flüssigkeit (Blut?) an ihrer rechten Brustseite herabfließt. Das ganze ist wohl eine Anspielung darauf, dass sich Amazonen in manchen Versionen des Mythos die rechte Brust abschnitten, um besser mit Pfeil und Bogen schießen zu können. Dann folgt eine schwarzweiße und ebenfalls unscharfe Sequenz, in der Trapezkünstler ihre Arbeit ausüben - dieser Abschnitt, der wiederum keinen für mich erkennbaren Zusammenhang mit dem Rest aufweist, hat mich etwas an Jonas Mekas' NOTES ON THE CIRCUS erinnert. Und schließlich wird ein Bogen (kein antikes Gerät und auch keine Indianerwaffe, sondern ein moderner Sportbogen) in Zeitlupe vom Boden aufgenommen, gespannt und in mehrfacher Wiederholung auf eine Zielscheibe abgeschossen. Der Pfeil trifft ins Schwarze, er federt aus, der Film ist zu Ende. AMA ZONA hat mich etwas ratlos zurückgelassen, trotzdem hat mir der Film nicht schlecht gefallen. - Die 1928 in Berlin geborene Narcisa Hirsch war 2012 Gast auf der Viennale, unter den dort gezeigten Filmen von ihr war auch AMA ZONA.



CHAPUCERÍAS
10:46, 35mm
Kuba 1987
Regie: Enrique Colina


CHAPUCERÍAS (was ungefähr "schlampige Arbeit" oder "Pfusch" bedeutet) von Enrique Colina ist eine wilde Collage: Es gibt Ausschnitte aus DR. JEKYLL AND MR. HYDE (die Version von 1931 mit Fredric March), eine Szene mit Laurel & Hardy, immer wieder eine Folge eines kubanisches Fernsehquiz im Stil von WAS BIN ICH, in dem ein Rateteam dem Moderator Ja/Nein-Fragen stellt, um einer Person oder einem Begriff auf die Schliche zu kommen. Und dazwischen ständig dokumentarische Szenen aus der kubanischen Gegenwart, die eines gemeinsam haben: Im Arbeits- oder Wirtschaftsleben geht etwas gründlich schief, aus Unfähigkeit oder Schlamperei. Da verliert ein LKW mitten in der Fahrt einen Teil der Ladung, da entpuppt sich ein Rohbau als Fehlkonstruktion, und dergleichen mehr. Im vorletzten Ausschnitt aus dem Quiz verrät der Moderator, dass der Gesuchte "schlimmer als AIDS" sei, und im letzten Ausschnitt wird seine Identität enthüllt: "der schlampige Arbeiter". Spätestens beim zweiten Sehen begreift man auch, wie Mr. Hyde da hineinpasst: Auch der Wissenschaftler Dr. Jekyll hat schlampig gearbeitet, schließlich lässt sich nicht bestreiten, dass sein Experiment gründlich in die Hose ging (und Laurel & Hardy versenken einen Wagen in einem großen wassergefüllten Loch in der Straße). Was sich am Anfang des Films schon angedeutet hat, erfüllt sich am Ende: Die Filmemacher werden von ihrer eigenen Inkompetenz eingeholt, und sie verpfuschen den Schluss komplett ... natürlich nicht wirklich, sondern nur inszeniert. Ich bin nicht ganz sicher, wie man CHAPUCERÍAS verstehen soll: Prangert er den Schlendrian an, der sich in vielen Ländern des "real existierenden Sozialismus", offenbar auch in Kuba, im Lauf der Jahrzehnte eingeschlichen hat? Oder gab es staatliche Kampagnen gegen solchen Schlendrian, und der Film macht sich darüber lustig? Das Booklet der DVD legt erstere Variante nahe. Für uns Außenstehende, im zeitlichen Abstand eines Vierteljahrhunderts, spielt es keine große Rolle - CHAPUCERÍAS ist in jeden Fall eine überraschende, witzige und handwerklich kompetente Auseinandersetzung mit der kubanischen Gegenwart der 80er Jahre.



ILHA DAS FLORES
13:13, 35mm
Brasilien 1989
Regie: Jorge Furtado


Der sehr, sehr böse ILHA DAS FLORES von Jorge Furtado beginnt mit drei Texteinblendungen: "Dies ist kein fiktionaler Film", "Es gibt einen Ort namens Ilha das Flores [Blumeninsel]", "Gott existiert nicht". Den ganzen Film hindurch doziert unermüdlich ein Sprecher im trocken-sachlichen Ton einer Lektion des TELEKOLLEG über den Lebensweg einer Tomate: Vom Anbau auf dem Feld eines japanischstämmigen Farmers über den Supermarkt in die Küche einer Mittelstandsfamilie. Doch statt verzehrt zu werden, landet die Tomate im Mülleimer und schließlich in Ilha das Flores - so heißt eine Müllkippe bei Porto Alegre (der Heimatstadt des Regisseurs). Eingestreut in den Text des Sprechers sind immer wieder in diesem Kontext absurde pseudo-formelle Definitionen wie "ein Mensch ist ein Wesen mit Großhirn und opponierbarem Daumen". Gezeigt wird dazu eine ebenso absurde Abfolge an Filmschnipseln, Collagen und Info-Grafiken. Das alles ist recht komisch - bis es in den letzten Minuten gar nicht mehr komisch wird. Wie man vom Sprecher (im selben nüchternen Tonfall wie bisher) nämlich erfährt, ist es mit der Ankunft der Tomate in der Müllkippe noch nicht zu Ende. Denn jetzt dürfen sich Schweine und arme Menschen über den Müll hermachen - und zwar in dieser Reihenfolge. Zwar haben Schweine kein Großhirn und keinen Daumen (wie man erfährt, falls man es noch nicht gewusst hat), doch Schweine haben Besitzer, und diese Besitzer haben nicht nur ein Großhirn und (sogar opponierbare) Daumen, sondern auch Geld. Arme Menschen dagegen haben weder Geld noch Besitzer, und damit sind die Prioritäten festgelegt. Damit das alles geregelt zugeht, werden abgezählte Gruppen von je zehn Menschen für fünf Minuten in die umzäunten Pferche eingelassen, und sie dürfen einsammeln, was die Schweine übriggelassen haben. Fünf Minuten sind 300 Sekunden. Seit 1958 ist eine Sekunde definiert als 9.192.631.770 Schwingungszyklen eines Cäsium-Atoms. Cäsium ist eine anorganische Substanz, die ... wie gesagt, ILHA DAS FLORES ist ein sehr böser Film. Er gewann jede Menge Preise, darunter einen Silbernen Bären in Berlin.



CORAZÓN SANGRANTE
4:18, Video
Mexiko 1993
Regie: Ximena Cuevas


Ximena Cuevas lernte ihr Handwerk in der mexikanischen Filmindustrie, bevor sie sich der Videokunst zuwandte. CORAZÓN SANGRANTE (Blutendes Herz) ist ein Musikvideo, das sie gemeinsam mit der Sängerin und Schauspielerin Astrid Hadad gestaltete. Hadad singt ihr wie der Film betiteltes Lied, in dem es in verschiedenen Bedeutungsebenen um den aztekischen Brauch des Heraustrennens des Herzens und um eine Frau, die ihrer Liebe nachtrauert, geht. Das Video ist farbenfroh, üppig-barock und (vielleicht ironisch gebrochen, aber das ist für mich schwer zu entscheiden) bewusst kitschig-naiv (manche Bilder haben mich an frühe Pathécolor-Filme von Ferdinand Zecca, Segundo de Chomón und Gaston Velle erinnert). CORAZÓN SANGRANTE errang zahlreiche Preise.



HAMACA PARAGUAYA
8:17, Video
Paraguay 2000
Regie: Paz Encina


Irgendwo im Wald, es regnet. Ein älteres Ehepaar geht (in gemäßigter Zeitlupe) auf einem schlammigen Weg auf eine im Bildvordergrund aufgespannte Hängematte zu (der Titel des Films bedeutet "Paraguayanische Hängematte"), setzt sich darauf und beginnt (in der indigenen Sprache Guarani) eine Unterhaltung über belanglose Dinge. Irgendwo im Hintergrund bellt ständig ein Hund. Am Ende der Unterhaltung kommen die beiden auf ihren Sohn zu sprechen, dessen Rückkehr sie erwarten, dann stehen sie auf und gehen den selben Weg zurück. Es donnert einmal kräftig, und eine Einblendung informiert uns darüber, dass jetzt auch der Hund aufgehört hat zu bellen. Aus dem Booklet erfährt man, dass es 1935 ist und der Sohn als Soldat in einen Krieg zwischen Paraguay und Bolivien gezogen ist. 2005 drehte dieselbe Regisseurin mit denselben beiden Darstellern auf 35mm unter demselben Titel eine 78 Minuten lange Fassung des Stoffes (in dem der Sohn wohl nicht mehr aus dem Krieg zurückkehrt). Diese Langfassung gewann einen FIPRESCI-Preis in Cannes und den Prix de L'Âge d'Or in Belgien, die kurze Urfassung hat mich jedoch gelangweilt.



CAMAL
15:50, 16mm
Ecuador 2001
Regie: Miguel Alvear


Dokumentarische schwarzweiße Aufnahmen aus dem städtischen Schlachthof von Quito ("camal" heißt in diesem Zusammenhang "Schlachthaus"), ohne Text, nur mit getragener Musik und wenigen dezenten Hintergrundgeräuschen unterlegt. Der Soundtrack besteht aus "Salvation" von Ryūichi Sakamoto - ich wusste nicht, dass Sakamoto, den ich bisher vor allem als Elektropop-Musiker (und als Schauspieler) kannte, auch solche neutönend-ernsten Klänge geschaffen hat. Für westeuropäische Augen befremdlich wirkt die Tatsache, dass auch kleine Kinder ganz unbefangen im Schlachthaus zugange sind. Die Bilder sind weniger krass als in Georges Franjus LE SANG DES BÊTES, empfindsame Tierfreunde seien aber trotzdem gewarnt: Auch bei diesem Film könnte sich ihnen der Magen umdrehen. Doch ebenso wie LE SANG DES BÊTES, übt auch CAMAL einen großen poetischen Reiz auf den Betrachter aus. Inspiriert wurde Alvear aber nicht von Franju, sondern von dem mir unbekannten THE HART OF LONDON des Kanadiers Jack Chambers. Gedreht wurden die Aufnahmen zu CAMAL schon 1991, aber nach Experimenten mit verschiedenen Schnittfassungen wurde er erst 2000 fertiggestellt. Angeblich ist ein Teil der Aufnahmen in Farbe entstanden, auf der DVD ist der Film aber komplett in Schwarzweiß.



JUQUILITA
2:22, 16mm
Mexiko 2004
Regie: Elena Pardo


Semi-abstrakte Stop-Motion-Animation, bunt und funkelnd wie ein Kaleidoskop. Einige kurze Bildfolgen wirken wie ein farbiges Update zu Man Rays LE RETOUR À LA RAISON. Der schöne kurze Film ist Nuestra Señora de Juquila gewidmet, einer regionalen Ausprägung des Madonnenkults im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca. Der Soundtrack besteht aus der Toccata des holländischen Percussionisten Henk de Vlieger und wurde von der Gruppe Tambuco eingespielt, und er komplettiert JUQUILITA zu einem sehr ansprechenden Werk.



GALLERY DOGS
2:19, Video
Peru 2005
Regie: Diego Lama/Quentin Tarantino


Der Film besteht komplett aus einem Ausschnitt aus Tarantinos RESERVOIR DOGS: Harvey Keitel, Steve Buscemi, Tarantino selbst und noch zwei oder drei weitere Männer sitzen diskutierend an einem Tisch und werden langsam von der Kamera umkreist. Laut Booklet will Lama damit diesen "extrem gewalttätigen Film dekontextualisieren", mit der Rekreation einer Szene, die "eine Gesellschaft, die zu weit gegangen ist, hinterfragt und kritisiert". Was sich mir aber nicht erschlossen hat.



DOCUMENTAL
2:13 (auf DVD 1:06), Video
Venezuela 2005
Regie: Alexander Apóstol


In einem dunklen, in Braun gehaltenen Raum läuft im Fernseher ein Bericht aus den 50er Jahren über den damaligen Bauboom in Caracas, der von den Petrodollars befeuert wurde: Alte Gebäude wurden abgerissen, dafür neue Hochhäuser errichtet. Von der Einrichtung des Raums oder von den Bewohnern bekommt man nicht viel mit (was aber möglicherweise auf einer schlechten Kopie oder schlechtem Mastering beruht, denn auf diesen beiden Screenshots ist das Bild viel heller, und man erkennt alles bestens), aber aus dem Booklet erfährt man, dass es sich um eine Wohnung in den Chabolas handelt, Slum-ähnliche Bezirke am Stadtrand, die gerade in jener Zeit des Baubooms entstanden. Als der Sprecher des Fernsehberichts als Fazit den Fortschritt preist, beginnt die Kamera plötzlich entfesselt und wie im Delirium um den Fernseher zu kreisen. Aus mir unerfindlichen Gründen ist von dem ohnehin sehr kurzen Film nur die Hälfte auf der DVD enthalten. Ich bin zwar nicht sicher, aber ich habe den Eindruck, dass es die erste Hälfte ist, so dass das visuelle Delirium noch eine Minute weitergehen könnte. Schade, denn vom enthaltenen Ausschnitt sind die letzten Sekunden am interessantesten - davon hätte es noch mehr geben können.



OPUS
4:49, Video
Kuba 2005
Regie: José Ángel Toirac


Man hört die etwas mühsam, machmal fast verzweifelt klingende Stimme eines (vermutlich älteren) Mannes, die Zahlen aufsagt, kleine und große Zahlen, ohne irgendein erkennbares System. Synchron dazu sieht man diese Zahlen in nüchternen weißen Ziffern vor einem schwarzen Hintergrund. So geht das knapp fünf Minuten dahin, und so unvermittelt, wie der Film begonnen hat, hört er auf. Was soll das nun wieder bedeuten? Die äußerst verblüffende Auflösung erfährt man aus dem Booklet: Die Stimme gehört keinem Geringeren als Fidel Castro, und man lauscht einer Rede, die der Comandante zum Beginn des Schuljahres 2003/2004 auf einem öffentlichen Platz in Havanna gehalten hat. Die Rede wurde nur etwas gekürzt: Alles außer den enthaltenen Zahlwörtern wurde rausgeschnitten. José Ángel Toirac weist so dezent auf die Zahlenhuberei in (nicht nur) Castros Reden hin. Und wenn schon diese eingedampften Zahlen fast fünf Minuten brauchen, dann wird man auch daran erinnert, dass der Máximo Líder für seine oft stundenlangen Reden berüchtigt war.



OJO DE PEZ
15:16, Video
Kolumbien 2008
Regie: Gabriel Enrique Vargas


Vargas' Abschlussfilm an einer Filmschule in Bogotá, dessen Titel "Fischauge" bedeutet. In einem quadratischen Filmformat mit unscharfen Rändern, in kontrastreichem Schwarzweiß, sieht man, wohl in und um einen Bauernhof, Tiere: Nutztiere, eine Katze, Insekten. Und immer wieder einen Fisch, der auf einer Tischplatte liegt und nach Luft schnappt. Dazwischen auch Menschen, die man aber nur in Ausschnitten, in einzelnen Körperteilen sieht. Vor allem eine Frau, die sich die Hände wäscht, Verrichtungen in der Küche ausführt, und dergleichen. Zu so etwas wie einer Handlung verdichtet sich das ganze nicht, was es für mich etwas mühsam machte, bei der Stange zu bleiben. Ebenso prägnant wie die Bilder ist der Soundtrack, der aus Naturgeräuschen besteht: Fließen von Wasser, Zwitschern von Vögeln, Summen von Insekten, das Miauen der Katze. Die als "Appendix" vom Rest abgetrennten letzten zwei Minuten gehören dem (immer noch lebenden) Fisch und einer Biene, die sich auf ihm niederlässt, scheinbar, um interessiert seinen Körper zu untersuchen. Als sie mitten über sein offenes Auge krabbelt, hätte ich dem Fisch einen schnellen, schmerzlosen Tod gewünscht. Diese zwei Minuten waren für mich unangenehmer anzusehen als jede einzelne Szene aus dem Schlachthof von Quito.



Fazit

Für mich eine interessante Exkursion in eine unbekannte Welt - von keinem der Filme oder Regisseure hatte ich zuvor gehört. Meine Favoriten sind LA CIUDAD EN LA PLAYA, REVOLUCIÓN, NOW!, OFRENDA, AGARRANDO PUEBLO, CHAPOCERÍAS, ILHA DAS FLORES, CAMAL und JUQUILITA. Die wenigen Filme, die mir wenig oder gar nicht gefallen haben, konnte ich problemlos verschmerzen. Wie man sich denken kann, findet man etliche der Filme auch auf den üblichen Videoportalen. Aber wer jetzt neugierig geworden ist, sollte in Erwägung ziehen, die durchaus preiswerte DVD zu kaufen.

Sonntag, 15. Dezember 2013

C – eine Stadt sucht einen Detektiv


WO IST COLETTI?
Deutsches Reich 1913
Regie: Max Mack
Darsteller: Hans Junkermann (Jean Coletti), Madge Lessing (Lolotte), Heinrich Peer (Anton), Anna Müller-Lincke (resolute Dame), Hans Stock (Graf Edgar), Max Laurence (Alter Graf)



Zum Inhalt

Innerhalb von 48 Stunden nach der Tat fängt der Berliner Detektiv Jean Coletti einen Verbrecher. Eine beachtliche Leistung eigentlich, findet er. Die Presse (besonders die B. Z.) ist jedoch anderer Meinung und macht sich über ihn lustig: wenn die Öffentlichkeit über einen in der Zeitung veröffentlichten Steckbrief an der Verbrecherjagd teilgenommen hätte, wäre der Übeltäter doch wesentlich schneller gefangen worden. Coletti kontert: er lässt sich selbst steckbrieflich erfassen und ruft die Bevölkerung Berlins dazu auf, ihn binnen weniger als 48 Stunden auffindig zu machen. Wer ihn fängt, erhält ein Preisgeld von 100.000 Mark. 

Gesagt, getan: der Steckbrief wird aufgegeben, die Belohnung ausgeschrieben. Coletti versteckt sich zunächst bei seiner Verlobten, der Tänzerin Lolotte, lässt sich vom Barbier Anton rasieren und verkleidet sich mit Perücke und entsprechendem Overall als Straßenfeger. Seinen Barbier verkleidet er als sich selbst. Draußen, auf den Straßen, ist der Steckbrief („Wo ist Coletti?“) schon überall angeschlagen, und schnell wird der falsche Coletti Anton von einer Menge verfolgt. Der richtige Coletti taucht als Straßenfeger unter, bis er die Aufmerksamkeit eines Polizisten auf sich zieht, weil er seine wesentlich feiner gekleidete Verlobte auf der Straße küsst. Anton-Coletti derweilen flieht in einem Omnibus, dann auf einem Fahrrad vor einer Verfolger-Menge und steigt in ein Zeppelin. Dort bekommt er vom mittlerweile als Kellner verkleideten richtigen Coletti einen Cognac serviert und wird von einer resoluten Dame erkannt. Der Zeppelin landet und er wird zur Polizei abgeführt, wo er seine wahre Identität preisgibt – sehr zum Hohn der Fängerin und der sensationsgierigen Menge.

Derweilen versteckt sich der richtige Coletti wieder bei seiner Verlobten, die ihn in einem Wäschekorb zum Hotel Adlon transportieren lässt, wo sie am nächsten Tag einen Auftritt haben soll. Graf Edgar, ein Verehrer der Tänzerin, verschafft sich zusammen mit seinem Onkel Zugang zum Hotelzimmer und bittet sehr eindringlich um ein abendliches Rendezvous mit Lolotte. Diese sagt zu, und bringt gleich eine Freundin zu einem Doppel-Date mit: nämlich den als Frau verkleideten Coletti. Vor dem Abendessen gehen alle vier ins Kino, wo sie in der Wochenschau von der Verfolgung des Detektiven erfahren. Danach geht es zu Speis, Trank und Tanz in ein Lokal – doch die Verfolger sind schon auf der Spur...


Das Medium Film auf dem Weg zur ernsthaften Kunstform

Vor ziemlich genau 100 Jahren machte das Medium Film allmählich eine Wandlung von einer Jahrmarktsattraktion zur eigenständigen Kunstform durch und stieß dabei auf erheblichen Widerstand von Seiten zahlreicher intellektueller Kreise. Die „Filmkunstbewegung“, die ihren Ursprung in Frankreich hatte, wollte das stark kritisierte Medium auch für gebildete und gehobene Schichten attraktiv machen und für dessen Respekt kämpfen. Besonders Bezüge zur Literatur und zum Theater – thematisch, ästhetisch und personell – sollten dabei helfen. Max Mack (1884-1973), der Regisseur von WO IST COLETTI?, der heute als Pionier des deutschen Films gesehen werden kann, kam selbst vom Theater, und drehte seit 1911 Filme. Auch er wollte den Status des Mediums durch literarische Bezüge und namhafter Unterstützung aus der Theater-Szene heben. Für Aufsehen sorgte sein Film DER ANDERE: die Geschichte eines Rechtsanwalts, der mildernde Umstände für geistig kranke Verbrecher strikt ablehnt, aber nach einem Unfall selbst unbewusst eine „andere“ Persönlichkeit als Krimineller entwickelt. Das Drehbuch schrieb der Journalist, Schriftsteller und Theater-Intendant Paul Lindau nach einem Bühnenstück aus dem Jahr 1893. Für einen noch renommierteren Namen aus der deutschen Bühnenlandschaft sorgte Alfred Bassermann in der Titel-“Doppel“-Rolle, seines Zeichens einer der großen Darsteller am Deutschen Theater Berlin in der Ära Max Reinhardts (der selbst durchaus filmaffin war). DER ANDERE floppte trotzdem beim Publikum.

Für WO IST COLETTI? schrieb erneut eine Theaterkoryphäe das Drehbuch, nämlich der österreichische Lustspiel-Spezialist Franz von Schönthan, der noch Ende des selben Jahres 64-jährig verstarb. Hans Junkermann, der Darsteller der Titelfigur und erfahrener Theaterschauspieler, war 1913 schon seit zwei Jahren auch aktiv im Filmgeschäft tätig, im Gegensatz zu seiner britischen Partnerin Madge Lessing, die hier ihren Film-Einstand gab. Ihre Credits zu Beginn des Films enthalten einen expliziten Hinweis auf ihre Theater-Herkunft.

Diese herausgestellten Bezüge zum Theater im personellen Bereich (nicht so sehr im ästhetischen, wie gleich zu erläutern sein wird!) dürften allerdings nicht der Hauptgrund für seinen großen zeitgenössischen Erfolg gewesen sein. Denn tatsächlich wurde WO IST COLETTI? so etwas wie der erste, große, erfolgreiche, abendfüllende deutsche Film – sowohl in Deutschland, wie auch international. Ein Sensationsfilm. Geradezu eine Art früher „Blockbuster“. Und zusammen mit den wenigen Wochen bzw. Monaten später gezeigten RICHARD WAGNER und DER STUDENT VON PRAG ein Wegbereiter des „künstlerischen“ Films in Deutschland.

Alle drei erwähnten Werke sind Pionierfilme, allerdings mit ganz unterschiedlichen Ansätzen und Themen. WO IST COLETTI? ist gewissermaßen der „trivialste“ der drei Filme. Er ist der am wenigsten bekannte, und – meiner Meinung nach – auch der beste, interessanteste, aufregendste und im banalen Sinne unterhaltsamste von allen drei!


Zur besonderen Ästhetik von WO IST COLETTI?

Der Film beginnt damit, dass ein Schreibtisch per Stopmotion von der Seite in die Mitte des Bildes „hinein läuft“. Ein Jump-Cut später sitzt der Autor Franz von Schönthan am Tisch, und stehend daneben präsentiert ihm der Regisseur Max Mack die Hauptdarsteller. Aus einem zusammengeknüllten Papierbündel heraus „wirft“ er die Namen an die schwarze Leinwand im Hintergrund und mit einem Handgriff (sprich: Jump-Cut) tauchen alle drei Personen (Hans Junkermann, Madge Lessing und Heinrich Peer) unter ihren jeweiligen Namen auf. Der Autor und der Regisseur schütteln ihnen die Hände und scheinen mit ihnen zufrieden zu sein: der Film kann (nun also „wirklich“) beginnen.

Dieser Prolog mischt Theater-Ästhetik auf der einen Seite (Handlung auf einer Bühne) mit „reinem“ Film in der Tradition des Attraktionskinos à la Georges Méliès. Letzteres, also das „pure“ Kino, wird den Film ästhetisch größtenteils dominieren. Das merkt man schon am Schnitt, der regelmäßig „statische“ Szenen dynamisiert. Man kennt die „Theater-Ästhetik“ aus vielen frühen Stummfilmen: eine Szene wird von A bis Z in einer einzigen fixen Einstellung gefilmt – gerade auch in RICHARD WAGNER und DER STUDENT VON PRAG. In WO IST COLETTI? hingegen werden viele Szenen schon recht dynamisch mit Schnitten aufgelockert und punktuiert. So etwa die Szene, wo Coletti sich zwecks der genauen steckbrieflichen Erfassung seine Körpermaße nehmen lässt: die Messmaschine (eine Art bizarrer Thron mit vielen verschiebbaren Messlatten) wird aufgebaut und erste Messungen werden von den Polizeiassistenten durchgeführt. Als die Schultern Colettis gemessen werden, wechselt der Schnitt in die Naheinstellung: von der Gesamtszene wandert die Aufmerksamkeit zur Mimik des Coletti, der die Prozedur offenbar furchtbar amüsant findet (überhaupt lacht Junkermann bzw. die Coletti-Figur ziemlich oft im Film).

Noch weitaus interessanter ist die Art und Weise, wie die Raumtiefe genutzt wird. Dank sehr hoher Tiefenschärfe lassen Max Mack und sein Stammkameramann Hermann Böttger an mehreren Stellen parallele Handlungen in verschiedenen Arealen des Bildraumes stattfinden. Wenn etwa Lolotte im Hotel Adlon den Wäschekorb (mit dem Inhalt Wäsche und Coletti) in ihrem Zimmer von Hotelpagen in eine Nische vor der Badezimmertür im Hintergrund tragen lässt, einige Coletti-Sucher sie befragen und sich sonst im Zimmer umsehen und sie in den Vordergrund tritt und die Zuschauer schmunzelnd anzwinkert (das Durchbrechen der „vierten Wand“ passiert im Film immer wieder). Kurz, bevor die zentrale Action-Szene des Films beginnt, sieht man eine Menschenansammlung vor einer Litfaßsäule mit dem Steckbrief stehen, im Hintergrund fährt ein Omnibus vorbei, in dem der Anton-Coletti sitzt und der schon von einigen Leuten verfolgt wird. Die Menge rennt daraufhin sukzessive dem Bus nach, während sich im Vordergrund der als Straßenkehrer verkleidete Coletti lachend vor die Litfaßsäule stellt.

Diese Massen-Szene, gedreht mit dem Brandenburger Tor im Hintergrund, mündet auch in die spektakulärste Action-Szene des Films. Anton-Coletti sitzt im zweiten Stock des Busses ganz hinten. Eine aufgeregte Menschenmenge rennt ihm hinterher (hier wieder ein Beispiel für kunstvoll ausgenutzte Tiefenschärfe). Teile der Menge erreicht den Bus, es entsteht ein Gerangel, Leute klettern auf den fahrenden Bus, einige fallen dabei wieder runter, das Fahrzeug wackelt gefährlich unter dem Gewicht der Kletterer, und in diesem Chaos schafft es der Anton-Coletti, sich auf und davon zu machen. Diese Verfolgungsjagd ist zweifelsohne die visuell großartigste Attraktion von WO IST COLETTI? Ein kurzer, aber sehr effektiver Prototyp des Actionfilms. Eine Szene, die ein wenig an die komplexen und gefährlichen Stunts erinnert, die Buster Keaton etwa ein Jahrzehnt später in seinen Filmen (freilich wesentlich geballter) einbauen würde. Dass der Meister des Action-Stummfilms diesen Detektiv-Film gesehen hat, wäre nicht völlig unmöglich: WO IST COLETTI? lief im Frühjahr 1914 auch in den USA.

Eine Keaton-Verbindung fände sich auch in der demonstrativen Selbstreflexion des Mediums Film. Als Lolotte, der verkleidete Coletti und die beiden Grafen ins Kino gehen, sehen sie eine Wochenschau über Colettis Flucht bzw. über die Verfolgung des falschen Colettis: auf der Leinwand laufen Bilder aus dem Film selbst, und zwar mit doppelter Geschwindigkeit. Der richtige Coletti bekommt im Kino quasi ein Briefing darüber, wie bislang seine eigene Verfolgung verlief, und wird auf den Wissensstand des Zuschauers (außerhalb seines Filmuniversums) gebracht. Dieses Film-im-Film-Element tauchte später bekanntermaßen in Keatons „Detektiv“-Film SHERLOCK JR. auf – freilich noch wesentlich komplexer (als Film-als-Traum-im-Film).

WO IST COLETTI? schafft es, zumindest meiner Meinung nach, wesentlich besser als RICHARD WAGNER und DER STUDENT VON PRAG, sich komplett von anderen Kunstformen zu emanzipieren, um ganz und gar Film zu sein. Allerdings sind zugleich auch seine Rückgriffe auf andere Kunstformen und Genres wesentlich breiter. Nebst Theater-Elementen hat Macks Film mit einer Tanz-Nummer gegen Ende auch Versatzstücke aus dem Varieté. Sein Thema schafft auch Bezüge zum damals überaus beliebten Groschenroman. In den Zwischentiteln finden sich auch Elemente des frühen Comics: mehrmals tauchen neben dem Text kleine Cartoons auf, etwa bei (sinngemäß) „Coletti geht zum Barbier“ eine kleine Karikatur eines Barbiers, oder bei „Coletti taucht als Straßenkehrer unter“ eine Karikatur des Colettis in seiner etwas grotesken Verkleidung.

Inhaltlich kann WO IST COLETTI? auch als milde Satire gesehen werden auf den rechthaberischen Kleinbürger, der gerne möchte, dass „ordentlicher“ gegen Verbrecher vorgegangen wird, und zwar am besten mit seiner Beteiligung und Expertise. Die Frage nach der Effizienz von Verbrechensbekämpfung und der möglichen Beteiligung der Öffentlichkeit an dieser wurde fast zwei Jahrzehnte später in einem anderen visuell beeindruckenden Berlin-Film gestellt, nämlich in M. Wo in Macks Film die erregte Menschenmenge, die wie ein Hunderudel hinter einen Bus rennt, noch durchaus belächelt werden kann, ist in Fritz Langs Film die kollektive Paranoia und Massenhysterie natürlich wesentlich düsterer dargestellt. 


Weitere Lebenswege der Macher & einige Worte zur Überlieferung

Hans Junkermann, der wunderbare Darsteller des Coletti, blieb dem Film noch jahrzehntelang treu, allerdings meistens in Nebenrollen (u. a. in Josef von Bákys MÜNCHHAUSEN aus dem Jahre 1943). Madge Lessing hingegen spielte bis 1919 nur noch in vier weiteren Filmen von Max Mack Kinorollen. Dieser drehte allerdings weitaus mehr Filme: 127 Credits als Regisseur hat Max Mack bei der imdb (darunter natürlich viele Kurzfilme), Dreiviertel dieser Filme hat er vor 1920 gedreht. Eine interessante Info: in zwei dieser Werke, namentlich ARME MARIA – EINE WARENHAUSGESCHICHTE sowie ROBERT UND BERTRAM, DIE LUSTIGEN VAGABUNDEN (beide 1915) spielte Ernst Lubitsch eine Nebenrolle. Ab 1930 begann Max Mack auch, Tonfilme zu drehen. 1933 endete seine Karriere in Deutschland, als er vor den Nazis nach Großbritannien floh. Dort drehte er noch zwei Filme, bevor er sich aus dem Filmgeschäft zurückzog. 1973 verstarb er im Alter von 88 Jahren in seiner Exilheimat London. Trotzdem Mack 1965 beim Deutschen Filmpreis das „Filmband in Gold“ für seine Verdienste für den deutschen Film erhielt, sind seine (Pionier-)Werke dem breiten Publikum weitestgehend unbekannt. 

Wenn ich es richtig sehe, ist kein einziger Film von Max Mack in irgendeinem Heimkino-Format verwertet worden. WO IST COLETTI? ist als 35-Millimeter-Kopie beim Deutschen Institut für Filmkunde in Frankfurt erhältlich – sprich: für den Otto-Normal-Zuschauer gar nicht (einer der Gründe, warum dieser Beitrag entgegen der Gepflogenheiten in diesem Blog keinerlei Screen-Shots enthält). Ich selbst habe den Film am Sonntag, dem 8. Dezember im Weimarer Lichthaus-Kino in besagter Kopie bei einer Aufführung mit Live-Musik gesehen.

Sowohl DER STUDENT VON PRAG als auch RICHARD WAGNER wurden, gewissermaßen zu ihrem 100. Geburtstag, 2012/13 restauriert und 2013 in neuem Glanz wieder gezeigt: zunächst in öffentlichen Aufführungen, dann später bei arte-Stummfilm. Es ist (wahrscheinlich) nur eine Frage der Zeit, bis von beiden Filmen eine DVD-Edition erscheint. Natürlich: DER STUDENT VON PRAG ist eh ein legendärer Film, und RICHARD WAGNER profitierte von der medialen Aufmerksamkeit des Wagner-Jahres. Vielleicht wird ja auch WO IST COLETTI? gerade durch eine fleißige Restaurations-Abteilung geschleust und dort zwecks Präsentation für ein breiteres Publikum zurecht gemacht. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Montag, 9. Dezember 2013

Moderne Architektur, tanzende Flamingos und Heinz Erhardt

MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER
Bundesrepublik Deutschland 1961
Regie: Ulrich Erfurth
Darsteller: Fritz Tillmann (Alexander Engelmann), Marika Rökk (Ilona Farkas), Conny Froboess (Julia), Heinz Erhardt (Paul Korn), Helmut Lohner (Tommy Schiller)



Ein Flugzeug landet in Berlin. Ein Mann möchte sich zum Ausgang drängeln. Eine Frau lässt ihn nicht durch. Auf der Landebahn passiert dasselbe Spiel und die Frau bezeichnet den Mann beleidigt als Nilpferd. Auf dem Parkplatz warten die jeweiligen Chauffeurs, und beim Hinausmövrieren aus dem Stellplatz krachen beide Autos fast ineinander.

Der Mann, Alexander Engelmann, ist Großunternehmer im Stahl-Geschäft. Er ist ein Workaholic, der ab und zu mit seinem Chauffeur Paul, der auch sein bester und einziger Freund ist, über die alten Zeiten im Krieg plaudert – damals war Alexander Pauls Chauffeur. Der Industrielle ist verwitwet, und zieht alleine eine Tochter groß. Keine einfache Aufgabe: Julia ist nämlich gerade im rebellischen Teenager-Alter und denkt vor allem an Rock‘n‘Roll, Filme und Jungs. Außerdem lässt sich „Alex“ – wie sie ihren Papa immer neckisch nennt – arbeitsbedingt nur höchst selten zu Hause blicken.

Julia mit ihrer "Stiefmutter" Ilona
Engelmann mit Chauffeur Paul
Eine kleine Krisensitzung mit Paul schafft Klarheit: eine neue Mutter muss für Julia her und zwar möglichst schnell. Davon will die Tochter nichts hören, und schwärmt lieber von ihrem neuen Lieblingsstar, der Sängerin und Schauspielerin Ilona Farkas. Kurzerhand entscheidet Engelmann also, „die Farkas“ zu heiraten. Dass diese von ihrem künftigen Eheglück als so ziemlich letzte Person informiert wird, ist dabei das geringste Problem: Ilona Farkas ist die Dame, mit der sich Engelmann am Flughafen verbal geprügelt hat. Da Julia erklärtermaßen nur ihren Lieblingsstar als neue Mutter akzeptieren wird, will der Millionär die Sache trotzdem zähnebeissend durchstehen.

Ein sehr formeller Ehevertrag wird ausgearbeitet: Zweck der Verbindung ist die Erziehung Julias bis Erreichen des 21. Lebensjahres, körperliche Berührungen zwischen den Ehepartnern sind unstatthaft. Ilona Farkas sieht hier nicht so sehr eine Chance auf viel Geld (sie ist selbst reich genug), sondern vor allen Dingen die Möglichkeit, es dem unhöflichen Flugzeug-Rempler so richtig heimzuzahlen...

Das ist natürlich keineswegs die narrative Voraussetzung für einen Rache-Thriller, sondern für eine leichte Komödie, denn im Grunde sind alle Figuren überaus nett. Engelmann zum Beispiel ist sicherlich kein absolut idealer Vater, aber das eben vor allen Dingen, weil er oft tagelang einfach nicht da ist und nicht etwa, weil er seiner Tochter gegenüber besonders streng oder gar unfair wäre. Paul, der Chauffeur, ist der engste Vertraute Engelmanns, versteht sich allerdings auch blendend mit Julia (die ihn im Prinzip öfter als ihren Vater sieht) und agiert mit seiner gutmütigen Art allgemein als Vermittlungsfigur, wenn es Konflikte gibt. Geistig völlig abwesend ist er hingegen, wenn er Lotto spielt und nach allen möglichen zufälligen Zahlen in seiner Umgebung sucht: in seinen Schein versunken zählt er etwa die Anzahl der Treppen, die er besteigt, oder fragt eine Sekretärin nach ihrem Alter oder addiert die Anzahl der Buchstaben, aus denen ein zufällig gesagter Name besteht. Auch Ilona Farkas ist trotz ihres Drangs, dem Millionär Dampf unter den Hintern zu machen, eine herzensgute Person. Ihre „Rache“ besteht vor allen Dingen darin, als neue „Ehefrau“ Engelmanns ihn mit Innenausstattungswechseln und spontanen kleinen Parties zur Weißglut zu treiben. Das tut sie keineswegs „auf dem Rücken“ Julias – schnell merkt sie, dass die Teenagerin im Grunde keine Erzieherin mehr braucht, und versteht sich rasch mit ihrer „Adoptivtochter“.

Der Vorspann als Architektur-Montage
MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER ist ein einfaches Lustspiel mit Screwball-Komödien- und Musical-Elementen (ja, zwischendurch wird auch gesungen). Das Drehbuch ist eher simpel und strotzt nicht gerade vor Originalität. Auch das vielleicht zu erwartende satirische Element – ein reicher Wirtschaftswunder-Gewinner „kauft sich“ auf die Schnelle eine Ehefrau – ist eher rudimentär ausgebildet und fordert nicht wirklich zu großen interpretatorischen Rundumschlägen heraus. Weitaus bemerkenswerter, und das, was den Film ziemlich hervorstechend macht, ist seine visuelle Gestaltung. Bereits der Vorspann macht ein zentrales Element von MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER deutlich, nämlich die Inszenierung von Architektur.

Beim sehr kurzen Vorspann werden Gebäude in Außensicht fotografiert. Im weiteren Verlauf spielt dann vor allem die Innenarchitektur eine bedeutende Rolle. Die Gestaltung der Innenräume (Set-Designer: Ernst H. Albrecht und Max Vorwerg) nimmt im Film eine zentrale Rolle ein, denn oft werden die Figuren nicht in Nahaufnahme gefilmt, sondern in Totalen, in denen sie nur einen kleinen Teil des Bildausschnitts darstellen. Die für eine solche „triviale“ Komödie sehr exzentrisch wirkende Gestaltung kann man aber durchaus als konsistent mit dem Narrativ interpretieren: den zentralen Figuren werden gewisse Formen von Innenarchitektur und bestimmte Raumarrangements zugeschrieben, die sie charakterisieren. Ihre Konflikte tragen sie dadurch aus, dass sie die Räume anderer Personen mit ihrem eigenen Stil ändern.

Engelmanns Geschäftsräume...
Alexander Engelmann etwa gebietet über zwei Raum-Komplexe: sein Büro und seine Villa. Ersteres ist eine geradezu puristische Manifestation architektonischen Modernismus: große weite Räume, auf reine Funktionalität reduzierte Möbel, auf dem leicht überhöhten Schreibtisch des Chefs stehen lediglich eine Knopfleiste und ein halbes Dutzend Telefone (unwillkürlich fragt man sich, warum es noch nicht mal ein Regal für Aktenordner gibt, aber sogar der erscheint hier überflüssig). Selbst der Blick aus dem Fenster offenbart nur eine Business-Skyline. Deren kantige Linien, in Kombination mit den Lamellenjalousien, „durchschneiden“ oft das Haupt des Industriellen – als würde diesem Workaholic die Arbeit manchmal über den Kopf wachsen. Trotzdem: hier fühlt sich Engelmann ganz und gar in seinem Reich. Wenn jemand diese minimalistische Harmonie stört, dann ist es Paul (wenn er die Empfangssessel verrückt) oder Julia (wenn sie ihren Vater besucht und die Knopfleiste auf dem Schreibtisch hoch- und runterdrückt). Ilona Farkas hingegen, nachdem das erste Eheanbahnungs-Gespräch unbefriedigend verläuft, meint hingegen aufgebracht: „Nicht einmal was zum kaputt schmeißen gibt es hier.“

... und sein Zuhause.
Sie und Engelmann scheinen generell architektonisch inkompatibel zu sein. Denn die Villa des Industriellen ist im Prinzip eine Art Duplikat des minimalistischen Modernismus seiner Geschäftsräume – trotz einiger doch persönlicheren Noten (eine bizarre Vorliebe für kitschige Engel-Plastiken und eine gemütlich-fluffige Hänge-Schaukel-Couch). „Stell dir vor, man müsste in so etwas wohnen. Eiskalt!“ sagt Ilona zu ihrer Chauffeurin und Agentin, als sie erstmals die Engelmann-Villa besucht – und niest daraufhin spontan: „Schon verkühlt.“

"Gradeso, so wie du, sieht der Held in meinen
Träumen aus..." Bizarre Montage der Verspieltheit
Julia hingegen wird im Rahmen der so charmanten wie auch zutiefst bizarren Musical-Nummer „Gradeso, so wie du“ in ihrem Zimmer dem Zuschauer erstmalig vorgestellt. Die harte geometrische Grundstruktur des Zimmerzuschnitts weicht sie vor allem mit allen möglichen Starportraits (darunter zum Beispiel Marilyn Monroe, Burt Lancaster und Ilona Farkas) auf, sowie mit einem Regal voller mechanischer Spielzeuge (über die symbolische Kontrastierung von unschuldiger Kindlichkeit und erwachender Sexualität ließe sich bestimmt auch eine ganze Menge sagen). Was diese Spielzeuge eigentlich von diesem jungen Mädchen und ihrem Tanz halten, ist schwer zu sagen: manche schütteln den Kopf, manche nicken. Denn die Musical-Nummer wird visuell immer wieder von Großaufnahmen der mechanischen Spielzeugfiguren unterbrochen. Eine interessante, weil auch sehr bizarre Montage. Klar ist nur: Julia steht generell für innenarchitektonische Verspieltheit.

Ilonas architektonische Charakterisierung fällt eher knapp aus, da man sie nur kurz in ihrer eigenen Wohnung sieht: eine Mischung aus altmodisch, barock, ein bisschen verkitscht, aber trotzdem (oder gerade deswegen) gemütlich. Während ihrer arrangierten Ehe mit Engelmann wird sie, mit Julia und auch Paul als Komplizen, nach und nach die privaten Räume des Industriellen erobern, und über deren Grundstruktur ihre eigene „Schicht“ auftragen. Das fängt zunächst damit an, dass sie zur Hochzeitsfeier eine Unmenge an Menschen einlädt, die das riesige „kalte“ Wohnzimmer mit ihrer Präsenz füllen und zu den Klängen einer „ungarischen“ Zigeuner-Combo tanzen. Die Wände werden mit (wahrscheinlich) knallbunten Bändern geschmückt. Später, nachdem Engelmann seine Abneigung gegen Gartenzwerge in einem Nebensatz erwähnt hat, füllt sich die Villa wie durch ein Wunder mit Gartenzwergen.

Aus "kalt" mach "lustig"
Der Höhepunkt der Verwandlung findet jedoch in den Keller-Räumen statt, wo Ilona mit Julia, Paul und Julias Verehrer, dem Journalisten Tommy, eine eigene kleine architektonische Utopie für Julias 17. Geburtstag errichtet: einen Jazz-Keller. Dieser an nur einem Nachmittag errichtete Party-Raum ist geradezu ein „Who‘s who“ des zeitgenössischen Jazz: die Wände sind vollgepackt mit Festival- und Konzert-Postern sowie mit Portraits berühmter Jazzmusiker. Zu Julias Geburtstagsfeier kommen tatsächlich eine ganze Menge Leute (darunter sogar ein Flamingo!), die sich dann unter den Blicken der Jazz-Prominenz tanzend vergnügen. Louis Armstrong auf einem Riesentransparent ist gewissermaßen der Conférencier des Abends, aber auch Sidney Bechet, Benny Goodman, Django Reinhardt, Ray Anthony und Max Roach sind anwesend. In absentia, aber namentlich aufgeführt, nehmen auch Art Blakey, Albert Mangelsdorff, Jay Jay Johnson, Benny Carter, Coleman Hawkins, Stan Getz, Don Byas, Roy Eldridge, Jo Jones, Cándido (Camero), Ella Fitzgerald, Oscar Peterson und nicht zuletzt der Jazz-Impressario Norman Granz an der Feier teil. Sie alle sind passive Beobachter des bunten Treibens im Keller. Oder vielleicht auch richtige Nebenfiguren? Benny Goodman jedenfalls scheint aufmerksam über die Annäherung zwischen Julia und Tommy zu wachen, während Louis Armstrong offenbar großen Spaß daran hat, Alexander vollkommen überfordert zu sehen.

Feiern, lieben und streiten
unter den Blicken der Jazz-Prominenz
Der Kameramann Albert Benitz fängt diese komplexen räumlichen Arrangements in wunderbaren, prägnanten Bildern ein. Von der Kameraarbeit her dürfte manch ein Film aus den 1950er Jahren schlechter gealtert sein. So wird zum Beispiel eine Szene in einer Bar „künstlich“ zu Cinemascope verengt: der Blick der Kamera aus einer Position hinter der Theke wird oben und unten von einer Reihe Gläser begrenzt. Benitz, geboren 1904, hatte sein Metier noch in der Stummfilm-Ära gelernt, vor allen Dingen für Arnold Fanck. Später blieb er dem Bergfilm weiterhin treu und wurde zum Stammkameramann Luis Trenkers, sowohl während der ausgehenden Weimarer Republik, des Dritten Reiches wie auch in der frühen Bundesrepublik. In den 1950er Jahren arbeitete er auch mit Helmut Käutner.

Ulrich Erfurth, der Regisseur von MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER, ist wesentlich unbekannter (gewesen und geblieben). Er war vor allen Dingen ein Mann des Theaters, und erst nachrangig Filmregisseur. 1956 sorgte sein Film FRUCHT OHNE LIEBE (auch unter dem Titel GEHEIMNISSE EINER EHE veröffentlicht) für einen Skandal, weil er künstliche Befruchtung thematisierte. Ab den frühen 1960er Jahren drehte Erfurth, neben seiner Hauptbeschäftigung als Theater-Regisseur und -Intendant zwischen Hamburg, Essen, Frankfurt und dem Wiener Burgtheater, vor allem für das Fernsehen.

Fritz Tillmann, der den stets ein wenig überforderten Alexander Engelmann wunderbar verkörpert, spielte in den 1950er und 1960er Jahren in mehreren Filmen Helmut Käutners, unter anderem in DAS HAUS IN MONTEVIDEO. Mit Heinz Rühmann wirkte er in zwei weiteren Adaptionen von Curt Goetz-Stücken mit. Ab den späten 1960er Jahren war er vor allen Dingen im Fernsehen zu sehen und arbeitete auch als Synchronsprecher, als Leihstimme für unter anderem Karl Malden, Orson Welles, Peter Ustinov und Ernest Borgnine.

Conny Froboess als rebellische Julia in einer
Cinemascope-Bar
Marika Rökk wurde in den 1930er Jahren zu einem großen Star der Ufa für die Sparte Operettenverfilmungen und Revuefilme, besonders als Partnerin von Johannes Heesters. Ihr „sprudelnder Charme“ und der „Paprika im Blut“ wurde stets gelobt. Letzteres eine Anspielung auf ihre ungarische Herkunft: von einem deutschen Vater und einer ungarischen Mutter in Kairo geboren, wuchs sie in Budapest auf und lernte das Tanzmetier in Paris und New York und behielt im Deutschen stets einen „exotischen“ Akzent. Nach einer kurzzeitigen Karrierepause (aufgrund ihrer Involvierung in die nationalsozialistische Unterhaltungs- und Propagandaindustrie) spielte sie auch in den 1950er und 1960er im größtenteils selben Repertoire weiter: Musicals und Komödien.

Cornelia Froboess ist vor allem als Deutschlands Beitrag zum 7. Eurovision Song Contest im Jahre 1962 bekannt geworden, wo sie mit dem Schlager „Zwei kleine Italiener“ zwar nur auf den sechsten Platz kam, aber später trotzdem einen großen Hit in (West-)Deutschland landete. Die Schlagersängerin ist noch bis heute als auch Schauspielerin für Kino, Fernsehen und Theater tätig. Erwähnenswert ist auch, dass der gebürtige Wiener Helmut Lohner, der Julias Verehrer Tommy spielt, ein renommierter Opern- und Operetten-Regisseur ist und in seiner Heimatstadt (mit einer kurzen Unterbrechung) neun Jahre lang Direktor des Theaters in der Josefstadt war – ein Amt, das von 1933 bis 1935 Otto Preminger inne hatte.

Zu Heinz Erhardt, einem DER bundesdeutschen Allround-Entertainer der 1950er und 1960er Jahre, müssen wohl nicht allzu viele Worte gesagt werden. Die Rolle des stets etwas gedankenverlorenen Chauffeurs Paul ist ihm auf den Leib geschrieben. Allerdings spielt er in MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER tatsächlich „nur“ eine Nebenrolle, auch wenn er in den Anfangs-Credits noch vor Fritz Tillmann erwähnt wird. An mancher Stelle merkt man ein bisschen die Bemühung der Macher, durch zusätzliche Dialoge und Musical-Nummern Erhardt mehr screening time zu geben, als seine Figur dramaturgisch eigentlich hergibt. Wer den Film also nur wegen Erhardt schaut, dürfte letztendlich trotzdem enttäuscht sein.

Ein merkwürdiger Party-Gast

Auch heutzutage wird MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER als reines Heinz Erhardt-Vehikel vermarktet. Das Intergroove-Sublabel „Dynasty Film“ bringt seit kurzem sukzessiv eine „Heinz Erhardt Filmklassiker“-Reihe heraus, in der nun im November 2013 auch MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER erschienen ist. Die DVD ist minimalistisch gehalten , die Bild- und Ton-Qualität des Films lassen jedoch kaum was zu wünschen übrig.

Montag, 21. Oktober 2013

Die Leinwand beißt nicht... oder vielleicht doch?



Jedes Mal, wenn ich ins Kino gehe, fühle ich mich ein bisschen wie ein Freak. Im Kinosaal scheinen mich ganze Welten von meinen Co-Zuschauern zu trennen – oft aber mindestens drei Sitzreihen! Was damit zusammenhängt, dass ich gerne in der ersten oder zweiten Reihe Platz nehme. Wie kommt es?
Mut zur Leinwand-Nähe hat mir ein guter Freund inspiriert, mit dem ich vor einigen Jahren regelmäßig ins Kino ging. Er faselte immer etwas von wegen „Kino-Cinemascope-Erlebnis genießen“... Dieser Freund wohnt nun leider nicht mehr in der selben Stadt. Mittlerweile  ist er auch von diesem Mut zur Leinwand-Nähe abgerückt, präferiert wieder hintere Sitzreihen und pflegt einen manchmal etwas bizarren „genau in der Mitte sitzen“-Fetischismus. Das ist schade, denn er hatte recht: der beste Platz im Kino ist ganz weit vorne! Und hiermit will ich gerne verkünden, warum das so ist.
Doch bevor ich meine zehn ultimativen Argumente dafür vorbringe, soll natürlich auch die Gegenseite eine Stimme bekommen. Hier also erst einmal drei Schattenseiten des Leinwand-nahen Kinogenusses.

1 Der Gobelin des Cinephilen
Jede Leinwand ist natürlich einzigartig: von der Größe, von der Projektionsqualität, von der Wölbung... und von der Textur! Denn manch eine Projektionsfläche sieht bei kurzer Sichtdistanz so aus, als hätte sie ein besonders fleißiger Textilarbeiter mit fingerdickem Garn gestrickt oder gehäkelt. Gerade bei hellen Flächen ist dann mehr von der groben Leinwandstruktur zu sehen als vom Film selbst. Das kann dann durchaus ein Grund sein, um eine oder zwei Reihen weiter nach hinten zu rücken. Denn selbstverständlich ist ein Kino keine Teppichhandwerks-Ausstellung.

2 Der Angriff der Killer-Pixel
Im Zeitalter des digitalen Kinos ist die scharfe Auflösung des 35-Milimeter-Films durch kantige, mehr oder weniger große Pixel ersetzt worden. Qualitätsschwankungen sind dabei in den ersten Reihen um so deutlicher zu sehen, manchmal im positiven, öfter allerdings im negativen Sinne. Denn die Attacken, die angriffslustige Killer-Pixel bei schlechten oder mittelmäßigen DCP-Projektionen ausführen, sind aus der Nähe umso tödlicher. Die Kombination aus grobstrukturierter Leinwand und schlechter Digital-Projektion ist selbstredend eine kleine Kino-Apokalypse.

3 Go puke, dogma-style, oder: Die Melancholia der motion sickness
Wackel-Wackel-Reißschwenk-Schnitt-Wackel-Wackel-Schnitt-Reißschwenk-Wackel-Wackel-Schnitt-Wackel-Wackel-Schnitt-Wackel-Reißschwenk-Wackel-Schnitt und so weiter... Manch ein Film ist in einer vorderen Sitzreihe nicht nur anstrengend, sondern kann auch leicht übelkeiterregend wirken. Und in der zweiten Reihe zu sitzen, um sich in die erste Reihe zu übergeben, gehört sich natürlich nicht!

Wie geht man mit diesen Problemen also um? Was Punkt 1 betrifft, so kennt der fleißige Kinogänger irgendwann einmal jene Kino-Säle, die dieses Problem haben und kann dann entsprechend abwägen. Zum dritten Punkt lässt sich nur sagen, dass man ja beim nächsten Lars Von Trier-Film besser aufpassen kann, welcher Sitzplatz ausgewählt wird. Und Punkt 2: na ja... was lässt sich hier (noch) groß machen? Außer zu hoffen, dass es eine gute „Kopie“ sein wird (oder besser: eine richtige Kopie)?

Doch nunmehr in großen Schritten zum Herzstück meines Plädoyers!


10 Gründe,

warum man im Kino in größter Nähe zur Leinwand sitzen sollte:


1 Vom domestizierten Bildschirm zur entfesselten Leinwand... und wieder zurück?
Könnt ihr euch noch erinnern: damals, als die Eltern einen anwiesen, im Wohnzimmer nicht zu nahe am Fernseh-Bildschirm zu sitzen (irgendwas von wegen fünf Mal Diagonale), sonst bestünde die Gefahr, dass die Augen eckig werden? Und wie das einen geärgert hat, weil man „nah“ am Geschehen sein wollte? Im postpubertären Zeitalter scheint sich diese Elternweisheit bei manch einem Zuschauer nicht nur beim TV-Schauen durchgesetzt zu haben, sondern auch im Kino. Doch Kino ist nicht Fernsehen. Das Fernsehen ist üblicherweise ein Medium in einem privaten und (fast) vollkommen kontrollierbaren Raum (Licht, Temperatur etc.), über den der Zuschauer absolute Kontrolle ausüben kann (zappen, leiser, lauter, heller, dunkler, Ton aus, abschalten). Das Kino hingegen ist ein öffentlicher Raum, der sich dem individuellen Zuschauer fast vollkommen jeglicher (zumindest unmittelbaren) Kontrolle entzieht. Klingt irgendwie „negativ“, aber das soll vor allem den Gegensatz zwischen dem domestizierten Bildschirm und der entfesselten Leinwand deutlich machen. Der TV-Zuschauer kontrolliert den Bildschirm, der Kino-Zuschauer wird von der Leinwand kontrolliert. Letzteres ist in einem cinephilen Sinne eine im Grunde sehr romantische Vorstellung. Warum sich also hinten setzen? Um durch Distanz die Leinwand zumindest ansatzweise besser kontrollieren zu können? Um sie implizit zu einem Bildschirm zu „machen“? Sehen eigentlich viele Zuschauer Kino als größere und eventreichere Form von Fernsehen?

2 In der Ersten sieht man besser
Filme leben bekanntermaßen von kleinen visuellen Details, die nicht immer penetrant in den Vordergrund gestellt werden, sondern manchmal nur in der Peripherie des Bildraumes zu sehen sind. Und Details haben es ja meistens an sich, dass man sie aus der Nähe erst sieht. Daher besteht die berechtigte Vermutung, dass sie ab einer bestimmten Sitzreihe verloren gehen müssen, weil man sie einfach nicht mehr erkennt. Der Film muss dann doch gezwungenermaßen viel von seinem Potential verlieren. Daher stellt sich die Frage, inwiefern Zuschauer, die hintere Sitzplätze bevorzugen, „nur“ eine Geschichte erzählt bekommen wollen? Das ist natürlich nur ein Aspekt des Komplexes „Nähe und Sehen“ (sieh gleich die Punkte 5, 6 und 10).

3 Der Geschmack von Press-Schenkeln
Es ist anzunehmen, dass der ehemalige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück beim Kinobesuch nicht nur in den vorderen, sondern am liebsten wohl in der allerersten Reihe sitzt: denn da gibt es üblicherweise die Sitze mit der größten Beinfreiheit! Denn nichts ist so anstrengend, ermüdend und nervend, als zwei bis drei Stunden lang mit angewinkelten Beinen in einer verkrampften Position sitzen zu müssen. Und hier haben die „sympathischen“ Programmkinos tatsächlich oft das Nachsehen gegenüber den „bösen“ Multiplex-Kinos. In letzteren kann man oft relativ unabhängig von der Sitzwahl die Beine ausstrecken. Selbstverständlich kann man das auch in Sitzen tun, die ganz am Rand einer Reihe sind, da allerdings nur asymmetrisch. Und natürlich ist die letzte Reihe in vielen Kinosälen noch ein Stückchen vom Rest der vorderen Sitze abgetrennt und ermöglicht eine Beinfreiheit wie in der ersten Reihe, aber hier verweise ich gerne auf die Punkte 1 und 2 sowie 4 bis 10.
Für mich ist Beinfreiheit nicht nur ein Komfort, sondern auch aus sehr persönlichen Gründen wichtig: eine alte Verletzung am rechten Knie aus den unseligen Zeiten des schulischen Sportunterrichts macht sich noch heute unangenehm bemerkbar, wenn ich längere Zeit mit stark angewinkelten Beinen sitze. Das Unbehagen geht erst weg, wenn ich das rechte Bein ganz ausstrecken kann.

4 Der König lümmelt – lang lümmele der König!
Auch wenn Kinos vielleicht Ähnlichkeit mit Kirchen haben können, so sind sie eines garantiert nicht: nämlich preußische Militärakademien. Man muss im Kino nicht wie ein „I“ sitzen! Außer natürlich, wenn man in einem Projektionssaal mit relativ ebenem Boden weit hinten sitzt. Ansonsten ist es sehr empfehlenswert, sich in den Sessel rein zu schmiegen. Sich fallen zu lassen in den Sitz. Das Gesäß ruhig ein bisschen in Richtung Sitzrand zu positionieren. Kurz: eine vielleicht nicht sehr elegante, dafür aber sehr bequeme Lümmelstellung einzunehmen. Das ist nicht nur wesentlich gemütlicher, als wie ein „I“ zu sitzen, sondern fördert auch den Blick nach oben auf die Leinwand (im Gegensatz zum TV- oder Computerbildschirm, der in der Regel den Blick auf „Augenhöhe“ oder nach unten fördert). Zudem ist sie auch die ideale Position für die vorderen Sitzreihen, während die Zuschauer in den hinteren Sitzreihen tatsächlich mit „I“-Sitzpositionen oder gar gebeugten Stellungen vorlieb nehmen müssen. Ist ja logisch! Wer in vorderen Sitzreihen in „I“-Stellung sitzt, wird wohl nur das untere Viertel der Leinwand richtig sehen und wer ganz hinten sitzt und lümmelt, wird die Möglichkeit bekommen, ausführlich die Decke des Saals zu studieren.
Die Lümmelstellung setzt natürlich gewisse Minimalforderungen an die Sitzkonstruktionen: bei Holzklappsitzen und Sesseln mit „Sparsitzflächen“ geht das natürlich nicht.

5 Der Unterblick für die Untertitel, oder: Der Filmvorführer ist kein Ophtalmologe
In Deutschland dürfte dürfte dies wohl eines der schwächsten Argumente meiner Liste sein, da die überwiegende Mehrheit der Filme hierzulande eh synchronisiert projiziert werden. Im Zeitalter des digitalen Kinos (das übrigens erfreulicherweise eine Öffnung zu mehr OV- und OmU-Vorführungen bewirkt hat) gibt es auch weniger Probleme mit „verwaschenen“ Untertiteln.
Allerdings muss ab einer gewissen Sitz-Distanz zur Leinwand die Sichtung einer OmU-Vorführung in der Tat einem Besuch beim Augenarzt ähneln. Eines der gängigsten „Argumente“ von OmU-Gegnern lautet bekanntlich, dass das Lesen oder besser gesagt das Erfassen von Untertiteln zu anstrengend sei und man sich daher nicht auf die Bilder konzentrieren könne. Im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung wird dieses „Argument“ tatsächlich zum Argument, wenn der Zuschauer ganz hinten sitzt. Allerdings dürfte die Platzwahl der entsprechenden Person auch vermuten lassen, dass ihr Verhältnis zum Bild auch nicht ganz so intim ist, wie sie es gerne von sich behauptet (oder: siehe Punkte 1, 2, und 10).

6 Hübsche Frisur! Wie viel hat die gekostet?
Ich habe an und für sich nichts gegen kunstvoll aufgetürmte Frisuren. Dennoch können sie unter Umständen für andere Menschen etwas störend sein, etwa, wenn sie sich im Kino zwischen Augen und Leinwand befinden (hier besonders, wenn der Träger der Frisur eine Sitzhaltung einnimmt, die die Ausbilder in preußischen Militärakademien verzücken würden). Man kann natürlich in solchen Fällen verbal zur Lümmelstellung ermuntern, oder zur Schere greifen, wobei ich letzteres natürlich streng verurteile! Viel einfacher ist es allerdings, sich so weit vorne zu setzen, dass schon rein statistisch Träger kunstvoller Frisuren nicht in einer vorderen Sitzreihe Platz nehmen können (etwa, wenn man sich für die vorderste Reihe entscheidet).
Aber pragmatisch-schnöde Erwägungen beiseite! Wer weit vorne Platz nimmt, reduziert  massiv die Anzahl der Co-Zuschauer, die im Blickfeld hin zur Leinwand sitzen – und damit auch potentielle Ablenkungen vom Wesentlichen (dem Film). Wer ganz vorne sitzt, kann manchmal sogar der Illusion erliegen, einer Privatvorstellung beizuwohnen. Ein herrliches Gefühl!

7 Das Parkett ist die Loge des Cinephilen
À propos gekostet: in Multiplex-Kinos bzw. überhaupt in Kinos mit Sitzplatz-Nummerierung zahlt man in den ersten Reihen meist weniger. Mich soll es freuen, aber ich frage mich immer wieder, warum Leute mehr Geld bezahlen, um letztendlich ein Kino-Erlebnis zu bekommen, das sich ein bisschen wie Fernsehen anfühlt... Zumal man, wenn man schon Überlängenzuschlag, Extra-Überlängenzuschlag, Wochenendzuschlag, 3D-Zuschlag und 3D-Brillen-Gebühr bezahlt hat, auf den Logenzuschlag eigentlich auch verzichten könnte.
Die armen Kassierer im Cinestar werden weiterhin zur Sicherheit noch mal nachfragen (manchmal zwei Mal), wenn ich die zweite oder erste Sitzreihe verlange. Und dann völlig verwundert gucken, wenn ich das bestätige...
Paraphrasiertes Dialogbeispiel aus dem wahren Leben:
David: Ein mal THE WORLD‘S END, bitte. Und in welchem Kino wird der gezeigt?
Kassierer: Der läuft in Kino 4.
D [nach einem kurzen Blick auf das Sitzplatzschema]: Dann würde ich gerne in Reihe I sitzen [= zweite Reihe].
K [mit großer Selbstsicherheit vorgetragen]: Also ich bin mir ziemlich sicher, dass du eigentlich in Reihe B möchtest [= zweitletzte Reihe].
D: Nein, ich möchte in Reihe I, in die zweite Reihe!
K: Dann sitzt du aber ganz schön nahe an der Leinwand. Bist du dir sicher?
D: Ja, wirklich!
K: [druckt die Karte aus]
D: Warum wundert sich eigentlich immer jeder hier, wenn ich in einer vorderen Reihe sitzen möchte?
K: Na ja, weil das so selten nachgefragt wird. Die meisten Leute wollen hinten sitzen.
Unverständlich! Ein Zuschlag für schlechte Sitze mit weniger Film, und die meisten Zuschauer zahlen das mit Vergnügen?

8 Sofas für mehr Film
Wie gesagt: die Staffelung der Eintrittspreise nach Sitzen betrifft vor allem Multiplex-Kinos. Das vielleicht tollste Kino in Mitteldeutschland, das Lichthaus in Weimar, bietet hingegen nicht nur freie Platzwahl zu einem einheitlichen Preis an, sondern trotzdem auch individuell gestaffelte Sitzqualitäten.
Erklärung: Die ersten beiden Sitzreihen in Saal 1 und 3 bilden bequem-gemütliche Sofas und Sessel, die offensichtlich vom Sperrmüll gesammelt wurden, und das höchst nutzbringend. Klassisch-schnöde Kinoplätze (einheitliche, gepolsterte Klappsitze) gibt es ab der dritten Reihe. Diese beiden Kino-Säle verbinden also die Nähe zur Leinwand nicht nur mit einem größtenteils stark erhöhtem Komfort, sondern auch mit Sitz-Individualität: Der Lümmelkönig kann auf seinem eigenen Thron lümmeln!

9 Die Avantgarde der Cinephilie bilden?
Fakt ist: meistens sitzt kaum jemand in der ersten oder zweiten Sitzreihe. Oft befindet sich die Mehrheit der Zuschauer jenseits der fünften und sechsten Reihe. Erst wenn der Saal wirklich gerappelt voll ist, beginnen einige (offenbar notgedrungen) auch die vorderen Plätze zu belegen.
Ehrlich gesagt stand ich dem „sozialen“ Aspekt des Kinos ja schon immer sehr distanziert gegenüber. Ich gehe ins Kino, um Filme zu sehen, nicht andere Menschen. Allerhöchstens gehe ich ins Kino mit mir bekannten Menschen, mit Freunden... um mit ihnen einen Film zu schauen. In den vorderen Sitzreihen zu sitzen kommt also nicht zuletzt meinem vielleicht etwas überdurchschnittlich großen Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Distanz (besonders zu unbekannten Menschen) zu Gute.
Oder zur pragmatischen Seite der selben Medaille: die Wahrscheinlichkeit, von lästigen Unbekannten gestört zu werden, die leider im Sitz gleich daneben oder dahinter Platz genommen haben, ist tendenziell geringer, wenn man sehr weit vorne sitzt. Die gängigen Dinge, die man immer wieder liest, wenn es um unangenehme Erscheinungen im Kino geht: Sitznachbar bzw. -hintermann spricht, isst, furzt und rülpst zu laut, schaut ständig auf sein Handy, riecht so unangenehm wie seine Chips mit Käseschleim, schmeißt zu viel Popcorn um sich, tritt zu fest in den Vordersitz, stolpert auf dem Weg zum Klo ständig über einen etc. Alles Sachen, die bei einer kürzeren Distanz zur Leinwand und einer größeren Entfernung zur Publikumsmehrheit in der Loge nicht komplett verschwinden, aber doch etwas gedämpfter wahrgenommen werden.

10 Die Leinwand beißt nicht... oder vielleicht doch?
Aller potentiellen Panikmache zum Trotz: Die statistisch erfassten Verletzungs- und Todesfälle von Kinobesuchern durch Leinwand-Bisse sind zu vernachlässigen.
Aber andererseits: vielleicht sind Leinwandbisse auch nicht messbar, weil unsichtbar? Ein Blogger hat einmal in einem Kommentar (zu lesen: hier) geschrieben, dass er einen Film „atmen“ und „schmecken“ und von ihm „gefickt werden“ möchte. Und in der Tat: Filme (ob „gut“, oder „schlecht“) können uns manchmal penetrieren, uns in alle Poren drängen. Doch das muss man eben auch zulassen können, und wollen. Eine solche Intimität zu einem Film aufzubauen ist aber nunmal in einer der vordersten Reihen sehr viel einfacher, als in der hintersten Reihe.


Das waren also meine 10 Gründe. Allesamt so schwer zu widerlegen wie auch höchst persönlich (oder gerade deswegen). Denn natürlich ist die Auswahl des Sitzplatzes im Kino etwas sehr individuelles. Jeder Zuschauer darf und kann und sollte das so handhaben, wie er möchte. Wie Jean Renoir sagen würde: jeder hat seine Gründe... Sogar dieser Zuschauer mit seiner höchst skurrilen Methode der Sitzplatzwahl:


P.S.: Wer einen Horrorfilm kennt, in dem eine Killer-Leinwand ihr Unwesen treibt und nichts ahnende Kinobesucher zu Tode beißt, möge bitte den Titel bekanntgeben!