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Samstag, 14. März 2015

In eigener Sache: Alles nur geklaut ...

Im August 2013 habe ich hier über den schönen neuseeländischen Film UTU berichtet. Vor ungefähr einem Monat erschien UTU nun unter dem Titel DIE LETZTE SCHLACHT DER MAORIS in Deutschland auf einer DVD der Edel Germany GmbH. Als Inhaltsangabe ist Folgendes auf der Rückseite des Covers abgedruckt:
Neuseeland 1870: In der britischen Kolonie gibt es bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Kolonialtruppen und europäischen Siedlern (von den Maori Pakeha genannt) einerseits und den Maori andererseits. Aber nicht wenige Maori dienen auch als Soldaten und Scouts in der britischen Armee, darunter Te Wheke. Am Anfang wird ein Maori-Dorf ohne Anlass von einer Einheit der Armee überfallen und alle Einwohner - Alte, Frauen, Kinder - niedergemetzelt. Kurz darauf erscheint ein weiterer Trupp, der nichts davon weiß, und Te Wheke erkundet mit zwei anderen Soldaten die Lage. Entsetzt betrachtet er das Resultat des Gemetzels, dem auch sein Onkel zum Opfer gefallen ist, und er wechselt auf der Stelle die Fronten...
Diese Sätze kamen mir gleich irgendwie bekannt vor - kein Wunder, ich hatte sie ja selbst geschrieben. Das ist exakt der Anfang meines Artikels. Ich hatte aber weder der Edel Germany GmbH noch sonst jemandem Verwertungsrechte dafür eingeräumt. Die Edel Germany GmbH ist eine 100-prozentige Tochter der Edel AG, die nach Angaben auf ihrer Website über 800 Mitarbeiter beschäftigt. Es handelt sich also nicht um unbedarfte Amateure, die keine Ahnung vom Urheberrecht haben. Der fragliche Textteil von mir tauchte auch in Produktbeschreibungen der DVD auf Amazon, Ebay und in diversen anderen Online-Shops auf, wo man die DVD bestellen kann.

Irritiert bat ich Edel über ein Kontaktformular auf ihrer Website um eine Erklärung, erhielt jedoch keine Antwort. Das wurde mir nach einigen Tagen zu bunt, und ich beauftragte einen im Urheberrecht bewanderten Anwalt. Nach einer kostenlosen ersten Beratung verfasste der Anwalt eine Abmahnung gegen Edel. Diese enthielt die Forderung, Schadensersatz zu zahlen und eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abzugeben. Außerdem sollte die Gegenseite, wie in solchen Fällen üblich, das Honorar meines Anwalts übernehmen. Die Abmahnung enthielt auch ein Angebot zu einer gütlichen Einigung: Gegen Zahlung von 600 Euro an mich (sowie der Anwaltskosten) sollte der Schaden abgegolten und die weitere Nutzung meines Textes erlaubt sein. Zur Erfüllung der Forderungen wurde eine Frist von einer knappen Woche gesetzt. Edel hat das Einigungsangebot im Prinzip angenommen, aber noch ein bisschen gefeilscht (was in solchen Fällen wohl nicht unüblich ist) und den Betrag auf 450 Euro heruntergehandelt. Auch der Gegenstandswert wurde von 10.000 auf 7500 Euro reduziert, wodurch das Honorar meines Anwalts (das sich laut einschlägigem Gesetz (RVG) am Gegenstandswert orientiert) etwas geringer ausfiel. Diese Verhandlung wurde telefonisch zwischen den beiden Anwälten geführt. Ich nahm daran nicht teil, sondern gab nur nachträglich meine Zustimmung zum Ergebnis. Ich hatte aber auch schon im Vorfeld meinem Anwalt signalisiert, dass es mir nicht unbedingt darum geht, eine maximale Summe herauszuholen, und dass ich mit einem Betrag im mittleren dreistelligen Bereich durchaus zufrieden bin. Die Edel Germany GmbH zahlt nun also 450 Euro an mich und ca. 730 Euro an meinen Anwalt (und wenn der Anwalt von Edel nicht einer ihrer Hausjuristen ist, sondern, wonach es aussieht, eine externe Kanzlei beauftragt wurde, dürften der Firma dadurch noch weitere Kosten entstehen). Damit ist die Angelegenheit zu meiner Zufriedenheit erledigt.

Es wäre übrigens auch möglich gewesen, nicht nur gegen den Hersteller der DVD vorzugehen, sondern auch Amazon, Ebay-Verkäufer und alle anderen Shops, in denen mein Text auftaucht, abzumahnen und auf Unterlassung zu verpflichten. Davon habe ich Abstand genommen, weil die alle den Text ja in dem guten Glauben übernommen haben, dass sie es dürfen. Aber merke: Man kann auch unwissentlich eine Urheberrechtsverletzung begehen und dafür abgemahnt und zur Kasse gebeten werden. - Ein Aspekt hat bei der juristischen Betrachtung keine Rolle gespielt, ich möchte ihn aber nicht unerwähnt lassen. Auf dem Cover der DVD steht auch noch Folgendes:
"GROSSES KINO ÜBER UNSERE UREINWOHNER" NZ NEWS
"EIN GENIALER MAORI-WESTERN, TARANTINO HÄTTE SPASS DARAN" WHOKNOWSPRESENT.DE
Ich weiß nicht, ob es die NZ News wirklich gibt, und ob darin etwas über UTU geschrieben steht. Das zweite Zitat ist jedenfalls nicht authentisch. Zwar ist die URL falsch (hier hat copy&paste plötzlich nicht mehr funktioniert), es ist aber offensichtlich, dass wir damit gemeint sind. Der fragliche Satz steht aber überhaupt nicht in meinem Artikel, und auch sonst nirgends auf Whoknows Presents. Und ich hätte diesen Blödsinn auch nie geschrieben, denn wenn man ausgerechnet Tarantino als Referenz heranzieht, dann suggeriert man damit ja, dass UTU so etwas wie eine vergessene Trash-Perle ist - und das ist er bestimmt nicht. Hier wird mir also ein frei erfundenes Zitat mehr oder weniger in den Mund gelegt, auch wenn mein Name nicht genannt wird.

Zum Schluss noch ein paar Gedanken zur Höhe des Betrags von 450 Euro. Das ist viel und wenig zugleich, je nach Blickwinkel. Wenn man bedenkt, wieviel (oder eher wie wenig) viele Autoren und Journalisten nicht für fünf oder sechs Sätze, sondern für ganze Artikel bekommen (siehe beispielsweise hier), dann ist 450 Euro für einen Absatz mit gerade mal etwas über 100 Wörtern fast schon absurd hoch. Doch andererseits: Erstens hätte der Schuss für mich theoretisch auch nach hinten losgehen können. Edel war ja nicht verpflichtet, die Abmahnung zu akzeptieren. Wenn sie sich verweigert hätten, hätten wir vor Gericht ziehen und eine einstweilige Verfügung beantragen müssen. Und wenn wir vor Gericht gescheitert wären, wäre ich natürlich auf den Kosten sitzengeblieben, die zudem noch deutlich höher ausgefallen wären als bei einer bloßen Abmahnung (nämlich irgendwo im vierstelligen Bereich). Zwar war offensichtlich, dass der fragliche Text von mir stammt, aber es war nicht 100-prozentig sicher, ob er lang genug ist, um urheberrechtlich geschützt zu sein. Mein Anwalt war sich hier zwar ziemlich sicher, aber eben nicht absolut sicher, auch wenn es schon einschlägige Urteile in unserem Sinn gab. Als Ausgleich für dieses Kostenrisiko, das bei einem normalen Autorenhonorar natürlich nicht besteht, scheint mir 450 Euro durchaus angemessen zu sein. Und zweitens ist der Betrag ja das Ergebnis einer Einigung mit Edel. Ohne Einigung hätte sich unsere Schadensersatzforderung nach der Zahl der verkauften DVDs bemessen. Hier besteht ein Auskunftsanspruch, Edel hätte uns die Zahlen also übermitteln müssen (das hat sich durch die Einigung aber erübrigt, so dass ich nichts über die Verkaufszahlen weiß). Außerdem hätten wir dann Unterlassung verlangt, Edel hätte das Cover also durch ein anderes ersetzen müssen. Das alles wäre sicher deutlich teurer gewesen, Edel hat sich durch die Einigung also wahrscheinlich viel Geld gespart, ohne dass ich das jetzt beziffern könnte.

Trotzdem wurde es für Edel nicht ganz preiswert. Nun, die Firma wird dadurch nicht gleich in den Ruin getrieben. Billiger wäre es allerdings gewesen, wenn Edel auf meine erste Kontaktaufnahme reagiert und mir ein Angebot unterbreitet hätte. Dann hätte ich mich auch mit einem geringeren Betrag zufrieden gegeben, vor allem aber wären keine Anwaltskosten entstanden. Noch billiger wäre es geworden, wenn mich Edel von vornherein um Erlaubnis gefragt hätte - dann hätten sie diese paar Zeilen wohl für einen zweistelligen Betrag bekommen. Am allerbilligsten wäre es freilich gewesen, wenn sich ein Mitarbeiter von Edel selbst irgendeinen Text aus den Fingern gesaugt hätte - doch dazu hat es offenbar aus irgendwelchen Gründen nicht gereicht. So bin ich also nun um 450 Euro und eine interessante Erfahrung reicher. Und die Moral von der Geschicht: Fürcht' den Gang zum Anwalt nicht!     :-Þ

Falls jemand einen Kommentar dazu abgeben will, bitte ich sehr darum, sachlich zu bleiben!

Montag, 3. November 2014

Der deutsche Expressionismus geht nach Hollywood

THE CAT AND THE CANARY („Spuk im Schloss“)
USA 1927
Regie: Paul Leni
Darsteller: Laura La Plante (Annabelle West), Creighton Hale (Paul Jones), Flora Finch (Tante Susan), Tully Marshall (der Anwalt Roger Crosby), Martha Mattox (Mammy Pleasant, die gruselige Haushälterin), Forrest Stanley (Charles Wilder)

Cyrus West ist alt, reich und exzentrisch – und vielleicht etwas verrückt? Jedenfalls hinterlegt er ein Testament, das erst 20 Jahre nach seinem Tod geöffnet werden soll. Als diese Zeit verstrichen ist, versammeln sich die potentiellen Erben im großen Landhaus des Verstorbenen: die Neffen Harry Blythe, Charles Wilder und Paul Jones, die Schwester Susan Sillsby mit ihrer Tochter Cecily Young, und die Nichte Annabelle West. Dort werden sie von Cyrus Wests Anwalt Roger Crosby und der gruseligen Haushälterin Mammy Pleasant empfangen. Das Testament wird verlesen, und als alleiniger Erbe des West‘schen Vermögens wird der entfernteste Verwandte mit dem Namen „West“ bestimmt – also die junge Annabelle. Diese Bestimmung gilt nur unter der Bedingung, dass die geistige Gesundheit des Erbes festgestellt werden kann. Falls der Erbe verrückt sei, falle das Vermögen an eine genannte Person in einem zweiten Testament. Klingt einfach und schlüssig? Ist es auch... bis plötzlich der Anwalt mit dem zweiten Testament auf mysteriöse Weise verschwindet... und der Wachmann einer nahegelegenen Psychiatrie von einem entflohenen Patienten berichtet, der sich für eine Katze hält und gerne Mitmenschen wie Mäuse zerfleischt... das beunruhigt alle Anwesenden, aber besonders die sensible Annabelle wird nervlich stark belastet. Daraufhin hoffen Teile ihrer Verwandtschaft glühend darauf, dass sie ob der Ereignisse verrückt werden möge.

Paul Lenis THE CAT AND THE CANARY ist die erste Filmadaption eines Theaterstücks aus dem Jahre 1922. Der Autor John Willard wollte ursprünglich auf keinen Fall die Rechte an seinem Werk einem Hollywoodstudio verleihen, da er befürchtete, dass Filmzuschauer, die das Ende kannten, keine Lust mehr auf das Theaterstück hätten. Willard gab schließlich dem Drängen des Universal-Chefs Carl Laemmle nach. Nach Lenis Verfilmung folgten noch die erste Tonfilmadaption THE CAT CREEPS (1930), dessen spanischsprachige Version LA VOLUNTAD DEL MUERTO im gleichen Jahr, das enorm erfolgreiche THE CAT AND THE CANARY von 1939 mit Bob Hope und Paulette Goddard, der schwedische Fernsehfilm KATTEN OCH KANARIEFÅGELN von 1961, und schließlich 1978 eine britische, gleichnamige Adaption mit unter anderem Honor Blackman und Edward Fox.

Stilbildend wirkte Lenis THE CAT AND THE CANARY als Vorläufer des „haunted house“-Horrorfilms: einige meist untereinander unbekannte Leute finden sich für eine Nacht in einer (vielleicht?) spukenden Villa aus meist pekuniären Gründen ein, und nach und nach verschwinden einige von ihnen. Ein Szenario, das vielleicht in HOUSE ON HAUNTED HILL von 1959 seinen besten Ausdruck fand (zumindest musste ich bei der Sichtung immer wieder an Castles Film denken). THE CAT AND THE CANARY war auch ein früher Vertreter jener Horrorfilme, für die das Universal-Studio im Laufe der nächsten Jahrzehnte geradezu ikonisch stehen würde (als erste Universal-Horrorfilme gelten DR. JEKYLL AND MR. HYDE sowie der verschollene THE WEREWOLF von jeweils 1913).

Lenis Film ist aber auch dafür bekannt, dass er der Tendenz folgte, humorvolle und komödiantische Elemente in das Horrorgenre einzubringen. Mehr als der schwarze Humor, den man bei einem solchen Stoff eigentlich erwarten würde, entsteht die Komik vor allen Dingen durch die Figur des Paul Jones: außer der Alleinerbin Annabelle ist er der einzige aus der West-Verwandtschaft, der nicht vollkommen geldfixiert ist. Der junge, etwas pummelige Mann ist vielmehr in Annabelle verliebt (dass sie wohl seine Cousine ersten Grades ist, steht auf einem anderen Blatt), und gebärt sich als äußerst nervöser und ängstlicher Mensch. Es dann vor allem die sehr exaltierte Darstellung Creighton Hales in Kombination mit teils überstrapazierten Zwischentiteln, die für Komik sorgen soll. Inwiefern dies gelungen ist, sei dahingestellt. Ich persönlich fand einige der Witze ganz lustig, viele andere eher bemüht und deplatziert..

Der Reiz von THE CAT AND THE CANARY liegt freilich auch im visuellen Bereich. Besonders beeindruckend ist Gilbert Warrentons Fotografie mit der expressiven chiaroscuro-Lichtsetzung, die meisterhaft ein „state of art“ der entfesselten Kamera präsentiert. Diese verwandelt sich in einigen Momenten regelrecht in eine Protagonistin: zu Beginn des Films irrt sie durch die langen Gänge des gruseligen Landhauses und „blickt“ nervös suchend, geradezu manisch durch die Umgebung. Das wird zwar damit erklärt, dass es sich um den Geist Wests handeln könnte, aber wir wissen, dass es in diesem Film keine richtigen Geister gibt. Daher würde ich dezidiert dafür plädieren, es als „point of view“ der Kamera zu sehen: die Kamera hat sich vom Stativ befreit, und befreit sich auch von der Verpflichtung, die Filmhandlung zu bebildern. Edgar Ulmer verwendet in einer Szene diese „autonome“ Kamera 1934 in THE BLACK CAT und bei Dario Argento wurde sie quasi zu einem Markenzeichen. Von Lenis THE CAT AND THE CANARY zum Giallo der 1970er ist es übrigens gar nicht so weit: zu Beginn legt eine unbekannte Person mit schwarzen Handschuhen einen Brief in den Cyrus Wests Safe. Ein sehr frühes Proto-Giallo-Motiv, gefilmt mit Handkamera. In Spannungs- und Terrormomenten fährt die Kamera mit hoher Geschwindigkeit frontal in Richtung der schreienden Gesichter: in einem mitteleuropäischen Genrefilm der 1960er oder 1970er Jahre wäre das wohl mittels eines Reisszooms gemacht worden. In einer weiteren denkwürdigen Szene nimmt die Kamera die Perspektive eines Portraits ein, der von der Wand herunterfällt – abgebildet ist Cyrus West. Wir sehen also die überraschte und erschrockene Erbgemeinschaft durch die Augen des Portrait-West (den „point-of-view“ eines scheinbar „beseelten“ Gemäldes nutzte später Max Ophüls auch außerhalb eines  Horrorkontexts in LA SIGNORA DI TUTTI).

Auch mit einigen recht gelungenen Spezialeffekten kann THE CAT AND THE CANARY aufwarten. Erwähnt sei hier die effektvoll eingesetzte Mehrfachbelichtung, als der alte und gebrechliche Cyrus West in einer Art Delirium durch ein Dekor überdimensionierter Medizinflaschen torkelt und dabei von riesigen Katzen gejagt wird (was der Geschichte den Titel verleiht: er fühlt sich von seinen geldgierigen Verwandten so bedrängt wie ein Kanarienvogel von einer Katze). Des weiteren spielt der Film auch an spannenden Stellen mit seinen Zwischentiteln: diese „zittern“ dann wie eine Spiegelung auf einer bewegten Wasseroberfläche (bzw. eben wie die angsterfüllten Protagonisten).

Überhaupt ist THE CAT AND THE CANARY ein extrem „filmischer“ Film. Davon, dass er eine Bühnenadaption ist, findet sich bis auf den einheitlichen Schauplatz keine Spur. Wie toll er inszeniert ist, konnte man in einigen wenigen Augenblicken auch noch 2014 in einer öffentlichen Kinovorführung merken. Ich saß also am Abend des 26. Oktobers dieses Jahres im Weimarer Lichthaus, und der rekordverdächtig gefüllte Saal erreichte bisweilen den Gelächterpegel, den man eher in einer Keaton-Vorführung erwarten würde: eine relativ große Fraktion des Publikums lachte immer wieder über das manierierte und expressive Spiel der Darsteller, und besonders laut bei Stellen, die gemeinhin als „goofs“ bezeichnet werden (Schauspieler laufen mit Kerzenleuchtern herum und schleifen leicht bemerkbar Elektrokabel am Boden hinter sich her). Als jedoch eine in der Wand versteckte Tür aufging und Roger Crosbys Leiche völlig unerwartet auftauchte und zu Boden fiel, lachte tatsächlich niemand – vielmehr ging sogar eine kollektive Schnappatmung durch den Saal. Dieser tolle filmische Schock war effizient und modern genug inszeniert, um auch jene heutigen Zuschauer zu schockieren, die mit einem recht beachtlichen Maß an Zynismus an alte Filme herangehen. Wie dieser Schock 1927 gewirkt haben muss? „Must have scared the shit out them“ würde man auf Englisch dann wohl sagen.

THE CAT AND THE CANARY gehört auch zur Geschichte des deutschen Expressionismus, der nach Hollywood geht: personell, ästhetisch – und intertextuell. Auf mindestens zwei große Klassiker des deutschen Expressionismus (also in Deutschland) spielt Lenis Film an. Zum einen taucht mitten im Chaos aus verschwundenen und ermordeten Personen scheinbar aus dem Nichts eine besonders skurrile Figur auf: es ist der Arzt, der gemäß Testament die geistige Gesundheit des designierten Erben bestätigen soll. Diese Figur, gespielt vom gebürtigen Texaner Lucien Littlefield, sieht fast genauso aus wie Werner Krauß‘ Titelfigur aus DAS CABINET DES DR. CALIGARI: eine Erscheinung, die mindestens so beunruhigend ist wie die gruselige Haushälterin – Annabelle ist bei der Untersuchung entsprechend nervös und verhält sich dann auch nicht so, dass man ihr 100%-ig geistige Gesundheit bescheinigen könnte. Einige Augenblicke vorher hatte sie sich schlafen gelegt. Doch ihre nächtliche Ruhe wurde gestört, als eine haarige Hand mit langen spitzen Fingern anfing, über ihr Gesicht zu huschen: eine schöne Hommage an die ikonische Szene in NOSFERATU, in der Graf Orloks Hand als Schatten über Ellens Körper huscht und ihr Herz (bzw. ihren Busen) ergreift. Die erotische Aufladung fehlt bei THE CAT AND THE CANARY: hier greift die Hand nach Annabelles wertvoller Halskette.

Diese Verbindung ist natürlich kein Zufall, denn mit Paul Leni folgte ein weiterer Vertreter des deutschen expressionistischen Film dem Ruf in die USA (Leni und NOSFERATU-Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau drehten jeweils etwa zeitgleich ihren Hollywood-Einstand, und SUNRISE: A SONG OF TWO HUMANS hatte seine US-Premiere exakt zwei Wochen nach THE CAT AND THE CANARY). Leni, 1885 in Stuttgart geboren, war von Haus aus Maler, und kam wie viele Stummfilmkünstler vom Theater her, wo er Bühnenbilder konzipierte, zum Kino. Hier machte er sich besonders als Setdesigner einen Namen, und arbeitete mit Regisseuren wie Joe May, Ernst Lubitsch, Max Mack, Ewald André Dupont, Alexander Korda und Michael Kertész (später Michael Curtiz) zusammen. Seinen ersten Film als Regisseur drehte Leni schon 1916, doch zu besonderer Aufmerksamkeit gelangte 1923 DAS WACHSFIGURENKABINETT. Dieser Film hat nicht nur Sergei Eisenstein bei der Darstellung Ivans des Schrecklichen im Zustand des Wahnsinns inspiriert, sondern ist wohl auch der Grund dafür, dass Universal-Chef Carl Laemmle den gebürtigen Stuttgarter nach Hollywood einlud.

THE CAT AND THE CANARY lief in den USA sehr erfolgreich, und lockte auch in Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien die Zuschauer massenhaft ins Kino. Während in der neuen Welt der Film auch von den Filmkritikern wohlwollend bis begeistert aufgenommen wurde, waren die Besprechungen in der deutschen Fachpresse eher ambivalent. Willy Haas, seines Zeichens nicht nur Filmkritiker beim „Film-Kurier“, sondern auch Drehbuchautor für Murnau (DER BRENNENDE ACKER) und Georg Wilhelm Pabst (u. a. für DIE FREUDLOSE GASSE), vergiftete ein großes Lob mit ätzendem Spott:

„Interessant, spannend, direkt kriminalpsychologisch fesselnd ist für mich an dieser Sache eigentlich nur eines: wieso das feinste, ästhetisch differenzierteste, gepflegteste, bis zum Snobismus raffinierteste Talent des deutschen Films, Paul Leni, ausgerechnet mit solchem Kriminalkitsch in Hollywood debütiert; warum er sich mit einer Versessenheit, einer leidenschaftlichen, gequälten, skrupulösen Hingabe, die man jeder Einstellung, jedem Ausschnitt, jeder der unendlich originell und skurril erdachten Dekorationen, jeder der zauberhaften Licht- und Schattenwirkungen, jedem Photographietrick, jedem Möbelstück, jeder Schauspielermaske ansieht – warum er sich mit dieser unersättlichen, gierigen, maßlosen Arbeitsfuries ausgerechnet in einen solchen Kriminalkitsch hineinkniet?“ 
Es ist wohl nicht völlig abwegig, in diesem Zitat eine gewisse (wohlweislich selektive) Schmähung von Genrefilmen herauszulesen, die gerade auch in Deutschland bis heute nachwirkt. Inwiefern auch ein dezidierter Antiamerikanismus in Willy Haas‘ Aussage mitschwingt, muss unklar bleiben (Haas verbrachte in der Nazi-Ära sein Exil in der Tschechoslowakei und dann in Indien, nicht in den USA – aber das muss nichts heissen, denn die meisten Emigranten haben ihre Aufenthaltsorte natürlich eher nach pragmatischen Möglichkeiten als nach Vorlieben ausgesucht).
Was man in Deutschland über seinen US-Einstand dachte, musste Leni aber nicht weiter kümmern, denn in den Staaten drehte er weiter Filme für Universal. THE CHINESE PARROT gilt heute als verschollen und war der zweite Film um den chinesischen Detektiven Charlie Chan – eine Reihe, die überaus erfolgreich sein würde. In THE MAN WHO LAUGHS, der Verfilmung eines Romans von Victor Hugo, demonstrierte Leni wieder sein Gespür für die Kombination aus Groteskem, Horrorelementen und expressionistischer Gestaltung. Die Geschichte um einen Mann mit einer Verstümmelung, die sein Gesicht zu einem permanenten Grinsen entstellt, kam weniger gut an als THE CAT AND THE CANARY: es wurde unter anderem das „zu deutsch“ aussehende Setting bemängelt. Der Film beeinflusste später aber so unterschiedliche Regisseure wie Sergio Corbucci und Brian De Palma, und die Ikonografie seiner von Conrad Veidt gespielten Titelfigur inspirierte wahrscheinlich maßgeblich die zwölf Jahre später geschaffene Figur des Jokers. Mit THE LAST WARNING sollte 1929 an den Erfolg von THE CAT AND THE CANARY angeknüpft werden: eine ähnliche Mystery-Handlung wurde vom Landhaus in ein Theater verlegt.

Paul Leni hatte sich in nicht einmal zwei Jahren als der Horrorspezialist von Universal schlechthin etabliert. Ende der 1920er Jahre kaufte das Studio die Rechte an der Verfilmung von Bram Stokers Roman „Dracula“ bei den Erben des Autoren (und vermied so vorsorglich Copyright-Probleme, die bei NOSFERATU nach dem Dreh entstanden waren). Offenbar war wohl geplant, dass Leni die Regie übernehmen würde, und der Deutsche Conrad Veidt, der schon die Titelfigur von THE MAN WHO LAUGHS gespielt hatte, sollte den titelgebenden Blutsauger spielen. Doch der Regisseur starb im September 1929 mit gerade einmal 44 Jahren unerwartet an einer Blutvergiftung, und das „Dracula“-Projekt wurde später in anderer personeller Besetzung realisiert (mit Karl Freund an der Kamera, also ebenfalls unter maßgeblicher mitteleuropäischer Beteiligung mit expressionistischem Hintergrund). Leni verstarb mitten in einer vielversprechenden Karriere viel zu früh: ein Schicksal, das ein wenig dem Friedrich Wilhelm Murnaus ähnelt.


Zur Überlieferung von THE CAT AND THE CANARY

Das Negativ von THE CAT AND THE CANARY (bzw. die zwei Negative: eins für die US-Kopien, eins für die ausländischen Kopien) wurde in den 1930er Jahren vom Universal-Studio vernichtet: ein Schicksal, das in dieser Zeit auch viele andere Universal-Stummfilme betraf. Archiviert wurden lediglich 16mm-Kopien.
In den 2000er Jahren wurde der Film zwei Mal restauriert. Einmal 2003 durch das Filmmuseum München anhand einer unvollständigen niederländischen 35mm-Nitrokopie, deren fehlenden Teile (und die Zwischentitel) aus einer vollständigen 16mm-Kopie im Blowup-Verfahren ergänzt wurden. Das bedeutet, dass die Momente, die der 16mm-Kopie entnommen sind, in verhältnismäßig schlechterer Qualität und leicht unscharf sind (was man z. B. auch aus der 2010er-Restauration von METROPOLIS kennt). 2004 restaurierte die britische Gesellschaft Photoplay Productions THE CAT AND THE CANARY auf Basis einer unvollständigen dänischen Nitrokopie, deren fehlende Teile ebenfalls mit einer 16mm-Kopie ergänzt wurden. Diese zwei Restaurationen beruhen auf Nitrokopien, die jeweils aus einem der beiden Negative gezogen wurden. Welche Kopie welchem Negativ zugeordnet werden kann, ist heute nicht mehr nachvollziehbar.
Die Photoplay-Restauration ist auf einer DVD von Kino in den USA veröffentlicht worden. THE CAT AND THE CANARY ist in den Vereinigten Staaten gemeinfrei, so dass hier teilweise auch ziemlich ramschige Editionen, teils aus fragmentarischen 8mm-Kopien gezogen, im Umlauf sind. Es gibt auch eine spanische DVD-Edition, die den Film einmal in einer viragierten, unrestaurierten Fassung und einmal in einer restaurierten Sepiafassung enthält – beide offenbar mit unterschiedlichen Laufzeiten –, aber um welche Restauration es sich bei der Sepiafassung handelt, kann ich nicht sagen (vermutlich um die Photoplay-Version). In Frankreich gibt es seit just einigen Tagen den Film ebenfalls auf DVD: ob restauriert oder nicht, ist schwer zu sagen, aber auf jeden Fall offenbar in einer falschen und viel zu langsamen Abspielgeschwindigkeit (wohl irgendetwas bei 18 oder sogar nur 16 Bildern pro Sekunde statt den originalen 24). Eine „edizione restaurata“ gibt es in Italien zu erwerben, aber auch hier ist unklar, in welcher Fassung (auch hier wahrscheinlich die Photoplay-Version).
Alles ziemlich verwirrend und unklar, nicht wahr? Stummfilme und ihre Überlieferung sind eben oft eine komplizierte Angelegenheit. Ich meinerseits habe am 26. Oktober im Weimarer Lichthaus-Kino eine 35mm-Kopie aus dem Münchner Filmmuseum in besagter Münchener Restaurierung gesehen. Dies verdankten die Zuschauer dem Einsatz (und den guten Beziehungen) des Weimarer Stummfilmpianisten Richard Siedhoff, denn das Filmmuseum München leiht seine Kopien eigentlich nicht an reguläre Kinos. Siedhoff, der den direkten Vergleich mit der Photoplay-Restaurierung hat, schätzt die Münchener Fassung von THE CAT AND THE CANARY als die bildqualitativ bessere Restaurierungsversion ein. Meiner Einschätzung nach schwankte die Bildqualität irgendwo zwischen „relativ gut“ und „mittelmäßig“ (abgesehen von „geht gerade so“-Momenten bei den deutlich sichtbaren 16mm-Inserts). Kurz: andere restaurierte Stummfilme sehen (nicht zuletzt auch dank besserer Überlieferung) wesentlich klarer aus. Die Münchener Fassung hat es wahrscheinlich nicht auf DVD geschafft, sondern allerhöchstens zu einer arte-Ausstrahlung im Januar 2006.
Diese Besprechung hat keine Screenshots, weil sie im wesentlichen auf meiner Sichtung im Kino beruht. Auf die Kürze war eine DVD nicht zu besorgen (zumal ich völlig unschlüssig bin, welche Edition ich nehmen sollte). Screenshots aus Fassungen bei youtube kamen aufgrund der miserablen Bildqualität der dort vorhandenen Versionen nicht in Frage.

Dienstag, 26. August 2014

Hans räumt die Trümmer weg: Kurzbesprechung ...UND ÜBER UNS DER HIMMEL

...UND ÜBER UNS DER HIMMEL
Deutschland 1947
Regie: Josef von Báky
Darsteller: Hans Albers (Hans Richter), Paul Edwin Roth (Werner Richter), Lotte Koch (Edith Schröder)


Hans kehrt nach dem Krieg in seine Heimat zurück und findet seine Wohnung stark beschädigt vor. Davon lässt er sich keineswegs unterkriegen und macht sich gleich an den Wiederaufbau. Er ist guter Dinge, denn einerseits wird ihm mitgeteilt, dass sein Sohn Werner bald ebenfalls zurückkehren wird, andererseits bandelt er mit der Kriegswitwe Edith an, die in der benachbarten Wohnung lebt. Lebensmittel bekommt Hans vom Schwarzmarkt, und rasch merkt er, dass er durch eigene Schiebergeschäfte wesentlich besser die Renovierung seiner Wohnung finanzieren kann. Sein Sohn Werner sieht das bei seiner Rückkehr gar nicht gerne – eigentlich „sieht“ er es zunächst nicht, denn er ist kurzzeitig aufgrund nervlicher Belastungen erblindet. Einerlei: rasch drängt Werner seinen Vater Hans dazu, die Schiebergeschäfte sein zu lassen und wieder seine Vorkriegsarbeit als Kranführer aufzunehmen...

...UND ÜBER UNS DER HIMMEL ist der erste deutsche Nachkriegsfilm, der unter Lizenz der US-amerikanischen Besatzungsmächte produziert wurde. Er gilt zugleich auch als der erste deutsche Starfilm nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Hans Albers, der schon in den 1910er Jahren seine Leinwandkarriere begonnen und sich besonders im Laufe der 1930er Jahre zum Star und Publikumsmagneten entwickelt hatte, feierte hier gewissermaßen seinen richtigen Nachkriegs-Comeback nach knapp über zwei Jahren Abwesenheit von der Leinwand – seinen letzter Auftritt hatte er in GROßE FREIHEIT NR. 7 (ein „Überläufer“: gedreht noch während des Kriegs, Premiere im September 1945). ...UND ÜBER UNS DER HIMMEL ist ganz und gar auf Albers zugeschnitten. Sein Charisma trägt den kompletten Film – dass jemand anders die Rolle des lebhaften, bodenständigen, charmanten und gewitzten Hans Richters spielen könnte, ist eigentlich undenkbar. Seine Darstellung wird gleichwohl ausgezeichnet von der dynamischen Inszenierung des ungarischen Regisseurs Josef von Báky unterstützt, der hier nach MÜNCHHAUSEN erneut mit dem Star zusammenarbeitete.

Das „Lexikon des Internationalen Films“ bezeichnet ...UND ÜBER UNS DER HIMMEL als „durch oberflächlichen Optimismus und schwülstige Wiederaufbau-Tendenz gekennzeichnet“. Dem negativen Ton dieser Einschätzung mag ich mich nicht anschließen – der Film und Albers machen einfach zu viel Spaß! –, aber sie enthält dennoch eine treffende Aussage. ...UND ÜBER UNS DER HIMMEL ist tatsächlich ein „optimistischer“ Film und er leistet alleine im Vorspannlied all das, wofür viele andere Trümmerfilme dieser Ära ihre ganze Laufzeit brauchen: den Übergang von der Larmoyanz zum puren Wiederaufbauoptimismus.

Es weht der Wind von Norden
Er weht uns hin und her
Was ist aus uns geworden
Ein Häufchen Sand am Meer
Der Sturm jagt das Sandkorn weiter
Dem unser Leben gleicht
Er fegt uns von der Leiter
Wir sind wie Staub, so leicht
Was soll denn werden, es muss doch weitergehen
Noch bleibt ja Hoffnung, für uns genug bestehen
Wir fangen alle von vorne an
Weil dieses Dasein auch schön sein kann
Der Wind weht von allen Seiten
Na lass den Wind doch wehen
Denn über uns der Himmel lässt uns nicht untergehen
Lässt und nicht untergehen

Von einer selbstmitleidsgetränkten Selbstbeschreibung als völlig hilflose Opfer unkontrollierbarer Kräfte („Er weht uns hin und her“) bis zum strahlend-naiven Appell an den Wiederaufbau („Wir fangen alle von vorne an“) in zwei Minuten! Eric Rentschler bezeichnete das Wegräumen der Trümmer und den bestimmten Gang in eine bessere Zukunft als „manifest destiny“ des Trümmerfilms. ...UND ÜBER UNS DER HIMMEL ist ein besonders schöner Beweis für diese These: so schwungvoll und lustig werden Trümmer in kaum einem anderen Film der Ära weggeräumt. In der Vergangenheit rumzustochern würde den Spaß am Wiederaufbau jedoch zu sehr verderben: sich etwa daran zu erinnern, dass die Trümmer die Folgen eines genozidalen Kriegs waren, der von Deutschland entfesselt wurde und schließlich teils nach Deutschland zurück... „wehte“. Ein junger Mann, der in der Nachbarschaft Hans‘ lebt, grübelt immer wieder über seine Vergangenheit als Soldat, bereut, dass er nur „Richtung halten, Stellung halten, Schnauze halten“ gelernt hat und nun im zivilen (Postnazi-?) Leben nichts kann. Dieses Grübeln bekommt ihm gar nicht gut, denn am Ende des Films erhängt er sich in einer Polizeizelle, in die er nach einer Schwarzmarktrazzia gekommen ist (das ganze passiert offscreen). Hans hingegen macht es richtig: wenn er sich schon an die Vergangenheit erinnert, dann nur an die schöne Zeit des privaten Glücks mit Ehefrau und Kleinsohn vor dem Krieg (vor der Nazizeit?).

„No past to hide, no guilt to process, no ghosts to slay“, so Robert R. Shandley in seinem Buch Rubble Films: German Cinema In The Shadow Of The Third Reich über die Grundkonstellation von ...UND ÜBER UNS DER HIMMEL. Die einzige Schuld, die tatsächlich bewältigt werden muss, ist Hans‘ Beteiligung am Schwarzmarkt. Da wir hier von Hans Albers sprechen (es scheint kein Zufall zu sein, dass seine Persona dank des gemeinsamen Vornamens geradezu mit der Figur zusammenschmilzt), ist das alles nicht so schwierig: Hans hört einfach mit dem Schwarzhandel auf, übergibt seine Schwarzhandelkollegen bzw. nunmehr Ex-Schwarzhandelkollegen der Polizei und arbeitet fortan legal als ehrlicher Kranführer, während mit Edith eine nette Frau zu Hause glücklich sein kann, täglich am Herd auf seine Rückkehr warten zu können. So einfach kann Schuldbewältigung sein – und so vergnüglich verpackt.


...UND ÜBER UNS DER HIMMEL ist in Deutschland auf DVD erhältlich: Ton und Bild sind sehr gut.

Dienstag, 1. Juli 2014

Iranische Neue Welle mit Lepra, gefundenem Baby und Nachspiel in München

Forugh Farrokhzad und Ebrahim Golestan - ein iranisches Dreamteam

KHANEH SIAH AST (DAS HAUS IST SCHWARZ)
Iran 1962
Regie: Forugh Farrokhzad
22 Minuten

KHESHT VA AYENEH (BRICK AND MIRROR, auch THE BRICK AND THE MIRROR)
Iran 1965
Regie: Ebrahim Golestan
Darsteller: Zakaria Hashemi (Hashemi), Taji Ahmadi (Taji), Mehri Mehrinia (Frau in der Ruine) u.a.
124 Minuten

MOND SONNE BLUME SPIEL
Deutschland 2008
Regie: Claus Strigel und Julia Furch
Mit: Forugh Farrokhzad (Archivaufnahmen), Hossein Mansouri, Ebrahim Golestan, Mehrdad Farrokhzad, Farzaneh Milani
90 Minuten

Forugh Farrokhzad
In den 50er und 60er Jahren gab es bekanntlich nicht nur die Nouvelle Vague, sondern "neue Wellen" auch von Großbritannien, Deutschland und der Tschechoslowakei bis Japan, Brasilien und anderswo. Und auch die Filme, die Regisseure wie Dariush Mehrjui oder Sohrab Shahid Saless in der zweiten Hälfte der 60er und in den 70er Jahren im Iran drehten, wurden zumindest rückwirkend als "Iranische Neue Welle" bezeichnet - manchmal auch als "Erste Iranische Neue Welle", um sie von den Filmen abzusetzen, mit denen die Regisseure um Abbas Kiarostami und Mohsen Makhmalbaf erst nach der islamischen Revolution 1979 im Ausland Erfolge feierten. Die beiden iranischen Filme, um die es hier zunächst geht, werden je nach Sichtweise als Vorläufer oder als frühe Vertreter jener ersten neuen Welle gehandelt.

Der mittlerweile 91-jährige Ebrahim Golestan, 1922 in Schiras geboren, ist ein Schriftsteller und Übersetzer (er übertrug u.a. Mark Twain, Faulkner, Hemingway und Eugene O'Neill ins Persische), und von den 50er bis in die 70er Jahre war er auch unabhängiger Filmregisseur und -produzent. Der aus einer wohlhabenden Familie stammende, aber in seinen jungen Jahren sozialistisch gesinnte Golestan drehte ab Anfang der 50er Jahre Reportagen für amerikanische Fernsehsender, etwas später für die BBC, und 1956 machte er sich selbständig und gründete sein eigenes Studio, Golestan Films. Dort kreuzten sich 1958 seine Wege mit denen von Forugh Farrokhzad (1935-67).

A FIRE
Forugh oder Forough Farrokhzad (auch "Farrochsad" und weitere Schreibweisen, siehe Wikipedia), ist "die bedeutendste Poetin der modernen persischen Literatur" (Kindlers Literaturlexikon). Forugh Farrokhzads Nachruhm wurde durch ihren vorzeitigen Tod (sie starb mit 32 bei einem Autounfall) nicht behindert - im Gegenteil, sie wurde zu einem Mythos. Für die liberalen Teile der iranischen Gesellschaft ist sie bis heute eine Ikone aus einer vergangenen Zeit. Zu ihren Lebzeiten war sie im Iran heftig umstritten. In ihren fünf Gedichtbänden, die seit 1955 veröffentlicht wurden (der letzte posthum), behandelte sie aus autobiografischer Sicht u.a. Themen wie Sex und die Geschlechterrollen, womit sie beim konservativen Teil der Gesellschaft (und insbesondere beim Klerus) aneckte. Auch ihr Privatleben verursachte Skandale. Forugh (wie sie von vielen Iranern einfach genannt wird, was ich im folgenden auch tue) hatte schon mit 16 einen 15 Jahre älteren Satiriker geheiratet, der ein entfernter Verwandter von ihr war. Es war zwar keine arrangierte, sondern eine Liebesheirat, aber nach drei Jahren war die Ehe am Ende, es folgte die Scheidung, und das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn Kamyar bekam der Vater, ohne Besuchsrecht für Forugh, was sie schwer bedrückte. 1955 hatte sie einen Nervenzusammenbruch, und ihr erster Gedichtband, der im selben Jahr erschien, trug übersetzt den Titel "Der (oder die) Gefangene", was darauf hinweist, wie eingeengt sie sich gefühlt hatte. Die weiteren zu Lebzeiten veröffentlichten Bände hießen "Die Wand", "Rebellion" und "Neugeburt", was widerspiegelt, dass sie sich mit der Zeit emanzipierte und ihr Leben in den Griff bekam. Forughs Biografin Farzaneh Milani bezeichnete die Gesamtheit ihrer Gedichte in ihrer zeitlichen Entwicklung als "Bildungsroman" (sie benutzt das deutsche Wort in ihrem englischsprachigen Buch Veils and Words). Auch nach ihrem überstandenen Zusammenbruch litt sie unter Depressionen und Sinnkrisen (1960 unternahm sie sogar einen Selbstmordversuch), und Hossein Mansouri deutet in MOND SONNE BLUME SPIEL an, dass das Schreiben der Lyrik auch dazu diente, ihre Krisen zu bewältigen. Nach einer langen Reise nach Italien und Deutschland (ein Teil der Gedichte des dritten Bands entstand in Rom und München) nahm sie zu ihrer finanziellen Absicherung, und weil sie sich für Film interessierte, eine Stelle bei Golestan Films an.

A FIRE
Zunächst bekam sie nur einen Bürojob, doch das änderte sich schnell. Sie bekam eine Ausbildung in den Grundlagen des Filmhandwerks (die sie später bei einem Aufenthalt in England vervollständigte), und sie und Ebrahim Golestan verliebten sich ineinander. Der verheiratete Golestan ließ sich scheiden, und die beiden wurden bis zu ihrem Tod ein Paar ohne Trauschein, was weiteren Stoff für die Skandalpresse und Forughs konservative Gegner lieferte. - Golestan hatte sich zunächst auf kurze Industrie- und Dokumentarfilme spezialisiert. YEK ATASH (A FIRE), 1958 gedreht und 1961 erschienen, ist ein in Bild und Ton eindrucksvoller Film über eine in Brand geratene Ölquelle, die vom amerikanischen Spezialisten Myron Kinley und seinem Team nach wochenlangen aufwändigen Vorbereitungsarbeiten gelöscht wurde, und zwar mit einer gezielten Sprengung, die den Flammen den Sauerstoff raubte. Den Schnitt von YEK ATASH besorgte Forugh, und hier konnte sie schon mal zeigen, was sie gelernt hatte. Die anderen Kurzfilme von Golestan (die ich im Gegensatz zu YEK ATASH nicht gesehen habe) sind: MOJ, MARJAN, KHARA (THE WAVE, CORAL AND ROCK) von 1962 über den Bau eines Piers mit Ölverladestation auf der Insel Kharg im Persischen Golf; TAPPE-HAYE MARLIK (THE HILLS OF MARLIK) von 1963 über eine archäologische Ausgrabung; GANJINE-HAYE GOHAR (oder nach einer anderen Quelle JAVAHERAT-E SALTANATI; THE CROWN JEWELS OF IRAN) über eben jene Kronjuwelen. Dieser Film von 1965 wurde von der Zentralbank, wo die Juwelen aufbewahrt wurden, in Auftrag gegeben (nach einer anderen Quelle vom Kultusministerium, aber ersteres erscheint mir plausibler), dann aber wegen seiner implizit enthaltenen kritischen Tendenz zensiert (dabei war Golestan sogar mit dem Schah persönlich bekannt). Diese vier Filme wurden wegen ihrer formalen Eigenständigkeit und handwerklichen Qualität mit jenen von Alain Resnais aus den 50er Jahren verglichen. Ich bin nicht sicher, ob diese Filmografie der Kurzfilme, wie man sie in IMDb und Wikipedia findet, wirklich vollständig ist. Auf jeden Fall hat Golestan noch ein Segment zum kanadischen Film COURTSHIP von 1961 beigetragen, in dem es um Heiratsbräuche in verschiedenen Teilen der Welt geht.

DAS HAUS IST SCHWARZ

DAS HAUS IST SCHWARZ


1962 nahm Golestan einen ersten Spielfilm in Angriff, und Forugh, die auch Ambitionen als Schauspielerin hatte, sollte die Hauptrolle spielen. Doch als sich einer der Mitwirkenden als Drogensüchtiger und Dealer erwies, der die anderen Teammitglieder in seine Geschäfte hineinziehen wollte, brach Golestan die Dreharbeiten ab. Als Kompensation für die entgangene Hauptrolle bot er Forugh ein Projekt an, das ihm der Direktor der iranischen Leprahilfe vorgeschlagen hatte: Einen Film über eine Leprakolonie in der Nähe von Täbris im Nordwesten des Iran. Im Sommer 1962 fuhr Forugh zu einer kurzen Erkundungsmission nach Bababaghi, wie das Dorf heißt, und im Herbst kam sie mit Kameramann, Tontechniker und zwei oder drei Assistenten wieder. Golestan, der als Produzent fungierte, ließ ihr freie Hand. Die ersten der insgesamt zwölf Tage ihrer Anwesenheit dienten dazu, die Bewohner kennenzulernen und ihr Vertrauen zu gewinnen, dann wurde gedreht. Auch wenn manches im Film aus heutiger Sicht etwas archaisch anmutet - nach damaligen Maßstäben war Bababaghi eine durchaus moderne und humane Leprasiedlung, in der die Bewohner zeitgemäße medizinische Versorgung und Physiotherapie erhielten und ansonsten ein weitgehend normales Leben führten. Genau das ist - bei einer gekonnten und abwechlungsreichen visuellen und akustischen Gestaltung - das hervorstechende Merkmal von DAS HAUS IST SCHWARZ: Die Betonung der Normalität. Kinder beim Ballspiel und in der Schule, Männer in der Moschee, Frauen bei der gemeinsamen Essensausgabe, die Gemeinschaft bei einem Fest (einer Hochzeit?). Die Normalität ist auch der Schlüssel dafür, den Bewohnern ihre Würde zu lassen, obwohl die körperlichen Entstellungen deutlich gezeigt werden (Jonathan Rosenbaum hat den Film in dieser Hinsicht mit Tod Brownings FREAKS verglichen).

DAS HAUS IST SCHWARZ
Es wird ausgiebig Direktton verwendet, zusätzlich gibt es aber auch einen mehrstimmigen Off-Kommentar: Von Forugh vorgetragene poetische Texte aus dem Alten Testament, dem Koran und aus ihren Gedichten, und sachliche Informationen über Lepra (es wird vor allem Wert darauf gelegt, dass Lepra heilbar ist), gelesen von Golestan. - DAS HAUS IST SCHWARZ erregte bei seinem Erscheinen große Aufmerksamkeit im In- und Ausland und gewann einige Festivalpreise, vor allem den Preis für den besten Dokumentarfilm bei den Oberhausener Kurzfilmtagen 1964 (nach einigen Quellen 1963, aber hier steht 1964). Später verschwand der Film etwas in der Versenkung, aber spätestens 1997, als er beim New York Film Festival gezeigt wurde, tauchte er wieder auf. 2006 lief er erneut in Oberhausen, im Rahmen einer Reihe, die dem Nahen Osten gewidmet war.

DAS HAUS IST SCHWARZ

BRICK AND MIRROR


1965 drehte Ebrahim Golestan den Film, der nun tatsächlich sein erster Spielfilm wurde: KHESHT VA AYENEH, in Ermangelung eines deutschen Titels im folgenden BRICK AND MIRROR. Der Titel leitet sich von einer Zeile des mittelalterlichen persischen Dichters und Mystikers Fariduddin Attar ab: Was ein alter Mann in einem Lehmziegel sieht, sieht ein junger in einem Spiegel. - Hashemi ist Taxifahrer in Teheran. Eines Tages steigt spät abends eine schwarz verschleierte Frau (Forugh in einem Cameo) in sein Taxi und lässt sich zu einer heruntergekommenen Gegend irgendwo in den Außenbezirken fahren. Nachdem sie dort ausgestiegen und in der Dunkelheit verschwunden ist, stellt er fest, dass sie ein Baby im Taxi zurückgelassen hat, das zuvor unter ihrem Tschador verborgen war. Die Hintergründe bleiben im Dunkeln - die Frau taucht nicht wieder im Film auf. Was sich daraus entwickelt, ist ein existenzialistisches Drama, und zugleich eine kritische Bestandsaufnahme der Teheraner Gesellschaft Mitte der 60er Jahre. Formal gestaltet Golestan das als eine Abfolge weniger, sehr langer Sequenzen, in denen - bis auf die zwei wichtigsten - neben Hashemi und seiner Freundin Taji auch jeweils ein oder zwei Nebenfiguren in den Vordergrund rücken und in ausführlichen Mono- oder Dialogen zu Wort kommen, und die sich innerhalb eines einzigen Tages abspielen. Zunächst sucht Hashemi in der Dunkelheit nach der Frau und gerät dabei in die Ruine einer unfertigen Baustelle. In dieser unwirklichen nächtlichen Szenerie trifft er auf eine augenscheinlich nicht mehr ganz normale ältere Frau, die seine Fragen nach der anderen Frau ignoriert und in einen Klagemonolog verfällt. Später in der Nacht trifft sich Hashemi mit Freunden in einem modernen Nachtclub in der Innenstadt, und er erzählt die Geschichte vom gefundenen Baby, das er bei sich trägt. Doch seine Freunde sind wenig hilfreich - der eine glaubt seine Geschichte nicht und gibt entsprechend sarkastische Kommentare ab, der nächste verfällt in pseudointellektuelle Phrasen, etc. Immerhin erhält Hashemi den Rat, zur Polizei zu gehen, was er auch tut. Doch dort zeigt man sich wenig interessiert. Nachdem der Offizier auf dem Revier ausgiebig mit einem Arzt, der überfallen und verprügelt wurde, diskutiert und diesen schließlich abgewimmelt hat, erhält Hashemi nur die Auskunft, dass man nichts für ihn tun könne und dass ein nächtliches Polizeirevier kein Ort für ein Baby sei. Er solle es erst mal nach Hause mitnehmen und am nächsten Morgen beim Waisenhaus abliefern.

DAS HAUS IST SCHWARZ
Vor dem Revier wartet Taji auf ihn, die in einer offenbar nur lockeren Beziehung mit ihm lebt, die aber mehr will. Gemeinsam gehen sie in Hashemis winzige Wohnung, wo sie den Rest der Nacht miteinander verbringen. Taji versorgt das Baby, wozu Hashemi wenig beiträgt. Er ist überfordert und von der Situation genervt, vor allem aber hat er geradezu panische Angst davor, dass die Nachbarn etwas von der Anwesenheit Tajis und des Babys bemerken und falsche Schlüsse daraus ziehen (man kann das als Allegorie auf eine in Angst erstarrte Gesellschaft verstehen). So fährt er Taji ständig an, leise zu sein, und als das Baby zu schreien beginnt, reagiert er nicht gerade rational. Taji agiert vernünftiger, aber nicht ganz uneigennützig. Wie sich nach und nach erweist, erhofft sie sich, dass das Baby als Werkzeug dient, um Hashemi fest an sich zu binden. Ihr zunächst zaghaft geäußerter Vorschlag, das Kind zu behalten, wird von Hashemi brüsk abgewiesen. Trotz der angespannten Atmosphäre schlafen die beiden noch miteinander, aber wirklich näher kommen sie sich dadurch nicht - am nächsten Morgen ist die Stimmung eher noch trostloser als in der Nacht. Hashemi bringt jetzt das Kind ins Waisenhaus, wird aber erst mal abgewiesen, weil man nur Kinder aufnehmen könne, zu denen die nötigen Dokumente vom Gericht vorliegen. Während seiner Wartezeit im Waisenhaus bekommt er die tragisch-groteske Geschichte von der Frau mit, die unbedingt ein Baby adoptieren will, aber keines bekommt, weil sie ja schwanger sei - auch wenn ihre bisherigen Schwangerschaften alle in Fehlgeburten geendet haben. Am Ende enthüllt die verzweifelte Frau zum Entsetzen aller Anwesenden, dass sie die bisherigen Schwangerschaften nur mit unter die Kleider gestopften Lumpen vorgetäuscht und dann die Fehlgeburten erfunden hatte, um dem öffentlichen Makel der Unfruchtbarkeit zu entgehen. Um dem Kreislauf zu entfliehen, müsse sie nun endlich ein Baby vom Waisenhaus bekommen - doch sie bekommt keines.

DAS HAUS IST SCHWARZ
Im Gericht, einem imposanten, geradezu imperialen Gebäude, verläuft sich Hashemi fast und steht dann wieder hilflos in der riesigen Eingangshalle. Erst als er einen Beamten anspricht und ihm einige Zigaretten spendiert, erhält er die nötigen Dokumente. Seine zaghafte Frage nach einer möglichen Adoption redet ihm der Mann mit zynischen Kommentaren dazu aus. So liefert er also das Baby beim Waisenhaus ab. Wieder zurück bei Taji, ist diese bitter enttäuscht, dass er ohne das Baby gekommen ist, und sie macht ihm schwere Vorwürfe. Hashemi wird ebenso wie dem Zuschauer klar, dass die Beziehung am Abgrund steht, und so lenkt er etwas ein und fährt mit ihr zum Waisenhaus. Er bleibt aber draußen, während sie hineingeht, um "ihr" Baby zu suchen. In den kahlen, kalt wirkenden Räumen (es wurde in einem echten Waisenhaus gedreht) begegnet sie vielen Babys und Kleinkindern, die hier auf sich allein gestellt wirken, und nur wenigen Pflegerinnen, die keine Notiz von ihr nehmen, aber "das" Baby findet sie nicht. Am Ende ergreift stille Verzweiflung Besitz von ihr. Während sie bewegungslos an eine nackte Wand gelehnt ist, fährt die Kamera in einer langen Fahrt von ihr zurück und überlässt sie ihrer Einsamkeit. Diese minutenlang völlig wortlose Sequenz im Waisenhaus ist für mich der Höhepunkt des Films, und sie hat mich etwas an Antonioni erinnert. In der letzten Szene des Films steht Hashemi vor einem Schaufenster mit laufenden Fernsehern, in denen ein distinguierter Herr erbauliche Phrasen über den richtigen Umgang der Menschen miteinander absondert. Dann steigt er in sein Taxi, sinniert eine Weile, und fährt schließlich in die Abenddämmerung, einer neuen Spätschicht entgegen.

BRICK AND MIRROR - Taji
Wenn man sich erst an den langsamen Rhythmus gewöhnt hat, ist BRICK AND MIRROR ein wunderbarer Film - ein würdiger Beginn (oder meinetwegen Vorläufer) eine neuen Welle. Doch Golestans erster Spielfilm war zugleich sein vorletzter. 1967 ging er, der dem Schah-Regime zunehmend feindselig gegenüberstand, zum ersten Mal ins Exil nach England. 1972 kehrte er zurück, um seinen letzten Film ASRAR GANJ DAREHEYE JENNI (THE SECRET OF THE TREASURE OF THE JINN VALLEY, auch THE GHOST VALLEY'S TREASURE MYSTERIES) zu drehen. Ein armer Bauer findet durch Zufall eine Höhle mit einem Schatz und wird dadurch zu einem neureichen Dorftyrannen. Es handelt sich um eine allegorische Attacke gegen das Regime, viel grimmiger als die eher subtile Kritik in THE CROWN JEWELS OF IRAN und BRICK AND MIRROR. Wie man liest, ist THE SECRET OF THE TREASURE OF THE JINN VALLEY ein bitterer Film voller unsympathischer Charaktere. 1978 ging Golestan zum zweiten Mal und diesmal endgültig nach England. In der Nähe von London bewohnt er ein äußerst imposantes Herrenhaus. Die Filmerei hat er im Exil vollständig aufgegeben, seine Zeit verbrachte er hauptsächlich mit dem Schreiben von Romanen auf Persisch (es gibt nur wenig von ihm auf Englisch zu lesen).

BRICK AND MIRROR - Hashemi in seiner Wohnung

MOND SONNE BLUME SPIEL


Die letzte Szene von DAS HAUS IST SCHWARZ gab gleich zwei Filmen ihren Titel. In der Schule fordert der Lehrer einen Schüler auf, einen Satz mit "Haus" an die Tafel zu schreiben, und nach einigem Überlegen schreibt er "Das Haus ist schwarz". Ein anderer Schüler soll schöne Dinge aufsagen, und er antwortet "Mond, Sonne, Blume, Spiel". Dieser zweite, damals sechsjährige Junge namens Hossein Mansouri war von der fremden Frau aus Teheran sofort fasziniert, als sie in Bababaghi auftauchte. Obwohl eigentlich ein aufgeweckter und redseliger Junge, brachte er ihr gegenüber kein Wort heraus. Hossein lebte als gesunder Sohn (mit drei ebenfalls gesunden Schwestern) zweier leprakranker Eltern im Dorf (bei seiner Mutter wurde die Krankheit aber frühzeitig mit Antibiotika behandelt, und sie wurde vollständig geheilt). Es war Zufall, dass Hossein mit seiner Familie in Bababaghi war - bei Forughs erstem Besuch im Sommer waren sie noch abwesend. Damals lebten sie noch in einer anderen Leprakolonie bei Maschhad im Nordosten des Iran, vielleicht 1000 km oder mehr von Täbris entfernt. Doch Hosseins Vater war dort mit einem leitenden Arzt aneinandergeraten und hatte ihn sogar tätlich angegriffen, deshalb wurde die ganze Familie nach Bababaghi "strafversetzt". Nicht nur Hossein war von Forugh fasziniert, sie fand auch sofort Gefallen an ihm. Und gegen Ende der Dreharbeiten fasste sie den Entschluss, Hossein zu adoptieren. Die Eltern waren schnell einverstanden, hauptsächlich, um die Gefahr einer Ansteckung mit Lepra für Hossein dauerhaft zu bannen. Und so kam der kleine Hossein, der nicht wusste, wie ihm geschah, in eine ihm fremde Welt nach Teheran. Die Liebe, die Forugh ihrem leiblichen Sohn Kamyar nicht geben konnte, weil er ihr entzogen war, schenkte sie nun Hossein, und auch von Forughs sechs Geschwistern und ihrer Mutter wurde der Neuankömmling herzlich als neues Familienmitglied aufgenommen. Einige Zeit später besuchte Hosseins Vater ihn in Teheran, aber da prallten bereits zwei Welten aufeinander. Hossein fürchtete, nach Bababaghi zurück zu müssen, und die Begegnung endete in gegenseitiger Sprachlosigkeit. Es war das letzte Mal, dass Hossein seinen Vater sah. Er starb, als Hossein 14 war. Im Februar 1967, als Hossein 10 war, prallte Forugh beim Versuch, einem anderen Fahrzeug auszuweichen, mit ihrem Auto gegen eine Wand. Sie wurde aus dem Fahrzeug geschleudert und starb an ihren Kopfverletzungen. Hosseins weitere Erziehung übernahm nun Forughs Mutter (wie es schon der Fall gewesen war, wenn Forugh auf Reisen war).

BRICK AND MIRROR - im Waisenhaus
Als junger Mann ging Hossein nach England, um zu studieren. Er bewohnte dort zeitweise eine gemeinsame Wohnung mit Kamyar - die Verbindung zur Familie von Forughs Ex-Mann war also offenbar nicht ganz abgerissen. Doch nach knapp zwei Jahren zog es Hossein nach Deutschland und speziell nach München, wo schon Forugh einige Wochen oder Monate verbracht hatte, und wo drei seiner "Adoptivonkel" studiert und gelebt hatten. Hossein Mansouri lebt seit fast 40 Jahren in München, wo er sich heimisch und pudelwohl fühlt, wie er sagt. Hier wurde er ein Dichter und Übersetzer, Musiker ist er auch, und zum Broterwerb hat er seit 30 Jahren eine Anstellung als Archivar in einer Patentanwaltskanzlei. DAS HAUS IST SCHWARZ sah er zum ersten Mal, als er schon über 30 war und in einer Identitätskrise steckte. Er bat Oberhausen um eine Kopie des Films und bekam tatsächlich eine geschickt. Doch die Geschichte seiner Herkunft behielt er sehr lange für sich. Nicht einmal gute Freunde wussten, dass er der Adoptivsohn einer berühmten Dichterin ist. Für die Literaturgeschichte war die Adoption von 1962 nur eine Fußnote, und außerhalb Forughs Familie wusste niemand, was aus dem Jungen von einst geworden war.

BRICK AND MIRROR - im Gericht
Erst der Münchner Regisseur Claus Strigel brachte es ans Tageslicht, in seinem Film MOND SONNE BLUME SPIEL, der 2008 bei den Hofer Filmtagen seine Premiere feierte. Strigel hatte 1976 gemeinsam mit Bertram Verhaag die Produktionsfirma DENKmal-Filmgesellschaft gegründet (Walter Harrich war anfangs auch dabei, aber der gründete bald mit seiner Frau Danuta eine eigene Firma). Meist gemeinsam mit Verhaag drehte Strigel sowohl fürs Fernsehen als auch für die Kinoleinwand viele Dokumentarfilme (am bekanntesten vielleicht der Wackersdorf-Film SPALTPROZESSE), aber gelegentlich auch Spielfilme. Seit 2012 besitzen Strigel und Verhaag getrennte Firmen (ob sie sich auch persönlich verkracht haben, ist mir nicht bekannt). Julia Furch, bei MOND SONNE BLUME SPIEL erstmals Strigels Co-Regisseurin, war mir bisher unbekannt. Der Film begleitet Hossein Mansouri, meist in seinem gewohnten Lebensumfeld im Münchner Westend, und lässt ihn erzählen, von seiner erstaunlichen Kindheit, aber auch von seinem jetzigen Leben. Einen Off-Kommentar gibt es nicht (wie man in diesem einstündigen Radio-Interview im Deutschlandfunk erfährt, gibt es den bei Strigel nie). Er erzählt, dass er eine Mission hat, die sozusagen sein Lebenszweck ist und ihm über Identitätskrisen hinweghilft. Worin diese Mission besteht, sagt er nicht explizit, aber es kristallisiert sich heraus, dass er Forughs Vermächtnis erhalten und weiterverbreiten will. Man erlebt ihn bei einer Lesung von Forughs Gedichten, die er selbst übersetzt hat, in Kombination mit einer Vorführung von DAS HAUS IST SCHWARZ. Der Film macht auch Abstecher nach England und in den Iran. Gemeinsam mit Strigel besucht Mansouri seinen "Adoptivvater" (auch wenn er nicht mit Forugh verheiratet war) in seinem imposanten Landsitz. Das Verhältnis zu Golestan erscheint im Film freundschaftlich, aber auch von einer gewissen respektvollen Distanz geprägt - Mansouri nennt ihn immer "Herr Golestan", statt beim Vornamen. Strigel geht auch in Teheran auf Spurensuche, mit Mehrdad Farrokhzad als Hossein Mansouris Stellvertreter - Mansouri kann mit seinem Asylantenpass überallhin reisen, nur nicht in den Iran. Mehrdad ist einer der jüngeren Brüder von Forugh, die in Deutschland studiert hatten, er spricht immer noch Deutsch, und er hat ein ausgezeichnetes Verhältnis zu Mansouri - er bot sich für diese Mission also an.

DAS HAUS IST SCHWARZ - der sechsjährige Hossein Mansouri
Emotionale Höhepunkte von MOND SONNE BLUME SPIEL sind die beiden Szenen, in denen Mansouri von seiner Adoption sowie vom späteren Besuch seines Vaters in Teheran erzählt. Mansouri ist hier sichtlich aufgewühlt und ringt um Fassung. Bei diesen Momenten begann ich mich zu fragen, ob die Adoption nicht eine fragwürdige Angelegenheit war, bei der Hossein und seine Eltern von Forugh überrumpelt wurden. Doch sein aufgewühlter Zustand lag wohl hauptsächlich daran, dass er hier diese entscheidenden Momente zum ersten Mal erzählte. In diesem Radio-Interview vom Mai 2014 (in derselben Sendereihe wie das mit Strigel) trägt Mansouri seine Geschichte viel entspannter vor als im Film, und er lässt keinen Zweifel daran, dass die Adoption der große Glücksfall seines Lebens war. - Was ich mir vom Film noch gewünscht hätte, wäre eine etwas tiefere zeitgeschichtliche und biografische Einordnung von Forughs Leben und Schaffen gewesen, doch man erfährt darüber wenig (was ich hier darüber berichte, stammt hauptsächlich aus englischsprachigen Quellen im Web). Die passende Ansprechpartnerin dafür wäre Farzaneh Milani gewesen. Die in den USA lebende iranische Professorin für persische Literatur und für Frauenstudien hatte schon ihre Dissertation über Forugh verfasst, weitere Texte über sie veröffentlicht (etwa 1982 einen mit dem Titel Love and Sexuality in the Poetry of Forugh Farrokhzad: A Reconsideration und im schon erwähnten Buch Veils and Words: The Emerging Voices of Iranian Women Writers von 1992), und eine in langjähriger Arbeit erstellte Biografie mit dem Titel An Iranian Icarus: The Life and Poetry of Forugh Farrokhzad soll wohl in naher Zukunft erscheinen. Aber von ihrem sicher profundem Wissen gibt sie in MOND SONNE BLUME SPIEL, wo sie mit Hossein Mansouri (der auch an einem Buch über Forugh arbeitet) zusammentrifft, wenig preis, was über Allgemeinplätze hinausgeht. So bleibt Forugh für den Zuschauer des Films letztlich ein Mysterium. Wahrscheinlich wäre es gar nicht möglich (und vielleicht auch nicht wünschenswert), das Mysterium vollständig zu lüften, aber ein bisschen mehr Kontext und harte Fakten hätte ich mir schon gewünscht.

MOND SONNE BLUME SPIEL - Hossein Mansouri
Nichtsdestotrotz ist MOND SONNE BLUME SPIEL ein faszinierender Film, der seine spannende Geschichte unterhaltsam aufbereitet. Strigel schreckt vor optischen Spielereien nicht zurück - so gibt es ziemlich am Anfang einen Kameraschwenk, der in Teheran beginnt und ohne erkennbaren Schnitt in München endet. Überhand nehmen solche Tricks nicht, aber die Kamera ist stets beweglich und erzeugt meist große Nähe zu Mansouri und den anderen Protagonisten, gelegentlich aber auch Distanz. Alles in allem ein sehr ansprechender Film! - Forughs jüngerer Bruder Fereydoun Farrokhzad war ein Sänger, Schauspieler, Poet und Politikwissenschaftler. Er hatte in Deutschland und Österreich studiert und dann einige Jahre in München gelebt, wo er u.a. Radioprogramme gestaltete. 1967 ging er zurück in den Iran, wo er als Sänger und TV-Entertainer ein Superstar wurde. Nach der islamischen Revolution ging er ins Exil, zunächst in die USA und dann wieder nach Deutschland. 1992 wurde Fereydoun Farrokhzad in Bonn auf blutrünstige Weise ermordet, sehr wahrscheinlich von Agenten des Mullah-Regimes, das er öffentlich scharf kritisiert hatte. Offiziell geklärt wurde der Fall nie. Claus Strigel plant einen Film über Fereydoun Farrokhzad (hier ein Teaser).

MOND SONNE BLUME SPIEL - Ebrahim Golestan
Es existieren weitere Filme über Forugh. 1963, als sie mit DAS HAUS IST SCHWARZ auch international bekannt wurde, produzierte die UNO ein kurzes Portrait von ihr, und im selben Jahr drehte auch Bernardo Bertolucci einen 15-minütigen Film mit ihr. In Bertoluccis Filmografien in IMDb und Wikipedia findet man keine Spur davon, und ich weiß nicht, ob dieser Film jemals regulär veröffentlicht wurde, aber gedreht wurde er jedenfalls. Ein Nasser Saffarian drehte eine zweieinhalbstündige dreiteilige Doku, die unter dem engl. Titel THE MIRROR OF THE SOUL: THE FOROUGH FARROKHZAD TRILOGY in den USA auf DVD zu haben ist (darin sollen auch Ausschnitte aus Bertoluccis Film zu sehen sein). - In Frankreich erschien einige Jahre lang das Filmmagazin Cinéma halbjährlich in Buchform, und Ausgabe 07 vom Frühjahr 2004, die noch zu erschwinglichen Preisen bei den üblichen Quellen zu haben ist, enthielt auf einer beigelegten DVD DAS HAUS IST SCHWARZ (mit fest eingebrannten franz. Untertiteln) sowie Golestans A FIRE (in einer englischsprachigen Fassung). DAS HAUS IST SCHWARZ ist auch in den USA auf DVD erschienen, sowohl auf einer Einzel-DVD (mit zwei frühen Kurzfilmen von Mohsen Makhmalbaf als Bonus), als auch im Paket mit THE MIRROR OF THE SOUL. Von BRICK AND MIRROR konnte ich keine DVD ausfindig machen (und musste auf eine Datei von zweifelhafter Herkunft und mit sehr schlechter Bildqualität zurückgreifen). MOND SONNE BLUME SPIEL ist auf einer DVD erschienen, die man direkt bei Strigel (Javascript erforderlich) bestellen kann. Dort gibt es den Film auch für 10 € als DRM-freien Download (was bei mir unkompliziert geklappt hat).

MOND SONNE BLUME SPIEL - vor Golestans Wohnsitz und in seinem Garten

Montag, 3. Februar 2014

Die Leiden des jungen und erwachsenen und alten W.


RICHARD WAGNER
Deutsches Reich 1913
Regie: William Wauer / Carl Froelich
Darsteller: Giuseppe Becce (Richard Wagner), Manny Ziener (Minna Planer), Miriam Horwitz (Mathilde Wesendonck), Ernst Reicher (Ludwig II.), Olga Engl (Cosima von Bülow/Wagner)


1. Akt: Jugend

Der Schriftsteller, Schauspieler und Maler Ludwig Geyer liegt in seinem Todesbett und stellt die bedeutsame Frage: „Sollte Richard Talent zur Musik haben?“. Der achtjährige Richard spielt daraufhin ein Stück am Klavier, bevor sein Stiefvater dann quasi in seinen Armen verstirbt. Knapp neun Jahre später beginnt Wagner ein Studium der Musik in Leipzig, wo er als außerordentlich begabter Komponist positiv auffällt. In seiner Freizeit lernt er auch, Orchester zu dirigieren, und erprobt es gleich an einer Tanzgruppe aus exilierten polnischen Revolutionären. Wenige Jahre später nimmt er eine Stellung als Kapellmeister an, und verliebt sich in die Schauspielerin Minna Planer. Die beiden verloben sich und ziehen in eine neue – vor allem aber für die Verhältnisse eines Kapellmeisters viel zu teure! – Wohnung.

2. Akt: Reise- und Wanderjahre

Mittlerweile dirigiert Wagner in Riga. Doch die Gläubiger verfolgen ihn bis dorthin, und zusammen mit Minna muss der Musiker eine überstürzte und kühne Flucht aus dem Russischen Reich nach Paris antreten – vorbei an schießwütigen zarischen Grenzwächtern. Auf dem stürmisch schwankenden Schiff nach Frankreich ereilt den genialen Komponisten die Vision seines künftigen „Fliegenden Holländer“. Wagner kommt in Paris an, und erhält vom etablierten Opernkomponist Giacomo Meyerbeer ein Empfehlungsschreiben für die Große Oper – vergeblich. Er sucht deshalb Franz Liszt auf, der ihm allerdings nur schöne Worte zu bieten hat. So verfällt er in Armut, kann sich nicht mal mehr Brennholz leisten (und muss Stühle für das Feuer opfern), kommt aber mit dem „Fliegenden Holländer“ gut voran. Als die Verzweiflung fast schon Überhand nimmt, kriegt er dank des großen Erfolgs von „Rienzi“ eine Anstellung in Dresden. „Der Fliegende Holländer“ fällt dort allerdings 1843 durch, was den Komponisten betrübt. Seine Laune wird nicht gerade heller, als zwei Jahre später auch der „Tannhäuser“ ein Misserfolg beim Publikum wird. Wagner wendet sich daraufhin der Politik zu, trifft sich mit dem russischen Revolutionär Michail Bakunin, hält Reden über „freie Kunst und freies Menschentum“, gerät 1849 in die revolutionären Straßenkämpfe von Dresden und entkommt nur durch Zufall einer Verhaftung. Auf der Flucht gibt ihm Franz Liszt in Weimar Geld und einen falschen Pass, und der steckbrieflich Gesuchte flieht in die Schweiz.

3. Akt: Im Exil

Dort beginnt Richard Wagner mit der Arbeit am „Nibelungen“-Zyklus, und trägt die Verse in lebendigen Worten seinem Freundeskreis vor. Er trifft er sich auch öfter mit Mathilde Wesendonck, der Ehefrau seines Nachbarn, und „bespricht“ mit ihr seine künftige Oper „Tristan und Isolde“, was seine Ehe mit Minna belastet und schließlich zur Trennung führt. Einsam, verlassen und mittellos komponiert Wagner unermüdlich weiter, und im Moment der tiefsten Verzweiflung ruft ihn im Frühling 1864 der bayerische König Ludwig II. an seinen Hof. 

4. Akt: Eine königliche Freundschaft

Richard und Ludwig verbindet eine harmonische Freundschaft. Letzterer darf sogar exklusiv die Generalprobe von „Tristan und Isolde“ begutachten. Doch die Idylle wird durch die hinterlistigen Intrigen der Minister und des katholischen Klerus‘ getrübt. Sie beginnen eine Presse- und Hetzkampagne gegen den Komponisten, und wesentlich schneller, als eine seiner Opern dauert, steht auch schon ein wütender Mob vor dessen Münchener Residenz. Aufgrund massiver Demonstrationen und einer umfangreichen Petition sieht sich Ludwig gezwungen, seinen Freund aus München zu verbannen. Zurück in der Schweiz arbeitet Wagner, schon älter und kränkelnd, an den „Meistersingern“. Trost bieten ihm die gelegentlichen Besuche Ludwigs und seine neue Ehefrau, Cosima Wagner, ehemals von Bülow. Doch es wendet sich alles doch zum Guten: in Bayreuth kann Wagner 1873 sein eigenes Festspielhaus bauen.

5. Akt: Bayreuth

Dort erscheinen drei Jahre später zur Aufführung des „Nibelungen“-Zyklus nicht nur Ludwig II., sondern auch der deutsche Kaiser, Wilhelm I., höchstpersönlich. Mit „Parsifal“ krönt der Meister sein Werk und sein Leben. Am 13. Februar 1883 stirbt er in Venedig.


Ein flottes und witziges Biopic

Wer diese kurze Zusammenfassung von RICHARD WAGNER liest, könnte das Gefühl haben, dass der hier dargestellte Wagner möglicherweise nicht ganz mit dem Wagner übereinstimmt, den man heutzutage so kennt. Aber das macht nichts, denn dieser über 100-jährige Stummfilm ist dennoch höchst vergnüglich zu sehen – oder vielleicht gerade deshalb?

Im Grunde kann man es auf die sehr einfache Formel reduzieren: RICHARD WAGNER ist überaus flott erzählt. Das Drehbuch könnte man als fast atemlos bezeichnen: trotz einer relativ mäßigen Laufzeit von knapp über anderthalb Stunden arbeitet sich der Film durch mehrere Dutzende von Schauplätzen mit mehreren Dutzenden von Figuren hindurch, wechselt kleinere Situationen (Wagner dirigiert ein Orchester) mit größeren und längeren Spannungsbögen ab (Wagners Flucht aus Riga, seine Freundschaft zu Ludwig von der Ankunft bis zur „Verbannung“), und baut zwischendurch auch Erzählungen im Film ein (die Nibelungen, ein Traum, eine Halluzination). Ein abwechslungsreiches Werk, das (und man sieht es ihm deutlich an) mit viel Freude die damaligen Möglichkeiten seines Mediums auslotet.

Traum, Inspiration, Erzählung, Halluzination
RICHARD WAGNER ist über weite Strecken ein Tableau-Film, inszeniert mit überwiegend unbeweglicher Kamera, was 1913 alles noch üblich war. Manche Tableaus dauern tatsächlich auch etwas länger. Doch durch den verhältnismäßig dynamischen Schnitt und der immer wieder geschickten Nutzung der Bildtiefe fällt das nicht negativ auf. Ein weiteres Gestaltungselement, das in RICHARD WAGNER zur Dynamisierung eingesetzt wird, ist die Virage: scheinbar wurde sie „willkürlich“ verwendet. Vielleicht habe ich auch ihre dramaturgische Nutzung noch nicht richtig „decodieren“ können, aber ich vermute, dass sie tatsächlich zwecks Abwechslung, gewissermaßen als „impressionistische“ Palette, eingesetzt wurde: jedes Bild, jedes Tableau wird durch eine eigene Farbe noch einzigartiger gemacht. RICHARD WAGNER ist so gewissermaßen auch ein „Farbfilm“.

Mit Spezialeffekten im engeren Sinne geht das Biopic relativ sparsam um. Zu nennen ist die Vision, oder die Inspiration des Komponisten, als er aus Riga auf einem Schiff flüchtet, und vor seinen Augen ein Geisterschiff (also den „Fliegenden Holländer“) vorüberziehen sieht – ich vermute, dass es sich um eine relativ einfache, aber nichtsdestotrotz sehr effektive Doppelbelichtung handelt. Später, als Wagner an den „Meistersingern“ arbeitet, ist er offensichtlich kränkelnd, und beginnt, um sich herum ehemalige Bekannte und Fantasiefiguren aus seinen Opern herbei zu halluzinieren – jump cuts machen es möglich, und verwirren zugleich den Komponisten zutiefst.

Wie gesagt erzählt RICHARD WAGNER auch eigene Sub-Erzählungen im Rahmen der Haupt-Erzählung. Gleich am Anfang etwa träumt der zehnjährige Richard davon, dass aus den zwei großen Portrait-Gemälde im Schlafzimmer (in das er gastweise bei Onkel und Tante untergebracht ist) die abgebildeten Damen lebendig heruntersteigen, und eine mit ihm anfängt, zu tanzen: ein Traum, der den kleinen Richard stark erschreckt. Wesentlich länger dauern Wagners Erzählungen vom „Nibelungen“-Mythos. Am Ende zollen ihm die Figuren an seinem aufgebahrten Leichnam Tribut.

Inspiration beim Baden
Üblicherweise sind Wagner und Humor zwei Begriffe, die man nicht unbedingt in einem Satz unterbringen würde. Dennoch muss man sagen, dass RICHARD WAGNER auch ein sehr witziger Film ist. Ein Teil des Humors ist sicherlich „unfreiwillig“ oder zumindest nicht im engeren Sinne „intendiert“. Das ist nicht respektlos gemeint und soll auch nicht suggerieren, dass der Film lächerlich sei. Vielmehr weist der Film mit seinem Wagner-Bild immer wieder Dissonanzen zu dem Bild Wagners auf, der heutzutage gängiger ist und gerade aus diesen Dissonanzen heraus kann das eine oder andere Lächeln über die Lippen huschen. Auch der melodramatische Pathos manch einer Szene (wenn etwa Wagner frierend komponiert, einen Stuhl zu Brennholz zerschmettert, sich wärmt, weiter komponiert und dann in einem Zustand genialer Inspiration die Hände gen Himmel streckt) könnte das eine oder andere Lächeln hervorrufen. Das wäre berechtigt, als dass Wagner aus seinen Momenten der Armut, Verzweiflung und Einsamkeit sowieso stets gerettet wird: jemand besucht ihn, oder – häufiger – jemand gibt ihm Geld oder eine Anstellung.

Immer wieder hat RICHARD WAGNER auch einen offen, wenngleich leisen komödiantischen Ton. In einer Szene etwa bekommt Wagner beim Baden eine spontane Inspiration und geht schnurstracks, nur mit einem Badezimmerumhang bekleidet, in sein Klavierzimmer, um zu komponieren. Just in diesem Moment kommen (wieder einmal) drei Gläubiger vorbei, die längst überfällige Rechnungen kassieren wollen, und diese von einem geistig abwesenden, nackten Klavierspieler einfordern wollen. Zur Runde stoßen auch ein älterer Herr und eine ältere Dame hinzu (womöglich andere, bislang unbekannte Gläubiger?), und letztere fällt fast in Ohnmacht, als sie die spärliche Bekleidung Wagners sieht. Ein kunterbunter Tumult bricht aus, bis der Meister im Bademantel alle mit erhobenem Finger rausschmeißt.

Wagner bei Meyerbeer
Ebenfalls sehr witzig ist die Szene, die man gewissermaßen als den „Meyerbeer-Sketch“ bezeichnen könnte. Wagner spielt dem berühmten Opernkomponisten seinen „Rienzi“ am Klavier vor, während dieser im Vordergrund sich offensichtlich langweilt und auch demonstrativ gähnt. Sobald Wagner zu ihm schaut, applaudiert Meyerbeer hingegen begeistert. Da unser Titelheld offenbar noch mehr vorspielen will, bittet ihm Meyerbeer an, ein Empfehlungsschreiben aufzusetzen. Wagner ist begeistert, bedankt sich und geht dann mit dem Brief auf und davon, während Meyerbeer, erleichtert, von der nervenden Musik befreit zu sein, in seinen Sessel sinkt. Als filmische Erzählung ist diese Episode aus RICHARD WAGNER freilich wesentlich amüsanter als die historische Realität: bekanntermaßen verfasste Wagner seinen unsäglichen Essay „Das Judenthum in der Musik“ vor allen Dingen als persönlichen Angriff gegen seinen (damals) wesentlich erfolgreicheren Konkurrenten in Paris.

RICHARD WAGNER, der zu einem überwiegenden Teil in Innenräumen spielt, ist in seinem Set-Design überaus detailverliebt. Gerade ab dem vierten Akt beginnen die einzelnen Szenen immer häufiger, von Portraits und vor allen Dingen von Büsten geprägt zu werden (der Film beginnt mit der Nahaufnahme einer Wagner-Büste). So hat Ludwig II. in seinem Arbeitsraum zwei Komponisten-Büsten stehen: eine von Franz Liszt im Hintergrund, und – logisch – eine von Wagner auf seinem Schreibtisch. Bei der Diskussion Wagners mit Bakunin steht auf dem Klavier, an dem der Komponist dem russischen Revolutionär etwas vorspielt, eine Büste von Beethoven. In seinem späten schweizerischen Häuschen hat Wagner hingegen eine Büste von Franz Liszt im Wohn- und Klavierzimmer aufgestellt. Gegen Ende, als der immer wieder gebeutelte Komponist endlich seinen verdienten Ruhm bekommt, beginnt das Set-Design, selbstreferentiell zu werden: als Wagner zusammen mit (wahrscheinlich) Architekten den Bau seines Festspielhauses diskutiert, hängt im Hintergrund ein Portrait von ihm selbst – es gibt nunmehr keine anderen mehr, sondern nur noch diesen Mann! Für Bewohner von Weimar gibt es übrigens auch etwas zu sehen, denn Franz Liszt, der später mehrmals als Büste, also als „Kopie“ im Film erscheinen wird, hat in seinem eigenen Weimarer Zimmer selbst zwei Büsten stehen: nämlich je eine von Goethe und Schiller.

Das könnte man sicherlich alles weiter ausführen: als Spiel mit der Repräsentation realer Figuren, und der Repräsentation der Repräsentation realer Figuren, die sich gegenseitig im Film doppeln. Letztendlich ist es sicherlich auch ein Wink an kulturinteressierte Zuschauer, die hier einfach viele bekannte Figuren aus der deutschen und europäischen Kultur- und Zeitgeschichte wieder erkennen können. Und die auch als Schauwerte in Form von Darstellern gezeigt werden: Wagner, Liszt, Bakunin, Meyerbeer, Ludwig II., Wilhelm I., und, damals noch real lebend, Cosima Wagner.

Büsten, Portraits und Doppelgänger
Reale Personen im Film zu zeigen, war 1913 schon nichts mehr neues, egal, ob dokumentarisch oder gespielt. Georges Méliès etwa hatte bereits 1899 mehrere Kurzfilme zu Alfred Dreyfus gedreht und inszenierte ein Jahr später einen Zehnminüter zu Jeanne D‘Arc. Mit der Beteiligung von Louis Feuillade und Abel Gance entstand 1909 ein Kurzfilm zum Leben Molières. RICHARD WAGNER ist auch nicht der erste Langfilm-Biopic: der australische Film THE STORY OF THE KELLY GANG aus dem Jahre 1906 gilt mit knapp 1,2 km Länge (= 60 bis 70 Minuten Laufzeit) der erste „full-length feature film“ der Kinogeschichte, und ist daher auch der erste abendfüllende Biopic überhaupt. Allerdings ist das Werk des Australiers Charles Tait heute zu etwa zwei Dritteln verschollen. Insofern ist es nicht zu weit ausgeholt, RICHARD WAGNER als eines der ersten abendfüllenden und noch erhaltenen Biopics der Filmgeschichte zu bezeichnen.

Entgegen der Entwicklung des modernen Biopics, nur gewisse Lebensabschnitte realer Menschen darzustellen und diese dabei in ein Aufstiegs-und-Fall-(und eventuell Wiederaufrappeln-)Modell zu formen, rauscht RICHARD WAGNER fast von der Geburt, zumindest von der frühen Kindheit, bis zum Tod der Titelfigur durch, und arbeitet dramaturgisch eher fragmentarisch mit kleineren und losen Episoden, als einen großen und konzisen Spannungsbogen zu schließen. Inwiefern in letzterem der Stummfilm nicht vielleicht sogar „moderner“ ist als seine in Genre-Konventionen teils erstarrten Nachfolger Jahrzehnte später, ließe sich streiten. Tatsächlich konnte RICHARD WAGNER unmöglich in irgendwelche starre Genre-Muster geraten: es gab sie ja noch nicht.


Der Hauptdarsteller-Komponist und seine Musik

Der Untertitel von RICHARD WAGNER lautet EINE FILMBIOGRAPHIE ANLÄßLICH DES 100. GEBURTSTAGES DES GROßEN MEISTERS. Schön und gut, doch wie passen Komponisten-Biografie und Stummfilm zusammen? Der ursprüngliche Gedanke des Produzenten Oskar Messter war es, den Film bei Aufführungen mit Originalauszügen aus Richard Wagners Musik unterlegen zu lassen – was ja natürlich auch eine nahe liegende Idee ist. Doch das war nicht möglich, und dafür gibt es zwei verschiedene Erklärungen, die sich allerdings nicht unbedingt gegenseitig ausschließen müssen. Die eine Version besagt, dass die Verlagsrechts-Gebühren, um die Musik des Komponisten nutzen zu können, zu teuer waren bzw. Messter nicht bereit war, diese Summen zu bezahlen. Die andere Version besagt, dass die Wagner-Erben nicht die erhabenen Werke ihres Ahnen für ein Medium hergeben wollten, das vor wenigen Jahren noch eine Jahrmarktsattraktion gewesen war. Gerade Cosima Wagner (die man übrigens im Film auch kurz dargestellt sieht) soll wohl einen besonders heftigen Hass gegen das „triviale“ Medium Film gehegt haben. Diese überhebliche Abneigung gegenüber dem Kino passt zwar irgendwie zum Bild, den man sich von einem Teil des „Wagner-Clans“ so macht, war aber 1913 (wie hier und hier in diesem Blog bereits angesprochen) tatsächlich keineswegs eine besonders exzentrische Meinung. Der Meister selbst konnte also die Musik zu „seinem“ Biopic nicht liefern.

Ein expressiver Darsteller: Giuseppe Becce
Dafür konnte es sein Double! Der Hauptdarsteller von RICHARD WAGNER, der Italiener Giuseppe Becce, war nämlich seines Zeichens überhaupt kein Schauspieler, sondern Komponist. Von Hause aus war er sogar eigentlich Geograf, bildete sich aber nebenher auch umfassend im Bereich Musik weiter, und hatte bis kurz vor Produktion des Films bereits Operetten und Opern komponiert. Eine Anekdote besagt, dass Messter den Italiener, der seit 1900 in Berlin residierte, auf der Terrasse eines Cafés begegnete, und ihn aufgrund seiner physiognomischen Ähnlichkeit mit Richard Wagner sogleich als Hauptdarsteller engagierte. Als das ganze Filmprojekt aufgrund des lauten „Niemals mit Wagners Musik!“ aus Bayreuth kurz vor dem Scheitern stand, bot Becce an, die „Wagner-Musik“ für den Film selbst zu „komponieren“. Er arrangierte ein Potpourri aus großen Klassikern, orchestrierte das ganze nach Wagner‘scher Manier, und arbeitete Anklänge an bzw. verfremdete Variationen von Wagner-Motiven in den Musik-Soundtrack ein: dadurch konnte die Musikbegleitung des Films nach Wagner klingen und an Wagner erinnern, ohne Urheberrechte zu verletzen. Über letzteres ließe sich zumindest streiten, denn gerade „Der Fliegende Holländer“ (wenn Wagner das Schiff besteigt und von einer Vision ereilt wird) ist nun doch praktisch eins zu eins vom Original übernommen. Zeitgenossen sprachen von „Wagner-Vermeidungsmusik“. Ansonsten ist Potpourri tatsächlich das richtige Wort, um die Musik des Giuseppe Becce für RICHARD WAGNER zu beschreiben: zu hören sind unter anderem Motive von Rossini mit der „Diebischen Elster“ und „Wilhelm Tell“ (letzteres während der Dresdener Straßenschlacht-Szenen), von Beethovens Sinfonien (besonders der sechsten und neunten). Persönlich habe ich sie nicht rausgehört, aber wohl auch vorhanden sind Anklänge an Haydn und Mozart. Die Marseillaise ist ebenso zu hören wie auch Klänge aus Felix Mendelssohn Bartholdys Violinkonzert in E-Moll – natürlich ein Paradox, wenn man bedenkt, was der reale Wagner für Mendelssohn Bartholdy übrig hatte (nämlich antisemitische Beschimpfungen).

Becces Musik selbst ist lediglich als Klavierauszug erhalten geblieben. Für das Jahr 2013 hat Bernd Schultheis aus diesem Auszug eine Version für ein großes Orchester arrangiert. Diese ist auch auf der neulich erschienenen DVD zu hören (weiteres dazu unten). Es gibt auf Grundlage des Klavierauszuges auch eine Fassung für Salonorchester, die der Komponist, Dirigent und Stummfilmexperte Helmut Imig für das Wagner-Jahr 2013 arrangierte (diese Fassung habe ich im August 2013 beim Kunstfest in Weimar gehört). Dann existiert auch eine Musikbegleitung für den Film von 1983, erstellt zum 100. Todestag Wagners: der schweizerische Komponist Armin Brunner arrangierte hierfür die nunmehr gemeinfreie Musik des Titelhelden für ein achtzehnköpfiges Ensemble zu einer echten Wagner-Collage – womit er gewissermaßen die ursprüngliche Intention des Produzenten Oskar Messter erfüllte.

Der Komponist-Hauptdarsteller mimt das Komponieren
Dass Giuseppe Becce ein absoluter Schauspiel-Laie war, ist seiner Darstellung des Wagners übrigens nicht im geringsten anzusehen. In der Zeitschrift „Der Kinematograph“ war im September 1913 zu lesen: „Ist die Regie und Inszenierung des gesamten Werkes schon auf voller Höhe, so ist die mimische Darstellung, speziell die des großen Meisters, über alle Erwartungen glänzend gelungen.“ Dem ist nicht viel beizufügen. Gelegentliches Pathos und „Overacting“ ließen sich immer wieder problemlos als geschicktes „Zwischentitel-Vermeidungs-Schauspiel“ bezeichnen!

Bis auf DER ABSTURZ von 1923 war RICHARD WAGNER der einzige Film, in dem Giuseppe Becce eine Rolle mimte. Es war allerdings der Startschuss zu einer höchst umfangreichen Karriere als Filmkomponist – imdb nennt 213 Credits als „composer“ sowie 19 Credits bei „music department“. Darunter finden sich zahlreiche Filmtitel, die „man“ schon einmal gehört hat. Für Robert Wienes DAS CABINET DES DR. CALIGARI komponierte Becce die Premierenmusik, für Fritz Langs DER MÜDE TOD, für Friedrich Wilhelm Murnaus DER LETZTE MANN und TARTÜFF, für Gerhard Lamprechts „Milieufilm“ MENSCHEN UNTEREINANDER und sein MADAME BOVARY, für Leni Riefenstahls DAS BLAUE LICHT, für Gustav Machatýs Skandalfilm EKSTASE sowie für zahlreiche Bergfilme von Luis Trenker ist er ebenfalls als Komponist aufgeführt. Er vertonte auch die gekürzte Tonfilmfassung von DIE WEIßE HÖLLE VOM PIZ PALÜ aus dem Jahre 1935. Ebenfalls hat er Produktionsmusik („stock music“) komponiert, die in der Stummfilmfassung von Lewis Milestones ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT und in James Whales FRANKENSTEIN auftauchte (wenngleich ohne Credits bei den Filmen selbst, sondern nur bei imdb gelistet).

Die Musik des deutschen Kinos der 1910er bis 1940er Jahre wurde also maßgeblich von Giuseppe Becce geprägt. In den 1920er Jahren war er der wichtigste Dirigent für Uraufführungsorchester der UFA, und verfasste zusammen mit dem Komponisten Hans Erdmann (u. a. NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS und DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE) und einem gewissen Ludwig Brav das filmmusiktheoretische „Allgemeine Handbuch der Film-Musik“. Der Italiener verstarb 1973 im stolzen Alter von 96 Jahren in Berlin.


Die anderen Beteiligten

Der Produzent Oskar Messter, der das Projekt RICHARD WAGNER initiierte, ist hingegen kaum anders denn als Filmpionier zu bezeichnen. Der gebürtige Berliner war der Sohn eines Optikers, und übernahm dessen Betrieb. Schon ein Jahr, nachdem das Medium Film erfunden worden war, vertrieb Messter Filmprojektoren und produzierte eigene Filme: zwischen 1896 und 1918 sollten es fast 400 werden. Nach dem Krieg verkaufte er seine Produktionsfirma an das Unternehmen, das später zur UFA wurde. 1924 zog er sich aus dem aktiven Filmgeschäft zurück. 1932 hinterließ er seine große Sammlung cinematographischer Geräte an das Deutsche Museum in München – und erlebte damit selbst eine frühe Form der Musealisierung eines Mediums, das er während seiner Karriere stets als ernst zu nehmende Kunstform propagiert hatte.

Regisseur und Kameramann Carl
Froelich erschafft immer wieder
beeindruckende deep-focus-Bilder
Die beiden Regisseure William Wauer und Carl Froelich, die beide auch als Drehbuchautor respektive Kameramann fungierten, waren 1913 Angestellte in Messters Produktionsfirma „Messter-Film“. William Wauer, der auch eine kleine Rolle übernahm, war hauptberuflich Bildhauer, und als solcher auch eine prägende Persönlichkeit der deutschen expressionistischen und kubistischen Kunst. In den 1920er Jahren war er Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender der „Internationalen Vereinigung der Expressionisten, Kubisten, Futuristen und Konstruktivisten“ (bis zu ihrem Verbot 1933). Eine zeitlang war er auch am Bauhaus tätig. Nebenbei war er Feuilletonist und Theaterregisseur. Als Filmregisseur gründete Wauer 1916 seine eigene Filmgesellschaft, die aber offensichtlich nur knapp ein Jahr lang Filme produzierte. 1921 gab er das Kinogeschäft auf. Während des Nationalsozialismus versuchte er sich zwar, mit dem neuen Regime zu arrangieren, wurde aber dennoch zum Vertreter „entarteter Kunst“ deklariert und marginalisiert. 1962 verstarb Wauer 95-jährig in Berlin.

Carl Froelich war seit Beginn des 20. Jahrhunderts im Filmgeschäft tätig, genauer gesagt war er als Angestellter Oskar Messters für den Bau cinematografischer Geräte verantwortlich und als Kameramann tätig. Anfang der 1920er Jahre gründete er die Carl Froelich-Film GmbH, mit der (bis auf eine fünfjährige Pause nach dem Zweiten Weltkrieg) ununterbrochen bis Anfang der 1950er Jahre Filme produzierte. Sein zweifelsohne aufsehenerregendster Film war MÄDCHEN IN UNIFORM (1931), den er mit der Theaterregisseurin Leontine Sagan co-inszenierte (es ist gemeinhin zu lesen, dass Sagan die Schauspielerinnen anführte, während der „künstlerische Leiter“ Froelich sich auf technische Fragen beschränkte). Der Film wurde aufgrund seiner Darstellung weiblicher Homosexualität von den Nationalsozialisten verboten. Froelich hinderte dies allerdings nicht daran, ab 1933 eine große Karriere zu machen. Im selben Jahr trat er in die NSDAP ein, wirkte jahrelang aktiv als Funktionär in der nationalsozialistischen Filmindustrie und wurde 1939 Präsident der Reichsfilmkammer. Dieses Amt übte er bis 1945 aus. Nach dem Ende des Weltkrieges und der Entnazifizierung drehte er Anfang der 1950er Jahre noch zwei Komödien, bevor er 1953 in Berlin verstarb.

Filmfehler oder bewusster Bruch der vierten Wand?
Ernst Reicher als bayerischer König Ludwig II.
Über Manny Ziener, die Wagners erste Ehefrau Minna Planer spielt, gibt es nicht gerade besonders viel Informationen. Ihr Geburts- und Todesdatum scheint umstritten zu sein (1887 oder 1893 respektive 1971 oder 1972). Sie kam Anfang der 1910er vom Theater zum Film, war allerdings in den 1920er Jahren ausschließlich als Theaterschauspielerin und Kabarettistin tätig, bevor sie in den 1930er Jahren wieder zum Film zurückkehrte.
Die Darstellerin Miriam Horwitz, ist ein noch weiter unbeschriebenes Blatt, zumal sie sich den Namen mit einer 1984 geborenen TV-Schauspielerin teilt. Ihre beiden einzigen Rollen außer Mathilde Wesendonck spielte sie einmal 1913 und einmal 1959.

Wesentlich bekannter in der Stummfilm-Ära war hingegen der Mime des bayerischen Königs, Ernst Reicher. Der Schauspielersohn war zunächst am Theater tätig, bevor er 1912 zum Film kam und Joe May kennen lernte. Gemeinsam erfanden sie die überaus beliebte Detektiv-Figur Stuart Webbs: zwischen 1913 und 1929 entstanden über 40, größtenteils abendfüllende Filme mit dem Gentlemen-Ermittler. Joe May führte bei den ersten vier Filmen Regie, und Ernst Reicher verkörperte bis im Jahre 1926 (mit einer Ausnahme) jedes Mal die Hauptfigur. Seit 1913 war letzterer auch als Regisseur bzw. seit 1915 als Produzent tätig. 1933 floh Reicher, der jüdischer Herkunft war, in die Tschechoslowakei, wo der einst beliebte Detektiv-Mime in Vergessenheit und Armut geriet. Im Frühling 1936 beging er in einem ärmlichen Prager Hotel Selbstmord.


Wagner-Kult, Wagner-Bild und Nationalsozialismus

RICHARD WAGNER entstand 100. Jahre nach der Geburt der realen Titelfigur, ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, und zwanzig Jahre vor dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, und ist daher auch als ein Dokument der Wagner-Rezeption zu sehen: also des Umgangs mit einer der (wenn nicht sogar DER) umstrittensten Figuren der deutschen Kulturgeschichte.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg erreichte der Wagner-Kult in Deutschland einen Höhepunkt, der durch das Jubiläumsjahr noch befeuert wurde. Mehrere Denkmäler und Büsten für den Komponisten wurden seit der Jahrhundertwende, verstärkt aber um 1913 geschaffen und eingeweiht. Sicherlich ist auch der Film RICHARD WAGNER eine Art Denkmal für den umstrittenen Komponisten: eine Verklärung, die ganz und gar unkritisch an sein Subjekt herangeht. Wagner wird geradezu zum Held stilisiert (wodurch der Film zwischendurch eben auch den Drive eines Abenteuerfilms entwickelt).

Der Wagner in Messters Biopic ist schon früh ein Hochbegabter, und später ein zu Unrecht von der Mehrheit belächeltes und verachtetes Genie. Geradezu als Märtyrer erscheint er in seiner Armut, wird permanent von gemeinen Gläubigern verfolgt – dass Wagner (meist in seinem schieren Größenwahn) nicht mit Geld umgehen konnte, zeigt der Film durchaus, aber es taucht immer eine „deus ex machina“ auf, die ihn rettet. Er ist auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen ein unschuldiger Märtyrer, denn immer, wenn er sich gerade mit jemandem gut versteht, funkt jemand dazwischen: Seine Ehefrau etwa, wenn er mit Mathilde Wesendonck... „über seine nächste Oper spricht“, oder die bösen intriganten Minister und Münchener, wenn er nur mit seinem besten Buddy Ludwig abhängen möchte. 

Das steht natürlich alles im Kontrast zur düsteren Seite Wagners. Dessen Urenkel, Gottfried Wagner, wies als „Querschläger“ im Wagner-Jahr 2013 darauf hin, dass man den umstrittenen Komponisten keineswegs nur auf seinen Antisemitismus reduzieren könne: er sei schließlich auch ein zorniger Frauenverächter, ein von Hass zerfressener Misanthrop, ein nach oben buckelnder und nach unten tretender Kriecher und Speichellecker, ein früher und überzeugter Vertreter des modernen biologischen Rassismus und völkischen Nationalismus, ein krankhafter und intrigierender Narzisst und ein wahnhafter Apokalyptiker voller zynischer und menschenverachtender Erlösungs-, Todes- und Vernichtungsfantasien gewesen. Gottfrieds „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir: Richard Wagner – ein Minenfeld“ ist sicherlich sehr polemisch, erinnert aber noch mal in aller Deutlichkeit daran, welch eine unangenehme Person Wagner gewesen ist.

Wagner mit polnischen Revolutionären, einem jüdischen
Freund, in einer Straßenschlacht, mit Kaiser Wilhelm I.
Davon ist natürlich in RICHARD WAGNER nichts zu spüren. Allerdings lässt sich der Film auch keineswegs als deutsch-nationale Form der Wagner-Rezeption interpretieren, denn dafür ist eine Struktur viel zu impressionistisch, und das Drehbuch viel zu sehr als Heldenbiografie über individuelle Genialität angelegt. Wagners Antisemitismus taucht auch nicht auf (der Film machte sich gewissermaßen auch die Normalität des Antisemitismus nicht zu eigen). Vielmehr wird die Titelfigur in Riga von einem offenbar befreundeten Juden (an seinen Schläfenlocken zu erkennen) tatkräftig bei der Flucht unterstützt: er besorgt die Kutsche, organisiert den Wechsel der Pferde, und bringt Richard und Minna Wagner sicher über die Grenze zum Schiff. Wenn, dann wird Wagner tatsächlich eher als „linker“ Revolutionär dargestellt, in den Szenen mit Bakunin und den Dresdener Straßenkämpfen – gerade letztere dienen aber eher als actionreiche Schauwerte denn als tiefgründige politische Reflexionen. Später empfängt Wagner den deutschen Kaiser Wilhelm I. zu den Nibelungenfestspielen, allerdings war gerade Wilhelm I. alles andere als eine deutschnationale Identifikationsfigur.

Wie bzw. überhaupt ob RICHARD WAGNER in den Jahren 1933 bis 1945 erneut gezeigt, ausgewertet, umgearbeitet, gedeutet oder vielleicht auch unter Verschluss gebracht wurde, kann ich nicht sagen. Zu beachten wäre natürlich, dass zwischen 1913 und 1933 das Aufkommen des Tonfilms liegt, insofern der Film am wahrscheinlichsten zu einer Tonfassung umgeschnitten bzw. umgearbeitet worden wäre (wie etwa mit Fritz Langs DIE NIBELUNGEN: SIEGFRIED geschehen).

Gerade der weitere Lebenslauf der Beteiligten zeigt, dass die Zeitgeschichte natürlich nicht einfach so an ihnen vorüber gegangen ist, wenn einer der Regisseure knapp ein Vierteljahrhundert später zu einem der höchsten nationalsozialistischen Filmfunktionäre aufsteigt, oder der Mime des ersten ganz großen Wagner-Liebhabers zum Verfolgten und Opfer der unheilvollsten aller Wagner-Liebhaber wurde.

All diese Ausführungen zur Verknüpfung von problematischer Persönlichkeit, Wagner-Rezeption und -Kult und den Entwicklungen des völkischen Nationalismus hin zum Nationalsozialismus sind als Fragen, als Denkanstöße, nicht als fixe Antworten gedacht. Ich denke, als fiktionaler, „epischer“ Film (sozusagen als Wagner, wie man ihn sich wünschen könnte) ist RICHARD WAGNER problemlos zu genießen. Als eine bestimmte Form der Wagner-Rezeption kann man den Film durchaus mit Fragen im Hinterkopf sehen – denkendes und vergnügt-unterhaltsames Filmeschauen sind ja bekanntlich keine Gegensätze.


Zur DVD

Seit Dezember letzten Jahres ist RICHARD WAGNER auf einer DVD von universumfilm erhältlich. Hier die Erklärung zur Restauration zu Beginn des Films: „Die Restaurierung fand 2011/12 durch das EYE Film Institute Netherlands, Amsterdam, in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden statt. Von zwei viragierten und getonten 35mm-Nitrokopien aus der Desmet Collection des EYE Film Institute Netherlands wurde ein 35mm-schwarzweiß-Dup-Negativ hergestellt. Den davon gezogenen Kopien wurden die Färbungen nach der Desmet-Methode hinzugefügt. Bei der Digitalisierung in 2K-Auflösung wurden die Färbungen nochmals überarbeitet. Die Texte der deutschen Zwischentitel folgen einem Programmheft aus dem Deutschen Filminstitut – DIF, Frankfurt am Main. Die Texte für die deutschen Inserts wurden aus einer 16-mm-Safetykopie der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung übernommen.“
Bei der Musik handelt es sich um eine Live-Aufzeichnung der Restaurations-Uraufführung am 22. Mai 2013 im Festspielhaus Baden-Baden, mit der von Bernd Schultheis bearbeiteten, arrangierten und instrumentierten Musik Giuseppe Becces, gespielt von der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter der Leitung von Frank Strobel.
Der Film dauert etwa 98 Minuten bei einer Geschwindigkeit von 18 Bildern pro Sekunde. Das Bild ist, dem Alter des Films entsprechend und mit einigen Schwankungen, überaus gut. Extras enthält die DVD leider überhaupt keine. Dafür gibt es im Archiv von arte einiges zu stöbern.