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Freitag, 9. September 2022

Ich werde dich töten, Wolf

ICH WERDE DICH TÖTEN, WOLF
Deutschland (BRD) 1970
Regie: Wolfgang Petersen
Darsteller: Ursula Sieg (Uschi), Wolf Roth (Wolf), Helmut Heckelmann (Berliner im Zug), Alberto Sozzi (Italiener im Zug), Tilly Zinner (alte Dame im Zug), Theodor Pamin (Vermieter), Ingrid Oppermann (Wolfs Frau), Hans Dörnbrandt (Wolfs Bühnenpartner), Wolfgang Petersen (Heizer)

Uschi, eine Frau Anfang bis Mitte Dreißig, fährt, zunächst allein im Abteil, mit dem Zug nach Berlin (West). Nach und nach füllt sich das Abteil, doch Uschi beteiligt sich nicht an den sporadischen Gesprächen. Sie ist in Gedanken versunken, denn sie ist unterwegs, um einen Mord zu begehen, wie wir gleich ganz am Anfang durch einen inneren Monolog erfahren. Die Fahrt im Zug bildet die Haupt-Zeitebene, zumindest in den ersten zwei Dritteln des einstündigen Films, mehrfach unterbrochen durch Rückblenden, die die Vorgeschichte des Mordplans erzählen.
Sie wird ihn töten
Wolf ist ein begabter, aber vorerst nur mäßig erfolgreicher Theaterschauspieler irgendwo in der Provinz. Uschi lernt ihn kennen, als sie eine seiner Vorstellungen besucht (man gibt eine Bühnenfassung von "Von Mäusen und Menschen") und ein Autogramm erbittet. Schnell werden die beiden ein Liebespaar, doch glücklich wird Uschi nicht. Zunächst erfährt sie quasi nebenbei, dass Wolf verheiratet ist. Doch er erzählt ihr, dass er unter seine Frau, einer Grundschullehrerin, leidet, weil diese nicht ganz normal sei. Einmal hat sie auf einer Klassenfahrt eines der ihr anvertrauten Kinder, das ihr unsympathisch war, einfach in einem Steinbruch zurückgelassen. Als Wolf ein attraktives Rollenangebot aus München erhielt, hat sie versucht, ihn mit einem Pilzgericht zu vergiften, nach einem weiteren Angebot aus Berlin hat sie ihn beinahe "aus Versehen" überfahren. So erzählt es zumindest Wolf, und zunächst haben wir als Zuseher und Uschi keinen Grund, daran zu zweifeln. Nun sei er komplett entnervt, fährt er fort, und schon kurz vor dem Selbstmord. Es gibt nur einen Ausweg: Wolfs Frau muss sterben. Und er hat auch schon einen Plan. Demnächst wird sie mit ihren Schülern einen Ausflug zu einem abgelegenen Aussichtsturm unternehmen, der auf einer Seite nur eine sehr niedrige Brüstung hat. Und weil Wolf den Anschlag nicht selbst unternehmen kann, ohne sich verdächtig zu machen, muss Uschi den entscheidenden Schubs geben. Niemand sonst wird da sein, niemand kann sie mit Wolfs Frau in Verbindung bringen, und die Kinder sind zu jung, um als Zeugen eine Gefahr zu sein.
Zugfahrt mit sinistrer Absicht
Am fraglichen Tag steht Uschi einsam auf dem nebelverhangenen Turm. (In der Realität handelt es sich um den Berliner Grunewaldturm, doch im Nebel wirkt er viel moderner als dieses wilhelminische Ding, fast schon brutalistisch-avantgardistisch, und die heute vorhandenen Sicherheitsgitter gab es damals noch nicht.) Ohne sichtbare Emotionen wartet sie auf die Schulklasse, und dann zögert sie auch nicht lange, und sie stürzt Wolfs Frau in den Tod. Doch schon kurz danach folgt herbe Ernüchterung. "Die Liebe kommt, die Liebe geht", erklärt ihr Wolf, und er habe jetzt wieder ein attraktives Angebot aus Berlin, eine Hauptrolle in einer Brecht-Aufführung, und er gibt ihr freundlich, aber bestimmt den Laufpass. Als ihm Uschi am Bahnhof noch etwas hinterhergeht, sieht sie, wie er eine andere Frau umarmt. Sie nimmt das alles äußerlich gefasst hin, aber sicherlich stellt sie sich dieselben Fragen wie wir als Publikum: Wurde sie von Wolf nur ausgenutzt? War sie von Anfang an nur ein naives Werkzeug, um seine Frau auf bequeme und für ihn gefahrlose Weise loszuwerden? Selbst wenn sie geschnappt worden wäre, hätte er ja sagen können, dass sie aus eigenem Antrieb einen Eifersuchtsmord begangen hat und er nichts damit zu tun hat. Und hatte er womöglich schon die ganze Zeit eine andere Geliebte? Uschi kommt offenbar zu dem Schluss, dass alles genauso war, und die Konsequenz, die sie daraus zieht, steht schon im Titel des Films.
Der Turm des Todes
Nach 40 Minuten im Film ist der Zug angekommen (die damals eigentlich nötigen Umstände einer Bahnreise aus der BRD durch die DDR nach West-Berlin ignoriert Petersen komplett); der Rest spielt in Berlin, und es gibt keine Rückblenden mehr. Uschi mietet ein Appartement in Grunewald und zahlt bar einen Monat im Voraus. Der Vermieter entpuppt sich als Spanner - unmittelbar nach Erhalt der Miete wetzt er in ein Nachbarhaus, wo er selbst wohnt, erklimmt auf dem Dachboden einen "Hochsitz" in Form einer Stehleiter und beobachtet durch eine Dachluke mit einem Fernglas Uschi hinter der großen nackten Glasfront des Appartements ("die Gardinen hat meine Frau gerade in der Wäsche", hat er ihr zuvor weisgemacht). Doch just als sich Uschi auszieht, bricht der Hochsitz krachend zusammen, und der Spanner landet auf dem Hosenboden - Pech gehabt.
Der erste Mord
Wolf spielt jetzt auf einer großen Bühne den Baal, und Uschi besucht wieder einmal eine seiner Vorstellungen. Irgendwie (wie genau, lässt der Film offen) schleppt sie ihn in das Appartement ab, und die beiden schlafen miteinander - Wolf lässt offenbar nichts aus. Doch als er schon selig neben ihr schlummert, schleicht Uschi in die Küche, holt ein großes Messer und sticht wild auf ihn ein. Nach vollbrachter Tat bleibt sie erst mal auf dem Bett neben dem toten Wolf sitzen bis zum Morgen. Erst dann packt sie ihre wenigen Sachen zusammen und ruft ein Taxi, um zu verduften. Gerade noch rechtzeitig, denn der Spanner-Vermieter hat mit seinem Fernglas die Leiche entdeckt und die Polizei alarmiert, nachdem er vor Schreck erneut von seinem Hochsitz auf seinen Allerwertesten plumpste. "Bitte fahren Sie etwas schneller", sagt Uschi zum Taxifahrer, als sie die Blaulichter und Sirenen bemerkt, doch es klingt, als wolle sie nur ihren Zug nicht verpassen. Wahrscheinlich wird sie ungeschoren davonkommen, und die geradezu hymnische Schlussmusik verstärkt diesen Eindruck.
Kein glückliches Paar mehr
Das Thema von ICH WERDE DICH TÖTEN, WOLF ist düster, doch Petersens bisweilen gallig-ironische Inszenierung sorgt dafür, dass es nicht zu ernst wird (der ferkelige Vermieter ist da nur ein Beispiel unter mehreren) - Petersen selbst hat den Film sogar ausdrücklich als "unernst" bezeichnet. Wolfgang Petersen hatte von 1966 bis 1970 an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) Regie studiert, und ICH WERDE DICH TÖTEN, WOLF ist sein dortiger Abschlussfilm, gedreht im Oktober und November 1969. Eigentlich hatte er nur ein Budget von 10.500 DM zur Verfügung, was nur für einen Kurzfilm gereicht hätte, doch er war wild entschlossen, einen zumindest einstündigen Film zu machen. So drehte er drauflos, steuerte sehenden Auges auf die Budgetüberschreitung zu, und als das Geld alle war, ging er mit dem bereits gedrehten Material zur DFFB-Leitung, um mehr loszueisen. Letzten Endes erhielt er 50.000 DM, aber ein erheblicher Teil der Kosten konnte wieder hereingeholt werden, weil es gelang, den Film an den NDR zu verkaufen.
Trennung
50.000 DM waren, auch inflationsbereinigt, natürlich immer noch ein mickriger Betrag für einen Spielfilm. Immerhin konnte zwar in Schwarzweiß, aber auf 35 mm gedreht werden, aber der Zeitrahmen von 60 Minuten bedingte, dass es zwischen den Rückblenden jeweils Sprünge in der Zeit und im aktuellen Status der Beziehung von Uschi und Wolf gibt. Der Zuschauer wird über diesen Status aber nie im Unklaren gelassen oder gar verwirrt, so dass die Geschichte zwar etwas elliptisch, aber trotzdem flüssig erzählt wird - Petersen hat hier also sehr ökonomisch gearbeitet. Den Kosten war es auch geschuldet, dass der Film zum größten Teil in West-Berlin gedreht wurde, auch die Szenen, die in der ländlichen Provinz spielen. Nur die Zugfahrt wurde an der Strecke Hamburg-Flensburg gedreht. Abgesehen davon, dass eine Dampflok und ein Nebengleis für vier Stunden zum Preis von 300 DM von der Bundesbahn angemietet wurden, wurden dafür nur reguläre Bahnfahrten benutzt - das Team fuhr eine Woche lang zwischen Hamburg und Flensburg hin und her, um die Szenen in den Kasten zu bekommen. Auch die Ausgaben für die Schauspieler waren sehr gering - sie erhielten kaum mehr als ein Taschengeld. Neben den beiden Hauptdarstellern war nur Helmut Heckelmann, der einen dicken Berliner im Zugabteil spielt, ein echter (aber kein bekannter) Schauspieler. Ingrid Oppermann, Wolfs Frau im Film, studierte ebenfalls Regie an der DFFB, und nebenbei kam sie im Lauf der Jahre auf ungefähr ein Dutzend Film- und Fernsehrollen. Alle anderen auf der Leinwand waren Laiendarsteller, so war etwa der Vermieter im echten Leben ein Taxifahrer.
Ein unanständiger Vermieter
Ursula Sieg war Petersens erste Frau, sie waren von 1970 bis 1978 miteinander verheiratet. Kennengelernt hatten sie sich schon in den frühen 60er Jahren an einem Hamburger Theater, wo Petersen als Regieassistent und Schauspieler tätig war. Siegs Uschi ist unterkühlt, introvertiert, wortkarg, aber das ändert nichts daran, dass man trotz des ersten Mordes mit der Figur sympathisieren kann (den zweiten Mord gönnt man dem bösen Wolf ohnehin). Wolf Roth (der auch im Film vollständig Wolf Roth heißt) gehörte (wie Klaus Schwarzkopf und Jürgen Prochnow) zu den Darstellern, mit denen Petersen mehrfach gearbeitet hat: Viermal spielte er unter Petersen im TATORT Kommissar Finkes Assistenten Jessner, dazu kam noch eine Nebenrolle in EINER VON UNS BEIDEN. Seinen Wolf stattet er mit einer gewissen Portion Exaltiertheit aus, so dass man ihm beim ersten Sehen des Films den leidenden Wolf noch abnimmt, aber beim zweiten Mal, wenn man seinen Charakter und seine Absichten kennt, den unlauteren und manipulativen gelernten Schauspieler herauslesen kann. Kurz, er macht seine Sache sehr gut.
Der zweite Mord
ICH WERDE DICH TÖTEN, WOLF hatte im Juni 1970 auf der Berlinale in der Reihe "Info-Schau" seine Premiere, und die Erstausstrahlung in der ARD erfolgte im April 1971. Dabei hinterließ er einen guten Eindruck - so wie zuvor schon bei Dieter Meichsner, dem langjährigen Fernsehspielchef des NDR. Schon im selben Jahr 1971 inszenierte Petersen für den NDR mit BLECHSCHADEN die erste der TATORT-Folgen mit Kommissar Finke. Insgesamt gab es davon sieben, alle bis auf die letzte unter der Regie von Petersen. ICH WERDE DICH TÖTEN, WOLF war also seine Eintrittskarte für größere Aufgaben (und das ist ja auch der Sinn solcher Abschlussfilme). Zum Schluss soll der Regisseur selbst das Wort haben:
"ICH WERDE DICH TÖTEN, WOLF ist zu einem Film der Zitate aus allem geworden, was ich im Kino gerne mochte. Hitchcock kommt vor, Truffauts DIE BRAUT TRUG SCHWARZ, von Polanski eine gewisse Brutalität. [Apropos Hitchcock: Petersen gönnt sich ein Cameo als Heizer in der Dampflok des Zugs nach Berlin.] Alles in diesem Film ist in Anführungsstrichen zu sehen. Ich spielte mit allen möglichen Stilmitteln, ein typischer Akademiefilm. Ich war gefangen im Nachdenken über filmische Sprache und wußte, daß mir das Finden einer eigenen Sprache noch bevorstand." (Wolfgang Petersen/Ulrich Greiwe: Ich liebe die großen Geschichten, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1997, S. 81)
Erfreulicherweise kann man ICH WERDE DICH TÖTEN, WOLF im DFFB-Archiv kostenlos streamen.
Wolfgang Petersen schippt Kohlen

Mittwoch, 9. Juni 2021

Der merkwürdige Monsieur Victor

L'ÉTRANGE MONSIEUR VICTOR (DER MERKWÜRDIGE MONSIEUR VICTOR)
Frankreich / Deutschland 1938
Regie: Jean Grémillon
Darsteller: Raimu (Victor Agardanne), Pierre Blanchar (Bastien Robineau), Madeleine Renaud (Madeleine Agardanne), Viviane Romance (Adrienne Robineau), Andrex (Robert Cerani), Georges Flamant (Amédée), Édouard Delmont (Kommissar Paroli), Charles Blavette und Armand Larcher (Inspektoren), Marcel Maupi (Rémi), Marcelle Géniat (Victors Mutter)

Im Hafen von Toulon
Toulon um 1930. Die südfranzösische Hafenstadt mit ihren verwinkelten alten Vierteln wird von braven Händlern und Handwerkern, Mitgliedern der Halbwelt und dem einen oder anderen Schurken bewohnt. Da ist zum Beispiel der integre, aber leicht aufbrausende Schuster Bastien, der mit der etwas leichtlebigen Adrienne in einer nicht spannungsfreien Ehe lebt. Zusammen haben sie einen kleinen Sohn. Gleich nebenan hat der gutbürgerliche Victor Agardanne sein Geschäft für Bekleidung und diesen und jenen Krimskrams. Er ist schon im fortgeschrittenen Alter, aber seine deutlich jüngere Frau Madeleine hat gerade ihr erstes Kind zur Welt gebracht, auch einen Sohn. Darüber ist Victor völlig aus dem Häuschen. Ohnehin in seinem Verhalten etwas fahrig und exaltiert, mit ausgeprägter Körpersprache, steigert er sich in einen nervösen Rausch der Fürsorglichkeit, und nebenbei schenkt er aus lauter Freude Bastiens Sohn Spielzeug aus seinem Laden. Wer so um den Nachwuchs besorgt ist, kann nur durch und durch ein Gutmensch sein - denkt man als Zuseher in den ersten Minuten. Doch weit gefehlt. Denn nebenbei ist Victor auch der Hehler und Vordenker einer Diebesbande, die aus den Ganoven Amédée, Robert und Rémi besteht. Die Bande hat gerade ein Schloss und eine Kapelle ausgeraubt, und so trifft man sich bei Victor im Hinterzimmer zur Übergabe der Beute. Im Umgang mit seinen Komplizen ist Victor überhaupt nicht nervös, sondern kalt und kontrolliert.

Zwei sehr unterschiedliche Paare - Bastien und Adrienne (oben), Victor und Madeleine
Aber diesmal läuft alles schief. Amédée hat genug davon, dass Victor den Großteil des Reibachs behält, ohne ein eigenes Risiko zu tragen. Diesmal will er ihm wesentlich mehr abpressen, und er droht, Victor in anonymen Briefen als Hehler zu denunzieren. Als er ihm ins Gesicht sagt, dass damit auch seine Frau und sein Kind hineingezogen werden und ihr Ruf ruiniert wird, verliert Victor die Kontrolle, und er ersticht Amédée in einer dunklen Seitengasse - und zwar unglücklicherweise mit einer Schusterahle von Bastien, die er zufällig gerade bei sich hatte, und die er in der Leiche zurücklässt. Noch dümmer für Bastien ist, dass Amédée Stunden zuvor mit Adrienne angebandelt hatte und Bastien deshalb eine heftige Auseinandersetzung mit ihm führte, die das ganze Viertel mitbekommen hat. So ist die Sache klar - Bastien hat Amédée aus Eifersucht erstochen! Der Film hält sich nicht mit Ermittlungen oder einem Gerichtsverfahren auf - in der nächsten Szene nach Untersuchung und Abtransport der Leiche ist Bastien schon zu zehn Jahren Straflager auf den Îles du Salut in Französisch-Guayana verurteilt, zu denen auch die berüchtigte "Teufelsinsel" gehört. Dort erfährt Bastien schon nach kurzer Zeit durch ein amtliches Schreiben, dass sich Adrienne in seiner Abwesenheit von ihm scheiden ließ. Es interessiert ihn kaum - wichtiger ist, wie er hier wegkommt.

Victor in seinem Laden mit einer Kundin, und die Ganoven
Sieben Jahre später - wir sind jetzt in der Gegenwart von 1938. Die Tat von damals und die unbeabsichtigten Folgen für Bastien ließen Victor nicht unberührt. Natürlich hat er sich nicht selbst belastet, aber er hatte schon beim Prozess (unvorsichtigerweise, und ohne jeden Erfolg) behauptet, dass Bastien unschuldig sei. Seitdem arbeitet es in ihm, und er ist oft griesgrämig, ohne ersichtlichen Grund für sein Umfeld, worunter seine Ehe mit Madeleine etwas leidet. Und er hat seitdem Adrienne heimlich finanziell unterstützt, um die Ausbildung ihres Sohns an einer guten Schule zu sichern. Adrienne wiederum hat schon lange ein Verhältnis mit Amédées früherem Komplizen Robert, und nun haben die beiden auch geheiratet - wobei der immer noch halbseidene Robert vielleicht mehr an Victors Zahlungen als an Adrienne selbst interessiert ist. Und just zu dieser Hochzeit platzt die Nachricht herein, dass Bastien von der Strafinsel geflohen ist und in der Nähe von Toulon gesehen wurde. Bastien geht es nicht um Adrienne, die er längst abgehakt hat, sondern darum, seinen mittlerweile jugendlichen Sohn Maurice wiederzusehen. Die Polizei in Person des alten Kommissar Paroli (der auch ein Freund von Victor ist) ist alarmiert. Es wird eine Belohnung in Höhe von 20.000 Francs auf Bastien ausgesetzt, und Maurice soll zusätzlich als Köder für Bastien dienen. Das geht schief, weil sich Maurice strikt weigert, dabei mitzuspielen. Doch Robert kommt auf dieselbe Idee, und er hat mehr Erfolg, weil er ja schon seit Jahren ein Ersatzvater (wenn auch vielleicht kein besonders guter) für Maurice ist.

Ein Mord bahnt sich an
Bastien ist unterdessen ausgerechnet bei Victor aufgekreuzt. Nicht etwa, weil er ihm irgendwie auf die Schliche gekommen wäre und sich rächen will, sondern weil Victor damals für ihn ausgesagt hatte und Bastien nun ihn um Hilfe dabei bittet, an Maurice heranzukommen. Victor wird nun regelrecht von seinem Schuldkomplex überwältigt. Er nötigt Bastien, der eigentlich erst mal wieder verschwinden wollte, geradezu, bei ihm in der Wohnung unterzutauchen. Madeleine macht er weis, dass es sich um einen alten Freund handle (den er merkwürdigerweise bisher nie erwähnt hatte), der von der Fremdenlegion entwichen sei und jetzt untertauchen müsse. Madeleine riecht den Braten schnell und erkennt Bastien, aber sie hält dicht. Nach einigen Tagen im Haus der Agardannes hat sich Bastien in Madeleine verliebt, aber andererseits ist da sein Dank und seine Bewunderung für seinen vermeintlichen Vorzeigefreund Victor. Und auch Madeleine ist hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu ihrem oft unleidlichen Mann und dem jüngeren leidenschaftlichen Gast, der (vielleicht) ein Mörder ist. Am Ende hat Robert mit Hilfe von Maurice herausgefunden, was er wissen wollte. Er schickt, um die Belohnung zu kassieren, Victor die Polizei ins Haus. Der mutiert noch einmal kurz zum kühl überlegenden Verbrecher, der alles auf eine Karte setzt, aber es nützt nichts mehr. In einem finalen Tumult wird Victor als der wahre Mörder enttarnt, überwältigt und vor einer gaffenden Menge ins Gefängnis gefahren. Fin. Vielleicht wird es eine gemeinsame Zukunft für Bastien und Madeleine geben, aber das lässt der Film offen.

Bastien kehrt nach Toulon zurück ...
L'ÉTRANGE MONSIEUR VICTOR ist eine deutsch-französische Coproduktion, aber gefühlt ist es ein rein französischer Film, weil er in Toulon spielt und alle Darsteller sowie der Regisseur Franzosen waren. Es gibt genug Aufnahmen, die erkennbar in und um Toulon gedreht wurden, aber die Einstellungen in Studio-Sets entstanden in den Berliner UFA-Ateliers. Einer der beiden Set-Designer des Films war Otto Hunte, der in den 20er Jahren an einigen der Hauptwerke von Fritz Lang maßgeblich beteiligt war. Insbesondere mit METROPOLIS hat er sich in die Geschichtsbücher der Filmarchitektur eingetragen, aber auch JUD SÜSS muss er sich ankreiden lassen. Einen wichtigen deutschen Beitrag zu L'ÉTRANGE MONSIEUR VICTOR lieferte auch Kameramann Werner Krien. Stilistisch ist der Film eine Art von Bindeglied zwischen dem Poetischen Realismus Carné'scher Prägung und dem südfranzösischen Kino eines Marcel Pagnol - wobei letzteres doch etwas die Oberhand behält. Vor allem gibt es deutliche Parallelen zwischen Jean Grémillons Toulon und Pagnols Marseille-Trilogie (MARIUS, FANNY und CÉSAR, 1931-36): Ein malerisches Hafenviertel am Mittelmeer, das von allerlei illustren Kleinbürgern bewohnt wird, und auch in der Trilogie spielt Raimu mit César eine der Hauptrollen. Hätte Marcel Carné Regie geführt (oder Jacques Prévert das Drehbuch geschrieben), dann hätte Victor am Ende wohl der verdiente Tod ereilt, und vielleicht wäre auch Bastien als tragischer Held gestorben (wie Jean Gabin gleich zweimal bei Carné, während er in Grémillons GUEULE D'AMOUR diesem Schicksal entgeht). Doch so gilt hier eher die Devise "leben und leben lassen", auch wenn dann doch mal jemand stirbt, wie Amédée. Am Ende löst sich zwar nicht alles in Wohlgefallen auf, vor allem natürlich nicht für Victor, aber dräuende Schicksalsschwere und Fatalismus gibt es hier nicht. Die Anklänge an den Poetischen Realismus liegen mehr im Visuellen. Zwar gibt es reichlich südfranzösische Sonne, aber Grémillon und Werner Krien gelingen auch sehr atmosphärische Nachtaufnahmen. In seinem nächsten Film, REMORQUES von 1941, bei dem Jacques Prévert tatsächlich einer der Autoren war, kam Grémillon der fatalistischen Stimmung des Poetisches Realismus deutlich näher.

... und taucht bei strömendem Regen bei Victor auf
Der in der Normandie geborene Jean Grémillon (1901-1959, manche Quellen nennen 1898 als Geburtsjahr) war außerhalb Frankreichs lange Zeit mehr oder weniger vergessen, auch wenn etwa Jonathan Rosenbaum nicht müde wurde, den Regisseur und seine Filme zu preisen. Das änderte sich spätestens 2012, als Criterion in den USA ein DVD-Set mit drei Filmen herausbrachte, nämlich REMORQUES, LUMIÈRE D'ÉTÉ und LE CIEL EST À VOUS (1941/43/44). Diese Veröffentlichung fand viel positive Resonanz und machte Grémillons Namen zumindest in Cineastenkreisen wieder bekannter. Nachdem er in den 20er Jahren etliche Dokumentarfilme gedreht und daraus auch einen Avantgardefilm montiert hatte, folgten am Ende der Stummfilmzeit zwei beachtliche Spielfilme, aber mit dem Misserfolg seines ersten Tonfilms 1930 begann eine lange Durststrecke, in der er auch einige erfolglose Filme in Spanien drehte (deren einer immerhin von Luis Buñuel coproduziert wurde). Erst mit dem schon erwähnten GUEULE D'AMOUR von 1937 kam er daraus wieder hervor. Die drei Filme der Criterion-Box gelten als die Höhepunkte in Grémillons Schaffen. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte er wegen notorischer Finanzierungsschwierigkeiten nur noch drei Spielfilme vollenden, danach drehte er wie am Beginn seiner Laufbahn wieder einige Dokumentarfilme. In seinen späten Jahren hatte Grémillon auch eine führende Position in der Cinémathèque Française. In seiner Hochphase arbeitete er zweimal mit Jean Gabin und mehrfach mit Madeleine Renaud als Hauptdarsteller, auch Nebendarsteller wie Charles Blavette beschäftigte er mehrfach.

Adrienne zwischen zwei Männern
Das südfranzösische Moment in L'ÉTRANGE MONSIEUR VICTOR kommt nicht nur durch den Schauplatz zum Tragen, sondern auch durch die Darsteller, von denen mehrere aus der Region stammten und in vielen dort spielenden Filmen mitgewirkt hatten, insbesondere (aber nicht nur) in solchen von Pagnol. Einigen der Schauspieler sind wir in diesem Blog schon begegnet - Édouard Delmont (Kommissar Paroli) in Renoirs TONI und LA MARSEILLAISE sowie im weiter nördlich angesiedelten JE T'ATTENDRAI, Charles Blavette (der einen von Parolis Inspektoren spielt) gab den Titelpart in TONI, war beim Wahlkampffilm LA VIE EST À NOUS dabei und ebenfalls bei LA MARSEILLAISE, und Andrex (Ganove Robert) wiederum bei TONI und LA MARSEILLAISE. Marcel Maupi (Rémi) sind wir hier noch nicht begegnet, aber auch er stammte aus Marseille und spielte öfters für Pagnol. Pierre Blanchar dagegen kam aus noch südlicheren Gefilden, nämlich aus dem damaligen Übersee-Département Algerien. Nur die beiden weiblichen Hauptdarsteller stammten aus dem nördlichen Frankreich. Das schauspielerische Epizentrum von L'ÉTRANGE MONSIEUR VICTOR bildet aber zweifellos Raimu (bürgerlich Jules Muraire, 1883-1946). Er hatte ein Heimspiel, denn er wurde in Toulon geboren. Wie schon erwähnt, spielte er auch eine Hauptrolle in der Marseille-Trilogie, und LA FEMME DU BOULANGER (DIE FRAU DES BÄCKERS, 1938) und LA FILLE DU PUISATIER (DIE TOCHTER DES BRUNNENBAUERS, 1940) inszenierte Pagnol nicht nur mit ihm, sondern geradezu für ihn als Hauptdarsteller. Beide Filme wurden in den letzten Jahren restauriert und liefen in diesen Fassungen auch schon auf arte - gute Gelegenheiten, Raimus Schauspielkunst, die viel Humanismus ausstrahlt, zu würdigen. In L'ÉTRANGE MONSIEUR VICTOR weicht er in den Szenen, in denen er den Hehler gibt, signifikant von diesem Image ab. Das ist ein Ausweis seiner Fertigkeiten als Schauspieler, wirft aber ein gewisses Glaubwürdigkeitsproblem der Rolle auf. Man hat nie den Eindruck, dass er den fahrig-nervösen bürgerlichen Victor seiner Umgebung nur vorspielt, sondern er ist halt so - und dann ist er plötzlich der abgebrühte Verbrecher. Wie ist er denn nun wirklich? Anscheinend beides zugleich, und das will nicht recht zusammenpassen. Aber das ist nur ein marginaler Kritikpunkt am Film, Jammern auf hohem Niveau. Denn es macht einfach Freude, Raimu bei der Arbeit zuzusehen.

Atmosphärische Nachtaufnahmen
L'ÉTRANGE MONSIEUR VICTOR ist in Frankreich in einer ebenfalls restaurierten Fassung auf einer Blu-ray/DVD-Combo erschienen. Der Film hat darauf optionale englische Untertitel, beim Bonusmaterial (u.a. ein Audiokommentar und eine neue einstündige Doku) hielt man das aber leider für verzichtbar.

Montag, 21. Dezember 2020

Chicago - Weltstadt in Flegeljahren

"Dies ist die schönste Stadt der Welt: ein technischer Traum in Aluminium, Glas, Stahl, Zement und künstlichen Sonnen, fremdartig wie ein anderer Stern."
Heinrich Hauser: Feldwege nach Chicago, 1931

WELTSTADT IN FLEGELJAHREN, auch CHICAGO - WELTSTADT IN FLEGELJAHREN
Deutschland 1931
Regie: Heinrich Hauser

In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre existierte das Genre der "Großstadtsymphonien". Bekanntester Vertreter und Namensgeber des Genres war Walter (ursprünglich Walther) Ruttmanns BERLIN: DIE SINFONIE DER GROSSTADT, aber als erster Vertreter gilt gemeinhin RIEN QUE LES HEURES, den der gebürtige Brasilianer Alberto Cavalcanti 1926 in Paris drehte. Ein weiterer prominenter Vertreter war DER MANN MIT DER KAMERA von Dsiga Wertow (ursprünglich David, dann Denis Kaufman), der allerdings nicht in einer einzigen, sondern in drei oder vier Städten Russlands und der Ukraine entstand. Wertows mittlerer Bruder und Kameramann (bis sie sich verkrachten) Michail Kaufman realisierte 1927 zusammen mit einem Ilja Kopalin MOSKAU, und Boris, der jüngste der Kaufman-Brüder, war als Kameramann von Jean Vigo mit À PROPOS DE NICE (APROPOS NIZZA) immerhin an so etwas wie einer Mini-Großstadtsymphonie beteiligt. Kaum eine andere Stadt wäre mehr als Schauplatz einer Großstadtsymphonie prädestiniert gewesen als New York, die Metropole der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, doch gerade dort wurde offenbar keine gedreht - es gab nur eine Reihe von kleineren Filmen, für die ich mir den Begriff Großstadt-Kammermusik ausgedacht habe.

Am Mississippi
Der deutsche Schriftsteller, Journalist und Abenteurer Heinrich Hauser ging jedoch nach Chicago, um dort seine Variante des Themas zu drehen, als Stummfilm - "wie es sich für eine Großstadtsymphonie gehört", ist man versucht zu sagen. Chicago war ein ausgezeichneter "Stellvertreter" für New York - war es doch damals (und noch lange danach, bis es vor ca. vier Jahrzehnten von Los Angeles überholt wurde) die zweitgrößte Stadt der USA. Und als ein Zentrum moderner Wolkenkratzer-Architektur, als Schauplatz wichtiger Entwicklungen in Jazz und Blues, und nicht zuletzt als Wirkungsstätte fast mythischer Gangsterkönige wie Al Capone besaß es genug Flair, um weit mehr zu sein als eine bloße Ansammlung von vielen Leuten. Tatsächlich hatte auch ein Ludwig Leher ebenfalls 1931 mit dem offenbar zweiteiligen EINE MODERNE RIESENSTADT einen in Chicago gedrehten Kulturfilm (wie man die damals vorherrschende Richtung im deutschen Dokumentarfilm nannte) vorgelegt. WELTSTADT IN FLEGELJAHREN ist aber eher das Gegenteil eines Kulturfilms (darauf werde ich weiter unten noch zurückkommen). Er ist auch vielleicht keine Großstadtsymphonie im ganz strengen Sinn, ich würde aber trotzdem nicht zögern, ihm dieses Prädikat zuzuerkennen. Die sowohl von Cavalcanti wie von Ruttmann in ihren Filmen verwendete Idee, einen prototypischen Tag in der porträtierten Stadt von frühmorgens bis in die Nacht hinein chronologisch abzuhandeln, fehlt hier komplett. Stattdessen lässt sich WELTSTADT IN FLEGELJAHREN grob in fünf thematisch definierte Akte einteilen (die sich bereits in der Zensurkarte vom 14. September 1931 wiederfinden).

Der Charakter der Uferlandschaft ändert sich ...
Der erste Akt spielt noch gar nicht in Chicago, sondern zeigt die Anreise auf dem Mississippi, und zwar stilecht in einem Schaufelraddampfer, wie man sie aus vielen im 19. Jahrhundert spielenden Filmen kennt, und wie sie offenbar vereinzelt auch um 1930 herum noch im Einsatz waren. Der Fluss strömt breit und träge dahin, und das dynamischste Element in diesem Abschnitt ist das sich drehende Schaufelrad. Der Film konzentriert sich aber nicht auf das Geschehen an Bord, sondern das am Ufer: Baumwollplantagen wechseln sich mit lichten Wäldern ab, fast durchweg schwarze Arbeiter werden bei verschiedenen landwirtschaftlichen Tätigkeiten gezeigt. Die Arbeit ist wahrscheinlich nicht leicht, aber das Tempo ist sehr gemächlich im Vergleich zu dem, was uns dann in der Metropole erwartet. Teilweise wird noch mit Zugpferden statt motorisiert gearbeitet. Am Ende des Abschnitts erreicht der Mississippidampfer sein Ziel, und die Skyline taucht auf. Genau betrachtet liegt Chicago natürlich überhaupt nicht am Mississippi, sondern ist nur durch den Illinois Waterway mit diesem verbunden, aber diese Feinheit fällt bei Hauser unter den Tisch.

... und plötzlich ist man da
Dann sind wir mitten in der Stadt, und der zweite Akt behandelt den Schwerpunkt Verkehr. Ein riesiges Bahnhofsareal, Züge und Dampflokomotiven. So wie man es aus vielen in New York gedrehten Filmen kennt, besitzt auch Chicago eine Hochbahn (Chicago Elevated), und natürlich ließ es sich Hauser nicht nehmen, aus dem fahrenden Zug heraus zu filmen - Gegenstücke aus New York findet man in Jay Leydas A BRONX MORNING aus demselben Jahr, oder später Carson Davidsons 3rd AVE. EL. Eine besondere Attraktion ist der Loop, eine kreisförmige Schleife der Hochbahn im gleichnamigen Stadtzentrum - Hauser findet dafür in einem Zwischentitel die schöne Bezeichnung "Saugpumpe des Verkehrs". Trotz des ausgebauten Streckennetzes der Hochbahn hatte damals der Autoverkehr fast schon beängstigende Ausmaße angenommen, und WELTSTADT IN FLEGELJAHREN findet auch dafür starke Bilder. In diesem zweiten Akt kommt der Film den klassischen Großstadtsymphonien am nächsten, und in einigen Szenen gerät Hauser sogar fast in die Gefilde der filmischen Avantgarde (ohne das Publikum damit irgendwie zu überfordern). Übermäßige Anstrengungen waren dafür nicht erforderlich. Da die Stadt ständig in Bewegung ist, musste es Hausers Kamera (die er selbst führte) nicht sein. Natürlich gibt es den einen oder anderen Schwenk, dazu die Fahrt in der Hochbahn, und zuvor auf dem Mississippi. Aber komplizierte Kamerafahrten, hektische Schnitte oder allzu ausgefallene Kamerapositionen findet man in WELTSTADT IN FLEGELJAHREN nicht.

Autos und Hochbahn
Im dritten Akt, der durch den wiederum sehr treffenden Zwischentitel "Im Labyrinth aus Glas und Steinen" eingeleitet wird, geht es um die (von Wolkenkratzern dominierte) Architektur und um die Arbeitswelt. Natürlich gibt es die obligatorischen Blicke von oben auf die menschlichen "Ameisen" am Boden, auch von unten steil nach oben, wie es zwei Jahre zuvor schon Robert Florey in seiner SKYSCRAPER SYMPHONY gemacht hatte. Es gibt Einblicke in das rationell durchorganisierte Arbeitsleben etwa in Großraumbüros und in Fabriken. Besonders eindrucksvoll sind die schwebenden Fließbänder in einer Traktorenfabrik. Außerhalb des Siedlungsgebiets sind riesige Schaufelbagger zu sehen, vergleichbar unseren Braunkohlebaggern, und im Zwischentitel werden sie als "die Saurier unserer Zeit" tituliert. Im Stadtgebiet werden permanent neue Wolkenkratzer hochgezogen, und wenn mal ein Gebäude abgerissen wird, dann wahrscheinlich nur, um ein noch höheres zu bauen. Am Ende des Abschnitts sind wir in den berühmt-berüchtigten Schlachthöfen von Chicago, die schon von Upton Sinclair literarisch verarbeitet wurden, und die Bert Brecht zu seinem auch 1931 erschienenen "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" inspirierten. Schaf- und Rinderherden werden in den Schlachthof getrieben - und kommen 40 Minuten später (wie uns ein Zwischentitel mitteilt) als Konservendosen wieder heraus. Das, was dazwischen passiert - also Bilder wie in Georges Franjus LE SANG DES BÊTES, die einem den Magen umdrehen - erspart Hauser freilich dem Zuseher.

1931 lagen die USA bekanntlich fest im Griff der Weltwirtschaftskrise, der Great Depression. WELTSTADT IN FLEGELJAHREN lässt sich über 40 Minuten Zeit, um darauf zu sprechern zu kommen, aber dann, im vierten Akt, geht er explizit und ausführlich darauf ein. Als Aufhänger für die Überleitung dazu dient der seinerzeit in Chicago und darüber hinaus sehr bekannte "Landstreicher-Arzt", Sozialreformer und Anarchist Ben Reitman. Hauser machte seine persönliche Bekanntschaft, und Reitman ist der einzige, der in WELTSTADT IN FLEGELJAHREN als Individuum vorgestellt wird. Die Bilder, mit denen Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Armut und Not dargestellt werden, sind unverblümt und drastisch - so etwas gab es in kaum irgendeinem zeitgenössischen Hollywoodfilm zu sehen. Freilich bestand der damalige amerikanische Film nicht nur aus der Traumfabrik - gerade während der Wirtschaftskrise gediehen unabhängige linke Filmkooperativen wie Film and Photo League, Nykino oder Frontier Films, die das Elend ebenfalls realistisch abbildeten. Freilich dürfte keiner dieser Filme Hauser als Vorbild gedient haben. Dafür wurden eher die Filme der Weltfilm ins Feld geführt, des dokumentarisch-propagandistischen Zweigs von Willi Münzenbergs KPD-nahem Filmimperium (der Spielfilmzweig war die Prometheus, die Werke wie MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK oder KUHLE WAMPE produzierte, wobei letzterer Film dann von Lazar Wechslers Praesens Film übernommen wurde). Gerade die schonungslose Darstellung der Armut wurde von den deutschen Kritikern sehr gelobt, wobei nicht selten ein gewisser Antiamerikanismus durchschien, mit dem Tenor "endlich zeigt mal jemand die Schattenseiten des angeblichen Wunderlands". Hauser selbst war eine solche Motivation jedoch fremd. Hier gibt es eine gewisse Parallele zu Luis Trenkers DER VERLORENE SOHN von 1934, der das Elend in New York ebenfalls drastischer zeigt als fast alle Hollywoodfilme seiner Zeit. Auch bei Trenker lässt sich kein eigentlicher Antiamerikanismus ausmachen, sondern in seinem Fall eher eine allgemeine Kritik des modernen, urbanen Kapitalismus als Kontrastfolie zu einer Verherrlichung des Naturmystizismus in den heimischen Bergen (den man aber auch etwas dubios finden kann). Bei Hauser stellt sich gelegentlich eine gewisse ironisierende Wirkung ein, wenn etwa offenbar arbeitslose Männer auf dem Rasen eines kleinen künstlichen Hügels herumlungern - und über ihnen thront das heroische Reiterstandbild des Bürgerkriegsgenerals und Politikers John Logan. Die meisten Bilder in diesem Abschnitt von WELTSTADT IN FLEGELJAHREN sind aber ganz ironiefrei einfach nur deprimierend und erschütternd. Neben heruntergekommenen Stadtvierteln gibt es in der Peripherie auch regelrechte Slums mit windschiefen Bretterbuden zwischen Müllbergen, und ein Zwischentitel besteht nur aus dem einzigen Wort "Wracks".

Brücken
Doch Hauser lässt seinen Film mit einer positiven Note ausklingen. Die letzten acht oder neun Minuten, also der kurze fünfte und letzte Akt, zeigt diejenigen, die (noch) nicht unter die Räder gekommen sind, bei ihren Freizeitaktivitäten. Ein Vergnügungspark mit Riesenrad, Achterbahn und weiteren Attraktionen, ein Park mit Ruderbooten auf einer Wasserfläche, ein völlig überfüllter Sandstrand am Michigansee, und dergleichen mehr. Der letzte Zwischentitel lautet "Die Akteure danken", und danach bilden fröhliche Kinder und Jugendliche, die direkt in die Kamera grinsen, die letzte Einstellung.

WELTSTADT IN FLEGELJAHREN hatte im Oktober 1931 in Berlin Premiere, und wie oben schon angedeutet, wurde er von der Filmfachpresse und etlichen Tageszeitungen sehr positiv rezensiert. Und doch ist er gescheitert. Das hing damit zusammen, dass Hauser und sein Produzent Hubert Schonger eine spezielle Form der Auswertung vorgesehen hatten. Der aus dem Schwäbischen stammende gelernte Ingenieur Schonger (1897-1978) hatte 1923 in Berlin die Naturfilm Hubert Schonger gegründet. Der Name war Programm. Schonger produzierte zunächst reihenweise Naturfilme, die damals als ein Teil des Kulturfilmsektors betrachtet wurden. Doch im Lauf der Zeit verbreiterte er sein Spektrum immer mehr, machte auch Spielfilme, vor allem viele Märchen- und sonstige Kinderfilme. Zeitweise hatte er auch seinen eigenen Verleih. In den 50er und 60er Jahren machte er viele Heimat- und Bergfilme, aber er produzierte auch junge Nachwuchsregisseure wie Peter Fleischmann, Klaus Lemke und Marran Gosov. Der Zufall wollte es, dass Heinrich Hauser und Hubert Schonger im Abstand von 23 Jahren, aber nur wenige Kilometer entfernt voneinander starben, der eine in Dießen und der andere in Inning, beides am Ammersee westlich von München gelegen.

1929 hatten die Degeto (Deutsche Gesellschaft für Ton und Bild), die mit der heutigen ARD-Tochter außer dem Namen kaum noch etwas verbindet, und die Gesellschaft Urania eine Arbeitsgemeinschaft gegründet mit dem Ziel, in Sonntagvormittags-Matineen in ausgewählten Berliner Kinos anspruchsvolle Kulturfilme vorzuführen - einer der vielen (und meist nur mäßig erfolgreichen) Versuche, dem "guten Film" zum Durchbruch zu verhelfen. Nach einer Vorab-Aufführung für die Presse hatte WELTSTADT IN FLEGELJAHREN nun am 4. Oktober 1931 seine Premiere in der ersten dieser Matineen, und vom 9. Oktober bis zum 12. November lief er im Programmkino "Kamera, Unter den Linden", dessen Träger, die Gesellschaft für den Guten Film, auch Mitglied der Degeto-Urania-Kooperation war. Danach hätte WELTSTADT IN FLEGELJAHREN eigentlich im Vorprogramm der regulären Kinos laufen sollen. Doch dafür war die Anerkennung als "Lehrfilm" notwendig. Nur mit diesem Prädikat nämlich waren die Kinobetreiber berechtigt, eine Ermäßigung der "Lustbarkeitssteuer" für die Vorführungen in Anspruch zu nehmen. Ohne Anerkennung als Lehrfilm waren die vom Publikum wenig geliebten Kulturfilme praktisch unverkäuflich. Und WELTSTADT IN FLEGELJAHREN wurde nun vom zuständigen offiziösem Gremium, der "Bildstelle des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht", wider Erwarten aus Schongers Sicht, und sehr zu dessen Verdruß, die Anerkennung verweigert. Außer seinem kurzen Einsatz in Berlin lief WELTSTADT IN FLEGELJAHREN auch in den Niederlanden (wie er dahin kam, weiß ich nicht) und verschwand dann für Jahrzehnte in Schongers Archiv.

Häusermeer
"[...] Bilder, die in keinem sinnvollen Zusammenhang zueinander stehen. Das wirre Durcheinander des Ganzen ist ein typisches Beispiel dafür, wie ein Lehrfilm nicht sein soll. Eine Anerkennung als Lehrfilm konnte überhaupt nicht erst in Erwägung gezogen werden. Der Ausschuss sah auch nicht die Möglichkeit, einen Weg für eine Verarbeitung des vorhandenen Bildmaterials zu einem den Anforderungen genügenden Bildstreifen aufzuzeigen." - so steht es in der Begründung der "Bildstelle", die nach ihrem Vorsitzendem auch Lampe-Ausschuss genannt wurde. Das zog Reaktionen nach sich. Das KPD-Blatt Rote Fahne beschwerte sich:
Der junge Schriftsteller Heinrich Hauser hat einen sehr anständigen Reportagefilm geschaffen: Weltstadt in Flegeljahren. Er zeigt deutlich die Klassengegensätze, die in der Riesenstadt Chicago besonders krass hervortreten. Er verschweigt nicht, dass es hinter den pompösen Wolkenkratzerkulissen tiefes Elend und Massenarbeitslosigkeit gibt. [...]
Das war der republikanisch-deutschen Behörde, die darüber zu bestimmen hat, ob ein Film als Lehrfilm gilt und Steuerermäßigung genießt, zuviel des Guten. [...]
Wir erkennen messerscharf, dass diese "Anforderungen" Lüge und Gehirnverkleisterung heißen, und dass deshalb der Film nicht [sein] darf… Lehre ist in der Amtssprache des kapitalistischen Staates der Fachausdruck für Verschweigen und Schwindeln. Und ein Film, der die Wahrheit zeigt, kann eben nicht "lehrhaft" sein.

(Rote Fahne, Berlin, Nr. 213, 23. November 1931. Beilage.)

Noch ausführlicher reagierte der Filmtheoretiker Rudolf Arnheim. In einem "Paukerfilme" betitelten Artikel feuerte er eine ganze Breitseite gegen den konventionellen Kulturfilm ab, bevor er sich dann Hauser zuwandte:
[...] Aber daneben blüht in alter Unfrische der Kulturfilm, wie er nicht sein soll. [...]
Diese Filme sind wie Fremdenführer für alte Engländerinnen. Das Kinopublikum liebt sie nicht. Es frisst sich durch sie hindurch wie durch einen Grützewall, um ins Schlaraffenland der Harry Piel und Lilian Harvey zu gelangen. Der Kinobesitzer kümmert sich in diesem Fall wenig um die Unlust seiner Kunden. Er spielt den Film im Vorprogramm, weil er dann weniger Lustbarkeitssteuer zu bezahlen hat. Diese Vergünstigung verschafft ihm ein pädagogisches Konsortium: der Lehrfilmausschuss des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht, [...]
Dieser Ausschuss hat ein gut Teil Schuld daran, dass die meisten Kulturfilme so langweilig ausfallen. […] Es genügt nicht, daß ein Kameramann eine Weltreise gemacht hat. Der schönste indische Tempel, das seltsamste Naturschauspiel bleibt grau und gleichgültig, wenn nicht ein Filmkünstler an der Arbeit ist, der Gefühl für fesselnde Einstellungen, für Bildpointen, für demonstrative Kameraführung, für lebendigen, eleganten Schnitt hat, Das sind keine ästhetischen Mätzchen, sondern diese Mittel dienen unmittelbar der Sache. Aber die Volksbildner mögen das nicht. Langeweile gehört für sie zur Würde des Unterrichts. Der warme Atem der Wirklichkeit beunruhigt sie. Und so fordern sie Filme, in der alles schön der Reihe nach heruntergedreht ist. [...]
Solche Methoden sind für Atlanten und Lehrbücher am Platze, aber mit diesen kann und soll der Film nicht konkurrieren. Die Herren Lehrer wollen ihn dazu zwingen. Sie fallen dem Künstler in den Arm. Er soll mit seiner Kamera umgehen wie der Landmesser mit dem Theodoliten. Ein Beamter mit Mützenschirm im Nacken. [...]
In der Schulstube soll Ruhe und Ordnung sein, auch wenn draußen Gewalt, Armut und Widersinn herrschen. [...]
Heinrich Hauser, der hochbegabte junge Wort- und Bildkünstler, hat es gewagt, seinen Chicago-Film, der ausgezeichnet ist und also die eben skizzierten Forderungen in keiner Weise erfüllt, [...] einzureichen. Das Papier vibriert. Den Herren zittert die Lippe. Der Film wird nicht nur abgelehnt, nein, er ist eine Zumutung, ein Tiefschlag in die edelsten Weichteile der Pädagogik. [...]
Hausers Film ist nicht sanft und nicht unverbindlich, sondern unhöflich und ganz klar in der Stellungnahme. [...]
Dieser Film [AMERIKA VON HEUTE eines gewissen Oberingenieur Dietrich W. Dreyer] hat den Lehrfilmschein erhalten. Der Hauserfilm nicht; denn er zeigt ein Stück Welt, und die Welt ist heute in einem Zustand, den die Pädagogen nicht gern lehrreich nennen.

(Rudolf Arnheim: Paukerfilme. In: Die Weltbühne, Berlin, XXVII. Jg. 5, 2. Februar 1932, S. 185ff.)

Blick nach oben ...

Heinrich Hauser, ein Schriftsteller in Unrast


Heinrich Hauser (1901-1955) war in erster Linie Schriftsteller, Fotograf und Journalist, er war aber auch, wie die FAZ am 29. 01. 2006 schrieb, "Matrose in Kiel, Wachmann in Hamburg, Freikorpssoldat in Weimar, Bergmann in Duisburg, Schafscherer, Koch und Schwimmlehrer in Sydney, Polizist auf den Philippinen, Autoschlosser in Chile. Er war Student und Schmuggler, See- und Ehemann, bevor er 1925 den Erfahrungsüberschuss ausschlachtete und anfing, Feuilletons über den "Organismus eines Lastkraftwagens" oder den "Gesang der Presslufthämmer" für die "Frankfurter Zeitung" zu schreiben und an seinem ersten, noch stark vom Expressionismus geprägten Jugendbeziehungsdrama "Das zwanzigste Jahr" zu arbeiten." Und das ist nur eine geraffte Übersicht über die diversen Jobs, die Hauser irgendwo in der Welt ausübte, um sich über Wasser zu halten, und um Stoff für seine Reportagen und Reisebeschreibungen zu finden. Politisch erscheint er im Rückblick widersprüchlich und schwer durchschaubar. 1918 erlebte er als Kadett der Marine die Novemberrevolution aus der Nähe mit, 1919 war er Mitglied eines Freikorps, das auf Anweisung von Reichspräsident Friedrich Ebert und seinem Wehrminister, dem "Bluthund" Gustav Noske, die Autorität der Weimarer Regierung in diversen Städten durchsetzte, wo sie vom Spartakusaufstand und ähnlichen Erhebungen der Arbeiter- und Soldatenräte gefährdet war. Als aber 1920 der Kapp-Putsch eben jene demokratische Weimarer Regierung beseitigen wollte, brachte ihm Hauser Sympathien entgegen - um dann 1925 als Journalist der linksliberalen Frankfurter Zeitung beizutreten, wo Geistesgrößen wie Siegfried Kracauer zu seinen Kollegen zählten. Hauser schrieb aber auch für diverse andere Blätter, darunter auch für die faschistoide Schwarze Front des NSDAP-Abtrünnigen Otto Strasser.

... und nach unten
1933 war er dann plötzlich (oder vielleicht auch nicht plötzlich) ein Anhänger des Nationalsozialismus, und er ließ gegen den Widerstand des S. Fischer Verlags eine Widmung an Hermann Göring in eines seiner Bücher setzen. Doch die Begeisterung für die Nazis schwand wieder. Von seinen insgesamt fünf Ehefrauen waren Nr. 2 und 3 jüdischer Herkunft, und er half ihnen bei der Flucht aus Deutschland. 1938 ging er selbst in die USA, kehrte aber für eine Reportage für ein amerikanisches Magazin nochmal nach Deutschland zurück, erlebte die Novemberpogrome mit, war angewidert und emigrierte 1939 endgültig in die USA, wo er seine letzten beiden Ehefrauen kennenlernte. 1945 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel "The German Talks Back", das einige Beachtung fand, und in dem er sich als Sprachrohr des "besseren Deutschland" positioniert. Ende 1948 kehrte er mit seiner fünften Frau nach Deutschland zurück und 1949 wurde er Chefredakteur des gerade gegründeten Stern, nahm aber schon nach vier Monaten wieder den Hut, weil er mit Henri Nannen nicht wirklich kompatibel war. Er trank und rauchte zuviel, und mit seiner Gesundheit ging es bergab. Er wollte sich auch von seiner letzten Frau trennen, nahm aber davon Abstand, als sie an Krebs erkrankte und er glaubte, dass sie bald sterben werde. Doch 1955 starb er selbst mit 53 Jahren, und seine Frau überlebte ihn um sechs Jahre. Wie auch immer das alles zusammenpasst - Hauser war jedenfalls ein "unbehauster" Abenteurer und Tausendsassa, der schon mit Jack London und Joseph Conrad verglichen wurde.

Vermutlich 1923 hatte Hauser die Bekanntschaft von F.W. Murnau gemacht, ich weiß aber nicht, ob der ihm irgendwas über das Filmemachen beibrachte. Heinrich Hauser machte zwischen 1928 und 1931 drei Filme, wobei beim ersten unklar ist, ob er überhaupt fertiggestellt und vorgeführt wurde (mehr darüber weiter unten). 1930 unternahm er im Auftrag einer Reederei eine Fahrt auf dem Segelschiff Pamir, in 110 Tagen von Hamburg nach Chile. Diese Fahrt protokolliert er gleich dreifach: Er fotografiert, er macht (wie bei WELTSTADT IN FLEGELJAHREN im Alleingang) Filmaufnahmen, und er führt ein Reisetagebuch. Der Reisebericht erscheint noch 1930 als Buch mit dem Titel "Die letzten Segelschiffe" und wird mehrfach neu aufgelegt, der korrespondierende Film von 1931 heißt WINDJAMMER UND JANMAATEN. DIE LETZTEN SEGELSCHIFFE. Er wird zunächst von Hauser selbst verliehen und kommt dann unter die Fittiche von Hubert Schonger. WELTSTADT IN FLEGELJAHREN entsteht nach demselben Modus: Hauser bereist allein mit einem Auto Teile der USA, fotografiert und filmt im Alleingang, und führt Reisetagebuch. Das Buch zum Film erscheint auch noch 1931 und heißt "Feldwege nach Chicago".

Mehrspurige Zugbrücke und Industrieszenen
Der filmische Nachlass von Schongerfilm, wie Hubert Schongers kleines Imperium nach dem Krieg hieß, kam 1984 in die Obhut des Bundesarchiv-Filmarchiv nach Koblenz, und damit auch der seit 1931 vor sich hin schlummernde WELTSTADT IN FLEGELJAHREN. In Koblenz wurde dann zunächst eine Restaurierung mit analoger Technik und eine Duplizierung auf Sicherheitsfilm in Angriff genommen. Die dadurch erstellte Fassung wurde im März 1995 in einer Veranstaltung im Berliner Arsenal-Kino erstmals vorgeführt, die von dem Filmhistoriker Jeanpaul Goergen betreut wurde. Goergen hat auch durch seine Recherchen die weitgehend vergessene Geschichte des Films wieder hervorgeholt und in einer kurzen Begleitpublikation zugänglich gemacht. Diese Fassung war dann alle paar Jahre mal hier und dort zu sehen, so 1998 im Münchner Filmmuseum, und 2003 auch erstmals in Chicago. 1998 wurde vom WDR auch eine experimentelle Fassung angefertigt, bei der vorgelesene Textpassagen aus "Feldwege nach Chicago" mit Geräuscheffekten kombiniert wurden, die dem nachempfunden waren, wie der Film hätte klingen können, wenn ein Originalton aufgenommen worden wäre. Zusätzlich wurden an originalen Kamerastandorten Hausers neue Aufnahmen (in Farbe) gedreht. Eine Kombination des Originalfilms mit den neuen Aufnahmen, mit der neuen Tonspur versehen, wurde im Dezember 1998 auf WDR 3 ausgestrahlt. Größere Breitenwirkung dürften diese Aktivitäten nicht entfaltet haben. Doch heuer ist WELTSTADT IN FLEGELJAHREN bei absolut Medien in Kooperation mit arte auf DVD und Blu-ray erschienen, nachdem er das volle Programm der digitalen Bildrestaurierung erfahren hatte. Diese Veröffentlichung hat zwei Tonspuren: Die gerade erwähnte vom WDR (freilich ohne die 1998 neu gedrehten Bilder), und eine vom Komponisten Andy Miles neu geschriebene jazzige Musik, die vom WDR Funkhausorchester eingespielt wurde, und die den Film sehr gut unterstützt. Mit den Texten aus "Feldwege nach Chicago" und den Geräuscheffekten wird aus WELTSTADT IN FLEGELJAHREN sozusagen ein Pseudotonfilm gemacht. Das ist keine schlechte Idee, und Hausers Texte fügen dem Film manch interessante Information hinzu, die man den Bildern allein nicht entnehmen könnte. Doch letztlich gefällt mir die nur mit Musik unterlegte Fassung besser, weil sie mehr filmischen Fluss erzeugt - nur hier hat sich bei mir das echte Feeling einer Großstadtsymphonie eingestellt. Der korrekte Titel des Films lautet WELTSTADT IN FLEGELJAHREN, mit dem Untertitel EIN BERICHT ÜBER CHICAGO, doch die aktuelle Veröffentlichung hat den Titel CHICAGO - WELTSTADT IN FLEGELJAHREN erhalten.


Heinrich Hauser in Irland


1932-33 drehte Robert Flaherty, der gelegentlich als "Vater des Dokumentarfilms" bezeichnet wird (was natürlich nur mit Einschränkungen zutrifft), auf Inishmore, der größten und westlichsten der Aran Islands vor der irischen Westküste, mit Unterstützung durch seine Frau Frances Material für einen semidokumentarischen Film. "Semi" deshalb, weil Flaherty, wie es seine Art war, inszenierend stark in das Geschehen eingriff - so bildete er aus nicht miteinader verwandten echten Inselbewohnern eine fiktive Filmfamilie. MAN OF ARAN erschien 1934 und wurde einer von Flahertys besten und erfolgreichsten Filmen. Als ich nun über Hauser zu recherchieren begann und in Wikipedia las, dass er 1928 einen Film mit dem Titel MAN OF ARAN gedreht hatte, hielt ich das zunächst für eine Ente. Ich sollte zumindest teilweise Recht behalten, denn den Film gibt es zwar, zumindest ein Fragment davon, aber der Titel ist sicher unzutreffend. Hauser hatte sich mit dem irischen Schriftsteller Liam O'Flaherty angefreundet, der 1896 auf Inishmore geboren wurde. O'Flaherty war übrigens ein Verwandter von John Ford, der 1935 seinen Roman "The Informer" verfilmte - Fords Mutter Barbara Feeney, geb. Curran, wurde ebenfalls auf Inishmore geboren. Zusammen reisten Hauser und O'Flaherty im Juni 1928 auf die Heimatinseln des Iren, um dort Material für einen Irland-Film zu drehen. Dieser sollte keineswegs nur auf Aran entstehen, sondern mindestens auch in Dublin, vielleicht auch anderswo, wurde gedreht oder sollte zumindest gedreht werden.

Kinder spielen auf der Straße, und ein General wacht über seine arbeitslosen Schäfchen ... oder?
Heute existiert noch ein Fragment der Aufnahmen von Aran mit einer Länge von 375 Metern. Als 1995 WELTSTADT IN FLEGELJAHREN seine Wiederauferstehung feiern konnte, war das Fragment noch nicht bekannt, doch Jeanpaul Goergen, der weiterhin in Schongers Nachlass recherchierte, konnte es dann im Bundesarchiv-Filmarchiv aufspüren und zuordnen und 1998 in einer weiteren Veranstaltung im Berliner Kino Arsenal der Öffentlichkeit präsentieren. Goergen hatte damals das Fragment, das keine Titelkarten aufweist, einfach ARAN genannt. Doch schon 1989 war in einem Artikel über Hauser im mehrbändigen Mammutwerk "Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933" dessen irische Filmunternehmung fälschlich mit Flahertys MAN OF ARAN in Verbindung gebracht worden, und nach der Entdeckung des Fragments wurde ihm von irgendwem der falsche Titel übergestülpt, der eigentlich keinen Sinn ergibt, weil es in dem Film eben nicht nur um die Aran-Inseln gehen sollte. Im März 1956 schrieb der Schriftsteller Hans Bütow in einem Artikel in der FAZ: "Sie [Hauser und O'Flaherty] haben auch zusammen einen herrlichen Film von Irland, seiner wilden und melancholischen Landschaft gemacht, von dem keine Kopie mehr existiert." Es ist unklar, wieviel damals gedreht wurde, und ob der Film jemals öffentlich aufgeführt wurde, aber zumindest Bütow scheint ihn gesehen zu haben. Hauser selbst berichtete im August 1928 in einem Artikel in der Frankfurter Zeitung über seine Dreharbeiten (wobei er "Aran" durchgehend falsch als "Arran" schreibt). Darin geht es zwar nur um die Inseln und nicht um weitere Drehorte, er schreibt aber, "daß wir auf die Arraninseln zu einem bestimmten Zweck gekommen sind: um Teile eines Irlandfilms hier aufzunehmen" - und bestätigt damit selbst, dass da noch mehr kommen sollte. Übrigens geht Hauser in diesem Text auch auf die verwendete Ausrüstung ein. Im Gegensatz zu seinen nächsten beiden Filmen hatte er hier zwei Kameras dabei, eine große und schwere, die nur mit Stativ benutzt werden konnte, und eine kleine, leichte, die auch als Handkamera taugte. Und dann polemisiert er etwas gegen die seiner Meinung nach zu klobige Filmtechnik:
[...] Ich will die Menschen so filmen, daß sie nichts davon wissen, daß sie sich unbeobachtet fühlen, ebenso wie wilde Tiere. Das alles ist Jagd, und der Apparat für diese Jagd müßte wie ein Gewehr gebaut sein, ein Ding, das man an die Backe zieht und abschießt. [...]
Die Kamera des Berufsoperateurs ist ein schweres und schwerfälliges Instrument [...]
Da sind die kleinen Apparate, die man in den Händen halten kann [...] viel besser, sie sind einem Gewehr ähnlicher. [...]
Und warum gibt es nicht ein Federwerk, das wirklich lautlos läuft, ohne das Geräusch einer alten Weckuhr, das nicht nur wilde, sondern selbst ganz zahme Tiere und Menschen in die Flucht treibt.

Armenviertel und regelrechte Slums
Wenn Hauser in den 60er Jahren noch gelebt und Filme gemacht hätte, wäre er vielleicht ein Vertreter des Cinéma vérité oder des Direct Cinema geworden. Es gab übrigens einen Vorläufer der Filmkamera, der tatsächlich wie ein Gewehr aussah, nämlich das fotografische Gewehr des Étienne-Jules Marey.

Wracks
Vor einigen Monaten veranstaltete die Abteilung für Filmstudien der New York University ein Online-Symposion, in dem es um frühe deutsche Naturfilme ging, und darin kamen auch Schonger und Hauser vor, und das Fragment von Aran wurde komplett gezeigt. Hier bei Vimeo gibt es ein gut einstündiges Video davon, und das Fragment von Aran wurde auch als eigenes Video ausgekoppelt. Goergen präferierte 1998 eine Abspielgeschwindigkeit von 18 Bildern pro Sekunde (fps), was bei der Länge von 375 Metern eine Dauer von 18 Minuten ergibt. Hier dauert das Video 13:47 Minuten, was auf eine Abspielgeschwindigkeit von 24 fps hindeutet. Der eingeblendete Timecode ist natürlich ärgerlich, die Fassung im Bundesarchiv-Filmarchiv ist aber frei davon. Die vier Filmhistoriker, die diese Veranstaltung gestalteten, haben sich hier für DIE ARAN-INSELN als Titel entschieden.
Vergnügungspark
Die Akteure danken

Dienstag, 21. April 2020

Deutschland im Würgegriff des Virus ... oder?

DIE HAMBURGER KRANKHEIT
Deutschland (BRD)/Frankreich 1979
Regie: Peter Fleischmann
Darsteller: Helmut Griem (Sebastian), Carline Seiser (Ulrike), Ulrich Wildgruber (Heribert), Fernando Arrabal (Ottokar), Rainer Langhans (Alexander), Tilo Prückner (Fritz), Romy Haag (Carola), Peter von Zahn (Senator), Rosel Zech (Dr. Ursula Hamm), Leopold Hainisch (Prof. Placek), Evelyn Künneke (Wirtin), viele Laiendarsteller
"Um wieviele Todesfälle handelt es sich?"
"Vor drei Tagen waren es zwölf. Vorgestern 57. Und heute haben wir schon keinen Platz mehr."
Es beginnt alles scheinbar ganz harmlos. In einem Hamburger Kongresszentrum findet eine Tagung einer gerontologischen Vereinigung statt, in der es darum geht, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, also das menschliche Leben möglichst lange, womöglich unbegrenzt, zu verlängern. Das erweist sich als vorweggenommene bös-ironische Pointe, denn statt ewig zu leben, fallen zur selben Zeit auf Hamburgs Straßen gerade die Leute reihenweise tot um. Unter den Vortragenden auf dem Kongress befindet sich der Arzt und Gerontologe Professor Sebastian Ellerwein. Als ein älterer Kollege kollabiert und in einer Klinik stirbt, erfährt Sebastian von der mit ihm befreundeten Ärztin Dr. Hamm, was bisher der Öffentlichkeit verschwiegen wurde, um eine Panik zu vermeiden: Seit ein oder zwei Wochen kippen Leute regelrecht aus den Latschen und sterben innerhalb von Minuten oder nur Sekunden, und unmittelbar vor ihrem Tod nehmen sie eine verkrümmte Embryo-Haltung ein. Den genauen Beginn der Epidemie kennt man nicht, weil die ersten sporadischen Fälle nicht miteinander in Verbindung gebracht wurden, aber jetzt ist die Malaise unübersehbar geworden. Wenn man exponentielles Wachstum unterstellt, dann bedeuten die Zahlen aus dem obigen Zitat, dass es jetzt, nach Ablauf der drei Tage, schon fast 1300 Tote gibt.

Ulrike und Sebastian, Ottokar und Heribert
Professor Strasser vom Tropeninstitut, eine Koryphäe auf seinem Gebiet, vermutet ein hochansteckendes Virus als Ursache, das vermutlich über den Hafen eingeschleppt wurde. Doch Razzien der Gesundheitspolizei im Hafenviertel, bei denen ausländische Seeleute reihenweise zwangsvorgeführt und medizinisch untersucht werden, bleiben ohne konkrete Ergebnisse. Sebastian steht der Virentheorie ohnehin skeptisch gegenüber. Er vermutet eher, dass ein sich selbst verstärkender Teufelskreis aus Stress, Lärm, allen möglichen Umweltgiften und Angst vor der Krankheit ebendiese Krankheit auslöst und zu den Todesfällen führt. Was ihn auch stutzig macht: Bei seinen eigenen früheren molekularbiologischen Forschungen im Labor seines Mentors Prof. Hammerschmidt sind als Versuchstiere verwendete Schimpansen reihenweise verendet - und haben dabei Embryo-Haltung angenommen. Doch Sebastian findet kein Gehör, und nachdem die Politik nun handeln muss, setzt sich Prof. Strasser mit seinen Vorschlägen durch, alle Kontaktpersonen der Verstorbenen zwangsweise in strenge Quarantäne zu nehmen, und der Bevölkerung flächendeckend Breitband-Virostatika zu verabreichen (was im weiteren Verlauf des Films und jetzt auch von mir vereinfachend als "Impfung" bezeichnet wird - wie wir alle wissen, lässt ein echter Impfstoff für eine neue Krankheit erst mal auf sich warten).

Prof. Strasser, rechts unten mit dem Senator
Parallel zur Etablierung der Epidemie und von Sebastian als (vermeintlicher) Hauptfigur lernen wir drei weitere Protagonisten kennen. Da ist der tatkräftige und etwas schmierige Heribert, der in seiner Imbissbude in St. Pauli Würstchen feilbietet. Er sieht die Epidemie darwinistisch - die Natur greift zur Selbsthilfe und sortiert die Schwachen aus, und am Ende wird es für die Übriggebliebenen besser sein als zuvor. Da ist der ihm in einer Art Hassliebe verbundene Rollstuhlfahrer Ottokar - ein zynischer Giftzwerg, der schnell ausfallend bis hysterisch wird, wenn es nicht nach seiner Pfeife geht. Und da ist die junge Ulrike, die unbedarft und seltsam distanziert durchs Leben geht, als würde sie die Seuche um sie herum nichts angehen. Sie übernimmt im Film die Rolle des "reinen Tors", Peter Fleischmann verglich sie in einem Interview mit einem Simplicissimus, der allen Gefahren entgeht. - Als Sebastian ein Opfer der Krankheit auf der Straße untersucht, ohne Handschuhe, Maske oder sonstige Schutzmaßnahmen, wird er prompt von der Polizei in eine der überfüllten Quarantänestationen verfrachtet und trifft dort auf Heribert und Ulrike. Doch der umtriebige Heribert gedenkt nicht, dort lange zu bleiben. Als unter den Insassen ein Tumult ausbricht, benutzt er die Gelegenheit zur Flucht, die er mit Ottokars Hilfe bereits vorbereitet hat, und in seinem Schlepptau entkommen auch Sebastian und Ulrike. Zusammen fliehen die vier in Heriberts Lieferwagen, und mit Glück und Chuzpe lavieren sie sich durch die inzwischen allgegenwärtigen Polizeikontrollen und verlassen die Stadt.

Fritz (noch auf dem Dach) und Alexander; Heriberts Wagen geht in Flammen auf
Aber die Hoffnung, dass die Seuche auf Hamburg beschränkt ist, zerschlägt sich schnell. Bereits im ersten Bauerndorf, durch das die Flüchtlinge kommen, liegen die Toten auf der Straße und in den Höfen. Als Ottokar, Sebastian und Ulrike in einer gemeinsamen Anstrengung eine Leiche, die gerade von Schweinen angefressen wird, aus dem Stall bergen, ist Heribert über die daraus erwachsende Ansteckungsgefahr so verärgert und angewidert, dass er im Streit alleine weiterfährt. Für die anderen ist trotzdem für das Fortkommen gesorgt, denn im Dorf finden sich doch noch zwei Überlebende. Da ist der zappelige Fritz, der sich vor der im Dorf stattgefundenen Impfaktion auf das Dach eines Bauernhauses gerettet hat, und der meint, dass er nur deshalb überlebt hat, weil er eben nicht geimpft wurde. Nun legt er zunächst mal geradezu panisch Wert auf räumlichen Abstand zu seinen neuen Bekannten - social distancing im Jahr 1979. Der zweite Überlebende ist der leicht esoterisch angehauchte Alexander, der eine nicht so recht zu ihm passende Tätigkeit ausübt - er überführt Wohnwagen an die Käufer, und daran hält er auch jetzt fest, als würde um ihn herum nichts Besonderes geschehen. Seine Abgeklärtheit ist aber nicht naiv wie bei Ulrike, sondern entspringt sozusagen der höheren Warte fernöstlicher Weisheiten. Mit seinem Geländewagen und dem daran hängenden Wohnwagen setzen die nunmehr fünf Reisegenossen die Fahrt fort.

Ausnahmezustand in Hamburg und Lüneburg
Zunächst soll es nach Lüneburg gehen, wo Sebastian mit seinem früheren Chef Prof. Hammerschmidt die Lage erörtern will. Doch die Stadt ist bereits von der Polizei und einer regelrechten Zivilschutzmiliz abgeriegelt - die zahlreichen Flüchtlinge aus Hamburg werden nicht hineingelassen. Auch telefonisch gelingt es nicht, Kontakt mit Hammerschmidt aufzunehmen - diese Spur (wenn es überhaupt eine war) verläuft endgültig im Sand. Und dann kommt es zu einer dramatischen Wende. Sebastian und Ulrike, die von den anderen getrennt wurden, logieren in der von der Polizei versiegelten Wohnung von Sebastians Schwester (deren Schicksal im Dunkeln bleibt). Sebastian bekommt glasige Augen, fällt vom Sessel, rollt sich zur Embryo-Haltung zusammen und stirbt. Von den knapp zwei Stunden des Films ist gerade mal eine gute Stunde vergangen. Das ist für den unvorbereiteten Zuschauer ein Schlag in die Magengrube. Gewiss, Fleischmann war nicht der erste, der sowas gemacht hat. Erst wenige Monate vor der Premiere von DIE HAMBURGER KRANKHEIT hat in ALIEN gegen die üblichen Genre-Konventionen der Captain frühzeitig den Löffel abgegeben. Doch hier ist es noch eine Spur heftiger, denn eigentlich war von Anfang an klar, dass der Vernunftmensch und Wissenschaftler Sebastian die Ursache der Epidemie aufklären wird - und nun das. Wobei das mit dem "Vernunftmenschen" bei näherer Betrachtung allerdings Risse bekommt. Denn Sebastian hat bei seinem Umgang mit den Leichen auf jeden Schutz verzichtet und damit höchst fahrlässig, ja ausgesprochen dämlich gehandelt, während Heribert und Fritz in ihrem Bemühen um Distanz instinktiv alles richtig gemacht haben - eigentlich hat Heribert viel vernünftiger gehandelt als Sebastian. Diese Sichtweise ist aber sicher nicht die von Fleischmann intendierte - der Film ist redlich bemüht, Sebastian als den Rationalisten und Heribert als den impulsiven und teilweise skrupellosen Tatmenschen hinzustellen. Es liegt an uns, ob wir das mit unserem heutigen Wissen so schlucken wollen.

Neue Reisegenossen kommen und gehen
Mit Sebastians Abgang hat sich auch seine Theorie über die Seuche verflüchtigt. War überhaupt etwas daran, oder war er von Anfang an auf dem Holzweg? Wir erfahren es nicht mehr. Und mit seinem Abgang wechselt der Fokus des Films zu Ulrike als neuer Identifikationsfigur. Wir werden sie von jetzt an, also in der zweiten Hälfte des Films, permanent im Blick haben, während die anderen Protagonisten immer wieder mal für kurze Zeit verschwinden, um dann wieder aufzutauchen (oder auch nicht). - DIE HAMBURGER KRANKHEIT ist zwar nicht komplett an einer realistischen Szenerie vorbei inszeniert, weist aber immer wieder Sequenzen mit einem leicht surrealen Touch auf. So gibt es Bilder von Landstraßen, die von endlosen Autokolonnen verstopft sind, und an denen sich bizarre Szenen abspielen. Schon in der Nähe von Lüneburg gibt es fliegende Händler, die am Straßenrand Gesichtsmasken verkaufen (was Sebastian als Geschäftemacherei mit wirkungslosem Firlefanz bezeichnet - auch das aus heutiger Sicht kein Ausweis seiner Kompetenz), und der Lieferwagen von Heribert, der jetzt seine Würstchen an die im Stau Gestrandeten verkauft, wird ohne ersichtlichen Grund abgefackelt. Noch bizarrer eine spätere Szene: Im Stau gab es einen leichten Auffahrunfall mit geringfügigem Blechschaden, über den sich die beiden Autobesitzer in die Wolle geraten, als gäbe es gerade nichts Wichtigeres ("Mutti, hol die Polizei! Das lassen wir uns nicht bieten!"). Und während noch gestritten wird, bricht ein schwerer Kampfpanzer in voller Fahrt aus dem Unterholz hervor und macht eines der im Stau stehenden Autos platt. Nein, die Bundeswehr hat noch nicht die Kontrolle im Land übernommen. Es handelt sich nur um einen britischen Panzerführer, der angesichts der unklaren Bedrohungslage die Nerven verloren hat. Die Polizei kann den Panzer nur hilflos umkreisen, aber ein ebenfalls auftauchender Militärhubschrauber bringt ihn mit einem gezielten Schuss vor den Bug zum Stehen. (Dass es ein britischer Panzer ist, hat keine tiefere Bedeutung. Die zunächst angefragte Bundeswehr wollte von solchem Kram nichts wissen, weil ein deutscher Panzerfahrer nicht Amok läuft, wie Fleischmann in einem Interview erzählt. Die danach kontaktierten Briten waren dagegen begeistert von der Gelegenheit, sich mal richtig auszutoben.) Diese Sequenzen erinnern atmosphärisch etwas an Godards WEEKEND von 1967, in dem sich in einem Mega-Stau surreale und apokalyptische Szenen abspielen.

Kleiner Blechschaden ... und dann ein etwas größerer Blechschaden
Sozusagen das Gegenstück dazu ist eine andere Sequenz, in der die Flüchtigen eine Barriere durchbrechen und dann auf einer, abgesehen von einem Konvoi von Einsatzfahrzeugen, völlig leeren Autobahn dahinbrausen. Fleischmann hat hier Bilder nachgestellt, die man aus der Realität von den autofreien Sonntagen im Gefolge der Ölkrise von 1973 kannte (und die derzeit in abgeschwächter Form wieder aktuell sind). Bizarre Szenen gibt es auch, als Alexander den Wohnwagen bei den neuen Besitzern abliefert (einem Dialog nach in Gießen, aber gedreht wurde das in Fulda). Diese haben nichts Besseres zu tun, als leichte Bagatellschäden zu monieren und nachdrücklich nach dem Verbleib einer mitbestellten Decke zu fragen (mit der Fritz seine Blößen bedeckte, nachdem er nackt vom Dach des Bauernhauses in Niedersachsen herabstieg). Surreal gestaltet sich auch eine Szene in einem Landgasthaus, irgendwo auf dem Weg von Hessen nach Bayern (jetzt in Alexanders Geländewagen ohne Wohnwagen). Dort wird eine frenetische Party gefeiert. Das ist nicht das Gegenstück heutiger Corona-Parties, sondern sowas wie der Tanz auf dem Vulkan angesichts einer drohenden Katastrophe, die schon im nächsten Augenblick jeden der Teilnehmer ereilen kann. Einer der Feiernden ist als Gevatter Tod maskiert und erinnert damit frappant an eine Gestalt in Jean Renoirs LA RÈGLE DU JEU - wo ebenfalls auf dem Vulkan getanzt wird (dort freilich angesichts des bevorstehenden Zweiten Weltkriegs). Die Party ist aber auch ein Stelldichein reicher Krisengewinnler, die sich angesichts der neu auftuenden Geschäftsfelder gegenseitig auf die Schulter klopfen und zynisch frohlocken, weil sie solchen Kokolores wie Umweltschutz und Arbeitnehmerrechte bald in die Tonne treten können. "Grenzenloses Wachstum! Wir gehen rosigen Zeiten entgegen!" Evelyn Künneke hat einen kurzen Gastauftritt in dieser Sequenz, und Deutschlands damals bekannteste Transsexuelle Romy Haag spielt die schöne Carola, die sich nach der Party den Flüchtlingen für eine Weile anschließt. (Man bekommt auch kurz ihr "bestes Stück" zu sehen, das erst Jahre später operativ entfernt wurde, aber im Vergleich zu den Derbheiten, die man in Fleischmanns DOROTHEAS RACHE zu sehen bekommt, ist das alles sehr dezent.)

In Fulda
Noch jemanden treffen wir und unsere Protagonisten auf dieser Party, nämlich völlig unerwartet Heribert. Er hat inzwischen das Geschäftsmodell gewechselt. Statt weiterhin Würstchen zu verkaufen, hat er sich darauf verlegt, mit einer Pistole bewaffnet und mit einer kleinen Bande von maskierten Helfern versehen, die Partygäste auszurauben. "Wenn man in ein Chaos schießt, stellt sich zwangsläufig eine Ordnung ein", sagt er treffend, nachdem er einen Warnschuss abgegeben hat. - Gegen Ende des Films ist man in Bayern am Fuß der Alpen angekommen - und wird von einer Standschützenkompanie im Trachtenanzug empfangen, die per Walkie-Talkie mit den Behörden kooperiert (laut Credits und Presseheft handelte es sich realiter um die Schützenkompanie Kochel). Unvermutet für den Zuschauer und die Protagonisten wird plötzlich über den Rundfunk das Ende der Epidemie verkündet. Aber stimmt das auch? Jedenfalls werden alle noch ungeimpften Personen weiterhin der zwangsweisen Immunisierung zugeführt, und zu denen gehört auch Ulrike. Vorsichtshalber flüchtet sie weiter, auf eine Alm zu ihrem Opa, aber ist sie da oben wirklich sicher?


In zeitgenössischen Kritiken von DIE HAMBURGER KRANKHEIT wird häufig auf Parallelen zum Hamburger Giftmüllskandal von 1979 hingewiesen. Da waren nicht nur "normale" Giftstoffe illegal und ohne jede Aufsicht notdürftig verbuddelt oder lagen einfach so herum, sondern auch chemische Kampfstoffe wie Phosgen, Lost und Tabun in größeren Mengen. Gerade mal etwas mehr als drei Jahre nach Seveso sorgte das nicht nur für bundesweites, sondern sogar internationales Aufsehen. Als dann zweieinhalb Monate später in DIE HAMBURGER KRANKHEIT Männer in Ganzkörper-Schutzanzügen zu sehen waren, sorgte das für ein Déjà-vu - sowas hatte man doch gerade erst neulich in den Fernsehnachrichten gesehen. Und unter den exotischeren Theorien, die zu den Ursachen der "Hamburger Krankheit" vorgebracht werden, finden sich auch kürzlich abhanden gekommene chemische Kampfmittel der Bundeswehr. Freilich war DIE HAMBURGER KRANKHEIT längst abgedreht, als der Skandal publik wurde, und heute, viele Giftskandale später, spielt dieser Aspekt zur Beurteilung des Films keine große Rolle mehr.

DIE HAMBURGER KRANKHEIT ist auch ein Roadmovie
Was ist nun DIE HAMBURGER KRANKHEIT für ein Film? Man könnte ihn als dystopisches Endzeit- oder Katastrophendrama mit leichtem Science-Fiction-Einschlag bezeichnen. Wobei sich der SciFi-Einschlag weniger aus der Handlung ergibt - es gibt da eigentlich nichts, was aus damaliger Sicht erst in der Zukunft möglich gewesen wäre, wenn man mal von den Spekulationen der Gerontologen über die Verlängerung des Lebens absieht, aber die besitzen für die eigentliche Handlung keine Relevanz. Eher liegt es am Atmosphärischen, und dazu leistet die Musik von Jean-Michel Jarre einen wesentlichen Beitrag. Der französische Musiker und Elektronik-Tüftler, der mit seinem Hit Oxygène (Part IV) auch hierzulande bekannt wurde, hat für DIE HAMBURGER KRANKHEIT keine neue Musik komponiert, sondern in Absprache mit Fleischmann passende Stücke aus seinen Alben Oxygène und Equinoxe ausgewählt. Dabei hatte er ein gutes Händchen. Die damals futuristisch klingende Musik wirkt heute nicht veraltet, sondern zeitlos, und sie versieht viele Szenen mit einem leicht abstrakt wirkenden und latent bedrohlichen Touch. Noch etwas ist DIE HAMBURGER KRANKHEIT, nämlich ein Roadmovie. Zwar dauert es etwas, bis die Protagonisten Hamburg hinter sich lassen, aber dann sind sie fast ständig unterwegs, von Nord nach Süd durch die ganze Republik. Meistens per Auto, auch mal mit einer Fähre auf der Elbe und später auf einem rostigen Hausboot, und zwischendurch und ganz am Schluss zu Fuß. Von den verschiedenen Etappen sind jeweils nur kleine Ausschnitte durch große geografische Sprünge miteinander verbunden, aber wer mit älteren deutschen Roadmovies wie etwa Wim Wenders' Trilogie (ALICE IN DEN STÄDTEN, FALSCHE BEWEGUNG und IM LAUF DER ZEIT, 1974-76) etwas anfangen kann, der wird auch Fleischmanns Film in dieser Hinsicht etwas abgewinnen können.

Carola schließt sich an
Was die surrealen Elemente betrifft, so blieb Peter Fleischmann seiner bisherigen Linie treu. Sein erster Spielfilm, JAGDSZENEN AUS NIEDERBAYERN (1969) nach dem gleichnamigen Stück von Martin Sperr (der auch die Hauptrolle spielte), war noch dem Realismus verpflichtet, ein typischer (und vielleicht der bekannteste) Vertreter des "Neuen Heimatfilms" innerhalb des Neuen Deutschen Films. Aber in der wüsten Kleinstadt-Groteske DAS UNHEIL (1972) und in der grellen Sex-Farce DOROTHEAS RACHE (1974) ließ es Fleischmann schon richtig krachen (den darauffolgenden Film LA FAILLE von 1975 habe ich noch nicht gesehen). Der 1937 geborene Fleischmann besitzt eine frankophile Ader, er hat einen Teil seiner Ausbildung an der Pariser Filmhochschule IDHEC absolviert (den anderen Teil am Vorläufer-Institut der HFF in München). Für DOROTHEAS RACHE gewann Fleischmann Jean-Claude Carrière als Co-Autor des Drehbuchs. Carrière hat, neben vielen anderen Filmen, auch an sechs Spätwerken von Luis Buñuel mitgearbeitet, von TAGEBUCH EINER KAMMERZOFE über BELLE DE JOUR und DER DISKRETE CHARME DER BOURGOISIE bis zu DIESES OBSKURE OBJEKT DER BEGIERDE, er besaß also ausgewiesene Expertise in Sachen Surrealismus. Während dieser Zusammenarbeit, also Mitte der 70er Jahre, entstanden bereits die ersten Ideen zu DIE HAMBURGER KRANKHEIT, und Carrière fertigte später eine Reihe von Konzeptzeichnungen dazu an, war dann aber an der Entstehung des Films nicht mehr beteiligt. Diese Rolle übernahm Roland Topor, der auf Fleischmanns Wunsch das offizielle Filmplakat für DOROTHEAS RACHE entworfen hatte. Der Pariser Zeichner und Schriftsteller Topor (er schrieb u.a. die Romanvorlage für Polanskis DER MIETER) hatte schon um 1960 herum Freundschaft mit dem Dichter, Dramatiker und späteren Regisseur Fernando Arrabal geschlossen, der aus Chile nach Paris zugewanderte Alejandro Jodorowsky gehörte ebenfalls zu dieser Gruppe. Fleischmann, der Arrabal von einer früheren Begegnung in Cannes kannte, engagierte nun diesen als Darsteller des Ottokar und Topor als Co-Autor des Drehbuchs. Auf Topors Vorschlag wurde der Schriftsteller Otto Jägersberg als weiterer Autor hinzugezogen. Weil auch eine französische Firma an der Finanzierung von DIE HAMBURGER KRANKHEIT beteiligt war, ist es offiziell eine deutsch-französische Coproduktion (französischer Titel LA MALADIE DE HAMBOURG).

Schützenkompanie
Ein weiteres Charakteristikum zieht sich durch Fleischmanns Spielfilme von JAGDSZENEN AUS NIEDERBAYERN bis (mindestens) DIE HAMBURGER KRANKHEIT (aber wiederum weiß ich in dieser Hinsicht nichts über LA FAILLE), nämlich seine Vorliebe, professionelle Theater- und Filmschauspieler mit vielen Laiendarstellern zu mischen und Letztere oft auch mit tragenden Rollen zu betrauen. Vielen der Laiendarsteller in DIE HAMBURGER KRANKHEIT sieht man ihren Status an, denn solche Charakterfressen bekommt man in den Katalogen der Schauspieleragenturen überhaupt nicht zu sehen, und alle sprechen ihren jeweiligen lokalen Dialekt, von einer Hamburger Hafenkneipe über das Hessische in Fulda bis zum Bairisch der Schützenkompanie. Was die Profis betrifft, so meistert Helmut Griem, der spätestens seit seinen Auftritten in CABARET und Viscontis LUDWIG auch international gefragt war, seinen Part souverän. Carline Seiser hatte zuvor nur zwei Filmauftritte vorzuweisen und hätte vielleicht Karriere gemacht, aber 1980 heiratete sie Konstantin Wecker (die Ehe hielt bis 1988) und beendete ihre Filmlaufbahn, auch wenn sie 1991 nochmals in einem TV-Film auftauchte. Sie wurde dann Malerin und Bildhauerin und entwarf gelegentlich auch Bühnenbilder und Kostüme. Das schauspielerische Highlight in DIE HAMBURGER KRANKHEIT ist für mich aber Ulrich Wildgruber, der eine faszinierend dynamische Performance hinlegt. Damals schon ein arrivierter Theaterstar, der vor allem mit dem Namen Zadek verbunden war, hatte er zwar schon 1975 auch in einem Film von Peter Zadek mitgespielt, aber erst mit DIE HAMBURGER KRANKHEIT begann seine Zweitkarriere als Film- und Fernsehdarsteller so richtig. Sie währte 20 Jahre lang, bis er sich 1999 das Leben nahm.

In Bayern hat Heribert abermals die Profession gewechselt - er verkauft jetzt Schutzanzüge
DIE HAMBURGER KRANKHEIT ist 2018 auf einer DVD der Zweitausendeins Edition erschienen. Als Bonus gibt es u.a. das damalige Presseheft (als PDF im ROM-Bereich), die Zeichnungen von Carrière, das oben schon erwähnte Interview mit Fleischmann, und als Höhepunkt seinen grandiosen Dokumentarfilm HERBST DER GAMMLER von 1967. Eine ältere DVD von 2010 gibt es auch, aber die ist offenbar vergriffen. 2019 wurde DIE HAMBURGER KRANKHEIT digital restauriert, dabei aber leider auch gekürzt (auch Romy Haags Schniedel wurde weggeschnibbelt). Diese Version gibt es gegen Bezahlung bei Vimeo als Stream (dort auch ein Trailer in guter Bildqualität).