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Montag, 25. Juli 2011

Frühsozialisten, Puritaner und ein Amateurfilm: WINSTANLEY

WINSTANLEY
Großbritannien 1975
Regie: Kevin Brownlow und Andrew Mollo
Darsteller: Miles Halliwell (Winstanley), Jerome Willis (Fairfax), David Bramley (Platt), Alison Halliwell (Mrs. Platt), Phil Oliver (Will Everard), Terry Higgins (Tom Haydon), Dawson France (Capt. Gladman), Sid Rawle (Ranter)


There's really not much to be said for WINSTANLEY, except that it's the most mysteriously beautiful English film since the best of Michael Powell (Jonathan Rosenbaum, 1976)

Im letzten November erhielten nicht nur Jean-Luc Godard und Eli Wallach einen Ehrenoscar für ihr Lebenswerk, sondern auch Kevin Brownlow - letzterer für seine Verdienste als Filmhistoriker, -restaurator und -journalist. In Büchern und Fernsehsendungen hat er dem modernen Publikum die Welt des Stummfilms nahegebracht, und Brownlow ist es zu verdanken, dass Abel Gances Monumentalwerk NAPOLÉON heute wieder in einer mehr als fünfstündigen Version vorliegt. Weniger bekannt ist, dass er gemeinsam mit seinem Freund Andrew Mollo auch zwei Spielfilme außerhalb der Filmindustrie inszeniert hat, und dass er vielleicht professioneller Regisseur geworden wäre, wenn Angebote von den Studios gekommen wären - doch die blieben aus.


England 1649, als die Puritaner unter Oliver Cromwell die Monarchie abgeschafft und eine Herrschaft des Parlaments errichtet hatten, aus der bald eine Diktatur unter dem "Lordprotektor" Cromwell wurde. Auf St. George's Hill, einem bislang unbewohnten Hügel in der Grafschaft Surrey, lässt sich eine Gruppe von Leuten nieder, die radikale Ideen vertritt, und beginnt, mit primitiven Mitteln Landwirtschaft zu treiben. Nach dem Bürgerkrieg hatten die sogenannten Levellers ("Gleichmacher") soziale und politische Reformen gefordert. Als diese ausblieben, insbesondere das Wahlrecht weiterhin den Grundbesitzern vorbehalten blieb, war es zu einer Meuterei der Levellers innerhalb Cromwells New Model Army gekommen, die gewaltsam niedergeschlagen wurde. Die Neuankömmlinge auf dem Hügel bildeten eine Splittergruppe mit noch weiterreichenden Forderungen, die auf einen christlichen Kommunismus hinausliefen, der aus der Bibel heraus (im Wesentlichen einige Sätze aus der Apostelgeschichte) begründet wurde. Die Gruppe nennt sich zunächst True Levellers, wird aber wegen ihrer landwirtschaftlichen Aktivitäten bald Diggers ("Buddler") genannt und übernimmt diese Bezeichnung schließlich selbst. Die Diggers bestehen aus durch den Bürgerkrieg verarmten Bauern und Handwerkern, aus Veteranen der New Model Army, die wenig Sold erhielten und nun vor dem Nichts stehen, und aus ihren Frauen und Kindern. Ihr Anführer ist der charismatische Gerrard Winstanley, ein durch den Krieg ruinierter Schneider und Stoffhändler aus London. In Pamphleten und theologischen Traktaten entwirft er das Programm der Diggers.


Die Diggers sind bald Anfeindungen ausgesetzt. Der Hügel gehört zu den Commons, ist also Gemeineigentum, und die Diggers wollen zwar langfristig das Privateigentum abschaffen, achten aber darauf, bestehendes Eigentum nicht zu verletzen. Doch formal verletzen sie das Gesetz, denn Commons dürfen nur als Viehweide benutzt, aber nicht bebaut oder zum Holzeinschlag benutzt werden. Die ortsansässigen Bauern fühlen sich von den Diggers bedroht, weil diese weidendes Vieh von ihren neu angelegten Feldern vertreiben, und sie attackieren die Siedlung der Diggers gewaltsam. Ebenfalls beunruhigt fühlen sich die reichen Grundbesitzer der Gegend, deren mächtigster der adelige Francis Drake ist. Zum größten Feind der Diggers wird jedoch der presbyterianische Pfarrer John Platt. Erstens gehört auch er zu den wohlhabenden Grundbesitzern. Zweitens ist es ihm, dem ordinierten Priester, zutiefst suspekt, wenn Laien theologische Abhandlungen verfassen. Drittens sind bereits einige seiner Schäflein zu den Diggers übergelaufen. Und viertens schließlich sympathisiert seine Frau Margaret, mit der er eine durch starre Konventionen geprägte Ehe führt, offen mit den Diggers - selbst am Mittagstisch liest sie aus Winstanleys Abhandlung "The New Law of Righteousness", und sie kündigt sogar an, sich den Diggers anschließen zu wollen.


Als die Grundbesitzer eine Beschwerde über die Diggers an den Staatsrat in London richten, erscheint ein Trupp Soldaten unter Captain Gladman am Hügel und fordert den Abzug der Siedler. Winstanley und sein Freund Will Everard werden daraufhin bei Lord General Fairfax vorstellig, dem derzeitigen Oberbefehlshaber in England (Cromwell führt gerade Krieg in Irland). Fairfax ist von der Courage und Offenheit der beiden beeindruckt und gibt den Diggers eine Chance. Gladman wird mit ein paar Leuten beim Hügel stationiert, um den Frieden zu sichern. Doch er hält es mit den Gegnern der Diggers, und die Übergriffe gehen weiter - immer wieder werden Diggers verprügelt, werden ihre Hütten und Felder verwüstet. Als bei einem der Überfälle sogar ein Mann und ein Kind erschlagen werden, beschwert sich Winstanley bei Fairfax über Gladman und erhält die Zusicherung, dass sich Derartiges nicht mehr wiederholen wird. Doch die Schikanen haben damit kein Ende: Winstanley und zwei seiner Mitstreiter werden von Francis Drake wegen Trespassing, unerlaubten Betretens von Land, vor Gericht zitiert. Schon der in Latein gehaltene Auftakt des Prozesses zeigt, wo es langgeht. Die drei Diggers haben kein Geld, um sich einen Anwalt zu leisten, dürfen sich jedoch nicht selbst verteidigen, und gelten deshalb als nicht erschienen, obwohl sie im Gericht anwesend sind. Nach zweimaliger Vertagung wird der Prozess formal in ihrer Abwesenheit geführt. Natürlich verlieren sie und werden zu einer für sie astronomischen Geldstrafe verurteilt. Weil sie nicht bezahlen können, werden die wenigen Kühe der Diggers beschlagnahmt, und ihre Versorgungslage wird langsam prekär. Ohnehin ist der Boden auf dem Hügel unergiebig, der oft peitschende Wind und der sprichwörtliche englische Regen machen den Siedlern das Leben schwer, und die Angriffe auf die Felder tun ein Übriges.


In der Siedlung der Diggers treffen fünf Neuankömmlinge ein: Ranters, Mitglieder einer besonders radikalen, anarchischen und libertären Gruppierung (deren Existenz von manchen Historikern bestritten wird). Die bisher ungetrübte Eintracht unter den Siedlern wird von den aggressiven Ranters, die von den anderen misstrauisch beäugt werden, nun auf die Probe gestellt. Will Everard, der die Siedlung nach einem der Überfälle verlassen hat, bringt unterdessen die Nachricht, dass sich in einigen Orten in verschiedenen Grafschaften neue Diggers-Kolonien gebildet haben. Mrs. Platt hat inzwischen ihre Ankündigung wahrgemacht und ist ins Lager der Diggers gezogen. Doch die radikalen Ansichten über das Privateigentum gehen ihr bald doch zu weit, und als einer der Ranters sie obszön beleidigt und nackt vor ihr herumturnt, sucht sie entsetzt das Weite und kehrt reumütig zu ihrem Mann zurück. In einer Überreaktion beschuldigt sie nun alle Diggers des zügellosen Verhaltens der Ranters. Platt fühlt sich im Aufwind und holt zum nächsten Schlag aus: Auf seine Veranlassung hin verkaufen die Ladenbesitzer der Gegend den Diggers keinerlei Waren und Lebensmittel mehr, und diese leiden nun, kurz vor dem Winter, an akuter Unterversorgung - die Kinder sind bereits unterernährt und krank. In dieser verzweifelten Situation beschließt ein Teil der Diggers unter Tom Haydon, einem tatkräftigen früheren Soldaten, einen Laden zu plündern. Winstanley ist entsetzt - er weiß, dass dies das Ende der Diggers bedeuten würde. Vergeblich versucht er, Haydon und seine Gefolgschaft zurückzuhalten. Einsam und traurig steht er auf dem windumtosten Hügel, blickt den Davonziehenden hinterher und scheint den prasselnden Regen nicht zu bemerken. Es kommt, wie es kommen muss: Haydon und seine Leute werden inhaftiert, und Pfarrer Platt triumphiert - Fairfax hat nun keine andere Wahl, als den Schutz der Diggers zu beenden. Ein großer Trupp Soldaten, angeführt von Platt persönlich, erscheint auf dem Hügel, vertreibt die restlichen Diggers, und macht die Siedlung dem Erdboden gleich. Den anderen Diggers-Kolonien ergeht es ähnlich. Pfarrer Platt zieht im Triumph durch seine Ortschaft und lässt sich von den Bewohnern als Held feiern. Am Ende des Films bedeckt frisch gefallener Schnee den menschenleeren Hügel.


Was im Film nicht mehr gezeigt wird: Winstanley veröffentlicht 1652 ein letztes Pamphlet, in dem er seine Ideen noch einmal darlegt, danach schließt er sich den Quäkern an und führt ein bürgerliches Leben, zuletzt wieder als Händler in London, wo er 1676 stirbt. Denn es gab sie wirklich, Gerrard Winstanley und die Diggers. Sie blieben als eine der ersten sozialistischen oder kommunistischen Bewegungen in Europa in Erinnerung und wurden so zu Vorbildern und Namensgebern späterer Verfechter von alternativen Gesellschaftsentwürfen, insbesondere von Hippies in den 60er und frühen 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Eine seinerzeit bekannte Gruppe englischer Hippies nannte sich Hyde Park Diggers oder New Diggers. Einer ihrer Anführer war der 2010 verstorbene Sid Rawle, ein Friedensaktivist, passionierter Land- und Hausbesetzer, Veranstalter freier Musikfestivals, und in späteren Jahren ein New-Age-Apologet im Dunstkreis von Stonehenge. Er spielt in WINSTANLEY den Wortführer der Ranters, eine Rolle, für die er sich kaum verstellen musste. Auch die übrigen Ranters wurden von Rawles Hippie-Freunden gespielt, die er selbst für die Rollen aussuchte. Unter den Hippies in San Francisco gab es ebenfalls eine besonders aktivistische und anarchische Fraktion, die sich Diggers nannte, und zu deren Aktivitäten auch improvisiertes Straßentheater gehörte. Mitgründer und bekanntestes Mitglied war der Schauspieler Peter Coyote. 1961 veröffentlichte der englische Schriftsteller David Caute, damals Sozialist, seinen Roman "Comrade Jacob" über Winstanley und die Diggers, und zog darin implizit Parallelen zwischen den Geschehnissen im 17. Jahrhundert und der Gegenwart. Das Buch wurde zum Anstoß und zur Vorlage für Brownlows und Mollos Film.


Der 1938 geborene Brownlow fand mit 11 Jahren zu seiner Filmleidenschaft, als er in einem Trödelladen zwei stumme Filmrollen im Format 9.5mm erstand, die Szenen aus dem Leben Napoleons zeigten. Wie sich herausstellte, handelte es sich um Fragmente von Gances NAPOLÉON von 1927. Brownlow war von dem, was er da sah, begeistert, und er machte sich auf eine intensive Suche nach weiteren Teilen des Films. Im Alter von 15 hatte er schon eine eineinhalbstündige Version auf 9.5mm zusammengeschnitten, damals die längste bekannte Fassung dieses fast verschollenen Meisterwerks. Brownlow führte die Arbeit an NAPOLÉON fort, und wie schon erwähnt, existiert seit über 15 Jahren wieder eine mehr als fünfstündige Version auf 35mm. Leider wird diese Fassung aufgrund eines langwierigen Rechtsstreits, in den Francis Ford Coppola involviert ist, weitgehend unter Verschluss gehalten.


Zwischen 1952 und 1955 realisierte Brownlow seinen ersten eigenen Amateurfilm mit Spielhandlung auf 9.5mm (das Format wird von manchen Amateurfilm-Enthusiasten bis heute benutzt). THE CAPTURE ist eine Adaption einer Kurzgeschichte von Guy de Maupassant, verlegt in die 1940er Jahre, mit immerhin schon fast 100 Amateurdarstellern, und finanziert durch Honorare für Artikel in einer Amateurfilmzeitschrift. Der 17-jährige Brownlow erntete dafür Lob von professioneller Seite, u.a. Lindsay Anderson, was ihn zu einem noch ambitionierteren Projekt ermutigte. Nachdem er eine Ausbildung als Cutter bei einer Londoner Dokumentarfilmfirma absolviert hatte, nahm Brownlow IT HAPPENED HERE in Angriff, einen Film aus dem Bereich der Speculative Fiction - "was wäre, wenn?" In diesem Fall: Was wäre, wenn Deutschland 1940 die Luftschlacht um England gewonnen, die britischen Truppen bei Dünkirchen vernichtet und dann Großbritannien erobert hätte? Der Film spielt unter dieser Voraussetzung im Jahr 1944, und es gibt in England nun Kollaborateure, Mitläufer und Widerstandskämpfer - insgesamt entwirft der Film ein nicht unbedingt schmeichelhaftes, aber vermutlich realistisches Bild. Brownlow hatte für die Nazis zunächst die erstbesten Uniformen, Waffen und sonstigen Ausrüstungsgegenstände genommen, die er auftreiben konnte. Doch dann kam der zwei Jahre jüngere Andrew Mollo ins Spiel, der mit 16 bereits ein Experte für militärgeschichtliche Themen, insbesondere für Uniformen, war. Er überzeugte Brownlow, dass alle diesbezüglichen Details falsch waren, und so verwarf Brownlow das bereits gedrehte Material, mit Ausnahme einer Sequenz, die er bei einer Versammlung von echten britischen Neonazis am Trafalgar Square in London gedreht hatte. Brownlow begann also nochmal von vorn, und Mollo wurde zum Art Director und bald zum gleichberechtigten Co-Regisseur befördert.


Weil alle Darsteller bis auf eine Ausnahme Laien waren, die ihren Berufen nachgehen mussten, wurde fast nur an Wochenenden gedreht. Deshalb, und wegen der stets knappen Kasse, zogen sich die Arbeiten an IT HAPPENED HERE Jahre hin, doch Brownlow und Mollo konnten mit ihrem Enthusiasmus das Projekt organisatorisch und stilistisch zusammenhalten. Über den Fortgang wurde in Amateurfilmzeitschriften und gelegentlich auch in der Tagespresse berichtet, und manchmal gab es professionellen Beistand. So spendierte Stanley Kubrick Filmmaterial, das bei einem seiner Filme übriggeblieben war, und Tony Richardson sorgte mit einer Geldspende dafür, dass der Schluss des Films, der weitgehend auf 16mm gedreht wurde, sogar auf 35mm realisiert werden konnte. 1964 war der 1956 begonnene Film schließlich fertig, 30 Jahre vor Chris Menauls FATHERLAND, der eine ähnliche Thematik verfolgt, und die Gesamtkosten betrugen gerade mal lächerliche 7000 Pfund. IT HAPPENED HERE wurde auf verschiedenen europäischen Filmfestivals gezeigt und überwiegend positiv aufgenommen, doch es gab auch heftige Kontroversen. Diese entzündeten sich an der fünfminütigen Szene mit den englischen Nazis vom Trafalgar Square, die von vielen als schockierend empfunden wurde. Manche erhoben sogar den absurden Vorwurf, Brownlow und Mollo seien selbst Faschisten. Der Film wurde mit eineinhalb Jahren Verspätung von United Artists vertrieben, jedoch nur unter der Auflage, dass die Szene vom Trafalgar Square herausgeschnitten wurde (auf der inzwischen vorliegenden DVD ist sie wieder drin). Der Film lief erfolgreich in London, doch die Einnahmen wurden von den Werbungskosten aufgefressen, so dass am Ende für Brownlow und Mollo nichts übrigblieb.


Die quasi-dokumentarische Anmutung von IT HAPPENED HERE brachte viel Lob von den Kritikern, aber die Filmindustrie blieb ob der eigenwilligen Arbeitsweise der beiden Regisseure skeptisch, und die erhofften Angebote für kommerzielle Spielfilme blieben aus. Brownlow ging neben der Arbeit an IT HAPPENED HERE seinem erlernten Beruf als Cutter von Dokumentarfilmen nach, und 1962 drehte er selbst eine kurze Dokumentation für das British Film Institute (BFI): NINE, DALMUIR WEST, über das Ende der Trambahn in Glasgow (sie wurde durch Busse ersetzt). Ab 1965 war er auch Cutter bei zwei Kurzfilmen und einem Spielfilm von Lindsay Anderson und Tony Richardson bei Woodfall Films, der zentralen Firma des Free Cinema bzw. der British New Wave. 1968 veröffentlichte er gleich zwei Bücher, "How It Happened Here" über die Entstehung von IT HAPPENED HERE, sowie "The Parade's Gone By ..." über Hollywoods Stummfilmära. Für dieses Buch hatte er in den USA viele noch lebende Mitwirkende an den Stummfilmen interviewt. Auf diese Idee war zuvor niemand gekommen, und so wurde Brownlow zu einem Pionier der modernen Stummfilmrezeption. Ebenfalls 1968 drehte er für die BBC eine Dokumentation über sein Idol Abel Gance. Mollo betrieb unterdessen seine militärgeschichtlichen Studien, schrieb Bücher zu diesen Themen, und wirkte gelegentlich als Berater oder Art Director an größeren Filmprojekten mit, von David Leans DR. SCHIWAGO über John Sturges' DER ADLER IST GELANDET bis zu Roman Polanskis DER PIANIST, Oliver Hirschbiegels DER UNTERGANG, und zuletzt für JOHN RABE.


Doch neben all diesen Aktivitäten wollten Brownlow und Mollo auch wieder einen Spielfilm drehen, und die Arbeiten daran begannen schon 1966. Miles Halliwell, ein Lehrer aus London, hatte eine kleine Rolle in IT HAPPENED HERE gespielt, und er war mit Andrew Mollo befreundet. Halliwell war es, der Mollo David Cautes "Comrade Jacob" als ein Buch vorschlug, das zu einer Verfilmung geeignet schien. Mollo und Brownlow waren davon begeistert, und Mollo dachte bei der Titelrolle auch gleich an Halliwell. Brownlow war in diesem Punkt skeptisch, aber nach einer Probeaufnahme in einem historischen Kostüm war auch er restlos von Halliwell überzeugt. Zu Recht, denn Halliwell ging geradezu in seiner Rolle auf und wirkt ungemein präsent. Mrs. Platt wird übrigens von Halliwells Frau Alison gespielt.


Woodfall Films finanzierte die Erstellung eines Drehbuchs, wollte dann aber den Film nicht produzieren. Auch United Artists und sonstige potentielle Finanziers sagten ab. Nach Jahren, als die Realisierung schon fraglich war, kam Hilfe von unerwarteter Seite. Eine Geldspritze des Kultusministeriums ermöglichte es dem British Film Institute, nicht nur kurze Dokumentationen, sondern auch experimentelle Spielfilme auf bescheidenem finanziellen Niveau zu produzieren. Neuer Leiter der Produktionsabteilung des BFI wurde Mamoun Hassan, der bereits als Kameramann bei NINE, DALMUIR WEST für Brownlow gearbeitet hatte. Hassan wusste von Brownlows Nöten, rief ihn an und bot die Finanzierung von WINSTANLEY an. So wurde der Film vom BFI produziert, mit Hassan als ausführendem Produzenten. Das Gesamtbudget betrug bescheidene 24.000 Pfund. Wie schon bei IT HAPPENED HERE waren alle Darsteller mit einer Ausnahme Laien, die völlig umsonst arbeiteten. Die eine Ausnahme war der vielbeschäftigte Fernsehschauspieler Jerome Willis, der Lord General Fairfax spielt. Die Figur war ihm vertraut, denn Willis hatte bereits 1962 in einer experimentellen TV-Fassung von "Comrade Jacob" in der BBC-Serie STUDIO 4 Fairfax gespielt [KORREKTUR: Willis spielte in diesem Film Captain Gladman, dagegen spielte er tatsächlich Fairfax in THE CRUEL NECESSITY, ebenfalls ein Fernsehfilm der BBC von 1962]. Willis war an dem Projekt WINSTANLEY sehr interessiert und verlangte nur den von der Schauspielergewerkschaft vorgeschriebenen Mindestlohn. Tatsächlich wollten Brownlow und Mollo eigentlich mehr professionelle Darsteller verwenden, doch alle, die kontaktiert wurden, fanden entweder das Drehbuch schlecht, oder ihre Agenten legten schon den Hörer auf, als sie hörten, dass nur der Mindestlohn gezahlt werden konnte. Die meisten Laiendarsteller kamen aus der Gegend des Drehortes in Surrey, doch manche wurden auch von Mollo oder Brownlow buchstäblich in der Londoner U-Bahn aufgegriffen, und dazu kamen Rawle und seine Hippies. Gecastet wurde ausschließlich nach der passenden physischen Erscheinung, nicht nach den schauspielerischen Fähigkeiten.


Eine frühe Drehbuchfassung hielt sich eng an Cautes Roman, doch dann entfernten Brownlow und Mollo alle Bezüge zur Gegenwart zugunsten eines möglichst tiefen und authentischen Eintauchens in die Welt des 17. Jahrhunderts. Auch alle fiktionalen Elemente wurden weitgehend eliminiert, bis auf kleine Details, die den Figuren Leben einhauchen, ohne spekulativ zu sein. Im Film wird ausgiebig aus Winstanleys Schriften, die auch tagebuchartige Einträge enthalten, zitiert. Die materielle Welt um 1650 wurde mit geradezu fanatischer Genauigkeit rekonstruiert. Während bei kommerziellen Filmprojekten Wortmeldungen von irgendwelchen Experten oft als lästige Besserwisserei abgetan werden, nahmen Brownlow und Mollo jede derartige Hilfe dankbar an. So konsultierten sie einen im Museum des Tower of London beschäftigten Fachmann, was schließlich dazu führte, dass sie historische Waffen und Uniformen in großer Zahl entleihen durften - ein sehr seltenes Privileg. Die Kühe, Schweine und Hühner der Diggers gehörten historischen Rassen an, die es nur in speziellen Zuchtanstalten gab (Jerome Willis verglich die sehr robusten und willensstarken Schweine in einem Interview mit "kleinen Elefanten"). Die Gerichtsverhandlung wurde im damals ältesten echten noch existierenden Gerichtsgebäude Englands in Malmesbury gedreht, die restlichen Innenaufnahmen in Chastleton House, einem Herrenhaus mit hervorragend erhaltener Inneneinrichtung aus dem 17. Jahrhundert. Und eine historische Scheune in Essex wurde mit Hilfe von Schulkindern zerlegt und in Surrey wieder aufgebaut. St. George's Hill kam als Drehort nicht in Frage, weil er inzwischen von umzäunten Villen gesäumt war, doch nur 30 oder 40 Kilometer entfernt fand sich ein hervorragend geeigneter Hügel. Und Mollos Vater besaß in unmittelbarer Nähe ein Haus mit großem Grundstück, auf dem die Siedlung der Diggers errichtet und für Monate stehengelassen werden konnte. Diejenigen Kostüme, die nicht von irgendwelchen Museen oder Privatsammlern geliehen werden konnten, wurden nach historischen Vorlagen in Handarbeit gefertigt, die meisten von Mollos Frau Carmen.


Aus Rücksicht auf die Laiendarsteller wurde wie schon bei IT HAPPENED HERE fast nur an Wochenenden gedreht. Die Dreharbeiten dauerten ungefähr ein Jahr, was den Vorteil bot, alle Jahreszeiten zur Verfügung zu haben. Es war eine Bedingung des BFI, dass nur solche Filmtechniker verwendet werden sollten, die noch nicht bei kommerziellen Spielfilmen mitgearbeitet hatten. Sinn war es wohl, diesen sozusagen ein Praktikum zu verschaffen, um ihnen den Berufsstart zu erleichtern. Kameramann bei WINSTANLEY war der in Ungarn geborene Ernie Vincze. Das war ein Glücksfall, denn in Absprache mit den Regisseuren entwarf er einen visuell ungemein schönen Stil für den Film, der von klaren Aufnahmen mit großer Tiefenschärfe geprägt ist. Wie die Laiendarsteller musste auch Vincze einem Broterwerb nachgehen und war deshalb manchmal längere Zeit abwesend, etwa, als er für eine Dokumentation auf dem Flugzeugträger Ark Royal drehte. Es kam aber nicht in Frage, ihn zu ersetzen - es wurde einfach gewartet, bis er wieder da war. WINSTANLEY ist auch deshalb ein sehr visueller Film, weil Dialoge recht sparsam gesetzt sind. Das geschah nicht nur, um die Laiendarsteller mit ihren meist begrenzten schauspielerischen Fähigkeiten nicht zu überfordern, es war auch eine bewusste Stilentscheidung von Brownlow und Mollo. Als ästhetische Vorbilder für den visuellen Stil dienten dem Stummfilmexperten Brownlow vor allem zwei Filme, Arthur von Gerlachs ZUR CHRONIK VON GRIESHUUS von 1925 und Carl Theoder Dreyers DIE PASTORENWITWE von 1920. Mollo orientierte sich bei seinen Entwürfen auch an historischen Radierungen und Kupferstichen, vor allem solchen von Jacques Callot. So beginnt WINSTANLEY mit einem kurzen Prolog, der die Ereignisse von 1646 bis 1649 zusammenfasst, und darin gibt es die Hinrichtung eines Levellers, die sehr eng einer Radierung aus Callots Zyklus "Die großen Schrecken des Krieges" nachempfunden ist.


Wie es nicht anders sein konnte, fanden die Dreharbeiten in sehr familiärer Atmosphäre statt. Für die Verpflegung war hauptsächlich Brownlows Frau Virginia zuständig. Es gab keine ausgeprägten Hierarchien - Brownlow und Mollo waren gleichberechtigt und sowieso immer einer Meinung, und sie machten eher Vorschläge, statt Anweisungen zu geben. Vieles entschieden Halliwell oder Vincze selbst. "... a lack of hierarchy that occasionally bordered on the anarchic", schreibt Marina Lewycka, die als Beraterin für die Sprache des 17. Jahrhunderts, als Komparsin und gelegentlich als Teeköchin und Mädchen für alles an den Dreharbeiten beteiligt war. 1975 war der Film schließlich fertig. Er lief wie IT HAPPENED HERE auf einigen Festivals, aber die Aufnahme war gemischt. Neben enthusiastischen Kritiken wie der von Jonathan Rosenbaum (die er später etwas relativiert hat) gab es auch viel Ablehnung. Und Angebote aus der Filmindustrie blieben abermals aus. Erstaunlich positiv war dagegen die Rezeption in Frankreich, wo WINSTANLEY monatelang in den Kinos lief und 1976 einen Prix Georges-Sadoul gewann. Brownlow konzentrierte sich nach WINSTANLEY auf seine Tätigkeit als Filmhistoriker und -journalist. In zwei Serien über den amerikanischen resp. europäischen Stummfilm, in Fernsehfilmen über Charlie Chaplin, Buster Keaton, D.W. Griffith und weitere Persönlichkeiten, die er meist gemeinsam mit dem inzwischen verstorbenen David Gill realisierte, sowie in weiteren Büchern war er unermüdlich für die Popularisierung des Stummfilms tätig, was schließlich in den wohlverdienten Ehrenoscar mündete.


WINSTANLEY ist digital restauriert und mit erstklassigem Bonusmaterial versehen in England beim BFI auf DVD und Blu-ray erschienen. Es gibt auch eine ältere US-DVD.


Mittwoch, 29. Juni 2011

Kurzbesprechung: Absolution


Absolution
(Absolution, Grossbritannien 1978)

Regie: Anthony Page

Father Goddard waltet über seine ihm Anbefohlenen  in einer katholischen Knabenschule mit fester Hand, erweist sich jedoch für einen gottesfürchtigen Priester nicht als sonderlich gerecht. Während er seinen “Liebling” Benjamin sogar mit Privatstunden fördert, verachtet er den mit einer Beinschiene ausgestatteten und von den Mitschülern gemiedenen Arthur Dyson als Krüppel, obwohl doch gerade dieser um seine Zuneigung buhlt. Benjamin wiederum treibt sich lieber mit einem Hippie im Wald herum, und als die Vorwürfe des Lehrers wegen seines Umgangs drängender werden, der Hippie sogar offensichtlich vertrieben werden soll, lässt sich das Engelsgesicht ein perfides Spiel einfallen. Er erzählt seinem Priester und Lehrer unter Berufung auf das Beichtgeheimnis von Dingen, die Goddard immer häufiger in den Wald treiben, wo er beim Buddeln Dinge entdeckt, die sein ohnehin schon fahles Gesicht noch fahler aussehen lassen...

Richard Burton hatte in der zweiten Hälfte der 70er Jahre ein eher unglückliches Händchen  bei seiner Rollenwahl selbst in auf den ersten Blick viel versprechenden Filmen. Zu diesen gehörten der damals eigenartigerweise recht grosses Aufsehen erregende “Equus” (1977), die mit Schockelementen versehene Verfilmung eines heute jeder Logik entbehrenden Bühnenstücks von Peter Shaffer, aber auch der sich vor allem durch Längen auszeichnende unentschlossene Genre-Mix “The Medusa Touch” (1978), in dem er über telekinetische Fähigkeiten verfügte, damit das Spiel von Lee Remick jedoch nicht zu verbessern vermochte.  “Absolution”  nach einem Drehbuch von Anthony Shaffer, dem Bruder von Peter und Verfasser des grandiosen “Sleuth”, muss als trauriger Tiefpunkt in dieser Reihe von Filmen, aus denen vielleicht etwas hätte werden können, betrachtet werden. - Dass er völlig misslang, mag zum Teil bereits am Drehbuch gelegen haben, ist aber sicher auch der lieblosen Regie von Anthony Page zuzuschreiben, der später eher durch seine Arbeiten fürs Fernsehen von sich reden machen sollte.

Burton legt die Rolle des Priesters (er hatte sich bekanntlich schon in "Exorcist II: The Heretic", 1977, darin geübt) grundsätzlich gut an, entwickelt sich aber viel zu rasch vom strengen Lehrer zum psychischen Wrack, das anlässlich jeder Beichte mehr und mehr in sich zusammenfällt und nächtens voller Panik  die Schlafräume seiner Schüler betritt, um sich zu vergewissern, ob auch alles in Ordnung sei. Die Privatstunden, die er seinem Liebling Benjamin gibt, wirken wenig glaubhaft, müssten wenigstens andeutungsweise Gründe für die Bevorzugung des Schülers (unterdrückte sexuelle Zuneigung?) liefern. Der Zuschauer dürfte überhaupt schon damals in der schwülen Atmosphäre eines Internats ein wenig Erotik erwartet haben, wenn sie filmisch auch erst mit "Another Country" (1984) in aller Deutlichkeit durchzubrechen begann. Aber die Versuche des verkrüppelten Arthur, sich Schülern wie Lehrer anzubiedern, entbehren hier  jeder Begründung, was mit der Reduktion des Ganzen auf eine vor sich hin plätschernde Thriller-Ebene zu tun hat, die sich wiederum auf das Herumrennen des Priesters mit seiner Schaufel im Wald beschränkt, sonst aber nichts bietet, was die Spannung aufrecht zu erhalten oder durch Überraschungen zu erhöhen vermöchte. Man wartet denn auch eher gelangweilt als gefesselt auf des Rätsels Lösung, die so unerwartet nun wirklich nicht ist. - Ein grosser Schauspieler, verheizt in einem jämmerlichen Film, der sich überhaupt nicht um atmosphärische Glaubwürdigkeit bemüht und ganz darauf setzt, man gebe sich mit dem zufrieden, was so alles ausgebuddelt wird.

Donnerstag, 5. Mai 2011

Macht und Leidenschaft: DER LÖWE IM WINTER

DER LÖWE IM WINTER (THE LION IN WINTER)
Großbritannien 1968
Regie: Anthony Harvey
Darsteller: Peter O'Toole (Henry II), Katharine Hepburn (Eleanor), Anthony Hopkins (Richard), John Castle (Geoffrey), Nigel Terry (John), Timothy Dalton (Philip II), Jane Merrow (Alais)
In der deutschen Synchronisation werden die Originalnamen wie Henry und Eleanor statt der üblichen eingedeutschten Herrschernamen wie Heinrich II. und Eleonore von Aquitanien verwendet. Ich halte mich hier an die Sprachregelung des Films.


Es ist kurz vor Weihnachten im Jahre des Herrn 1183. König Henry II von England hält Hof in der Burg Chinon in der Nähe der Loire. Durch seine Herkunft (die Plantagenets waren die Herren von Anjou) und seine Ehe mit Eleanor von Aquitanien beherrscht Henry nicht nur Großbritannien, sondern auch einen größeren Teil Frankreichs als der französische König. Eleanor war einst mit König Louis VII von Frankreich verheiratet, doch die Ehe wurde bald annulliert, und Eleanor heiratete den jüngeren Henry. Doch im Lauf der Jahre entfremdete sich das Paar, und Eleanor führte mehrere Kriege gegen Henry, von denen sie die meisten verlor. Auch den letzten, und deshalb sitzt sie seit zehn Jahren als Henrys Gefangene in einer englischen Burg. Aber zu hohen Feiertagen wird sie gelegentlich hervorgeholt, um gemeinsam mit Henry und ihren Söhnen das Fest zu begehen.


Nun steht also Weihnachten vor der Tür, und wieder wird Eleanor zu Henry geladen, und auch die drei noch lebenden gemeinsamen Söhne Richard, Geoffrey und John werden nach Chinon bestellt. Doch diesmal ist einiges anders als sonst. Erstens ist der älteste Sohn und Thronfolger, der ebenfalls Henry hieß, vor einigen Monaten gestorben, und die Thronfolge muss neu geregelt werden. Eleanors Favorit ist der nunmehr älteste Sohn Richard (der zukünftige Richard Löwenherz), der schon immer mehr ihr als Henrys Sohn war. Henry dagegen favorisiert seinen Lieblingssohn John (der "Prince John" der Robin-Hood-Filme und spätere König Johann Ohneland), jüngster der drei. Er ist ein pickeliger und etwas beschränkter 16-jähriger, der sich nicht wäscht. Den mittleren Sohn Geoffrey, einen kalten Zyniker, mag keiner seiner beiden Eltern. Das war schon immer so, worunter er unter seiner glatten Oberfläche leidet. Da man ihn nicht ganz leer ausgehen lassen kann, wurde er mit der Bretagne abgespeist, wo er sich die Zeit mit irgendwelchen belanglosen Kleinkriegen vertreibt. Aber König will auch er werden.


Der zweite Grund, warum die Situation diesmal anders ist als sonst, liegt in der Verquickung von Henrys Machtpolitik mit seinem Liebesleben. Vor 16 Jahren hatte er mit Louis VII von Frankreich einen Vertrag geschlossen: Louis' Tochter Alais (anderswo auch Alix geschrieben) kam als Kind nach England und wurde an Henrys Hof aufgezogen, und sobald sie heiratsfähig wäre, sollte sie Henrys Sohn Richard heiraten. Der fromme Louis versprach sich von der dynastischen Verbindung eine Zähmung seines aggressiveren und militärisch begabteren Kollegen Henry. Dieser erhielt als Gegenleistung das Vexin, eine kleine, aber strategisch günstig gelegene Grafschaft im Nordwesten Frankreichs, die es Henry erlaubt, seine Truppen in gefährlicher Nähe zu Paris zu stationieren. Inzwischen ist Alais erwachsen, aber immer noch nicht mit Richard verheiratet. Der Grund liegt darin, dass sie längst Henrys Geliebte ist (abgesehen davon hat Richard auch kein gesteigertes persönliches Interesse an ihr). Doch Louis VII ist seit drei Jahren tot, und sein junger und dynamischer Sohn und Nachfolger Philip II, der Halbbruder von Alais, hat sich in Chinon angesagt, um die sofortige Erfüllung des Vertrags oder anderenfalls die Rückgabe des Vexin zu fordern. Doch der gewiefte Taktierer Henry ist nicht gewillt, auf die Forderungen einzugehen.


Pünktlich zum Fest treffen alle erwarteten Gäste in Chinon ein. Und sofort entfaltet sich ein Gespinst aus politischen Intrigen und persönlichen Sticheleien. Die Konstellation der Charaktere ist komplex: Eleanor hasst Henry, und zugleich liebt sie ihn noch immer. Sie versucht, ihn zu treffen, indem sie behauptet, einst mit Thomas Becket geschlafen zu haben, seinem früheren Freund und Kanzler, der als Erzbischof von Canterbury sein Gegner wurde und schließlich ermordet wurde. (Übrigens wird in Peter Glenvilles BECKET von 1964 Henry II ebenfalls von Peter O'Toole dargestellt, die Titelfigur spielte Richard Burton.) Henry durchschaut das als Bluff, was Eleanor auch zugibt, doch später legt sie nach, indem sie nun behauptet, mit Henrys eigenem Vater geschlafen zu haben. Hier ist sich Henry nicht mehr so sicher, ob es stimmt, und das nagt in ihm. Passen würde es jedenfalls zu Eleanor, der man auch nachsagte, dass sie ein Verhältnis mit ihrem eigenen Onkel Raymond, dem Fürsten von Antiochia, gehabt habe, als sie mit ihrem ersten Gatten Louis auf einem Kreuzzug war. Eleanors Angriffe unter der Gürtellinie zum Trotz - letztlich will sie Henry wiederhaben.


Alais wurde von Eleanor wie eine eigene Tochter aufgezogen, doch nun ist sie ihre Rivalin um Henrys Gunst. Alais ist deshalb misstrauisch gegen Eleanor, doch die scheint Alais noch immer mehr zu mögen als jeden ihrer Söhne. Richard ist zwar Eleanors Lieblingssohn, doch ihr Verhältnis zueinander ist jetzt gespannt. Denn Eleanor hat vor Jahren ihr eigenes Herzogtum Aquitanien, also den ganzen Südwesten Frankreichs, an Richard übertragen. Nun will sie Aquitanien wiederhaben, um es als Verhandlungsmasse gegen Henry einsetzen zu können. Der will das Herzogtum an John übertragen, um dessen Machtbasis nach seinem eigenen Ableben zu stärken, so dass John tatsächlich einmal König werden kann. Eleanor gedenkt, Aquitanien bei Henry gegen ihre eigene Freiheit einzutauschen - sie, die früher weite Reisen unternommen hat, leidet sehr unter ihrer Gefangenschaft. Doch der kraftstrotzende und zielstrebige Richard denkt nicht daran, ihr Aquitanien zurückzugeben, denn er braucht es selbst als Ausgangsbasis für seinen eigenen Kampf um die Macht. In einer Szene, die auf Eleanors Seite fast inzestuöse Untertöne durchschimmern lässt, kommt es zu einer emotionalen Wiederannäherung zwischen Mutter und Sohn, doch ihr politischer Gegensatz bleibt bestehen.


Philip II ist ein schlauer und berechnender Machtpolitiker, aber in ihm brodelt es auch wegen der jahrzehntelangen Demütigungen, die sein Vater Louis von Henry erdulden musste. Er ist wild entschlossen, es besser zu machen und sich von Henry nicht über den Tisch ziehen zu lassen. Geoffrey weiß, dass er nur König werden kann, wenn es ihm gelingt, Henry und John gegeneinander auszuspielen. Zu diesem Zweck überredet er John zu einem Bündnis mit Philip. Dabei baut er auf Johns Gier und Ungeduld, denn dieser will lieber gleich König sein, als auf Henrys natürlichen Tod zu warten. Das Abkommen sieht vor, dass Philip Soldaten und sonstige Unterstützung liefert, mit deren Hilfe John Krieg gegen Henry führt. Nach Johns Sieg sollte er König und Geoffrey sein Kanzler werden. Hätte sich Philip an diesen Vertrag gehalten? Später wird klar, dass Philip wahrscheinlich im letzten Moment seine Unterstützung zurückgezogen und dann mit Freude zugesehen hätte, wie sich die Familie seines Feindes gegenseitig zerfleischt. Doch dem tumben John sind solche Überlegungen zu hoch, und Geoffrey hat ohnehin eigene Pläne.


Die Intrigen kulminieren in einer Szene, in der sich nacheinander die drei Söhne und dann Henry selbst in Philips Gemach einfinden, um heimlich mit ihm zu verhandeln. Und jedesmal, wenn einer der Gäste eintrifft, wird der bereits anwesende von Philip hinter einem Vorhang versteckt. Was klingt wie in einem Schwank, entfaltet sich als ein Drama im Kleinen. Das Verhältnis von Richard zu Philip hat eine besondere Note dadurch, dass die beiden als Jugendliche Freunde waren. Und wie sich nun in dieser Szene erweist, hatten die beiden damals auch ein homosexuelles Verhältnis. Das benutzt jetzt Philip, um Henry zu treffen. Er berichtet Henry von der "Sodomie" seines Sohnes, von der er bisher nur vage Gerüchte kannte, aus erster Hand. Und während es zuvor im Gespräch mit Richard so aussah, als wäre damals Leidenschaft auf beiden Seiten vorhanden gewesen, behauptet Philip nun Henry gegenüber, er habe sich nur unter Ekel daran beteiligt, aus dem einzigen Grund, irgendwann ihm davon berichten zu können. Das sitzt. Henry ist schockiert und peinlich berührt. Vor allem aber ist Richard, der im Versteck hinter dem Vorhang mitgehört hat, tief getroffen. Entgeistert tritt er hervor und widerspricht Philip. Jetzt glaubt Geoffrey, dass seine Stunde gekommen ist. Auch er verlässt sein Versteck, und er enthüllt auch Johns Anwesenheit. Das ist ein vernichtender Schlag für Henry: Er erkennt, dass nicht nur Richard und Geoffrey gegen ihn intrigieren, von denen er es sowieso erwartet hatte, sondern auch sein Liebling John.


Doch Geoffrey hat sich verrechnet. Henry setzt nicht ihn als Nachfolger ein, sondern er enterbt alle seine Söhne und lässt sie ins Verlies im Keller von Chinon sperren (wo sie sich allerdings noch frei bewegen können). Und er fasst einen kühnen Plan: Wenn keiner seiner Söhne als Nachfolger taugt, dann muss eben ein neuer Sohn her. Zu diesem Zweck will er seine Ehe mit Eleanor vom Papst annullieren lassen. Dann, so der Plan, wird er Alais heiraten, die ihm neue Kinder gebären wird. Der Papst schuldet Henry einen Gefallen, denn dieser hatte ihm zu seinem Thron im Vatikan verholfen, aber der Plan ist gefährlich. Denn Henry müsste selbst nach Rom reisen, und in seiner Abwesenheit könnten alle möglichen Dinge geschehen, wie ihm Eleanor, die von den Scheidungsplänen persönlich sehr verletzt ist, sogleich drohend ankündigt. Aber auch Alais steht dem Plan skeptisch gegenüber, und sie macht Henry erst die ganze Tragweite der Situation klar: Er dürfte seine jetzigen Söhne nie mehr freilassen. Denn wenn er erst einmal tot wäre, würden seine erwachsenen Söhne, sobald sie die Gelegenheit hätten, Alais in ein Kloster stecken und ihre Kinder von Henry umbringen, damit sie selbst wieder an die Macht kämen. Henry müsste die drei also lebenslänglich einkerkern oder besser gleich sofort hinrichten. Henry zögert, doch er weiß, dass Alais recht hat.


So rafft er sich also auf und macht sich mit einem Schwert bewaffnet auf ins Verlies, um reinen Tisch zu machen. Dort hat sich aber bereits Eleanor durch Bestechung eines Soldaten Zutritt verschafft, weil sie ahnt, dass Henry bald auftauchen wird, und sie hat ihren Söhnen etwas mitgebracht - für jeden einen Dolch. Und bald kommt es zum Aufeinandertreffen der gesamten Familie im Verlies - doch am Ende wird niemand getötet. Henry ist in der stärkeren Position, doch er bringt es nicht fertig, seine Kinder umzubringen, was Eleanor ohnehin gewusst hatte. Henry erkennt, dass er seine hochfliegenden Scheidungs- und Heiratspläne aufgeben muss. Die Thronfolge bleibt vorerst ungeklärt, die Söhne gehen ihrer Wege, Eleanor bleibt Henrys Gefangene, und sie wird zurück in ihre Burg nach England geschickt. Doch Ostern wird man sich wiedersehen ...


DER LÖWE IM WINTER beruht auf dem Theaterstück "The Lion in Winter" des Amerikaners James Goldman, das 1966 erfolgreich am Broadway lief, und Goldman selbst schrieb das Drehbuch des Films. Die Herkunft von der Bühne merkt man dem Film an: Er ist sehr dialoglastig, und Katharine Hepburn und Peter O'Toole haben auch jeweils einen Monolog, fast wie man es aus Shakespeares Königsdramen kennt. (Mit O'Toole wurde auch ein weiterer, noch längerer Monolog gedreht, der laut Anthony Harvey vielleicht sein bester Auftritt war. Doch die Szene war zu lang und störte den Rhythmus des Films, so dass sie zu O'Tooles Verdruß weggelassen wurde.) Auch die Dramaturgie des Films erinnert an Theater - die Zusammenkünfte der Protagonisten in wechselnden Konstellationen, gelegentlich auch alle zusammen in einem Raum. Vielleicht könnte man den Film sogar in Akte einteilen, aber darauf habe ich nicht besonders geachtet. Aber ein Nachteil ist das alles in diesem Fall nicht. Erstens sind die geschliffenen Dialoge kein Selbstzweck, sondern sie transportieren eine politisch und psychologisch komplexe Handlung. Und zweitens ist es eine wahre Freude, Schauspielern wie Peter O'Toole und Katharine Hepburn beim Parlieren zuzusehen und -hören. (Die deutsche Synchronisation ist auch sehr gut gelungen.)


Außerdem wirken die Schauplätze alle authentisch. Der überwiegende Teil der Innenaufnahmen entstand in einem Studio in Irland, aber die Außenaufnahmen und der Rest der Innenaufnahmen wurden bei echten Burgen in Frankreich sowie in Wales gedreht. Es wurde darauf geachtet, den sehr begrenzten Luxus zu zeigen, den auch die Könige damals genossen. In den schlecht oder gar nicht geheizten Gemäuern war es sowohl im Film als auch beim Drehen bitter kalt (gedreht wurde tatsächlich mitten im Winter). Der Innenhof von Chinon ist nicht gepflastert - bei Regen stapft man durch Schlamm. Und in diesem Innenhof werden auch ganz selbstverständlich Schweine und Hühner gehalten, die Hühner freilaufend (siehe erster Screenshot), die Schweine immerhin in Verschlägen.


Peter O'Toole hatte anscheinend die Rechte an Goldmans Drehbuch erworben, jedenfalls war er in der Lage, Anthony Harvey die Regie anzubieten. Der 1931 in London geborene Harvey machte zunächst eine Ausbildung zum Theaterschauspieler, kam jedoch zum Schluss, dass er dafür nicht übermäßig begabt sei, und verlegte sich auf den Filmschnitt. Ab 1955 war er als Cutter beschäftigt, zunächst für die Brüder John und Roy Boulting. Seine bekanntesten Filme in dieser Funktion sind Stanley Kubricks LOLITA und DR. SELTSAM sowie Martin Ritts DER SPION, DER AUS DER KÄLTE KAM. Harveys erste Regiearbeit DUTCHMAN war eine kurze und mit bescheidensten Mitteln gedrehte Verfilmung eines Theaterstücks von Amiri Baraka (damals noch LeRoi Jones). O'Toole sah den Film, war begeistert und trug Harvey die Verfilmung von DER LÖWE IM WINTER an. Der ließ sich die Chance, mit zwei Weltstars zu arbeiten, nicht entgehen. O'Toole und Hepburn waren von dem Stoff überzeugt und arbeiteten für relativ wenig Geld. Auch Komponist John Barry verlangte nur einen Bruchteil des Gehalts, das er beispielsweise für seine James-Bond-Filme bekam. Überhaupt war DER LÖWE IM WINTER viel billiger, als er aussieht. Die gediegene Anmutung des Films war auch den Künsten von Kameramann Douglas Slocombe zu verdanken. Erwähnung verdient die Farbsetzung. Die dominierenden Farben sind braun und grau - graue Gemäuer, braunes Holz, Dreck, Gewänder in gedeckten Farben. Umso wirkungsvoller sind einzelne Akzente, die von leuchtenden Primärfarben und strahlendem Weiß gesetzt werden, und für die vor allem Eleanor zuständig ist.


Die Dreharbeiten fanden in lockerer und familiärer Atmosphäre statt. Katharine Hepburn war guter Dinge, obwohl der Tod ihres Langzeitpartners Spencer Tracy noch nicht lange zurücklag, sie hatte keinerlei Starallüren, bemutterte das Team, und die Chemie zwischen ihr und O'Toole war schauspielerisch und privat bestens. Sie hielt auch große Stücke auf Anthony Hopkins, der zuvor nur in einem Fernsehfilm und einem Kurzfilm von Lindsay Anderson aufgetreten war, aber bereits ein anerkannter Bühnendarsteller unter den Fittichen von Laurence Olivier war. Auch für Timothy Dalton war DER LÖWE IM WINTER sein erster Spielfilm. Zwei kleinere Katastrophen konnten die Fertigstellung des Films nicht verhindern: Ein Pferd, auf dem Anthony Hopkins in voller Ritterrüstung saß, scheute vor einer Kamera und ging durch. Hopkins fiel herunter und brach sich einen Arm. Und Anthony Harvey bekam eine Hepatitis und war für einige Wochen außer Gefecht gesetzt.


DER LÖWE IM WINTER wurde ein grandioser Erfolg bei Publikum und Kritik, der Harveys kühnste Erwartungen übertraf. Es gab drei Oscars: Für Katharine Hepburn (gemeinsam mit Barbra Streisand für FUNNY GIRL - ein Unikum der Oscar-Geschichte), James Goldman für das Drehbuch und John Barry für die Musik; außerdem vier weitere Nominierungen, darunter Harvey für die Regie und O'Toole, der auch bereits für seinen Henry II in BECKET nominiert war. (Bekanntlich gewann O'Toole noch nie einen Oscar, obwohl er bereits achtmal nominiert war.) Dazu gab es zwei BAFTA Awards für Hepburn und Barry plus sechs weitere Nominierungen, Golden Globes für den besten Film und für O'Toole plus fünf weitere Nominierungen, den Regiepreis der Directors Guild of America für Harvey, und noch ein paar weitere Auszeichnungen. Harvey durfte bei der Oscar-Verleihung auch eine der Statuen entgegennehmen, nämlich stellvertretend für Katharine Hepburn, die gerade mit den Dreharbeiten zu DIE IRRE VON CHAILLOT beschäftigt war, und die sich ohnehin nichts aus Oscars und sonstigen Auszeichnungen machte. (Tatsächlich war Hepburn, die zwölfmal für den Oscar nominiert war und viermal gewann, bei den Verleihungen nie anwesend, außer einmal, als sie selbst einen Ehrenpreis an einen mit ihr befreundeten Produzenten überreichte.) Anthony Harvey setzte seine Karriere mit relativ wenigen Filmen bis in die 90er Jahre fort, wobei er noch dreimal mit Katharine Hepburn, einmal mit Peter O'Toole sowie mehrfach mit weiteren großen Stars zusammenarbeitete. Einen so spektakulären Erfolg wie mit DER LÖWE IM WINTER konnte er nicht mehr erringen.


DER LÖWE IM WINTER ist mit einem Audiokommentar von Anthony Harvey auf DVD erschienen.

Samstag, 16. April 2011

Ein letzter Triumph des ländlichen Englands

Die Herrin von Thornhill
(Far From the Madding Crowd, Grossbritannien 1967)

Regie: John Schlesinger
Darsteller: Julie Christie, Terence Stamp, Peter Finch, Alan Bates, Prunella Ransome, Fiona Walker u.a.

Nachdem  die um 1960 entstandenen sozialkritischen Schwarzweiss-Werke aus England zu überraschenden Erfolgen geworden waren, erlebte der britische Film dank einer liberalen Filmförderung, die auch ein Engagement amerikanischer Studios ermöglichte, zwischen 1960 und 1970 einen eigentlichen Höhepunkt. Zu den vielfältigen (qualitativ höchst unterschiedlichen) Produktionen, die in diesem Zeitraum entstanden, gehörten unter anderem “Kostümfilme”, wobei die bereits vorhandene Szenerie gerne für damals sehr erfolgreiche Historienschinken (Zinnemann’s “A Man for All Seasons”, 1966, Charles Jarrott’s “Anne of the Thousand Days”, 1969) benutzt wurde. - Zwei bedeutende Regisseure der “British New Wave” entschieden sich jedoch, Klassiker der englischen Literatur zu verfilmen: Tony Richardson machte aus Henry Fielding’s “Tom Jones” 1963 ein unwiderstehliches Spektakel, das dem Schelmenroman mehr als gerecht wurde - und erntete für das hierzulande leider etwas vergessene Meisterwerk vier Oscars. John Schlesinger wiederum nahm sich 1967, eine Spitzenbesetzung aufbietend, eines Romans des Viktorianers Thomas Hardy (1840-1928) an - und wurde von der Kritik nach allen Regeln der Kunst verrissen. Da  sein “Far From the Madding Crowd” meine liebste Hardy-Verfilmung ist  (und dass Julie Christie, die bekanntlich zu meiner Göttin erkoren wurde, die weibliche Hauptrolle spielt, darf hier als nebensächlich betrachtet werden), möchte ich den Film zu rehabilitieren versuchen.

“Far From the Madding Crowd”, 1874 veröffentlicht, war Hardy’s vierter Roman, und er war, auch wenn ich etwas verallgemeinere, der Roman, der “gerade noch die Kurve kriegte”. Denn obwohl sein “Happy End” nur für zwei der Hauptfiguren gilt, vermag doch das dem Schriftsteller so am Herzen liegende ländliche, den Menschen auffangende England noch einen letzten Triumph zu feiern, während mit “The Return of the Native” (1878) jene Phase einsetzte, die dem Einzelschicksal keine Chance mehr gewährte und  die in die zutiefst tragischen naturalistischen Romane “Tess of the d’Urbervilles” (1891)  und “Jude the Obscure” (1895) münden sollte. - Der nach einigen eher idyllischen Werken entstandene “Far From the Madding Crowd” ist hingegen einem Realismus verpflichtet, der Wesen und Walten der Natur (auch deren Unberechenbarkeit) präzise in seine Geschichte einbindet und faszinierende Schilderungen des bäuerlichen Lebens im Verlauf der Jahreszeiten bietet. Erzählt wird die Geschichte der in der Arbeit disziplinierten, in Liebesdingen launischen Bathsheba Everdene, die die Farm ihres Onkels erbt und gleich von drei Männern umgarnt wird. Natürlich entscheidet sie sich für den falschen, den Windhund Frank Troy, der ihr Vermögen verspielt und sie ins Unglück zu stossen droht. Erst spät erkennt sie, dass sie sich die ganze Zeit über auf die Hilfsbereitschaft des naturverbundenen Gabriel Oak (man beachte den Nachnamen!) verlassen konnte...

 Was gab es nun an Schlesinger’s Arbeit (seiner dritten mit Julie Christie, die für “Darling”, 1965, früh, vielleicht zu früh, einen Oscar erhalten hatte) auszusetzen? - Es waren neben der meines Erachtens unberechtigten  Kritik an der Leistung der Hauptdarstellerin vor allem zwei Dinge, die zeigen, wie wenig man sich mit der literarischen Vorlage auseinandergesetzt hatte: Zum einen kolportierte man gern die von Roger Ebert in der Chicago Sun-Times veröffentlichte Kritik, der Film gehe auf die sozialen Probleme der Zeit überhaupt nicht ein, sondern beschränke sich auf eine stereotype, sich an Hollywood anbiedernde romantische Liebesgeschichte, zwar in hübschen Bildern dargeboten, aber zweieinhalb Stunden nicht ausfüllend.  Zum anderen warf man (ein Vorwurf, der sich im Zusammenhang mit Michael Winterbottom’s “Jude”, 1996, wiederholte und eigentlich auch für Polanski's “Tess”, 1979, gilt) dem Drehbuch vor, es liege zu nah am Original und lasse dem Regisseur überhaupt keine künstlerischen Freiheiten.


Dem ersten Vorwurf ist entgegenzuhalten, dass sich die betreffenden Kritiker wohl vor allem mit Hardy’s späteren Romanen auseinandergesetzt hatten und an “Far From the Madding Crowd” ähnliche Forderungen stellten wie an diese. Tatsächlich gibt sich der Roman nur am Rande “sozialkritisch”. Was aber in dieser Hinsicht aus ihm herauszuholen ist, findet sich auch im Film wieder: die harte Suche nach Arbeit, das Armenhaus als letzte und tödlich endende Zuflucht für eine schwangere Frau etc. Hinzu kommt: Alleine schon die glaubwürdigen Gesichter der Arbeiter auf Bathsheba’s Farm lassen erkennen, wie sehr Schlesinger hollywoodesquen Bildern auszuweichen versuchte, dass es ihm um ein Höchstmass an Authentizität ging. - Zum zweiten Vorwurf: Hardy’s Romane SIND beinahe Drehbücher, weisen, was Literaturwissenschaftler immer wieder in Erstaunen versetzt, ein nahezu filmisches Denken auf. Exemplarisch sei hier nur die Szene genannt, in der Troy die völlig gebannte Bathsheba in der Hügellandschaft jenes semi-fiktionalen Wessex, das natürlich zum grossen Teil mit Dorset, der Heimat des Schriftstellers, identisch ist,  mit seinen Säbelkünsten beeindruckt: Wer sie liest, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, er habe es mit einem Gedicht in Prosa zu tun, einem Gedicht, das sich aber zugleich Wort für Wort ins Medium Film transportieren lasse. Und tatsächlich: Es gelang Schlesinger‘s Kameramann Nicolas Roeg (der wusste, weshalb er Julie Christie für seinen eigenen ersten Film, “Don’t Look Now”, 1973, besetzen würde) , das Glitzern der messerscharfen Klinge und seinen Effekt auf die junge Frau in einzigartigen Bildern einzufangen.

Zur Handlung: Der junge Farmer Gabriel Oak hält vergeblich um die Hand der schönen, aber in Liebesdingen eigenen Bathsheba an. Als seine Schafe von einem ungehorsamen Hund über die Klippen getrieben werden, macht er sich mit einem “Thank God I’m not married!” auf die Suche nach Arbeit und wird von der mittlerweile mit dem Wahlspruch “I shall manage all with my head and hands” selber zur Farmerin gewordenen Bathsheba als Schäfer eingestellt; denn sie weiss wohl, was sie an dem Mann, der mit der Natur lebt und sich auch Feuer und Sturm zu stellen wagt, hat. - Mittlerweile erwacht in ihr das launisch-kokette Wesen, das dem reichen Farmer William Boldwood, einem Hagestolz, eine Valentinskarte schickt. Entgegen aller Erwartungen verfällt Boldwood der schönen Frau und bedrängt sie beinahe krankhaft. Doch sie zieht den draufgängerischen Charme des charakterlosen Taugenichts Frank Troy, einem Artillerieoffizier, der seine schwangere Geliebte Fanny Robin sitzen liess, weil sie sich zur Hochzeit in der falschen Kirche einfand, vor. In einer überwältigenden Szene (sie spielt sich in einem Seebad ab, und die Wellen des Ozeans übertönen jedes Wort einer offenbar verzweifelt bettelnden Frau) überredet sie ihn, sie zu heiraten, obwohl sie weiss, dass er ihr Verderben sein wird. - Die Ehe verläuft unglücklich; doch Gabriel, der zusammen mit ihr während der von einem Sturm heimgesuchten Hochzeitsnacht (die Männer liegen besoffen in der Scheune herum!) das geerntete Getreide mit Planen abdeckt, hält zu ihr. - Als Troy’s Geliebte Fanny während der Geburt ihres Kindes im Armenhaus stirbt und ihr Sarg auf Geheiss von Bathsheba auf der Farm aufgebahrt wird, erfährt die bloss wegen ihres Geldes geheiratete Frau während einer verzweifelten Auseinandersetzung aus dem Mund des Gatten die Wahrheit: “This woman is more to me, dead as she is, than you ever were.” Troy stürzt sich in die Fluten des Ozeans, und der Weg scheint endlich frei für William Boldwood, der vor lauter Liebeskummer seine eigene Farm zu vernachlässigen begann...


“Far From the Madding Crowd” erzählt wie die Romane des Schweizers Jeremias Gotthelf von einer Gemeinschaft, die noch ganz im Ländlichen verhaftet ist. Und dieses Verhaftetsein wird von Schlesinger, seinem Kameramann Nicolas Roeg und dem für die Musik zuständigen Richard Rodney Bennett in Szenen eingefangen, die schlicht ein Erlebnis sind: Atemberaubende Landschaftsaufnahmen lassen uns an einer Vergangenheit teilhaben, in der sich neue Techniken (etwa auf Boldwood’s Farm) erst am Rande bemerkbar machen, weil das von jenen oft zu Flötenspiel gesungenen alten Liedern, an die auch Hardy’s Gedichte immer wieder erinnern, begleitete Leben sich mit eigenen Händen dem Rythmus der Jahreszeiten anpasst, mit der Natur lebt, ihr aber auch Widerstand leistet, wenn sie zu heftig in seine Existenz  eingreift. Manche Bilder (etwa vom Erntedankfest) wirken wie Stilleben; kleine Szenen (der Mann, der von seiner alles andere als bibelfesten Mutter “Cain” genannt wurde) erinnern immer wieder an die Orality und die damit einhergehende mangelnde Bildung der Menschen, die weit weg von der Menge leben. Einzelne Abläufe sind auf eine die Figuren minutiös charakterisierende Weise  aneinandergereiht, die sich erst bei genauerem Hinsehen erschliesst: Noch sieht man Gabriel Oak, der verzweifelt auf seine toten Schafe hinabblickt und den Hund erschiesst - und schon wandert er entschlossen den Pfad hoch, felsenfest auf eine Zukunft für sich bauend.  Um ein Abgleiten ins Idyllische zu vermeiden, bauen Film wie Roman etwa drastische Bilder von Fanny Robin ein, die sich in Casterbridge mit letzter Kraft zum Armenhaus hochschleppt. Und natürlich darf auch die für Hardy typische Ironie, heute beinahe makaber anmutend, nicht fehlen: Während Troy auf Fanny, die er unterstützen will, wartet, wird ihr Sarg an ihm vorbeigefahren, ohne dass er es bemerkt. Er “verpasst” also die Tote wie sie einst die Hochzeit verpasste.

Gewiss, “Far From the Madding Crowd” ist sowohl als Roman als auch als Film mein liebster Hardy, weil er den Rezipienten nicht mit in einen Strudel völliger Hoffnungslosigkeit hinabreisst, sondern wie viele Gedichte des Schriftstellers eine Vergangenheit heraufbeschwört, die dem Willigen, dem ländlichen England Verbundenen, stets einen Weg in eine bessere Zukunft wies. Diesen vielleicht eskapistischen Genuss ermöglichen bei Schlesinger  männliche Hauptdarsteller, die wahre Glanzleistungen bieten: Wer je Peter Finch sah, der, vom Ticken der vielen Uhren und den Blicken zweier Dalmatiner begleitet, sein Essen stehen lässt und ständig auf die Valentinskarte mit ihrem “Marry me!” starrt, wird diese Szene nie vergessen können (er verbrennt die Karte, was aber sein innerliches Feuer erst recht zum Lodern bringt). Alan Bates spielt den treuen Weggefährten der jungen Frau, deren Tun und Lassen er mit Blicken, die Bände sprechen, kommentiert, mit einer Glaubhaftigkeit, wie man sie wohl seit seinem “Alexis Sorbas” (1964) nicht mehr erlebte - und Terence Stamp gibt mit jeder Bewegung zu erkennen, dass er ein skrupelloser Mensch ist, der sich auf seinen billigen Charme verlassen darf. - Bei einer solchen Besetzung möge sogar die Frage unbeantwortet bleiben, ob Julie Christie, Symbol der 60er, die nach der harten Arbeit mit David Lean (“Doctor Zhivago”, 1965) gleich wieder lange und beschwerliche Dreharbeiten in Dorset auf sich nehmen musste, nicht eher als mit spröder Schönheit ausgestattete sinnliche Frau denn als Farmerin glaubhaft wirke.

 ***

In meiner kleinen Besprechung eines Hardy-Gedichts wies ich auf einen Film hin, in dem neben dem Gesang einer ländlichen Gemeinschaft auch das Bild des über die eingeritzten Buchstaben eines Grabsteins peitschenden Regens vorkommen würde. Tatsächlich gibt es in “Far From the Madding Crowd” eine ganz auf Nässe hin stilisierte Szene, die ich sogar als emotionalen Höhepunkt der Geschichte bezeichen möchte: Während eines heftigen Regens eilt Troy zum Grab seiner Geliebten und versucht verzweifelt,  Blumenzwiebeln in die nasse Erde zu pflanzen. Der Regen wird immer stärker, und das aus einer Dachrinne schüttende Wasser scheint auf Geheiss einer "höheren" Macht  die Aufnahme der Blumenzwiebeln regelrecht  zu verunmöglichen. Troy aber geht an den Strand, um seinen nackten Körper den Fluten zu übergeben. Das Ende eines unnützen Lebens? - Das soll hier nicht verraten werden.

Donnerstag, 10. Februar 2011

Das vom kichernden Clown verdrängte Meisterwerk

Es gibt Filme, von deren Besprechung man wohl besser die Finger lassen sollte, weil man ihnen auch nicht ansatzweise gerecht zu werden vermag. Andererseits sieht man sich gelegentlich genötigt, seine guten Vorsätze über den Haufen zu werfen - und sucht nach Ausreden (ein Wort, dem wir später erneut begegnen werden) dafür. Ich schiebe hiermit die Schuld auf Alex ("hypnosemaschinen"), der mich dank seines "Weihnachtsfilms" wieder einmal mit den einzigartigen Bildern konfrontiert hat, die David Lean zu erschaffen vermochte. Aber wie schon der Titel dieses Eintrags andeutet, hat mein Wunsch, mich Lean's letztem Film zuzuwenden, vor allem mit dessen eigenartiger Rezeption, auch mit einer persönlichen Betroffenheit, zu tun - liess ich mich damals doch selber  willig zum Opfer des "Zeitgeists" machen.

Reise nach Indien
(A Passage to India, Grossbritannien/USA 1984)

Regie: David  Lean
Darsteller:   Judy Davis, Victor Banerjee, Peggy Ashcroft, James Fox, Alec Guinness, Nigel Havers, Richard Wilson, Antonia Pemberton, Sandra Hotz u.a.

Der Misserfolg von “Ryan’s Daughter” (1970) erschütterte David Lean so sehr, dass der Eindruck entstand, er werde nie wieder ein Kinoprojekt in Angriff nehmen. Als aber die Produzenten Brabourne und Goodwin auf der Suche nach einem Regisseur für die Verfilmung von E.M. Forster’s Roman “A Passage to India” waren, stand er, der sich schon in den 60ern vergeblich um die Filmrechte bemüht hatte,  noch einmal zur Verfügung. - Leider sollte auch sein letzter Film, der 1984 in die Kinos kam, nicht gebührend gewürdigt werden, stampfte doch das kindische Wiehern eines zum Clown mutierten Komponisten aus Salzburg alles, was ihm in den Weg kam, gnadenlos in den Boden. Miloš Forman’s “Amadeus”, die Verfilmung eines Bühnenstücks von Peter Shaffer, in dem Antonio Salieri indirekt zum Mörder Mozarts gemacht wird, sicherte sich jene schwer zu greifende Macht, die nicht nur Falco zu einem Welthit verhalf, sondern  zur Begeisterung eines in Trance versetzten Publikums kreischend durch sämtliche Kinosäle dieser Welt wirbelte, um alle wichtigen Preise abzuräumen. Lean’s monumentale Romanverfilmung, von der man annehmen durfte, dass sie seine letzte Arbeit sein würde, erschien hingegen --- altmodisch!

Heute hat, dies darf man guten Gewissens behaupten, der Zahn der Zeit an diesem Ding, das uns seinerzeit so “hip” vorkam, genagt - ein Phänomen, das sich bei derart umjubelten Modefilmen (und nicht zuletzt bei  einigen Arbeiten von Forman) immer wieder bemerkbar macht. Wir kennen mittlerweile auch die sich zwar äusserst "britisch" gebenden, aber gepflegt langweiligen und eher einem John Galsworthy als der elegant-schlanken Sprache Forsters angemessenen Verfilmungen aus der Merchant/Ivory-Küche (“Room With a View”, 1985, “Maurice”, 1987, “Howards End”, 1991).   Dennoch wollen viele Kritiker von “A Passage to India” noch immer nicht zugeben, damals aus vielleicht verständlichen Gründen ein zeitloses Meisterwerk verkannt zu haben, einen gewaltigen Film, der wohl nur wenig hinter “The Bridge on the River Kwai” (1957) und “Lawrence of Arabia” (1962) zurückstehen muss. - Ausreden werden immer wieder gefunden: So “stört” man sich am altmodischen Soundtrack von Maurice Jarre, obwohl sich dieser schelmisch dem vom “British Empire” so geliebten Marschrhythmus unterwirft und bewusst zurückhaltend eingesetzt wird. Es wird auch behauptet, Lean habe keine Beziehung zum “Östlichen” gehabt und  in Indien vergeblich nach jenen vor Schönheit schmerzenden Bildern gesucht, die einen “Lawrence of Arabia” auszeichnen - und man fragt sich: Haben diese Kritiker die Augen vor all dem Reichtum an Farben verschlossen, gar den im ehemaligen Kaschmir spielenden Schluss verschlafen?

Für die boshafteste Anschuldigung ist vielleicht Alec Guinness, der Lean so grosse Rollen verdankte, zuständig: Der Regisseur eines Films, der sich nicht zuletzt gegen den Rassismus unter der Kolonialherrschaft  wendet, soll Inder für “minderwertige” Schauspieler gehalten und deshalb ihn, Guinness, dazu überredet haben, den Philosophen Godbole zu spielen, der als lächerlich geschminkte Figur zur schlechtesten Rolle seines Lebens geworden sei (ob der Mime Filme wie “The Scapegoat”, 1957, wohl bei dieser Gelegenheit aus seiner Filmographie verbannte?). In Wirklichkeit ärgerte sich Guinness, weil ein grosser Teil seines Parts um der Wirkung willen dem Schnitt zum Opfer fiel - obwohl er sich darüber hätte freuen dürfen. Denn dieser Godbole, der die fragende Bemerkung der englischen Damen, es müsse doch einen Grund für den Ruf der Höhlen von Marabar geben, mit einem abschliessenden “Indeed!” beantwortet, ist die Personifizierung jener Kluft, die zwischen zwei Kulturen besteht, jedoch  im entscheidenden Augenblick von Mrs. Moore, “a very old soul”, überwunden wird: als sie versteht, dass der Weise sie auf dem Bahnhof zur Reise in ihren Tod verabschiedet.


Es fällt einem bedeutenden Regisseur nicht unbedingt schwer, aus einem durchschnittlichen Roman einen guten Film zu machen; die Verfilmung von Weltliteratur ist hingegen - wer wusste dies besser als David Lean, der sich zweier Charles Dickens-Romane angenommen und  - pardon! - Boris Pasternaks “Doktor Schiwago” 1965 um des Kitschs willen vergeigt hatte? - eine höchst diffizile Angelegenheit. Einerseits muss man der Grösse eines solchen Werks gerecht werden, es auch möglichst “getreu” und umfassend wiedergeben. Andererseits genügt es nicht, einfach dem Plot und den Dialogen zu folgen; denn: “I think people remember pictures, not dialogue." (Lean) - Es geht also um die filmische Erfassung des oft beschworenen “Geists” eines Werks, dessen Umsetzung in ein anderes Medium. Dies erfordert gelegentliche Freiheiten: So kommt etwa die grossartige Szene, in der Adela auf ihrer Fahrradtour dem Erotischen begegnet, im Roman nicht vor, erweist sich aber als unumgänglich, wenn man aufzeigen will, was in der jungen Frau vorgeht.  - Und wer  eine Liste mit bedeutenden Verfilmungen von Weltliteratur anzufertigen versucht, stellt bald einmal fest, dass er um Lean, auch um seinen letzten Film, nicht herumkommt.

Etliche Leser werden Forster’s Roman aus ihrem Englischunterricht kennen. Ich begnüge mich deshalb mit einer Beschreibung der Filmhandlung: Im unwirtlichen, regnerischen England der 20er Jahre steht die junge Adela Quested vor dem Schaufenster eines Reisebüros, wo sie für sich und die ältere Mrs. Moore eine Überfahrt nach Indien buchen will. Mrs. Moore will dort ihren Sohn Ronny, der in der Provinzstadt Chandrapore Friedensrichter ist, besuchen, Adela begleitet sie als dessen zukünftige Verlobte. Die beiden Frauen, die ein ihnen fremdes Indien und seine Leute kennen lernen möchten, begegnen schon anlässlich der Ankunft des Vizekönigs einem - arroganten - Kolonialismus auf seinem Höhepunkt, entdecken auch das Brodeln in der Menge der Unterdrückten, das im Verlauf der Geschichte in einen Aufruhr umzuschlagen droht. Statt den Indern zu begegnen, begegnen sie dem Club, Inbegriff des Englischen, englischen Strassennamen - und einem Ronny, der zum karrieresüchtigen, rassistischen Schleimer geworden ist. Ihr Wunsch, mit Indern in Kontakt zu kommen, wird mit einer “Garden Party” erfüllt, auf der ein dressiertes indisches Orchester flotte englische Märsche spielt, die eingeladenen  Inder herablassend begrüsst und anschliessend gemieden werden. Lediglich der Hochschulleiter Richard Fielding tritt gegenüber der indischen Bevölkerung aufgeschlossen auf, vermag er ihr Wesen letztlich auch nicht ganz zu verstehen. Er bietet den beiden Damen eine Begegnung mit dem kauzigen Philosophen Godbole an, zu der auch der von den Briten ausgenutzte Arzt Dr. Aziz eingeladen werden soll (Mrs. Moore war ihm an ihrem ersten Abend in einer Moschee am Ganges begegnet und freundlich als Mensch mit einem guten Gesicht wahrgenommen worden).  - Während sich Godbole in mancherlei Hinsicht reserviert gibt, den Damen aber immerhin seine Reinkarnations-Philosophie und den Glauben an die Vorbestimmung (“My philosophy is you can do what you like... but the outcome will be the same.”) erläutert, lässt sich Aziz voreilig zu einer Einladung hinreissen: Er bietet Adela und Mrs. Moore an, ihnen die berühmten Höhlen von Marabar zu zeigen...


Aziz’ Freunde tragen mit Mühe und Not zusammen, was für einen Ausflug mit englischen Ladies benötigt wird (sogar Tische, Stühle und Portwein werden besorgt). Unterdessen entdeckt Adela auf einer Fahrradtour eine alte Tempelstätte mit Figuren, die sich offen liebend umschlingen. Zum ersten Mal wird ihre Neugier auf etwas geweckt, was sie bis jetzt unterdrückte: die hemmungslose Erotik, die sich zugleich als animalisch erweist (die Stätte dient als Fels für Affen, die die flüchtende junge Frau verfolgen) - und sie nachts nicht mehr schlafen lässt.

Als man sich am frühen Morgen am Bahnhof trifft, stellt sich heraus, dass Fielding, der ebenfalls eingeladen war, später nachkommen muss, weil Godbole zu lange gebetet hat. Und spätestens jetzt erkennt der Zuschauer das den ganzen Film durchdringende Vorbestimmte, die Vorahnungen des Unausweichlichen, die von beiden Kulturen - wenn auch unterschiedlich - wahrgenommen werden: Schon im Reisebüro zu Beginn des Films fühlte sich Adela auf seltsame Weise von einem Bild mit den Höhlen angezogen; Mrs. Moore empfand den vom Mond beschienenen nächtlichen Ganges, den sie in der Moschee erblickte, als schrecklich und wunderbar zugleich, weil sie ahnte, dass das Wasser zu ihrem Grab werden sollte...

Trotzdem scheint der Ausflug zu einem Erfolg zu werden: Die Fahrt mit dem Zug und der farbenprächtige Ritt auf einem Elefanten mit grosser Begleitung befremden und beeindrucken die Damen. -  In der ersten Höhle erleidet die klaustrophobische Mrs. Moore jedoch wegen des ungewöhnlichen Echos einen Schwächeanfall und fordert Adela und Aziz auf, die weiter oben gelegenen Höhlen alleine zu besichtigen. Auf dem Weg dorthin werden seltsame “Grenzen” überschritten: Aziz reicht der Engländerin beim Aufstieg die Hand, Adela lässt sich - die Ferne ihres Verlobten, für den sie im Grunde gar nichts empfindet, erkennend - zu persönlichen Fragen über seine Beziehung zur verstorbenen Frau und die Liebe hinreissen.  - Und dann geschieht etwas, was dem Zuschauer wohl ebenso bruchstückhaft und zusammenhangslos  vorkommt wie den involvierten Figuren im Rückblick: Aziz, sich des Überschreitens der "Kluft" nur allzu bewusst, entfernt sich, um eine Zigarette zu rauchen, Adela betritt unterdessen eine der Höhlen, zündet ein Streichholz an, bläst es aber ängstlich aus, als sie bemerkt, dass der Inder nach ihr suchend vor dem Eingang steht. Kurz darauf sieht man sie völlig entgeistert den Hang hinunterrennen und in ein Auto steigen. - Als der mittlerweile nachgekommene Fielding mit Mrs. Moore und Aziz wieder in Chandrapore eintrifft, wird der Arzt beschuldigt, er habe Adela Quested in den Höhlen von Marabar zu vergewaltigen versucht...

Was geschah wirklich in den Höhlen? - Vergewaltigt wurde Adela auf jeden Fall: weil ihr niemand zu diesem “Only Connect” zwischen den Kulturen verhelfen konnte, das Forster zum Motto seines Romans “Howards End” machte - und das ihre später verwirrte Persönlichkeit vervollständigt hätte.  Man wird sie auch weiter vergewaltigen, dient sie doch von jetzt an nur als Spielball in einem Prozess, in dem die englische Kolonialmacht nahezu verzweifelt gegen aufbegehrende Unterworfene antritt.

Im Gegensatz zum monumentalen “Lawrence of Arabia” ist “A Passage to India” (die Mehrdeutigkeit des Titels erschliesst sich nach und nach, geht es doch keineswegs nur um eine Reise, sondern vor allem um eine Überbrückung respektive den Versuch) sowohl monumental als auch höchst intim, Details sorgfältig auslotend, zugleich - was durchaus dem erwähnten “Geist” des Romans entspricht. Und während die  Merchant/Ivory-Verfilmungen vor allem mit einer etwas schwülstigen, aber dennoch merkwürdig sterilen Atmosphäre aufwarteten, sind die Bilder schlank und edel, selbst in ihren monumentalsten Momenten nie überladen. Man möchte Szene für Szene wegen ihrer erlesenen Schönheit hervorheben, muss sich aber doch auf die nächtliche Begegnung zwischen der englischen Lady und dem Inder  in der  Moschee, Adelas Treffen auf die in ihr schlummernde sexuelle Lust, den Ausflug mit seiner zunehmend ersichtlich werdenden Vorbestimmung oder die prachtvoll-erschütternde Abfahrt des Zugs, in dem eine Mrs. Moore, die man loswerden wollte, weil sie Aziz für unschuldig hält, sitzt - und von einem die Zukunft erfassenden Godbole verabschiedet wird, beschränken. - Wer auch könnte sagen, je solche Bilder von der abgeschiedenen Welt nahe des Himalayas gesehen zu haben, in die sich ein mit den Briten hadernder Aziz als Leiter einer Klinik zurückzieht - um sich doch noch (Vorbestimmung!) mit seinem Freund Fielding auszusöhnen, der entgegen seiner Erwartungen eine andere Frau als Adela geheiratet hat? --- Solche Szenen erkannten wir seinerzeit auf der grossen Leinwand nicht als einzigartig, weil uns das Kreischen des Forman-Clowns die Ohren volldröhnte. Heute treiben sie mir Tränen in die Augen, wenn ich sie auf dem viel kleineren Bildschirm sehe. Was um alles in der Welt liessen wir uns entgehen?

Es soll im Vorfeld einige Probleme mit der Besetzung gegeben haben. Lean wollte Peter O’Toole für die Rolle des Fielding gewinnen, Celia Johnson war seine ursprüngliche Wahl für Mrs. Moore - und die Suche nach der passenden Schauspielerin für den Part der Adela Quested habe sich als schwierig erwiesen. Wer sich den Film heute anschaut, entdeckt schlicht Perfektion: James Fox ist ein herausragender Fielding und die grosse Dame Peggy Ashcroft wurde als dem Tode geweihte Mrs. Moore höchst verdient mit einem Oscar für die Beste Nebenrolle ausgezeichnet.


Ich konnte “A Passage to India” natürlich nicht gerecht werden, vermochte jedoch vielleicht wenigstens meine persönliche - leider späte! - Begeisterung halbwegs in Worte zu fassen. Und ich wünsche mir, dass jeder Filmfreund sich dieses Alterswerk des grossen  Regisseurs eines Tages im Kino anschauen und seine  Meisterschaft erfassen darf.

Freitag, 1. Oktober 2010

Her mit der deutschen DVD! - die Fünfte

"Where's Brummel? Dish'd. Where's Long Pole Wellesley? Diddled.
      Where's Whitbread? Romilly? Where's George the Third?
  Where is his will? (That's not so soon unriddled.)
       And where is 'Fum' the Fourth, our 'royal bird'?
   Gone down, it seems, to Scotland to be fiddled..."
(Don Juan, Canto XI, 78)

Zu den Figuren, deren "Verlust" Lord Byron in seinem "Don Juan" gelegentlich auch ironisch in mehreren Strophen beklagt, gehört unter anderem ein gewisser George Bryan Brummell (1778 - 1840), von dem man sagt, er habe ein ganzes Zeitalter geprägt und der unter dem Namen 'Beau' Brummell in die Geschichtsbücher einging. -  Brummell war der Sohn eines Privatsekretärs und machte in der englischen Armee als Husarenoffizier Karriere. Dort freundete er sich bald mit dem Prince of Wales, dem späteren Prinzregenten und König George IV., bekannt für seinen ausschweifenden Lebensstil und seine Fresssucht (er wog 1797 bereits 111 Kilo!), an, auf den er eine Zeitlang grossen Einfluss ausübte. Nach einem Zerwürfnis - seine Hoheit ertrug die spitzen Entgegnungen des Freundes nicht mehr -  kannten Brummell's Gläubiger keine Gnade, und er musste England wegen seiner Spielschulden verlassen. - Sein eigenwilliger Modestil (er forderte nicht zu auffällige, aber genau angepasste Kleidung, sorgfältig ausgesuchte Halstücher und das Reinigen der Stiefel in Champagner) setzte sich zum Teil durch und wurde unter dem Begriff "Dandyism" bekannt. Brummell behauptete, ein anständiger Mann brauche mindestens fünf Stunden, um sich anzuziehen und müsse sich auch mehrmals am Tag umziehen. Er war  zudem  dafür verantwortlich, dass sich die Männer der "guten Gesellschaft" täglich rasierten. Byron, der zu seinen eifrigen Nachahmern zählte, meinte, es sei an sich nichts Aussergewöhnliches an Brummell's Kleidung festzustellen ausser "a certain exquisite propriety". - Das Leben des ersten Dandys wurde mehrmals verfilmt.

Beau Brummell - Rebell und Verführer
(Beau Brummell, USA/Grossbritannien 1954)

Regie: Curtis Bernhardt
Darsteller: Stewart Granger, Elizabeth Taylor, Peter Ustinov, Robert Morley, James Donald, Rosemary Harris, Paul Rogers, Noel Willman u.a.

Ich habe es an sich nicht so mit den Historienschinken, die das Hollywood der 50er Jahre als Waffe gegen das aufkommende Fernsehen einzusetzen versuchte. Besonders grosse Mühe bereiten sie mir, wenn sich Robert Taylor als römischer Kommandant (1951), Ivanhoe (1952) oder Lancelot (1953)  schwerfällig durch pompöse Kulissen bewegen  und Langeweile verbreiten muss. - Dass “Beau Brummell” in dieser Hinsicht eine Ausnahme bildet, mich sogar ausserordentlich begeistert, hat verschiedene Gründe: Zum einen wurde der farbenprächtige Film an Originalschauplätzen gedreht, was die herrliche Landschaft Englands etwa in einer Jagdszene  zur Geltung bringt und dem Zuschauer durch die in einem Landsitz in der Nähe von Windsor Castle entstandenen Innenaufnahmen eine Vorstellung von der Pracht des frühen 19. Jahrhunderts zu vermitteln vermag; zum anderen liegt es natürlich an der über weite Strecken leicht und flüssig daherkommenden Geschichte, die zwar ohne einige historische “Klitterungen” und  erfundenen Liebesschmalz nicht auskommt, diese aber dank des an sich faszinierenden Lebens des “interessantesten Mannes Europas” auf ein Minimum zu beschränken vermag. Und es hat nicht zuletzt mit dem spielfreudigen Ensemble zu tun, das den “Helden” umgibt und ihm - obwohl Stewart Granger, damals ein veritabler Star, eine gute Figur abgibt - gelegentlich sogar die Show stiehlt. (Vielleicht, dies aber mehr privat, finde ich mich auch in den schönen und weniger schönen Seiten des Phänomens Brummell ein wenig wieder.)


Der Film beginnt mit einer Veranstaltung der Husaren, an der der Prince of Wales mehr hungrig als interessiert teilnimmt und die Beau Brummell, der sich gleich in die schöne Lady Patricia verliebt, zum ersten Mal Gelegenheit bietet, sein Missfallen zu erregen. Denn Brummell sagt grundsätzlich, was er für richtig hält - und er kleidet seine Meinung in elegante Spitzen, die ein zukünftiger König nur als frech empfinden kann. Nach Brummell’s Rauswurf aus der Armee sorgt er als politischer Redner, der  die höfische Unsitte, sich die Perücken mit Mehl zu pudern, anprangert, für Furore (er zählt genau auf, wie viele Brote für hungrige Mäuler man stattdessen backen könnte). Als ihn  Prince George deswegen zu sich rufen lässt, entdeckt er rasch, dass er in Brummell eigentlich keinen Gegner hat, sondern einen Menschen, der es gut mit ihm, dem kindischen und entscheidungsunfähigen Fettwanst, meint. Er folgt deshalb nicht nur seinen - auch modischen - Ratschlägen, sondern macht ihn zu seinem engsten Vertrauten und Freund. Schon bald treten die beiden in der Öffentlichkeit immer gemeinsam auf, eine Entwicklung, die der Adel - insbesondere der konservative Premierminister  William Pitt - mit Misstrauen verfolgt.


Von nun an wird der Abenteurer Beau Brummell, der sich für seine elegante Kleidung und die prächtig ausgestattete Wohnung, in der der Prince of Wales ein- und ausgeht, in Unkosten stürzte, von seinen Gläubigern in Ruhe gelassen. Auch Lady Patricia, die eigentlich mit einem Mann von Adel, Lord Edwin, verlobt ist, vermag sich seinem Charme (er nimmt ihr die Ohrringe ab, weil ein vollkommenes Gesicht solchen Schmuck nicht nötig habe) nicht mehr zu entziehen. - Und Lord Byron, der im Film als Brummell’s Freund auftaucht, sieht im Dandy, der in “Ofenröhren” am Geburtstagsfest des Prinzen auftaucht,  sogar die Zukunft heraufkommen. Er erkennt aber auch: “The trouble with most men of superior intellect is their pride. And a proud man can be just as foolish as a fool.”

Als Premierminister Pitt den Prinzen, der seit längerer Zeit offen mit seiner Geliebten Maria Fitzherbert zusammenlebt, aus politischen und finanziellen Gründen mit einer deutschen Prinzessin verehelichen will, rät ihm Brummell, seinen Vater, den auf Schloss Windsor zurückgezogen lebenden und zunehmend in geistiger Umnachtung versinkenden  König George III. (eine kleine Glanzrolle für Robert Morley), entmündigen zu lassen und die Regentschaft zu übernehmen, womit er Pitt’s Pläne durchkreuzen könnte. Tatsächlich willigt das Parlament nur einer Regentschaft mit stark eingeschränkten Befugnissen zu, was Brummell wiederum nicht akzeptieren will. Er weckt dadurch das Misstrauen seines Freundes, der plötzlich denkt, der “Emporkömmling” habe lediglich auf einen Peer-Titel spekuliert. Es kommt zum Zerwürfnis, das seinen Höhepunkt anlässlich eines Balls findet: Brummell weigert sich, dem Prinzen seine Aufwartung zu machen, und nachdem sich Lord Byron pflichtgemäss mit diesem unterhalten hat, fragt er ihn laut vernehmlich: “Gordie, who is your fat friend?”  (Die vorlaute Frage ist meines Wissens historisch beglaubigt, war aber nicht an Byron, sondern an Lord Alvanley gerichtet.)

Beau Brummell’s Schicksal ist damit besiegelt.  Die Gläubiger stürzen sich auf ihn, und Lady Patricia zieht die ruhige Bucht an der Seite eines Adligen dem Orkan mit dem Abenteurer vor. Brummell verlässt das Land und geht zusammen mit seinem treuen Diener nach Frankreich, wo er verarmt. - Am Ende des Films kommt es zu einer berührenden Szene: Der ehemalige Freund, jetzt König George IV., sucht während eines Europabesuchs die Bleibe des Mannes auf, der ihm einst eine Schnupftabakdose schenkte, die beim Öffnen ein “He’s a jolly good fellow” spielt - und die ihn immer an ihn erinnert hat. Er findet Brummell auf dem Sterbebett, und es kommt zur späten Aussöhnung.

Curtis Bernhardt, der als Kurt Bernhardt bereits zu den gefragten Stummfilmregisseuren Deutschlands gehörte ("Schinderhannes", 1928, "Das letzte Fort", 1929), inszeniert die verschwenderisch ausgestattete Geschichte mit grossem Können, die geschliffenen Dialoge und die dem ersten Dandy angemessene fürstliche Musik von Richard Addinsell machen den Film zu einem mehr als beachtlichen unterhaltsamen Erlebnis. Peter Ustinov darf in seiner zweiten Arbeit für MGM nach “Quo Vadis” (1951) als fetter Prince of Wales wieder einen unwiderstehlichen, das Spektakel dominierenden Charaktertypen hinlegen; aber auch Elizabeth Taylor, deren Rolle sicher nicht sonderlich ausgearbeitet ist, und Stewart Granger, in Deutschland noch als “Old Surehand” in diversen Winnetou-Filmen in Erinnerung, überzeugen.

Ein Jammer, dass ausgerechnet dieser unterschätzte Historienfilm nicht endlich aufgefrischt und den Zuschauern im deutschsprachigen Raum auf DVD zugänglich gemacht wird!