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Montag, 23. Dezember 2013

Fellatio, Bildgewitter in Super 8, und Sexualerziehung mit Außerirdischen in Kantabrien

Drei spanische Underground- und Avantgardefilme

ICE CREAM
Spanien 1970
Regie: Antoni Padrós
Darsteller: Rosa Morata, Hiriam Abid

Do you suck?



Antoni Padrós (geb. 1940) war ursprünglich ein katalanischer Maler, der, nachdem er eine Filmschule in Barcelona besucht hatte, "achteinhalb" (wie er selbst in Anspielung auf Fellini sagt) Filme drehte (in Wirklichkeit sind es wohl 13 oder 14), meist in Schwarzweiß auf 16mm, wie auch ICE CREAM. Ausgangspunkt war ein erotisches Gedicht, das Padrós selbst geschrieben hatte, und wie unschwer zu erkennen ist, geht es in diesem Film nicht wirklich um eine kalte Süßspeise, sondern um Oralsex. Wenn man Spanisch (oder ist das Katalanisch?) kann bzw. die auf der DVD (siehe unten) vorhandenen englischen Untertitel liest, wird das noch deutlicher, aber es ist auch so schon offensichtlich genug. Rosa Morata spielte in allen Filmen von Padrós Hauptrollen, und in einem Text wird sie als "seine persönliche Diva" bezeichnet. Später verlegte sie sich auf konventionellere Rollen, meist im Fernsehen. Padrós' Filme scheinen in Deutschland selten bis nie gelaufen zu sein, dem Lexikon des internationalen Films ist nur SHIRLEY TEMPLE STORY von 1976 bekannt. - Andy Warhol war mit BLOW JOB von 1963 sieben Jahre früher dran als Padrós, man sollte aber nicht vergessen, dass 1970 das Fossil Franco noch für weitere fünf Jahre am Leben und an der Macht war, und dass die katholische Kirche damals in Spanien über großen Einfluss verfügte. Ein Film wie ICE CREAM dürfte damals durchaus gewagt gewesen sein, und das Label "Undergroundfilm", das oft etwas leichtfertig vergeben wird, ist hier sicher passend.



A MAL GAM A
Spanien 1976
Regie: Iván Zulueta
Darsteller: Iván Zulueta (als "Jim Self")



Der Rest des Films: Teil 2, Teil 3, Teil 4. Leider wird Teil 2 in Deutschland von der GEMA blockiert, wer ihn dennoch sehen will, muss also einen passenden Proxy benutzen. Wer meint, dass ihm eine gute halbe Stunde bei einem solchen Film zu lang ist, der sollte wenigstens die furiosen letzten drei Minuten ansehen, die mit dem Beatles'schen A Day in the Life unterlegt sind.

Der aus dem baskischen San Sebastian stammende Iván Zulueta (1943-2009) lebte Anfang der 60er Jahre kurze Zeit in New York, wo er Pop (damals in Spanien weitgehend abwesend) und Underground kennenlernte, was seinen weiteren künstlerischen Weg prägte. Der auf Super 8 gedrehte A MAL GAM A ist eine Art Selbstportrait: Der junge Mann mit Bart und Wuschelhaar ist Zulueta selbst, gedreht wurde hauptsächlich in Zuluetas Elternhaus in San Sebastian und in seiner Madrider Wohnung, und zwar mit einem Minimum an personellem Aufwand, weil Zulueta den Arbeitsmodus von Malern, ganz auf sich allein gestellt ein Kunstwerk zu erschaffen, auch im eigentlich auf Teamarbeit basierenden Film realisieren wollte. 1981 hat er dazu folgendes geschrieben:
"Ich stelle mir vor, dass alle Filmemacher gelegentlich die Maler, Zeichner, Grafiker beneiden, die nicht mehr als sich selbst (abgesehen von einigen Werkzeugen natürlich) für ihre Arbeit benötigen. [...] A MAL GAM A ist, mehr als irgendetwas sonst, ein Versuch, Kino so wie jemand zu machen, der ein Portrait malt und sich entscheidet, das ohne ein Modell zu tun [...] Der Maler würde einen Spiegel vor sich aufstellen, und man würde das ein Selbstbildnis nennen, und es wäre mehr oder weniger masturbatorisch. Der Filmemacher, in diesem Fall ich, denkt sich Einstellungen mit fixierter Kamera aus, kauft sich einen langen Auslöse-Draht, setzt das Vakuum ins Bild und taucht dann selbst in diesen unsichtbar gerahmten Raum ein, im Vertrauen darauf, dass er nicht den Focus oder den Bildausschnitt verliert [...] Ein guter Wichs (Verzeihung!), in dem, wenn mich die Erinnerung nicht trügt, mein Bruder aushelfen musste (jemand musste drehen, wenn sich Jim Self bewegte), für die Momente, wenn die Kamera nicht fixiert werden konnte [...]
Mit seiner vage autobiografischen Ausrichtung und den Assoziationsketten erinnert mich A MAL GAM A etwas an Stan Brakhage, während die Handhabung des Soundtracks und die Integration von Fremdmaterial (teilweise vom laufenden Fernseher abgefilmt) vielleicht an Kenneth Anger denken lässt. Möglicherweise sind solche Vergleiche mit angelsächsischen Regisseuren nicht sehr sinnvoll, aber das ist für mich eben vertrauteres Terrain. Zuluetas opus magnum, der wüste und selbstreflexive ARREBATO von 1980 (Zuluetas alter ego in diesem Film, diesmal nicht von ihm selbst gespielt, ist ein Regisseur im Spannungsfeld von Sex, Drogen und (experimentellem) Film), war gleichzeitig Höhe- und (fast) Endpunkt seiner Karriere. Durch seine langjährige Heroinabhängigkeit und Finanzierungsprobleme konnte er keine weiteren Filme mehr drehen, abgesehen von zwei Folgen zweier Fernsehserien. Die Heroinsucht beeinträchtigte nicht nur sein Berufs-, sondern auch sein Sozialleben schwer: In den 90er Jahren hat er laut eigener Aussage die Familienvilla in San Sebastian acht Jahre lang nicht verlassen. Zulueta war nicht nur Regisseur, sondern auch Grafiker, und er gestaltete viele Poster und Filmplakate, darunter auch aus der Frühphase von Pedro Almodóvar. Wer mehr über Zulueta wissen will, dem sei dieser Artikel auf Senses of Cinema empfohlen.



DER MILCHSHORF: LA COSTRA LÁCTEA (alternativ auch nur LA COSTRA LÁCTEA)
Spanien 2002
Regie: Velasco Broca



César Velasco Broca (geb. 1978), wie Zulueta aus dem Baskenland stammend, drehte DER MILCHSHORF [sic!] in und um Laredo in der nordspanischen Küstenregion Kantabrien, und es geht um eine Invasion Außerirdischer in ebendieser Gegend. Zusammen mit dem zuvor entstandenen (aber anscheinend erst 2004 herausgekommenen) KINKY HOODOO VOODOO und AVANT PÉTALOS GRILLADOS von 2006 bildet er die Trilogie ECHO DER BUCHRÜCKEN (deutsch im Original). Er beruht auf einem Text eines Elier Ansgar Wilpert, der auch an anderen Broca-Filmen beteiligt war (in KINKY HOODOO VOODOO spielt er einen Außerirdischen). LA COSTRA LÁCTEA gewann diverse Festivalpreise im In- und Ausland und machte Broca zu einem Shooting Star des spanischen Experimentalfilms. Der kanadische Filmkritiker Todd Brown hat die Trilogie als "eine Mischung der Arbeiten von Ed Wood und Guy Maddin" bezeichnet, mir würde vielleicht noch SINS OF THE FLESHAPOIDS von den Kuchar-Brüdern einfallen. Kurios ist die (behauptete) Entstehungsgeschichte von LA COSTRA LÁCTEA. Im Presseheft des Films heißt es folgendermaßen:
Der kurze Film ist das Resultat eines Auftrags einer feministischen Vereinigung, deren Intention es war, ein Video zur Sexualerziehung von Heranwachsenden zu produzieren. Nach einer großen Zahl an Sitzungen mit den Direktorinnen der Vereinigung schaffte es Velasco Broca, sie von folgendem zu überzeugen: Das Betrachten des kurzen Films würde Jugendliche in eine Art von hypnotischer Trance versetzen, die sie viel aufnahmefähiger für die sexuellen Informationen machen würde, die die Lehrer(innen) übermitteln wollten. Unglücklicherweise konnte das nie demonstriert werden, weil der Film nie in einer schulischen Umgebung lief.
Das klingt so hanebüchen, dass ich mich frage, ob Broca hier nicht die Presse auf den Arm nehmen wollte. Wie dem auch sein mag - weniger spektakulär ist die Information aus dem Presseheft, dass der auf 16mm gedrehte Film ungefähr 6600 Euro gekostet hat.



Die vorgestellten drei Filme sind zusammen mit ca. 25 weiteren in einer spanischen 2-DVD-Box mit dem Titel "Del Éxtasis Al Arrebato" (was ungefähr "Von der Extase zur Verzückung" bedeutet) erschienen. Menüs und Booklet sind zweisprachig (Spanisch/Englisch), und die Filme haben engl. Untertitel, wo nötig. Die Box beruht auf einem gleichnamigen Filmprogramm, das 2009-2011 durch diverse Länder tourte, um den spanischen Experimentalfilm der Obskurität zu entreissen. Ungefähr die Hälfte der enthaltenen Filme entstand bis 1975, die andere Hälfte danach, und man staunt, was zu Francos Lebzeiten schon alles gemacht wurde. Geografische Schwerpunkte liegen auf Katalonien und dem Baskenland, aber andere spanische Regionen sind auch vertreten. Ich hätte gern noch ein oder zwei weitere Filme daraus vorgestellt, etwa den ziemlich grandiosen MISERERE (1979) von Antoni Miralda und Benet Rossell, der das Kunststück zuwegebringt, Allegorien mit Stilmitteln des Cinéma vérité zu vereinen, und der damit zu einer Verhöhnung des Militarismus gelangt, oder SÚPER 8 (1997) von David Domingo, eine wilde Collage auf (man ahnt es schon) Super 8 in der Tradition von Zulueta (auf die Frage, wer ihn beeinflusste, antwortete Domingo in einem Interview "die Kuchar-Brüder, Kenneth Anger, Martha Colburn, und natürlich Zulueta") - aber die habe ich alle nicht online gefunden. - Es gibt auch eine Box mit 4 DVDs, die (vermutlich alle) Filme von Antoni Padrós enthält, ebenfalls zweisprachig in Spanisch/Englisch. Sehr lobenswert, das alles! - Zwei Meister, die ebenfalls auf "Del Éxtasis Al Arrebato" vertreten sind, nämlich José Val del Omar und José Antonio Sistiaga, habe ich hier absichtlich weggelassen, denn ich werde ihnen eigene Artikel spendieren.

Dienstag, 15. Oktober 2013

Brillanter Walzer für zwei Killer


EL PLACER DE MATAR („Sie töten aus Lust“ / „The Pleasure Of Killing“)
Spanien 1988
Regie: Félix Rotaeta
Darsteller: Antonio Banderas (Luis), Mathieu Carrière (Andrés), Victoria Abril („La Merche“), Mario Gas (Inspektor Santana)


Eine Villa am Stadtrand. Auf dem Bürgersteig davor trainiert ein Jogger. Ein Auto fährt vor. Ein Mann in der Villa empfängt den Ankömmling, möchte ihm etwas zu trinken geben, aber das Eis fehlt. Der Gastgeber scheint Eis holen zu gehen, gibt aber den beiden Killern, die sich verstecken, nur das Signal zur Intervention: während der Jogger den Chauffeur des Hauptziels mit einem Kopfschuss tötet, erledigt ein überaus elegant gekleideter Herr den Gast – ebenso mit einem gezielten Schuss in den Kopf. Der Tote fällt etwas unglücklich gegen das Fenster, und zieht so die Aufmerksamkeit der jungen Teenager-Nachbarin auf sich, die nach einem zu weit geflogenen Tennisball sucht. Der Gastgeber, der das Mordkommando eingefädelt hat, ruft die zwei Killer auf, die Zeugin zu beseitigen. Die beiden Handlanger haben sich – so lassen ihre verwunderten Blicke ahnen – noch nie gesehen und wussten offenbar nicht vom jeweiligen Auftrag des anderen. Doch in einem Sekundenbruchteil stimmen sie sich aufeinander ab und schießen gleichzeitig. Der Gastgeber dieses makabren Empfangs warnt die beiden danach, sich am Plan zu halten und zu vergessen, dass sie sich jemals begegnet sind. Der Elegante fährt mit seinem Mercedes weg. Der Jogger joggt weg. Dazu ertönt die „Titelmusik“ des Films: eine geradezu grotesk verfremdete Fassung von Chopins fröhlicher „Grande Valse Brillante“ in E-Dur, auf einem Synthesizer so gespielt, dass es ein wenig an Drehorgel und Jahrmarkt erinnert. Mulmiges Unbehagen setzt zusammen mit den Anfang-Credits ein...

Der joggende Killer heißt Luis. Im „richtigen“ Leben (aber was heißt schon „richtiges Leben“ in EL PLACER DE MATAR?) tauscht er seine Jogging-Klamotten gegen Jeans und schwarzer Lederjacke ein. Er verdient sich sein Geld als Drogendealer im nicht ganz so noblen Viertel der Stadt, in der der Film spielt (eine ungenannte spanische Provinzstadt). Er hat eine Freundin, die sich „La Merche“ nennt und in einer Drogerie arbeitet. Der elegante Killer hingegen ist Gymnasiallehrer für Mathematik, und heißt Andrés. Er hat eine Verlobte und mit ihr im Anhang eine Schwiegerfamilie, die er auf den Tod nicht ausstehen kann, weil deren Mitglieder allesamt arrogante Neureiche sind. In deren Kreis schaut er genauso gelangweilt rein, wie wenn er am frühen Morgen im Radio die Nachrichten von seinen Morden hört.

Luis und Andrés: Skeptische Annäherungen
Eines Abends geht Andrés spazieren, und läuft, ohne ihn zu bemerken, an Luis vorbei. Der erkennt den eleganten Berufsgenossen sofort. Er folgt ihn und bedroht ihn mit einer Pistole. Andrés reagiert darauf lässig mit einer Einladung zu einem Drink in seiner Wohnung, was Luis wie selbstverständlich annimmt. Ein in sehr knappen Worten gehaltenes Gespräch entfaltet sich: zu Scharfschützen wurden beide von einem gewissen Barrantes ausgebildet, ehemals Oberst in der Armee, heute ein hohes Tier in der Polizei. Beide arbeiten kostenlos für ihn. Für beide war die Mission in der Villa der erste Auftrag. Beide halten den „Kollateralschaden“ mit dem Mädchen für ein Jammer. Allerdings weiß keiner, welchen Zweck der Auftrag eigentlich hatte. Trotzdem verabreden sie sich zum gemeinsamen Übungsschießen auf einem Gelände vor der Stadt.

Luis besorgt für Andrés eine Pistole (im Gegensatz zu seinem jüngeren Kollegen, der als Drogendealer gerne verteidigungsbereit bleibt, hat der Gymnasiallehrer seine Auftragswaffe wohl vorsorglich entsorgt). Und dann treffen sie sich in einem Brachland außerhalb der Stadt und üben gemeinsam Zielschießen auf ein Metallschild. Sie haben viel Spaß dabei. Nach einer Runde Sandwich und Jack Daniels aus dem Pappbecher machen sie noch ein bisschen weiter. Es scheint ein implizites gegenseitiges Verständnis zwischen den beiden sehr unterschiedlichen Auftragskillern zu geben. Sie verabreden sich zu weiteren Schießübungen, und Andrés verspricht, zum nächsten Termin eine Zielscheibe mitzubringen, die spannender und interessanter ist, als ein schnödes Metallschild. Gesagt getan... Zum nächsten Schützentreffen entführt Andrés seine Verlobte und gemeinsam mit Luis tötet er sie mit einem gezielten Kopfschuss. Bei einer anschließenden Dose Bier fragt Luis, ob Andrés sie gut gekannt habe: „Sie dachte, sie sei meine Verlobte“ entgegnet er – eine Antwort, die Luis offenbar wenig zu überraschen, zu beeindrucken oder zu berühren scheint.

Und so geht es weiter. Und immer weiter. Luis und Andrés treffen sich immer wieder, manchmal zum Mittagessen, manchmal zum Trinken, und zwischendurch immer wieder zu tödlichen Schießübungen: mal bringt Andrés eine seiner Schülerinnen als Zielscheibe mit, manchmal flirtet er mit Luis seine Beute auch in der Disco an, um sie später leichter entführen zu können. Derweilen macht sich seine Schwiegerfamilie Sorgen um die verschwundene Verlobte und die Polizei ermittelt auch, aber das nicht besonders effizient oder motiviert...

Harmloses Zielschießen auf ein Metallschild
Wer nun nach dieser Lektüre Verwunderung oder Befremdung empfindet, dürfte wohl nur einen Teil der Gefühle haben, die man bei der richtigen Sichtung von EL PLACER DE MATAR spürt. Denn dieser Film ist in der Tat höchst schwierig zu beschreiben, zu erklären, zu deuten, trotzdem er eine große Faszination ausübt – zumindest auf mich ausgeübt hat. Wenn man sich die zwei Protagonisten genauer anschaut, so ist festzustellen, dass sie kaum an irgendetwas Spaß haben, dass sie sich für kaum eine Sache begeistern mögen: nur beim Schießen blühen sie auf! Werden eins mit ihrer Waffe und mit sich selbst! Nicht im Sinne eines Waffenfetischismus, sondern eher in der Befriedigung, präzise anvisierte Ziele zu treffen. Offenbar haben sie nicht weniger Spaß mit einer Metallzielscheibe als mit einem menschlichen Opfer. Sie töten nicht aus Lust, sondern sie wollen zielgenau treffen: immer genau in der Mitte der Stirn. Luis und Andrés nehmen menschliche Opfer, weil die sich einfach anbieten. Und sie es können. Und sie vielleicht den Moment ihrer ersten Begegnung zelebrieren wollen, als sie gemeinsam die unerwünschte Zeugin erschossen haben: ein Moment vollkommenen, nonverbalen gegenseitigen Verständnisses, den keiner von ihnen anderswo gefunden hat. Luis findet diese Vertrautheit nicht bei seiner Freundin, und schon gar nicht bei seinen Drogendealer-Kollegen. Andrés findet sie nicht bei seiner Verlobten, geschweige denn bei deren Familie – alle scheinen ihm auf die Nerven zu gehen.

Tödliches Zielschießen auf Kneipengäste
Geht es also in EL PLACER DE MATAR tatsächlich um die „Freude des Tötens“? Eine Frage, die sich ebenso gut bejahen wie verneinen lässt. In der Tat zeigt der Film deutlich, wie banal extreme Gewalt in diesem kleinen Paralleluniversum ist, den sich Luis und Andrés schaffen: sie töten so locker, wie sie sich eine Zigarette anzünden oder an einem Drink nippen – und alle diese Dinge tun sie unzählige Male während des Films. Andererseits liefert der Film nicht den geringsten Hinweis darauf, dass die beiden Killer das Töten an sich genießen: sie befriedigen keine Tötungslust. Im umgekehrten Schluss gibt es allerdings auch keinerlei Anzeichen dafür, dass sie ihre Taten irgendwie reflektieren (oder gar Gewissenskonflikte entwickeln). Gegen Ende des Films, kurz bevor Luis und Andrés die ganze Kundschaft und Belegschaft einer Bar töten, sagt letzterer: „Alle scheinen zu denken, dass man nur töten kann, wenn man Soldat ist. Oder Polizist. Terrorist. Oder Jäger oder Psychopath. Oder wenn man dafür bezahlt wird. Aber so ist es nicht. Töten kann auch nur einfach so.“ Bis zu diesem Zeitpunkt ist klar, dass keine der Benennungen auf sie passt, und sie tatsächlich „einfach so“ Leute töten.

Soviel zum Thema Ursachen, Motivationen, Beweggründe etc. Ist der Film vielleicht eine ätzende Satire des post-franquistischen Spaniens? Geht es um eine zersplitterte, latent extrem gewalttätige Gesellschaft, in der ehemalige Soldaten aus Langeweile, aus Frustration, wahrscheinlich eher aber völlig ohne Grund auf Mordtour gehen – im Hintergrund ein dubioser Polizist, der ehemals Oberst der Armee war und irgendwie das Stein ins Rollen gebracht hat. Doch genau er, der „Gastgeber“ des makabren Empfangs im Prolog, gerät schließlich selbst in die Schusslinie seiner ehemaligen Schützlinge und wird von ihnen als Zielscheibe missbraucht. Unverkennbar ist jedoch, wie dysfunktional die Polizei dargestellt wird: die Beamten sind völlig überfordert, oder unmotiviert, oder stecken selbst unter einer Decke mit den Mördern (zumindest beim „ordentlichen“ Auftragsmord).

Andrés zwischen Langeweile bei der
Schwiegerfamilie und unbewusster Einbringung
seines "Hobbys" in den Schulunterricht.
Auch unverkennbar ist, dass EL PLACER DE MATAR „mehrere Spaniens“ in Gegensätzen zeigt: einen Konflikt zwischen den Neureichen und behördlichen Eliten auf der einen, und den prekär Beschäftigten und Kleinkriminellen auf der anderen Seite. Dieser Klassengegensatz zieht sich durch den ganzen Film und bildet auch die Spannung zwischen den beiden Killern. Es scheint kein Zufall zu sein, dass der „proletarische“ Luis am Anfang den Chauffeur tötet und der „gehoben-gebildete“ Andrés das Hauptopfer: ein Mann mit elegantem Anzug und Mantel (dessen Identität unklar bleibt und für den weiteren Verlauf des Films auch irrelevant bleibt). Nur in den gemeinsamen Morden Luis‘ und Andrés‘ wird der Gegensatz aufgehoben: für sie gibt es beim Schießen keinen Unterschied zwischen Andrés‘ Verlobten und zwei jungen Frauen, die aus schmuddeligen Clubs (die Luis gerne frequentiert) abgeschleppt werden.

Das sind allerdings alles auch eher Nebenbeobachtungen für einen Film, der sich am ehesten als schwarzhumorige Groteske beschreiben lässt. Denn EL PLACER DE MATAR scheint sich eigenwillig jeglicher politisch-sozialer Interpretation zu verwehren. Ein richtiger Thriller ist er mangels klassischer Spannung aber auch nicht. Genauso wenig ist er ein Krimi oder ein Milieudrama, denn polizeiliche Ermittlungen und die sozialen Lebenswelten der Protagonisten spielen nur eine geringe Rolle. Auch als psychologisches Drama lässt sich der spanische Film kaum bezeichnen: beide Protagonisten bleiben bis zum Schluss geradezu undurchdringlich. Sie sprechen fast nur durch ihr Handeln – im wörtlichen Sinne allerdings nur selten. Wer aufgrund des Inhalts und der Filmplakate einen Exploitationfilm erwartet, wird auch enttäuscht werden: wie der Rest des Films sind auch die tatsächlich häufigen Mordszenen mit minimalistischem Understatement inszeniert.

Ein latenter schwarzer Humor durchzieht den ganzen Film: das merkt man, wenn nach drei Morden in den ersten Minuten die Anfangscredits mit ihrer beschwingten Chopin-Walzer-Variation einsetzt. Immer wieder kippt die Atmosphäre: von düster zu beschwingt, von gewalttätig zu quickfröhlich, von beklemmt zu gelöst, von fatalistisch zu hoffnungsvoll, von melancholisch zu absurd – und wieder zurück. Manchmal aber auch alles gleichzeitig. So ist EL PLACER DE MATAR im Gegensatz zum musikalischen Leitmotiv polytonal. Jedoch hat er gewissermaßen tatsächlich die Form eines Walzers: zwei Tanzpartner drehen sich im Kreis, bewegen sich zwar, aber in keine bestimmte Richtung, und durchschreiten manchmal auch wieder die selbe Stelle im Tanzraum.

Narrativ so richtungslos wie magisch!
Diese narrative Richtungslosigkeit könnte den einen oder anderen Zuschauer vielleicht abschrecken, kann aber auch als Chance begriffen werden. Das Ende der Killerpartnerschaft erscheint nicht als deterministisch, sondern als ein zufälliger Ausgang von vielen vorangehenden Konstellationen und Momenten. Einer dieser Momente folgt direkt dem Mord an Andrés‘ Verlobten: die beiden Mörder streifen ausgelassen und entspannt durch eine Einkaufsgalerie. Luis will Zigaretten holen gehen. Auf dem Weg zum Tabakstand lässt er höflich eine junge Dame ihren Weg passieren. Nach Kauf der Glimmstängel überholt ihn dieselbe Frau, und zwinkert dabei Luis an. Dieser stellt sich vor der Vitrine eines Fernsehgeschäfts, schaut ein wenig fern, steckt sich eine Zigarette in den Mund, als erneut die junge Frau auftaucht und eine winzige Pistole zückt und auf ihn zielt. Sie drückt ab, eine Flamme erscheint, und sie zündet ihm die Zigarette an. Dann schenkt sie ihm das Feuerzeug und geht weg. Luis schmunzelt, geht einige Schritte weiter, setzt sich zu Andrés an den Tisch und schenkt ihm wiederum das Feuerzeug... Vielleicht die wunderbarste Sequenz des ganzen Films, deren lockere Nonchalance noch verstärkt wird durch die Tatsache, dass die Ermordung von Andrés‘ Verlobter ihr voranging.

Kurz: es ist sehr schwer, den Sog der Faszination, den EL PLACER DE MATAR entwickelt, adäquat zu begreifen. Der Film schein sich bewußt jeglichen Zugriffs zu verweigern, auch wenn er oberflächlich nicht besonders „schwierig“ oder gar irgendwie verkopft wirkt. Am ehesten könnte man das so beschreiben: man stelle sich vor, zwei „asoziale“ Gangster aus einem späten Melville-Film würden in das Universum eines späten Buñuel-Films eintauchen, in dem Logik, Ratio und Ursache-Wirkungs-Prinzipien keine Rolle spielen... Das ist allerdings nur eine sehr assoziative Annäherung. EL PLACER DE MATAR ist ganz und gar ein eigenes Original.

Der Regisseur, Félix Rotaeta, war von Haus aus Theater-, Fernseh- und Kinoschauspieler, Journalist, und Theaterautor. In den 1970er Jahren spielte er vor allen Dingen in TV-Serien mit. Einem mäßig breiten internationalen Publikum ist er bekannt als Darsteller in Pedro Almodóvars PEPI, LUCI, BOM Y OTRAS CHICAS DEL MONTÓN von 1980. Rotaeta war auch Schriftsteller, und mit EL PLACER DE MATAR hat er seinen eigenen Roman „Las pistolas“ verfilmt. Als Regisseur hat er nur einen Kurzfilm, ein Segment eines Episodenfilms, eine TV-Serien-Folge und einen weiteren abendfüllenden Film gedreht. 1994 ist er, gerade mal 52-jährig, in Barcelona verstorben.




Es ist der Zufall, der einem manchmal die seltsamsten Filme in die Hände spielt. Im Falle von EL PLACER DE MATAR heißt dieser Zufall luzifus von the-gaffer.de: auf mein eindringliches Flehen hin hat er mir vor mehreren Wochen seine DVD von Álex de la Iglesias PERDITA DURANGO ausgeliehen. In der Bonus-Sektion der Scheibe befinden sich nicht nur eine „Bildergalerie“ (= anamorphisch verzerrte Screenshots aus dem Film), „Hintergrundinformationen“ (= mangelhaft lektorierte Kurz-Bios zu Javier Bardem und Rosie Pérez) und eine „Trailershow“ (= Trailer zu SHALLOW GROUND und THA EASTSIDAZ), sondern tatsächlich auch: „Pleasure of Killing (Bonusfilm)“...
Daher habe ich den Film nicht gerade unter besten Bedingungen gesehen: in Synchronfassung (es gab nur die), im zwar richtigen, aber nicht anamorphischen Bildformat und in einer grausam fürchterlichen Qualität (die dadurch, dass der 90-Minuten-Film nur Beigabe zu einem 125-Minuten-Film auf einer einzigen Scheibe ist, nicht gerade besser wird). Die Screenshots bezeugen auch letzteres.
Glaubt man den Kommentaren bei ofdb, so sind auch die „richtigen“ DVD-Editionen dieses Films nicht wirklich besser, was Bildqualität betrifft. Und die Editionen mit der spanischen Originalversion haben keine Untertitel, dafür aber das falsche Bildformat... Und offenbar sind diese mangelhaften deutschen Veröffentlichungen die einzigen DVD-Editionen, die es gibt!
Da EL PLACER DE MATAR  entweder als schmuddeliger Actioner oder als reines Antonio-Banderas-Vehikel vermarktet wird, ist nicht vorauszusehen, dass irgendwann einmal eine richtige (ohne Anführungszeichen) DVD-Edition dieses absolut bemerkenswerten und bizarren Films kommen wird. Leider!

Samstag, 16. Februar 2013

Der Turm der sieben Buckligen

LA TORRE DE LOS SIETE JOROBADOS
Spanien 1944
Regie: Edgar Neville
Darsteller: Antonio Casal (Basilio Beltrán), Isabel de Pomés (Inés), Guillermo Marín (Dr. Sabatino), Félix de Pomés (Robinsón de Mantua)

Ein Geist tritt auf
Madrid im 19. Jahrhundert. Basilio Beltrán ist ein etwas leichtlebiger Student, er ist sehr abergläubisch, und er ist pleite. Als ein Abendessen mit einer flotten Varietésängerin winkt, wenn er denn zahlen kann, geht er ins Spielcasino, um seine letzten Peseten einzusetzen. Dort erscheint ein merkwürdig aussehender großer Mann mit Zylinder, Augenklappe, und, wie Basilio erst später bemerkt, einer klaffenden Wunde am Hals, die aber nicht blutet. Schnell erkennt Basilio, dass außer ihm niemand den Fremden wahrnehmen kann. Und merkwürdiger noch: Die unheimliche Erscheinung deutet mit seinem Spazierstock auf die Felder am Roulettetisch, die dann gewinnen, so dass Basilio ein hübsches Sümmchen einsackt, bis der Fremde ihm bedeutet, dass es genug ist. Draußen auf der dunklen Straße erwähnt der Mann nebenbei, dass die Wunde am Hals seinen Tod verursacht hat, und er stellt sich vor: Don Robinsón de Mantua, zu Lebzeiten Professor der Archäologie. Er führt Basilio zu seiner Adresse und deutet beim Abschied an, dass er eine Gegenleistung für die Hilfe beim Roulette erwartet.

Hilfestellung beim Roulette
Als Basilio am nächsten Tag das Haus aufsucht, erfährt er vom Hausmeisterpaar, dass der Professor schon vor einem Jahr Selbstmord begangen habe, aber er lernt seine hübsche Nichte Inés kennen, die mit einer Haushälterin in der früheren Wohnung des Professors wohnt (und die Varietésängerin ist sofort vergessen). Im Arbeitszimmer des Verstorbenen staunt Basilio, der selbst Archäologie studiert, über Fundstücke mit seltsamen kabbalistischen Zeichen, die etwas über einen "Turm der sieben Buckligen" aussagen, und Inés erzählt ihm, dass damals, als Robinsón de Mantua starb, dessen Freund und Kollege Zacarías spurlos verschwand. Vor Inés' Wohnung begegnet Basilio mehrfach einigen buckligen Herren, darunter dem etwas aufdringlichen Doktor Sabatino. Einige Tage später erscheint der Professor in Basilios Wohnung und eröffnet ihm, dass er in Wirklichkeit ermordet wurde und jetzt seine Hilfe benötige. Aber nicht, um sich zu rächen, sondern um Inés zu beschützen, die jetzt selbst in Gefahr sei. Nähere Instruktionen gibt er nicht - Basilio muss selbst wissen, was zu tun ist. Dann taucht auch noch der Geist von Napoleon auf, der glaubt, spiritistisch herbeigerufen worden zu sein. Nach etwas Smalltalk mit dem Professor - von Geist zu Geist - verabschiedet er sich wieder, weil er sich wohl in der Etage geirrt habe und in den ersten Stock müsse.

Basilio trifft zwei Bucklige
Der Professor behält Recht: Dr. Sabatino, der über hypnotische Kräfte verfügt, die über eine gewisse Entfernung hinweg wirken, entführt Inés direkt aus ihrer Wohnung heraus. Mit seinem Freund, Inspektor Martínez von der Kriminalpolizei, macht sich Basilio auf die Suche nach ihr, in privater Mission, denn für eine offizielle Ermittlung gibt es nicht genug Hinweise auf eine Entführung. Martínez ist eigentlich einer Geldfälscheraffäre auf der Spur, in die ein Buckliger verwickelt ist, und als die beiden nächtens einen Verdächtigen beschatten, finden sie über ein baufälliges altes Gebäude den Zugang zum Turm der sieben Buckligen, der nicht nach oben, sondern in den Untergrund von Madrid errichtet wurde. Martínez stürzt in einem Schacht zu Tode, aber Basilio gelangt heil nach unten. Dort findet er zunächst Zacarías, der ihm das Geheimnis des Turms verrät: Es handelt sich um eine unterirdische Stadt samt Synagoge, die spanische Juden vor Jahrhunderten errichteten, um Verfolgung und Ausweisung zu entgehen. Jetzt dient sie als Fälscherwerkstatt und Rückzugsort der Bande von Buckligen, die von Sabatino geführt wird. Zacarías und de Mantua waren bei Ausgrabungen auf den Turm gestoßen, und während ersterer seitdem gefangengehalten wurde, gelang letzterem die Flucht, aber er wurde von der Bande ermordet, bevor er reden konnte.

Ein unerwarteter Gast
Basilio trifft auch auf Inés, aber die steht immer noch unter Hypnose und verhält sich abweisend. Dann wird Basilio von Sabatino ertappt und bedroht, aber er kann ihn überrumpeln und in waghalsiger Flucht wieder nach oben gelangen, allerdings ohne Inés. Dr. Sabatino gibt die Anordnung, die Zugänge zum unterirdischen Turm durch Sprengungen zu versperren. Bei der Polizei will man Basilio nicht glauben, aber immerhin begleitet ihn eine Abordnung in Inés' Wohnung. Doch dort wird Inés unversehrt angetroffen. Sie kann sich an nichts erinnern und streitet Basilios Erzählungen ab, so dass der nur knapp einem Arrest wegen groben Unfugs entgeht. Nachdem die Polizei abgezogen ist, redet Basilio weiter auf Inés ein, so dass sich diese doch noch dunkel daran erinnert, dass die unterirdische Stadt nach einer Explosion in sich zusammengestürzt ist, was in einer kurzen und nicht sehr überzeugend gefilmten Rückblende gezeigt wird. Der Professor, der noch einmal erscheint, um sich von Basilio zu verabschieden, erwähnt nebenbei, dass Sabatino tot ist, dann fallen sich Basilio und Inés in die Arme, und der Film ist aus.

Dr. Sabatino stellt sich vor
LA TORRE DE LOS SIETE JOROBADOS entstand nach einem in den 20er Jahren erschienenen Roman mit dem selben Titel, der offiziell von Emilio Carrere stammt, der aber in Teilen von Jesús de Aragón als Ghostwriter verfasst wurde. Es handelt sich um einen guten Film, aber kein Meisterwerk. Nichts gegen humoristische Einlagen, aber die Napoleon-Episode ist dann doch etwas zu kindisch. Der größte Schwachpunkt ist aber der Schluss. Der zu erwartende spektakuläre oder zumindest spannende Showdown fällt kurzerhand aus. Vielleicht fehlten Neville die finanziellen oder technischen Mittel, um die unterirdische Welt wirklich überzeugend einstürzen zu lassen, aber dann hätte er sich eben etwas anderes einfallen lassen sollen. Inés' blasse Erinnerung ist da jedenfalls keine gelungene Lösung. Und zumindest einen finalen Zweikampf zwischen Basilio und Sabatino hätte es geben können, aber auch der fällt aus, und der Professor muss Sabatino rein verbal von den Lebenden zu den Toten befördern. Damit in Zusammenhang steht eine weitere Schwäche: Neville holt zuwenig aus Sabatino heraus, der eigentlich die interessanteste Figur im Film ist. Es gibt Ansätze, ihn nicht nur als platten Schurken, sondern als einen vielschichtigen Charakter zu zeigen, aber es bleibt eben bei den Ansätzen, die nicht ausgeschöpft werden. Gegen Schluss wird klar, dass auch Sabatino in Inés verliebt ist. Nachdem Basilio fliehen konnte, wird Sabatino von den anderen Bandenmitgliedern aufgefordert, Inés als gefährliche Zeugin zu töten, doch er zögert. Es ist am Ende eigentlich klar, dass nur er Inés in ihre Wohnung zurückgebracht haben kann, doch das muss man sich als Zuschauer selbst zusammenreimen. Weder sein innerer Konflikt zwischen Neigung und Verbrecherpflicht noch der äußere Konflikt mit seinen Komplizen wird dann tatsächlich ausgespielt. Man kann auch nur raten, ob sich Sabatino am Ende bewusst in die Luft gesprengt hat oder ob beim Versuch, die Zugänge zu schließen, etwas schiefgegangen ist. Die Chance, Dr. Sabatino als eine faszinierende Figur mit tragischem Abgang zu präsentieren, wurde verschenkt.

Inés und Basilio
Kein Meisterwerk also, aber doch ein sehr ordentlicher und vor allem unterhaltsamer Film. Die Erzählhaltung würde ich als naiv bezeichnen, was nicht abwertend gemeint ist. Als filmisches Vorbild für Dr. Sabatino und seine Bande kam mir nicht Dr. Mabuse in den Sinn (der in einer spanischen TV-Doku über Neville in diesem Zusammenhang genannt wird), sondern eher Louis Feuillades Serials aus den 1910er Jahren wie FANTÔMAS und LES VAMPIRES. Die Schauspieler machen ihre Sache gut, ohne dass einer herausstechen würde. LA TORRE DE LOS SIETE JOROBADOS punktet aber vor allem mit seinem fantasievollen Design und der guten Kameraarbeit, die gelegentlich Erinnerungen an den Expressionismus aufkommen lässt. Die unterirdische Welt mag vielleicht nicht besonders aufwändig gestaltet sein, aber durch die sparsame Beleuchtung ins Halbdunkel getaucht, fällt das nicht besonders auf. Eine wirklich unheimliche oder bedrohliche Atmosphäre entsteht allerdings nicht - neben Napoleon sorgen weitere Nebenfiguren regelmäßig für Auflockerung und eine insgesamt entspannte Grundstimmung.

Entführung per Fernhypnose
Das spanische Kino der 40er Jahre genießt einen schlechten Ruf, der wohl im Großen und Ganzen auch berechtigt ist. Im repressiven Klima nach dem Bürgerkrieg gediehen Anpassung, Mittelmaß und Belanglosigkeit. Ambitionierte Regisseure wie Juan Antonio Bardem oder Luis García Berlanga, die zumindest unterschwellig die herrschenden Verhältnisse in Frage stellten, traten erst in den 50er Jahren auf. Aber die eine oder andere Nische gab es doch, und natürlich gab es Regisseure, die ihr Handwerk verstanden, und Neville war einer von ihnen. Edgar Neville (1899-1967) war mütterlicherseits von aristokratischer Herkunft (sein Vater war ein englischer Ingenieur) und hieß vollständig Edgar Neville Romrée, IV Conde de Berlanga del Duero. In den 20er Jahren gehörte er zum erweiterten Dunstkreis einer Gruppe von Schriftstellern und weiteren Künstlern, die man Generación del 27 nannte. Nach seinem Jurastudium war er einige Zeit im diplomatischen Dienst in verschiedenen Ländern tätig, u.a. als Botschaftssekretär in Washington. Von dort zog es ihn in den frühen 30er Jahren nach Hollywood und endgültig zu den Künsten. Er war an der Herstellung spanischsprachiger Filmversionen bei MGM beteiligt, und er schloss Freundschaft mit Größen wie Douglas Fairbanks und Charlie Chaplin (er spielte auch eine kleine Rolle in CITY LIGHTS). Dann ging er zurück nach Spanien, und seine Laufbahn als Regisseur begann. Beim Ausbruch des Bürgerkriegs ging er kurz ins Ausland, aber er arrangierte sich schnell mit den Franquisten, kehrte zurück und drehte sogar einige Propagandafilme für das neue Regime. Die Gründe dafür werden in Spanien anscheinend kontrovers diskutiert (siehe dazu hier). Jedenfalls hatte er in seiner Laufbahn beim Film und als Roman- und Bühnenautor nie Schwierigkeiten mit dem Franco-Regime.

Expressive Kameraarbeit
Privat war Neville, seit Kindheit an Luxus gewöhnt, ein Bonvivant, dessen Vorliebe für gutes und reichliches Essen sich mit den Jahren in zunehmender Körperfülle niederschlug. Seine Freundschaften mit internationalen Kollegen pflegte Neville weiterhin (so hatte er 1959 einen Cameo-Auftritt in Michael Powells LUNA DE MIEL Korrektur: Er spielt in diesem Film gar nicht selbst mit, sondern wird von dem Produzenten Jaime Prades dargestellt). Nach seinem Tod geriet er in Spanien etwas in Vergessenheit, aber seit den 90er Jahren gab es ein Neville-Revival. 1991 entstand mit EL TIEMPO DE NEVILLE ein Dokumentarfilm über ihn, einige seiner Filme wurden erstmals im Fernsehen gezeigt, und als 1995 die erste Ausgabe der neuen Filmzeitschrift Nickel Odeon die besten spanischen Filme aller Zeiten kürte, landete LA TORRE DE LOS SIETE JOROBADOS auf dem 10. Platz, zur Überraschung vieler, denen der Name Neville überhaupt nichts sagte.

Der unterirdische Turm
LA TORRE DE LOS SIETE JOROBADOS ist in Spanien und Frankreich auf weitgehend identischen DVDs der Firma Versus Entertainment erschienen (franz. LA TOUR DES SEPT BOSSUS), mit span. und franz. Untertiteln. Englische Untertitel gibt es auf einschlägigen Seiten zum Download, doch diese sind zur DVD-Version des Films nicht ganz synchron, so dass man mit einem Untertitel-Editor wie Subtitle Edit nacharbeiten muss.

Samstag, 20. Oktober 2012

Diktaturgeschichte für Cinephile, Teil 2: Madrid Machete Massacre

BALADA TRISTE DE TROMPETA (Mad Circus – Eine Ballade von Liebe und Tod)
Spanien/Frankreich 2010
Regie: Álex de la Iglesia
Darsteller: Carlos Areces (Javier, der traurige Clown), Antonio de la Torre (Sergio, der lustige Clown), Carolina Bang (Natalia)


Ein Soldat tötet mehrere Dutzend gegnerische Krieger in einem Gefecht – in einem entfesselten und gnadenlosen Bürgerkrieg keine wirklich bemerkenswerte Tatsache. Eher außergewöhnlich ist jedoch, dass es sich um einen lustigen Clown in einem Frauenkleid handelt, der sein blutiges Handwerk mit einer Machete verrichtet. Wenige Minuten zuvor hatte er noch kleine Kinder mit einer etwas traditionelleren Clowns-Aufführung unterhalten. Die republikanische Einheit, die ihn rekrutiert hatte, verliert das Gefecht und der Clown wird von den Faschisten gefangen genommen. Seinen kleinen Sohn schwört er darauf ein, sein Dasein fortan als traurigen Clown zu fristen und ihn zu rächen. Jahrzehnte nach der Etablierung der franquistischen Diktatur heuert der nun erwachsene und leicht pummelige Javier bei einem Wanderzirkus als trauriger Clown an. Sein Vorgesetzter, der lustige Clown Sergio, entpuppt sich als unberechenbarer Psychopath, der seine Umgebung und ganz besonders seine Freundin, die Trapez-Künstlerin Natalia, mit unkontrollierten Gewaltausbrüchen terrorisiert. Natalia erträgt den Zirkus-Tyrannen mit geradezu stoischer, sogar latent masochistischer Gelassenheit, versucht aber auch offen mit Javier anzubandeln. Der lustige Clown findet dies alles andere als lustig und bearbeitet den traurigen Clown mit einem Vorschlaghammer. In dem Moment, wo er wieder auf zwei Beinen stehen kann, flüchtet Javier (in einem Hinten-Ohne-Krankenhaushemd) aus dem Hospital. Er überrascht Sergio und Natalia beim Liebesspiel (oder bei einer Vergewaltigung) und bearbeitet wiederum seinen Vorgesetzten mit einer Trompete.


Dies ist der Moment, wo es erst richtig absurd wird. Nach dem Angriff auf Sergio flieht Javier in den Wald und lebt von da an monatelang völlig nackt, wie ein Urmensch, in einer Jägerhöhle. Hier wird er von einem Oberst aus dem direkten Umfeld des Diktators Franco bei der Jagd entdeckt. Javier wird zum Jagdhund degradiert, der das geschossene Wild in seinem Maul apportieren soll. Doch er rebelliert und beisst dem Caudillo höchstpersönlich in die Hand. Er schmeckt Blut und nach einer Halluzination, in der Natalia ihn auffordert, zum Todesengel zu werden, verpasst er sich ein schickes „permanent make up“, schlüpft in ein karnevaleskes Bischofskostüm und zieht schwer bewaffnet und wild um sich ballernd durch die Straßen Madrids.

„Balada triste de trompeta“ ist keineswegs ein Meisterwerk, aber sowohl als künstlerisch anspruchsvoller Film wie auch als Auseinandersetzung mit der diktatorischen Vergangenheit Spaniens sollte man den Film jedoch ernst nehmen. Gerade die Opening Credits (hier zu sehen) erscheinen als ein Manifest für einen kreativen cinematographischen Umgang mit Geschichte, der auch aus der Perspektive der Erinnerungskultur absolut sinnvoll erscheinen kann. Die Vermengung von verfremdeten Fotografien aus dem Bürgerkrieg und der franquistischen Zeitgeschichte mit faschistischen Insignien, Darstellungen des katholischen Klerus sowie spanischer Kulturpersönlichkeiten, Fahndungsfotos von ETA-Terroristen, Werbebilder für Strandurlaub und nicht zuletzt Screenshots angelsächsischer Horrorfilme in einer Montage-Sequenz ist zwar oberflächlich gesehen geschmacklos, provozierend, und politisch unkorrekt. Der Zeitzeuge Iglesia kann sich aber gut daran erinnern, dass er als Kind an einem Abend eine Komödie und einen Horrorfilm im Fernsehen sah, mit dazwischen ausgestrahlten Nachrichten, ohne, dass er diese Eindrücke analytisch ordnen und filtern konnte. Die Horrorfratze von Frankensteins Monster neben das Antlitz Francos zu stellen erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur aus künstlerischer Perspektive anregend. Iglesia hat eben nicht „mit unzähligen Zeitzeugen und Wissenschaftlern“ gesprochen, weil er überhaupt nicht nach Authentizität sucht, sondern zutiefst persönliche Erinnerungen, Visionen und Obsessionen cinematographisch umsetzt – damit versucht eben nicht wie manch anderer, seinen Film als „authentisch“ zu legitimieren und zu adeln. Davon abgesehen weist der Regisseur in den Opening Credits auf sehr provokante Art und Weise auf die enge Verflechtung der katholischen Kirche mit dem Franco-Regime.


Nichtsdestotrotz liegt natürlich die Allegorie auf die Diktatur Francos auf der Hand: das franquistische Spanien erscheint hier als chaotischer Zirkus, das von einem tyrannischen lustigen Clown regiert wird – eine Vorstellung, die Menschen mit akuter Coulrophobie wohl ganz besonders beunruhigend finden dürften. Dieses System erscheint als die Hölle auf Erden: die Untertanen, die alle wie kleine Kinder behandelt werden, sind gezwungen, die ganze Zeit über die schlechten Witze des Oberclowns lachen. Das Nichtlachen erscheint dabei als Akt radikalen Widerstandes. Javier ist beim ersten auswärtigen Essen mit seinen neuen Arbeitskollegen der einzige, der über Sergios Witz mit dem zermatschten Kind nicht loslacht. „Ein Volltrottel versaut uns den Abend, weil er den Witz nicht versteht“, meint der lustige Clown daraufhin und verprügelt vor den Augen aller anwesenden Zirkuskollegen seine Freundin Natalia. Über die Mechanismen passiver Akzeptanz gegenüber einer Diktatur durch Gruppendynamik, ja gar über den Rückhalt oder die Massenbasis des Franquismus in der spanischen Gesellschaft ist diese schockierende Szene wahrscheinlich sehr viel aussagekräftiger, als man auf den ersten Blick denken könnte – auf jeden Fall aussagekräftiger als so „realistische“ „Das Leben der Anderen“, in dem es keinerlei Gesellschaft gibt, sondern nur böse Individuen und gute Individuen.

Die gemarterte Natalia drängt sich geradezu als Inkarnation der spanischen Nation auf. Regelmäßig wird sie von Sergio verprügelt und vergewaltigt. Ihre Reaktionen auf die Gewalttaten sind ambivalent. Sie nimmt ihren brutalen Freund in Schutz: er würde nur unter Alkoholeinfluss gewalttätig (dabei trinkt er natürlich jeden Tag). Sie scheint auf fast masochistische Weise die Gewalt zu genießen, leckt ihr eigenes Blut. Und doch rennt sie immer wieder vor dem Gewalttäter weg, zu Javier: „Bei dir fühl ich mich anders, so geborgen.“ Javier selbst ist schließlich das ungerade Element, das in einem Iglesia-Film natürlich nicht fehlen kann. Vielleicht ist gerade er noch mehr die Verkörperung Spaniens als Natalia, da er im Film nacheinander multiple Rollen ausfüllt: Bürgerkriegs-Waise, resignierter Untertan, politischer Oppositioneller, Öko-Eskapist, Terrorist, Faschist, Pieta der Nation.

„Balada triste de trompeta“ kann auch als Rache- bzw. Amoklauf-Thriller gesehen werden, geht es doch letztlich auch um einen Mann, der unter den Bedingungen der Diktatur seine Trauer, seinen Zorn und seine Frustrationen in sich fressen musste und zur tickenden Zeitbombe wurde. Und der schlußendlich mit einem Schlag wirklich explodiert und fürchterliche Gewalttaten begeht. In seinem Blutrausch wird Javier selbst zum Faschisten und er gibt dies schließlich Natalia gegen Ende des Films offen zu: er wolle wie Sergio werden, auf dass sie ihn, den traurigen Clown, begehre. Im Gegensatz zu Gerd Wiesler wird Javier für seine Sünden vom Regisseur auf eine fast klassisch moralische Art zur Verantwortung gezogen: er wird zum ewigen Traurigsein verurteilt. Dem Schlachtfeld, das Javier und Sergio in ihrem Endkampf (hochsymbolisch: auf dem Heiligen Kreuz beim "Tal der Gefallenen") gegeneinander gelassen haben, ist schlussendlich auch Natalia/Spanien zum Opfer gefallen: durch eine Zweiteilung. In der erschütternden finalen Filmszene sitzen sich die beiden völlig entstellten Clowns in einem Polizeiwagen gegenüber. Der arg entstellte Leichnam Natalias wird vor ihnen Augen abtransportiert. Sergio fängt an zu lachen, während Javier bitter zu weinen beginnt. Lachen und Weinen können aber nahe beieinander liegen: bei der Erstsichtung schien mir, dass beide lachten. Erst die Zweitsichtung machte deutlich, dass Javier von einem hysterischen Lachen in ein verbittertes Weinen gleitet. Wie diese ambivalente Schlussszene auch immer zu interpretieren ist – vielleicht als zynischer Kommentar darüber, dass sich die führenden Franquisten lachend vor der Verantwortung für ihre Massenverbrechen entziehen konnten –, sie entlässt den Zuschauer mit einem höchst unguten Gefühl aus dem Film. Dieses extreme Unbehagen ist ein weiterer Punkt, der „Balada triste de trompeta“ emotional radikaler und intellektuell anregender macht als „Das Leben der Anderen“.


Vielleicht ist aber Iglesia trotzdem mit der Transition zufrieden – nicht in allen Aspekten, jedoch in ihrer grundlegenden, friedlichen Form. Sein Film lässt sich schließlich auch als ein kontrafaktisches Experiment sehen: was, wenn es einen zweiten Bürgerkrieg gegeben hätte? „Balada triste de trompeta“ spielt dabei auch sehr direkt auf den urbanen Terrorismus der baskischen ETA an (Iglesia ist übrigens selbst baskischer Herkunft). Diese wählte einen gewaltsamen Weg des Widerstandes gegen den Franquismus. Ihr berühmtestes Attentat in der Franco-Zeit war die Ermordung des Regierungspräsidenten und informellen Stellvertreter Francos, Luis Carrero Blanco. Das Bombenattentat auf seine Limousine wird im Film auch dargestellt und bildet einen Hintergrund für den urbanen Amoklauf Javiers. Während dieser zum Titelthema aller Medien avanciert, wird Sergio zu einer fast bemitleidenswerten Figur. Die Bearbeitung seines Gesichts mittels einer Trompete hat eine erstaunliche Wandlung herbeigeführt. Sie hat ihm die hübsche Maske des lustigen Verführer-Playboys und Alpha-Männchens entrissen. Übrig geblieben ist ein hässlicher Freak, der kleine Kinder mit seinem entstellten Gesicht zwar erschrecken kann, von den Erwachsenen jedoch ausgelacht und gemieden wird. Dies ist ein überaus interessanter Kommentar des Zeitzeugen Iglesia auf den seit Anfang der 1970er Jahre immer offensichtlicheren körperlichen Verfall Francos, der sich vor allem gegen Ende zunehmend als geradezu groteskes und latent peinliches öffentliches Spektakel gestaltete. Der Clown hatte ausgedient, der Clown ging.

Die Gewalt im Film ist omnipräsent, extrem, unberechenbar und zerstört manchmal jäh Momente des Lachens oder der Rührung. Was manch Zuschauer als unnötige Übertreibungen ansieht, fängt im Grunde sehr viel ein über die latente Gewalt des Franquismus, einem Regime, das zwar ab den 1950er Jahren individuellere Formen der Repression ausübte, dessen Gründungsjahre jedoch von Massenterror geprägt waren. Subtil ist eine solche Darstellung nicht, doch sie drückt wahrscheinlich einiges über die Traumatisierungen der spanischen Gesellschaft nach dem Bürgerkrieg aus.

Wie eingangs erwähnt ist „Balada triste de trompeta“ keineswegs ein Meisterwerk. Das liegt vor allem an einem sehr grundlegenden Problem seiner Machart – der Film leidet an einer Wohlstandskrankheit, die seit mehreren Jahren vor allem in Actionfilmen grassiert: Shakycameritis. Die Wackelkamera wird ja immer wieder gerne zwecks „Realismus“ oder „Immersion“ herangezogen („als wäre man mittendrin im Geschehen“). Dabei wird gerne übersehen, dass es für die meisten Menschen nicht sehr realistisch ist, mit drei Promille Blutalkoholkonzentration durch die Gegend zu torkeln (das Gefühl, dem die ausgerechnet dafür von Karl Freund und Friedrich Wilhelm Murnau erfundene Shakycam wohl am nächsten kommt). Richtig unerträglich, mittlerweile aber von manchen Kritikern gar als „state of art“ bezeichnet, wird die Wackelkamera in Kombination mit Nah- bzw. Extremnahaufnahmen und Stakkato-Schnitt im Dreiviertelsekunden-Takt. Leider sabotiert sich „Balada triste de trompeta“ selbst, indem er diesem völlig lächerlichen und nervenden Trend immer wieder nachgibt. Das führt dazu, dass die Eingangs-Szene mit dem Macheten-Clown ein unübersichtliches Misch-Misch aus zittrig-unfokussierten Bildern ist, statt eine gute Action-Sequenz, die der Absurdität ihres Inhalts entsprechen würde. Immer wieder dringt diese Tendenz durch, und zerstört damit sowohl jegliche plastische Räumlichkeit der Bilder wie auch Entfaltungsmöglichkeiten für die durchgehend überzeugenden Darsteller.

Nicht zuletzt verlängert Shakycameritis auch die gefühlte Länge des Films massiv. Wer vor einer Leinwand voller Bilder sitzt, deren visueller Informationsgehalt gegen Null tendiert, langweilt sich tendenziell schneller. Das liegt aber sicherlich auch daran, dass dem Film eine gewisse Straffung des Drehbuchs gegen Ende wohl gut getan hätte. Was die Bilder an Emotionen jedoch nicht einfangen können, kann die absolut großartige Musik Roque Baños‘ zum Teil wieder wettmachen (hier ein Hörbeispiel). Sie etabliert sich mit ihrem einfachen Leitmotiv als ruhigen, melancholischen und nachdenklichen Kontrapunkt gegen den grotesken Gehalt der Handlung.

„Balada triste de trompeta“ spielt auf das Lied „Balada de la trompeta“ aus dem spanischen Musical-Film „Sin un adios“ aus dem Jahre 1970 an (hier der Ausschnitt). Dieser Film läuft in einem Kino, das Javier während seines Amoklaufes besucht. Der Ausschnitt des Films, den er sieht, rührt ihn zu Tränen: seit seiner Verwandlung der einzige Moment, in dem er kurz innehält – bevor er wenige Sekunden später freilich einem anderen Kinozuschauer die halbe Hand wegreisst. Der deutsche Verleihtitel ist vielleicht griffiger und kürzer als der Originaltitel, dieser jedoch fängt die tiefe Grundmelancholie und die Traurigkeit – die immer wieder von Groteske und Gewalt unterbrochen werden – des Films sehr viel passender ein. Endet „Balada triste de trompeta“ doch schließlich damit, dass eine Figur weint, wie vielleicht noch nie jemand in einem Film geweint hat...

Donnerstag, 24. Februar 2011

Ausharren in der Diktatur - Teil 2: Luis García Berlanga

Teil 1: Juan Antonio Bardem

DER HENKER (span. EL VERDUGO, ital. LA BALLATA DEL BOIA)
Spanien/Italien 1963
Regie: Luis García Berlanga
Darsteller:
  • Nino Manfredi (José Luis Rodríguez)
  • Emma Penella (Carmen)
  • José Isbert (Amadeo)
  • José Luis López Vázquez (Antonio Rodríguez)

José Luis Rodríguez hat es nicht leicht. Eigentlich will der junge Mann nach Deutschland gehen, um sich zum Mechaniker ausbilden zu lassen, doch vorerst ist er nur Totengräber. Und zuhause muss er noch seinem älteren Bruder Antonio, einem Schneider, zur Hand gehen und dabei seine zänkische Schwägerin ertragen. Als er eines Tages mit seinem Kollegen die Leiche eines Hingerichteten im Gefängnis abholt, lernt er den Henker kennen: Amadeo ist ein freundlicher alter Mann, der mit seiner Tochter Carmen in bescheidenen Verhältnissen lebt. José Luis und Carmen kommen sich näher - und sie sind auch wie geschaffen füreinander. Denn sobald mögliche Heiratskandidaten Carmens vom Beruf ihres Vaters erfahren, suchen sie das Weite, und José Luis ergeht es mit potentiellen Freundinnen nicht anders. Als Carmen schwanger wird, wird geheiratet. Amadeo, der vor der Pensionierung steht, sähe José Luis gerne als seinen Nachfolger, doch der sträubt sich. Um mehr Wohnraum zu haben, beantragt Amadeo für sich und das Paar eine Neubauwohnung in einem Hochhaus. Die wird auch bewilligt, jedoch nur unter der Bedingung, dass sich Amadeo im Ruhestand befindet. Jetzt muss endgültig ein Nachfolger her, und um der Wohnung willen erklärt sich José Luis, nach einigen abgebrochenen Anläufen, zähneknirschend dazu bereit. Amadeo erleichtert ihm die Entscheidung, indem er erklärt, dass die Verurteilten ohnehin alle in letzter Minute begnadigt würden.


Etwas später. Die neue Wohnung ist bezogen, das Kind ist da. José Luis ist jetzt offiziell Henker, doch er hofft inständig, das Amt nie ausüben zu müssen. Aber bald kommt ein Brief vom Ministerium: José Luis soll in Palma de Mallorca seines Amtes walten. So macht sich die ganze Familie mit Kind und Kegel auf zur Ferieninsel. Je näher der Hinrichtungstermin rückt, desto mehr schlottern José Luis die Knie ...


DER HENKER ist eine bitterböse, makabre und bisweilen schrille Komödie. Und wie die meisten von Berlangas Komödien, hat sie kein richtiges happy end. "Das werde ich nie wieder tun!", sagt der in sich zusammengesunkene José Luis nach getaner Arbeit zu seiner Familie. "Das habe ich mir beim erstenmal auch geschworen", entgegnet Amadeo gelassen, und er macht damit klar, dass José Luis weitermachen wird - er wird sich an das Töten gewöhnen. Und Carmen steckt diskret das Geldbündel beiseite, das José Luis als Lohn erhalten hat. DER HENKER verteilt Seitenhiebe und Sticheleien nach vielen Richtungen - die Mühen des Familienlebens auf engem Raum, pietätloser Umgang mit Toten, die Wohnungsbürokratie, der Massentourismus auf Mallorca, der beginnt, das Verhalten der Einheimischen zu ändern, und anderes mehr. Doch im Zentrum steht die Todesstrafe, die wie ein Damoklesschwert nicht über den Opfern, sondern über dem Henker in spe schwebt. José Luis' Sorgen sind durchaus realistisch begründet. Die Todesstrafe wurde in Spanien meist mit der Garrotte vollzogen, einer Vorrichtung zum Erdrosseln des Delinquenten. Die letzten Hinrichtungen mit der Garrotte fanden in Spanien 1974 statt, und bei einem der beiden Opfer hat die Prozedur aufgrund der Unerfahrenheit des Henkers eine halbe Stunde gedauert. Der letzte Gang von José Luis' erstem "Kunden" gerät zu einer grotesken Umkehrung der üblichen Rollen. Während der Verurteilte teilnahmslos vor sich hin trottet, sträubt sich José Luis mit Händen und Füßen. Die Gefängniswärter müssen ihn regelrecht zur Hinrichtungsstätte schleifen, und kurz davor übergibt er sich. Schon vorher hat man ihm in der Gefängnisküche reichlich Alkohol eingeflößt. Der abgeklärte Amadeo sieht das alles gelassen. "Gesetz ist Gesetz", sagt er einmal, "und irgendwer muss es ausführen".


Ebenso wie Bardems DER TOD EINES RADFAHRERS, ist DER HENKER eine spanisch-italienische Coproduktion. Neben dem Star Nino Manfredi und einem Nebendarsteller war Kameramann Tonino Delli Colli der italienische Beitrag zum Film. Delli Colli war einer der renommiertesten italienischen Kameramänner - er drehte unter anderem 13 Filme für Pasolini, ZWEI GLORREICHE HALUNKEN, SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD und ES WAR EINMAL IN AMERIKA für Sergio Leone, und einige Spätwerke von Fellini (mit dem Berlanga gut befreundet war). DER HENKER lief 1963 bei den Festspielen in Venedig, und verursachte eine kleine diplomatische Krise zwischen Spanien und Italien, denn der Film wurde von der Zeitgeschichte eingeholt. Im April bzw. August 1963 wurden der Kommunist Julián Grimau und die Anarchisten Francisco Granados Mata und Joaquín Delgado Martínez hingerichtet, was weltweite Proteste nach sich zog. In dieser Situation mochte das Franco-Regime keinen spanischen Film, der die Todesstrafe thematisiert, im Ausland gezeigt sehen. Der spanische Botschafter in Italien protestierte gegen die Vorführung in Venedig. Hinter der Kampagne stand vor allem Manuel Fraga Iribarne, von 1962-69 Tourismus- und Informationsminister, und in dieser Eigenschaft sowohl für das Filmwesen in Spanien als auch für die Kommunikation der Todesurteile an die Öffentlichkeit zuständig (wir werden ihm gleich nochmal in anderem Zusammenhang begegnen). Doch DER HENKER wurde auf dem Festival gezeigt und gewann den FIPRESCI-Preis. Franco persönlich soll daraufhin gesagt haben: "Berlanga ist kein Kommunist, er ist etwas schlimmeres als ein Kommunist, er ist ein schlechter Spanier."


Luis García Berlanga stammte aus einer großbürgerlichen Familie. Sein Vater war Politiker in der spanischen Republik, und nach dem Bürgerkrieg wurde er inhaftiert und zum Tod verurteilt. Teils um ihm zu helfen, teils aus Abenteuerlust, meldete sich Luis freiwillig zur Blauen Division, einem spanischen Verband, der für Hitler in Russland kämpfte. Er war jedoch nicht an Kämpfen beteiligt. Sein Vater wurde nicht hingerichtet, aber er blieb bis 1952 im Gefängnis und starb einige Monate nach seiner Freilassung. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg studierte Berlanga kurz Architektur und Literatur, doch 1947 wechselte er zur neu gegründeten Filmhochschule IIEC, wo er Juan Antonio Bardem kennenlernte. Nach dem gemeinsam mit Bardem gedrehten ESA PAREJA FELIZ war WILLKOMMEN, MR. MARSHALL sein erster allein inszenierter Spielfilm. Es geht um ein rückständiges Dorf, das sich auf den Empfang einer amerikanischen Delegation vorbereitet, die Gelder nach dem Marshall-Plan verteilen soll. Der Film lief 1953 in Cannes und gewann den Preis für die Beste Komödie, und es gab eine Besondere Erwähnung für Bardem, Berlanga und Miguel Mihura für das Drehbuch (Mihura trug allerdings so gut wie nichts dazu bei). Und WILLKOMMEN, MR. MARSHALL erregte ein Skandälchen, weil amerikanische Diplomaten und Edward G. Robinson in seiner Eigenschaft als Jury-Mitglied gegen den Film protestierten und ihm Antiamerikanismus vorwarfen. Das war kaum gerechtfertigt. Berlanga stichelte, wie so oft, in viele Richtungen, auch gegen die Amerikaner, aber in erster Linie doch gegen die eigenen Landsleute. Was Robinson betrifft, so vermutete Berlanga, dass er sich als besonders guter Patriot profilieren wollte, nachdem er in Hollywood ins Visier der Kommunistenjäger geraten war. Wie dem auch sein mag, der Rummel war gute Werbung und sorgte dafür, dass ESA PAREJA FELIZ, der zunächst keinen Verleih gefunden hatte, jetzt auch ins Kino kam. Nach den nicht ganz so erfolgreichen NOVIO A LA VISTA und CALABUCH folgte 1957 LOS JUEVES, MILAGRO. In einer Kleinstadt fabrizieren die Honoratioren und ein Gauner falsche Wunder, um einen Wallfahrtsort mit den entsprechenden Einnahmen zu kreieren. Da hier die katholische Kirche direkt attackiert wurde, schlug die Zensur heftig zu. Erst nach endlosen Änderungen wurde der Film freigegeben, und es wurde sogar ein nicht von Berlanga gedrehter Schluss angeklebt.


1959 und 1960 schrieb der bis dahin erfolglose Schriftsteller und Journalist Rafael Azcona die Drehbücher, jeweils nach eigenen Romanen, zu zwei Filmen von Marco Ferreri. (Der Italiener Ferreri drehte seine ersten drei Spielfilme in Spanien.) Die Filme machten Eindruck und brachten frischen Wind in das spanische Kino. Berlanga engagierte daraufhin Azcona für seinen nächsten Film PLÁCIDO - und dann für jeden seiner Filme bis 1987, insgesamt elf. (Azcona arbeitete auch weiterhin für Ferreri. Er war an insgesamt 17 seiner Filme beteiligt, darunter die bekanntesten, die skandalträchtigen DAS GROSSE FRESSEN und DIE LETZTE FRAU. Auch an einigen der besten Filme von Carlos Saura und am Oscar-gekrönten BELLE EPOQUE war Azcona beteiligt.) Azcona brachte ein pessimistisches Weltbild, gepaart mit schwarzem Humor, in Berlangas Filme ein. In PLÁCIDO geht es um weihnachtliche Wohlfahrtsaktivitäten der Oberschicht, an deren Ende die Reichen ihr Prestige gemehrt haben und die Armen ärmer sind als zuvor. Nach dem Trubel um EL VERDUGO bekam Berlanga Schwierigkeiten, und er drehte zwei seiner nächsten drei Filme im Ausland. Nach dem Ende der Diktatur konnte er 1978 mit LA ESCOPETA NACIONAL (wörtlich "die nationale Schrotflinte") seinen größten Publikumserfolg feiern. Diese sarkastische Komödie um eine Jagdgesellschaft in den 60er Jahren war von einem realen Ereignis inspiriert: Im Februar 1964 schoss der bereits erwähnte Manuel Fraga Iribarne auf einer Jagd versehentlich ins Hinterteil von Francos Tochter. Der Erfolg zog 1980 und 1982 zwei weitere Teile nach sich, die nun in der Gegenwart angesiedelt waren. Die Protagonisten der Trilogie, eine aristokratische Familie, müssen sich widerwillig an das neue demokratische Spanien anpassen.


Es folgten bis 1999 noch vier weitere Spielfilme und ein Fernseh-Zweiteiler, 2002 schließlich noch ein Kurzfilm. Im Gegensatz zum ausgesprochen linken Bardem war Berlangas politische Einstellung weniger fassbar, aber er war immer subversiv bis anarchisch, und er schöpfte dabei aus volkstümlichen Traditionen wie dem Sainete, schwankhafte und dabei sozialkritische Einakter mit Musik, die in Spanien vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein populär waren. Der im November 2010 verstorbene Berlanga gewann Festivalpreise in Cannes, Venedig, Berlin, Karlovy Vary und anderswo, und er erhielt zahllose Auszeichnungen und Ehrungen.


EL VERDUGO und weitere Filme Berlangas sind in Spanien auf DVD erschienen, abgesehen von WILLKOMMEN, MR. MARSHALL jedoch ohne Untertitel. Zu PLÁCIDO und EL VERDUGO gibt es auf einschlägigen Seiten englische Untertitel zum Download. Über Berlanga ist eine Dissertation erschienen, die man käuflich erwerben kann.

Samstag, 19. Februar 2011

Ausharren in der Diktatur - Teil 1: Juan Antonio Bardem

Teil 2: Luis García Berlanga

DER TOD EINES RADFAHRERS (span. MUERTE DE UN CICLISTA, ital. GLI EGOISTI)
Spanien/Italien 1955
Regie: Juan Antonio Bardem
Darsteller:
  • Lucia Bosé (María José)
  • Alberto Closas (Juan)
  • Bruna Corrà (Matilde)
  • Carlos Casaravilla (Rafa)
  • Otello Toso (Miguel)
  • Julia Delgado Caro (Juans Mutter)
  • Matilde Muñoz Sampedro (Nachbarin des Radfahrers)

Eine einsame Landstraße, irgendwo außerhalb von Madrid, im Morgengrauen. Eine Limousine braust durch den Regen - und fährt einen einsamen Radfahrer über den Haufen. Am Steuer sitzt María José de Castro, die Frau des reichen Industriellen Miguel Castro, neben ihr Juan Fernandez Soler, ihr Geliebter. Die beiden haben die Nacht irgendwo miteinander verbracht, und nun haben sie es eilig, wieder in die Stadt zu kommen. Juan steigt aus, um sich den bewusstlosen Radfahrer anzusehen, doch María José ruft ihn zum Wagen zurück. Niemand ist weit und breit zu sehen. Die beiden lassen den Verletzten liegen und fahren weiter. Am nächsten Tag macht auf einer Gesellschaft der geistreiche und etwas schmierige Kunstkritiker Rafa, der sich auf den Partys der High Society aushalten lässt, María José gegenüber Andeutungen, dass er sie am vorigen Tag gesehen habe, und dass er für sein Schweigen gewisse Gegenleistungen erwarte, was sie in Panik geraten lässt. Juan, ein Assistenzprofessor für Mathematik - eine Stellung, die er seinem einflussreichen Schwager verdankt -, liest unterdessen während der mündlichen Prüfung einer Studentin in der Zeitung, dass der Radfahrer gestorben ist. Gedankenabwesend bricht er die Prüfung ab, was dazu führt, dass Matilde Luque, die Studentin, durchfällt.


Juan, der seit dem Unfall aus dem Grübeln nicht mehr herauskommt, sucht die Wohnung des Radfahrers, eines einfachen Fabrikarbeiters, in einer schäbigen Mietskaserne auf. Er gibt sich als Reporter aus, um einerseits etwas über den Toten und seine Familie zu erfahren, und um andererseits herauszufinden, ob die Polizei etwas weiß. Er trifft die Witwe nicht an, aber eine Nachbarin erzählt ihm alles, was er wissen will. Die Polizei weiß nichts und glaubt nicht, den Unfall jemals aufzuklären. Doch beruhigt ist Juan nicht - es arbeitet in ihm. Rafa stellt unterdessen María José seine Forderungen: Er will nicht nur Geld, sondern auch sie, was sie angewidert zurückweist. Betrunken erzählt Rafa María Josés Mann Miguel daraufhin, was er weiß. Doch der ist gewillt, die ehrbare Fassade der Familie aufrechtzuerhalten, und bügelt Rafa ab. Und María José erkennt, dass Rafa nur von ihrem Verhältnis weiß, aber vom Unfall keine Ahnung hat. Nach Miguels Reaktion auf Rafa ist sie ihre Sorgen weitgehend los. Matilde stellt Juan wegen der Prüfung zur Rede, und sie wirft ihm vor, dass er selbstsüchtig sei und sich das nur wegen der Protektion durch seinen Schwager leisten könne. Juan kann nicht anders, als ihr recht zu geben, und er ist von ihrer Courage und Ehrlichkeit beeindruckt. Er war mit seinem bisherigen Leben ohnehin nicht zufrieden, insbesondere mit seiner Stellung an der Universität, die er nur seinen verwandtschaftlichen Beziehungen verdankte. Als aufgebrachte Studenten wegen seines Verhaltens eine gewalttätige Demonstration durchführen und seine Absetzung fordern, zieht er die Konsequenzen und tritt zurück. Und er spricht María José gegenüber aus, was sich in seinem Verhalten bereits andeutete: Er will sich der Polizei stellen, und er fordert sie auf, ihn zu begleiten ...


DER TOD EINES RADFAHRERS vereint Stilmittel des Film noir mit denen des Neorealismus, mit der von Lucia Bosé (alternative Schreibweise Bosè) gespielten María José als femme fatale. Die in Mailand geborene Bosé, die "Miss Italy" von 1947, stieg 1948 in die Schauspielerei ein. Hierzulande ist sie am besten durch ihre Hauptrollen in CHRONIK EINER LIEBE (1950) und DIE DAME OHNE KAMELIEN (1953), zwei Frühwerke von Michelangelo Antonioni, in Erinnerung. Bei ihrer Ankunft zu den Dreharbeiten in Madrid lernte sie den berühmten Stierkämpfer Luis Miguel Dominguín kennen, den sie wenig später heiratete. Die Ehe und die drei Kinder, die daraus hervorgingen, führten zu einer rund zehnjährigen Unterbrechung ihrer Karriere, doch nach ihrer Scheidung 1967 setzte sie ihre Laufbahn fort (ihre bislang letzte Rolle spielte sie 2007). Die anderen Darsteller in DER TOD EINES RADFAHRERS waren mir alle unbekannt, doch sie machen ihre Sache durchweg gut. Neben Bosé stellen Bruna Corrà (Matilde) und Otello Toso (Miguel) - sowie natürlich ein Teil der Finanzierung - den italienischen Anteil an der Coproduktion dar.


Die Welt der reichen Oberschicht und die proletarische Mietskaserne, die Juan aufsucht, bilden einen grellen Kontrast, doch im Vordergrund des Films stehen nicht die materiellen Klassengegensätze, sondern die Geisteshaltung des Vergessens und Verdrängens, der Flucht aus der Verantwortung. Man kann DER TOD EINES RADFAHRERS allegorisch verstehen: Der tote Radfahrer steht danach für die Klasse der Arbeiter und Bauern, die im Spanischen Bürgerkrieg und auch in den ersten Jahren danach zu Hunderttausenden interniert, gefoltert und ermordet wurden. Juan repräsentiert dann die Mittelschicht, die das siegreiche Regime mittragen muss, ob sie will oder nicht, und die zum Schweigen über die Verbrechen der Vergangenheit verurteilt ist. María José schließlich repräsentiert die Oberschicht, die Stützen des Systems, die von der Situation profitieren und ihre Interessen rücksichtslos durchsetzen. Es gibt einige mehr oder weniger offene Hinweise auf die spanische Vergangenheit, auf den Bürgerkrieg. Die Stelle, an der der Radfahrer überfahren wird, und an der gegen Schluss des Films eine weitere entscheidende Szene stattfindet, war zugleich eines der Schlachtfelder im Krieg, wo Juan selbst in den Schützengräben lag, wie er María José erzählt. Juans Mutter sagt einmal: "Ich schaue oft in dieses Fotoalbum. Ich sehe meine Kinder aufwachsen. Die erste Kommunion, Schule, Militärdienst, Politik, der Krieg, der Tod." Kirche, Schule, Militär, Politik, Krieg, Tod - eine bemerkenswerte Reihe. Es gibt auch noch subtilere Hinweise, und vermutlich einige, die mir entgangen sind.


DER TOD EINES RADFAHRERS lief 1955 bei den Filmfestspielen in Cannes, jedoch nicht im Wettbewerb um die Goldene Palme, weil Bardem selbst in der Jury saß. Doch der Film gewann in Cannes den Preis der internationalen Filmkritiker (FIPRESCI-Preis). Juan Antonio Bardem (1922-2002) und sein Freund und Kollege Luis García Berlanga (1921-2010) gelten als die wichtigsten spanischen Regisseure der 50er und 60er Jahre (wenn man den Exilanten und mexikanischen Staatsbürger Luis Buñuel nicht berücksichtigt). Bardem entstammte einer Schauspielerfamilie. Sein Vater Rafael Bardem und seine Mutter Matilde Muñoz Sampedro spielten in fünf bzw. sieben seiner Filme mit, seine jüngere Schwester Pilar Bardem, ebenfalls Schauspielerin (vier Einsätze in Bardem-Filmen), ist die Mutter von Javier Bardem, inzwischen bekanntester Spross der Familie. J.A. Bardem war zeitlebens Kommunist und ab 1943 Mitglied der unter dem Franco-Regime verbotenen Kommunistischen Partei Spaniens (PCE). Er machte einen Abschluss als Landwirtschaftsingenieur und trat eine Stelle in der Filmabteilung des Landwirtschaftsministeriums an, doch 1947 wechselte er an die Madrider Filmhochschule IIEC, die gerade erst nach dem Vorbild des italienischen CSC gegründet worden war, machte dort jedoch keinen Abschluss. Die Filmhochschule sollte eigentlich den staatlichen Einfluss auf das Filmwesen stärken, brachte jedoch (ähnlich wie das italienische Vorbild, das von Mussolini ins Leben gerufen wurde) eine Reihe von begabten und kritischen Geistern hervor. Am IIEC befreundete sich Bardem mit seinem Mitstudenten Berlanga, mit dem zusammen er 1949 den stummen Kurzfilm PASEO POR UNA GUERRA ANTIGUA schrieb und inszenierte. 1950 folgte ein Kurzfilm über den Madrider Flughafen, den Bardem allein drehte.

Das Filmschaffen im repressiven Spanien der 40er Jahre war von Belanglosigkeit und Mittelmäßigkeit geprägt - Musicals, Flamenco-Folklore, seichte Melodramen und Komödien. Bardem und seine Mitstreiter wollten das ändern. Ein Schlüsselereignis für den spanischen Film der 50er Jahre war eine Woche des Italienischen Films, die 1951 in Madrid stattfand, und in der vor allem die Hauptwerke des Neorealismus gezeigt wurden. (Ebenfalls gezeigt wurde Antonionis CHRONIK EINER LIEBE mit Lucia Bosé.) Bardem, Berlanga und andere bezogen ihre Inspiration daraus, ohne den Neorealismus direkt zu kopieren. In seiner Zeit am IIEC hatte Bardem auch die Montagetheorien des sowjetischen Stummfilms studiert - zeitweise trug er den Spitznamen "Bardemstein", obwohl er mehr Wsewolod Pudowkin als Eisenstein zuneigte.


Das franquistische Regime kam den Bestrebungen nach besseren Filmen etwas entgegen. Man wollte die internationale Isolierung durchbrechen und nicht ewig das Schmuddelkind unter den westlichen Staaten bleiben, deshalb gab man sich ein etwas liberaleres Antlitz (mit Erfolg: 1953 wurde ein Truppenstationierungsabkommen mit den USA geschlossen, und 1955 trat Spanien der UNO bei) und versuchte, mit kulturellen Leistungen international zu punkten. Das Spanische Filminstitut, das dem Tourismus- und Informationsministerium unterstand, war teilweise mit relativ gemäßigten und fachkundigen Leuten besetzt und bildete bisweilen ein Gegengewicht zur von der katholischen Kirche dominierten allgegenwärtigen Zensur (viele der Zensoren waren Priester). Andererseits wurde der Film als ein Propagandamittel betrachtet, mit dessen Hilfe die Bevölkerung auf die nationale Einheit getrimmt werden sollte, und dementsprechend gab es eine Reihe von Vorschriften, die beachtet werden mussten. Beispielsweise durfte in spanischen Filmen nur Spanisch gesprochen werden, und nicht etwa Katalanisch, Galicisch oder gar Baskisch.


Bardem und Berlanga schlossen sich 1951 wieder zusammen und schrieben und inszenierten gemeinsam ESA PAREJA FELIZ (übersetzt "Dieses glückliche Paar"). Berlanga konzentrierte sich dabei auf die mise-en-scène, Bardem auf die Schauspielerführung. Der Film war nicht nur vom Neorealismus beeinflusst, sondern auch von Jacques Beckers ZWEI IN PARIS (1947), der eine ähnliche Handlung aufweist. Der für seine Zeit in Spanien ungewöhnliche ESA PAREJA FELIZ fand zunächst keinen Verleih und kam erst 1953 heraus. 1952 schrieben Bardem und Berlanga das Drehbuch zu WILLKOMMEN, MR. MARSHALL, bei dem Berlanga allein Regie führte, und 1954 arbeitete Bardem am Script von Berlangas NOVIO A LA VISTA mit. Danach entwickelten sich die beiden filmisch etwas auseinander, blieben jedoch befreundet. Während Bardem einem geradlinigen, politisch engagiertem Stil verpflichtet blieb, benutzte Berlanga meist das Mittel der Farce, um menschliche und gesellschaftliche Schwächen offenzulegen. Ich werde im zweiten Teil des Artikels auf Berlanga zurückkommen.

Die ersten von Bardem allein inszenierten Spielfilme, CÓMICOS und FELICES PASCUAS, entstanden 1953 bzw. 1954, dann folgte DER TOD EINES RADFAHRERS. 1956 erschien HAUPTSTRASSE (CALLE MAYOR), der neben DER TOD EINES RADFAHRERS als Bardems bester Film gilt. Eine Gruppe von Taugenichtsen bringt einen gutaussehenden Trottel dazu, einer schüchternen Einzelgängerin einen üblen Streich zu spielen, indem er ihr schöne Augen macht. Wider Erwarten verlieben sich die beiden. Wie in DER TOD EINES RADFAHRERS, vereint auch HAUPTSTRASSE die präzise Schilderung psychologischer Vorgänge mit subtiler Gesellschaftskritik. Die Hauptrolle spielte die Amerikanerin Betsy Blair, die ein Jahr zuvor in MARTY von Delbert Mann eine ähnliche Rolle hatte und dafür für den Oscar nominiert wurde (MARTY gewann auch die Goldene Palme in Cannes, als Bardem in der Jury saß). DIE RACHE (LA VENGANZA) von 1958, ein Drama um Rache und Vergebung mit Raf Vallone in der Hauptrolle, war für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. Während der Dreharbeiten zu HAUPTSTRASSE, kurz nachdem DER TOD EINES RADFAHRERS den Kritikerpreis in Cannes erhalten hatte, wurde Bardem erstmals inhaftiert, aufgrund internationaler Proteste jedoch nach zwei Wochen wieder freigelassen (unter den Protestierenden befanden sich beispielsweise Charlie Chaplin und Albert Schweitzer). Es blieb nicht sein letzter Gefängnisaufenthalt: Insgesamt war Bardem siebenmal in Haft. Es versteht sich auch von selbst, dass viele seiner Filme von der Zensur gebeutelt wurden. Oft musste er umfangreiche Änderungen an den Drehbüchern und Schnittauflagen hinnehmen, und auch der Schluss von DER TOD EINES RADFAHRERS machte Konzessionen an die Zensur. Nach seiner ersten Verhaftung erwog Bardem die Emigration, wurde aber zum Bleiben überredet.


Bardem versuchte nicht nur durch seine Arbeit als Regisseur, die Qualität des spanischen Films zu heben. 1953 gründete er die Filmzeitschrift Objetivo, die das Niveau der Filmkritik in Spanien verbessern sollte, und die auch über von der Zensur verbotene Filme berichtete. Nach zwei Jahren und neun Ausgaben wurde die Zeitschrift von den Behörden selbst verboten. 1955 beteiligte sich Bardem an einer Filmkonferenz, die als Conversaciones de Salamanca bekannt wurde. Als einer der Wortführer auf der Konferenz hielt er eine Brandrede, in der er das traditionelle spanische Kino in Grund und Boden verdammte. Am wichtigsten war jedoch Bardems Engagement in der kommunistisch beeinflussten Filmproduktionsfirma Unión Industrial Cinematográfica (UNINCI), die von 1949 bis 1962 existierte. Ab 1958 war Bardem Präsident dieser Firma, die bereits Berlangas WILLKOMMEN, MR. MARSHALL produziert hatte. Zu seinen Mitstreitern in dieser Phase gehörten Berlanga, Ricardo Muñoz Suay, Carlos Saura und der Stierkämpfer Domingo Dominguín (der weniger berühmte Bruder des bereits erwähnten Luis Miguel Dominguín). Auch progressive Schauspieler wie Francisco (Paco) Rabal, Fernando Fernán Gómez und Fernando Rey gehörten zum Dunstkreis von UNINCI. Der größte Triumph der Firma führte zugleich zu ihrem Untergang. 1961 produzierte UNINCI auf spanischer Seite Luis Buñuels VIRIDIANA, mit ausdrücklicher Billigung des Spanischen Filminstituts unter seinem damaligen Leiter José María Muñoz Fontán. Bardem mochte Buñuels Drehbuch nicht - es war ihm zu unpolitisch -, und er bezeichnete es Saura, Buñuels größtem Fan und Fürsprecher innerhalb UNINCI, gegenüber sogar als "Schwachsinn" und Buñuel selbst als "Rechtsanarchisten". Doch der Film wurde gemacht, auch deshalb, weil der mexikanische Coproduzent Gustavo Alatriste fast die gesamten Kosten trug, und mit ein paar Tricks und Protektion durch Muñoz Fontán durch die Zensur gebracht. VIRIDIANA lief 1961 als offizieller spanischer Wettbewerbsbeitrag in Cannes, wo er in letzter Minute eintraf, und gewann die Goldene Palme (gemeinsam mit einem Film von Henri Colpi). José Maria Muñoz Fontán persönlich nahm freudestrahlend die Trophäe entgegen, doch bald verging ihm das Lachen. In der Vatikan-Postille L'Osservatore Romano erschien unmittelbar nach dem Festival ein Artikel, der VIRIDIANA als Blasphemie verdammte, und der katholische Klerus in Spanien und anderswo stimmte in den Chor ein. Die Franquisten fielen aus allen Wolken. Muñoz Fontán und die Mitglieder seiner Delegation in Cannes wurden noch während der Heimreise gefeuert, VIRIDIANA wurde in Spanien verboten und alle greifbaren Kopien eingezogen und vernichtet, und die Medien mussten den Film totschweigen. Doch es war alles umsonst: Buñuel, Alatriste und eine Kopie des Films waren längst wieder in Mexiko, von wo aus VIRIDIANA weltweit vermarktet wurde. Das Regime rächte sich, indem die Behörden und die Justiz UNINCI soweit behinderten, dass die Firma keinen einzigen Film mehr drehen konnte und bald bankrott war.


Das war für den progressiven Film in Spanien ein herber Schlag, insbesondere für junge, noch nicht arrivierte Regisseure wie Saura, der nach seinem ersten Spielfilm DIE STRASSENJUNGEN von 1960 den nächsten erst 1964 drehen konnte. Bardem selbst konnte in den 60er und 70er Jahren weiterarbeiten, aber die Qualität und der Erfolg seiner Filme nahmen langsam ab. DIE VERSUCHUNG HEISST JENNY (1965) mit Melina Mercouri, James Mason und Hardy Krüger war eine uninspirierte internationale Coproduktion, DIE GEHEIMNISVOLLE INSEL (1973) eine Jules-Verne-Verfilmung mit Omar Sharif als Kapitän Nemo, die sowohl als Spielfilm wie auch als TV-Miniserie erschien. Doch dazwischen gab es immer noch Filme, in denen anhand der Widersprüche und Entfremdung einzelner Protagonisten (die überdurchschnittlich oft Juan hießen) das nach wie vor repressive System unterschwellig attackiert wurde. Nach dem Ende der Franco-Diktatur 1975 genoss Bardem natürlich weit mehr Freiheiten als zuvor, und sein kreatives Potential war noch nicht erschöpft, und auch seine politische Einstellung hatte er sich bewahrt. SIEBEN TAGE IM JANUAR (1979) erzählt die wahre Geschichte der Ermordung einiger Kommunisten durch eine faschistische Untergrundorganisation im Jahr 1977, und DIE MAHNUNG (1982), eine Coproduktion verschiedener Ostblockstaaten, handelt von den Aktivitäten eines bulgarischen Widerstandskämpfers gegen die Nazis in den 30er Jahren. Nach einigen Fernseharbeiten folgte 1998 ein mit RESULTADO FINAL passend betitelter letzter Spielfilm. Der 2002 verstorbene Bardem war einige Jahre der Vorsitzende der spanischen Regisseursvereinigung, und er erhielt zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen. Im Jahr seines Todes erschien seine Autobiographie.


DER TOD EINES RADFAHRERS ist in den USA bei Criterion und in Hongkong bei Bo Ying (in guter Qualität) auf DVD erschienen (engl. Titel DEATH OF A CYCLIST).