Samstag, 20. Oktober 2012

Diktaturgeschichte für Cinephile, Teil 2: Madrid Machete Massacre

BALADA TRISTE DE TROMPETA (Mad Circus – Eine Ballade von Liebe und Tod)
Spanien/Frankreich 2010
Regie: Álex de la Iglesia
Darsteller: Carlos Areces (Javier, der traurige Clown), Antonio de la Torre (Sergio, der lustige Clown), Carolina Bang (Natalia)


Ein Soldat tötet mehrere Dutzend gegnerische Krieger in einem Gefecht – in einem entfesselten und gnadenlosen Bürgerkrieg keine wirklich bemerkenswerte Tatsache. Eher außergewöhnlich ist jedoch, dass es sich um einen lustigen Clown in einem Frauenkleid handelt, der sein blutiges Handwerk mit einer Machete verrichtet. Wenige Minuten zuvor hatte er noch kleine Kinder mit einer etwas traditionelleren Clowns-Aufführung unterhalten. Die republikanische Einheit, die ihn rekrutiert hatte, verliert das Gefecht und der Clown wird von den Faschisten gefangen genommen. Seinen kleinen Sohn schwört er darauf ein, sein Dasein fortan als traurigen Clown zu fristen und ihn zu rächen. Jahrzehnte nach der Etablierung der franquistischen Diktatur heuert der nun erwachsene und leicht pummelige Javier bei einem Wanderzirkus als trauriger Clown an. Sein Vorgesetzter, der lustige Clown Sergio, entpuppt sich als unberechenbarer Psychopath, der seine Umgebung und ganz besonders seine Freundin, die Trapez-Künstlerin Natalia, mit unkontrollierten Gewaltausbrüchen terrorisiert. Natalia erträgt den Zirkus-Tyrannen mit geradezu stoischer, sogar latent masochistischer Gelassenheit, versucht aber auch offen mit Javier anzubandeln. Der lustige Clown findet dies alles andere als lustig und bearbeitet den traurigen Clown mit einem Vorschlaghammer. In dem Moment, wo er wieder auf zwei Beinen stehen kann, flüchtet Javier (in einem Hinten-Ohne-Krankenhaushemd) aus dem Hospital. Er überrascht Sergio und Natalia beim Liebesspiel (oder bei einer Vergewaltigung) und bearbeitet wiederum seinen Vorgesetzten mit einer Trompete.


Dies ist der Moment, wo es erst richtig absurd wird. Nach dem Angriff auf Sergio flieht Javier in den Wald und lebt von da an monatelang völlig nackt, wie ein Urmensch, in einer Jägerhöhle. Hier wird er von einem Oberst aus dem direkten Umfeld des Diktators Franco bei der Jagd entdeckt. Javier wird zum Jagdhund degradiert, der das geschossene Wild in seinem Maul apportieren soll. Doch er rebelliert und beisst dem Caudillo höchstpersönlich in die Hand. Er schmeckt Blut und nach einer Halluzination, in der Natalia ihn auffordert, zum Todesengel zu werden, verpasst er sich ein schickes „permanent make up“, schlüpft in ein karnevaleskes Bischofskostüm und zieht schwer bewaffnet und wild um sich ballernd durch die Straßen Madrids.

„Balada triste de trompeta“ ist keineswegs ein Meisterwerk, aber sowohl als künstlerisch anspruchsvoller Film wie auch als Auseinandersetzung mit der diktatorischen Vergangenheit Spaniens sollte man den Film jedoch ernst nehmen. Gerade die Opening Credits (hier zu sehen) erscheinen als ein Manifest für einen kreativen cinematographischen Umgang mit Geschichte, der auch aus der Perspektive der Erinnerungskultur absolut sinnvoll erscheinen kann. Die Vermengung von verfremdeten Fotografien aus dem Bürgerkrieg und der franquistischen Zeitgeschichte mit faschistischen Insignien, Darstellungen des katholischen Klerus sowie spanischer Kulturpersönlichkeiten, Fahndungsfotos von ETA-Terroristen, Werbebilder für Strandurlaub und nicht zuletzt Screenshots angelsächsischer Horrorfilme in einer Montage-Sequenz ist zwar oberflächlich gesehen geschmacklos, provozierend, und politisch unkorrekt. Der Zeitzeuge Iglesia kann sich aber gut daran erinnern, dass er als Kind an einem Abend eine Komödie und einen Horrorfilm im Fernsehen sah, mit dazwischen ausgestrahlten Nachrichten, ohne, dass er diese Eindrücke analytisch ordnen und filtern konnte. Die Horrorfratze von Frankensteins Monster neben das Antlitz Francos zu stellen erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur aus künstlerischer Perspektive anregend. Iglesia hat eben nicht „mit unzähligen Zeitzeugen und Wissenschaftlern“ gesprochen, weil er überhaupt nicht nach Authentizität sucht, sondern zutiefst persönliche Erinnerungen, Visionen und Obsessionen cinematographisch umsetzt – damit versucht eben nicht wie manch anderer, seinen Film als „authentisch“ zu legitimieren und zu adeln. Davon abgesehen weist der Regisseur in den Opening Credits auf sehr provokante Art und Weise auf die enge Verflechtung der katholischen Kirche mit dem Franco-Regime.


Nichtsdestotrotz liegt natürlich die Allegorie auf die Diktatur Francos auf der Hand: das franquistische Spanien erscheint hier als chaotischer Zirkus, das von einem tyrannischen lustigen Clown regiert wird – eine Vorstellung, die Menschen mit akuter Coulrophobie wohl ganz besonders beunruhigend finden dürften. Dieses System erscheint als die Hölle auf Erden: die Untertanen, die alle wie kleine Kinder behandelt werden, sind gezwungen, die ganze Zeit über die schlechten Witze des Oberclowns lachen. Das Nichtlachen erscheint dabei als Akt radikalen Widerstandes. Javier ist beim ersten auswärtigen Essen mit seinen neuen Arbeitskollegen der einzige, der über Sergios Witz mit dem zermatschten Kind nicht loslacht. „Ein Volltrottel versaut uns den Abend, weil er den Witz nicht versteht“, meint der lustige Clown daraufhin und verprügelt vor den Augen aller anwesenden Zirkuskollegen seine Freundin Natalia. Über die Mechanismen passiver Akzeptanz gegenüber einer Diktatur durch Gruppendynamik, ja gar über den Rückhalt oder die Massenbasis des Franquismus in der spanischen Gesellschaft ist diese schockierende Szene wahrscheinlich sehr viel aussagekräftiger, als man auf den ersten Blick denken könnte – auf jeden Fall aussagekräftiger als so „realistische“ „Das Leben der Anderen“, in dem es keinerlei Gesellschaft gibt, sondern nur böse Individuen und gute Individuen.

Die gemarterte Natalia drängt sich geradezu als Inkarnation der spanischen Nation auf. Regelmäßig wird sie von Sergio verprügelt und vergewaltigt. Ihre Reaktionen auf die Gewalttaten sind ambivalent. Sie nimmt ihren brutalen Freund in Schutz: er würde nur unter Alkoholeinfluss gewalttätig (dabei trinkt er natürlich jeden Tag). Sie scheint auf fast masochistische Weise die Gewalt zu genießen, leckt ihr eigenes Blut. Und doch rennt sie immer wieder vor dem Gewalttäter weg, zu Javier: „Bei dir fühl ich mich anders, so geborgen.“ Javier selbst ist schließlich das ungerade Element, das in einem Iglesia-Film natürlich nicht fehlen kann. Vielleicht ist gerade er noch mehr die Verkörperung Spaniens als Natalia, da er im Film nacheinander multiple Rollen ausfüllt: Bürgerkriegs-Waise, resignierter Untertan, politischer Oppositioneller, Öko-Eskapist, Terrorist, Faschist, Pieta der Nation.

„Balada triste de trompeta“ kann auch als Rache- bzw. Amoklauf-Thriller gesehen werden, geht es doch letztlich auch um einen Mann, der unter den Bedingungen der Diktatur seine Trauer, seinen Zorn und seine Frustrationen in sich fressen musste und zur tickenden Zeitbombe wurde. Und der schlußendlich mit einem Schlag wirklich explodiert und fürchterliche Gewalttaten begeht. In seinem Blutrausch wird Javier selbst zum Faschisten und er gibt dies schließlich Natalia gegen Ende des Films offen zu: er wolle wie Sergio werden, auf dass sie ihn, den traurigen Clown, begehre. Im Gegensatz zu Gerd Wiesler wird Javier für seine Sünden vom Regisseur auf eine fast klassisch moralische Art zur Verantwortung gezogen: er wird zum ewigen Traurigsein verurteilt. Dem Schlachtfeld, das Javier und Sergio in ihrem Endkampf (hochsymbolisch: auf dem Heiligen Kreuz beim "Tal der Gefallenen") gegeneinander gelassen haben, ist schlussendlich auch Natalia/Spanien zum Opfer gefallen: durch eine Zweiteilung. In der erschütternden finalen Filmszene sitzen sich die beiden völlig entstellten Clowns in einem Polizeiwagen gegenüber. Der arg entstellte Leichnam Natalias wird vor ihnen Augen abtransportiert. Sergio fängt an zu lachen, während Javier bitter zu weinen beginnt. Lachen und Weinen können aber nahe beieinander liegen: bei der Erstsichtung schien mir, dass beide lachten. Erst die Zweitsichtung machte deutlich, dass Javier von einem hysterischen Lachen in ein verbittertes Weinen gleitet. Wie diese ambivalente Schlussszene auch immer zu interpretieren ist – vielleicht als zynischer Kommentar darüber, dass sich die führenden Franquisten lachend vor der Verantwortung für ihre Massenverbrechen entziehen konnten –, sie entlässt den Zuschauer mit einem höchst unguten Gefühl aus dem Film. Dieses extreme Unbehagen ist ein weiterer Punkt, der „Balada triste de trompeta“ emotional radikaler und intellektuell anregender macht als „Das Leben der Anderen“.


Vielleicht ist aber Iglesia trotzdem mit der Transition zufrieden – nicht in allen Aspekten, jedoch in ihrer grundlegenden, friedlichen Form. Sein Film lässt sich schließlich auch als ein kontrafaktisches Experiment sehen: was, wenn es einen zweiten Bürgerkrieg gegeben hätte? „Balada triste de trompeta“ spielt dabei auch sehr direkt auf den urbanen Terrorismus der baskischen ETA an (Iglesia ist übrigens selbst baskischer Herkunft). Diese wählte einen gewaltsamen Weg des Widerstandes gegen den Franquismus. Ihr berühmtestes Attentat in der Franco-Zeit war die Ermordung des Regierungspräsidenten und informellen Stellvertreter Francos, Luis Carrero Blanco. Das Bombenattentat auf seine Limousine wird im Film auch dargestellt und bildet einen Hintergrund für den urbanen Amoklauf Javiers. Während dieser zum Titelthema aller Medien avanciert, wird Sergio zu einer fast bemitleidenswerten Figur. Die Bearbeitung seines Gesichts mittels einer Trompete hat eine erstaunliche Wandlung herbeigeführt. Sie hat ihm die hübsche Maske des lustigen Verführer-Playboys und Alpha-Männchens entrissen. Übrig geblieben ist ein hässlicher Freak, der kleine Kinder mit seinem entstellten Gesicht zwar erschrecken kann, von den Erwachsenen jedoch ausgelacht und gemieden wird. Dies ist ein überaus interessanter Kommentar des Zeitzeugen Iglesia auf den seit Anfang der 1970er Jahre immer offensichtlicheren körperlichen Verfall Francos, der sich vor allem gegen Ende zunehmend als geradezu groteskes und latent peinliches öffentliches Spektakel gestaltete. Der Clown hatte ausgedient, der Clown ging.

Die Gewalt im Film ist omnipräsent, extrem, unberechenbar und zerstört manchmal jäh Momente des Lachens oder der Rührung. Was manch Zuschauer als unnötige Übertreibungen ansieht, fängt im Grunde sehr viel ein über die latente Gewalt des Franquismus, einem Regime, das zwar ab den 1950er Jahren individuellere Formen der Repression ausübte, dessen Gründungsjahre jedoch von Massenterror geprägt waren. Subtil ist eine solche Darstellung nicht, doch sie drückt wahrscheinlich einiges über die Traumatisierungen der spanischen Gesellschaft nach dem Bürgerkrieg aus.

Wie eingangs erwähnt ist „Balada triste de trompeta“ keineswegs ein Meisterwerk. Das liegt vor allem an einem sehr grundlegenden Problem seiner Machart – der Film leidet an einer Wohlstandskrankheit, die seit mehreren Jahren vor allem in Actionfilmen grassiert: Shakycameritis. Die Wackelkamera wird ja immer wieder gerne zwecks „Realismus“ oder „Immersion“ herangezogen („als wäre man mittendrin im Geschehen“). Dabei wird gerne übersehen, dass es für die meisten Menschen nicht sehr realistisch ist, mit drei Promille Blutalkoholkonzentration durch die Gegend zu torkeln (das Gefühl, dem die ausgerechnet dafür von Karl Freund und Friedrich Wilhelm Murnau erfundene Shakycam wohl am nächsten kommt). Richtig unerträglich, mittlerweile aber von manchen Kritikern gar als „state of art“ bezeichnet, wird die Wackelkamera in Kombination mit Nah- bzw. Extremnahaufnahmen und Stakkato-Schnitt im Dreiviertelsekunden-Takt. Leider sabotiert sich „Balada triste de trompeta“ selbst, indem er diesem völlig lächerlichen und nervenden Trend immer wieder nachgibt. Das führt dazu, dass die Eingangs-Szene mit dem Macheten-Clown ein unübersichtliches Misch-Misch aus zittrig-unfokussierten Bildern ist, statt eine gute Action-Sequenz, die der Absurdität ihres Inhalts entsprechen würde. Immer wieder dringt diese Tendenz durch, und zerstört damit sowohl jegliche plastische Räumlichkeit der Bilder wie auch Entfaltungsmöglichkeiten für die durchgehend überzeugenden Darsteller.

Nicht zuletzt verlängert Shakycameritis auch die gefühlte Länge des Films massiv. Wer vor einer Leinwand voller Bilder sitzt, deren visueller Informationsgehalt gegen Null tendiert, langweilt sich tendenziell schneller. Das liegt aber sicherlich auch daran, dass dem Film eine gewisse Straffung des Drehbuchs gegen Ende wohl gut getan hätte. Was die Bilder an Emotionen jedoch nicht einfangen können, kann die absolut großartige Musik Roque Baños‘ zum Teil wieder wettmachen (hier ein Hörbeispiel). Sie etabliert sich mit ihrem einfachen Leitmotiv als ruhigen, melancholischen und nachdenklichen Kontrapunkt gegen den grotesken Gehalt der Handlung.

„Balada triste de trompeta“ spielt auf das Lied „Balada de la trompeta“ aus dem spanischen Musical-Film „Sin un adios“ aus dem Jahre 1970 an (hier der Ausschnitt). Dieser Film läuft in einem Kino, das Javier während seines Amoklaufes besucht. Der Ausschnitt des Films, den er sieht, rührt ihn zu Tränen: seit seiner Verwandlung der einzige Moment, in dem er kurz innehält – bevor er wenige Sekunden später freilich einem anderen Kinozuschauer die halbe Hand wegreisst. Der deutsche Verleihtitel ist vielleicht griffiger und kürzer als der Originaltitel, dieser jedoch fängt die tiefe Grundmelancholie und die Traurigkeit – die immer wieder von Groteske und Gewalt unterbrochen werden – des Films sehr viel passender ein. Endet „Balada triste de trompeta“ doch schließlich damit, dass eine Figur weint, wie vielleicht noch nie jemand in einem Film geweint hat...

8 Kommentare:

  1. Klingt ja wüst und faszinierend! Will ich mir trotz der Wackleritis auf jeden Fall mal ansehen. Ich nehme an, dass die kaum erfolgte politische und überhaupt nicht stattgefundene juristische Aufarbeitung der Diktatur in Spanien ein umso fruchtbarerer Nährboden für solche wilden und fantasievollen künstlerischen Annäherungen ist (siehe z.B. auch PANS LABYRINTH).

    Beim Titel, der "traurigen Trompeten-Ballade", hatte ich zunächst mal eine spontane Assoziation an LA STRADA (und am Schluss des Artikels, beim exzessiven Weinen, auch nochmal). Kommt denn im Soundtrack tatsächlich auch eine Trompete vor, oder wird die außer in diesem Musical-Ausschnitt nur zum Hauen und Stechen benutzt?

    Bei Frankenstein wiederum dachte ich an DER GEIST DES BIENENSTOCKS von 1973. Da taucht das Werk von James Whale am Anfang als Film im Film auf, und später tritt das Monster selbst in Erscheinung, wenn auch nur in der Fantasie des kleinen Mädchens, das die Hauptfigur in diesem wunderbaren Film ist. Vielleicht ist die Verwendung bei Iglesia nur eine zufällige Parallele, aber vielleicht auch eine bewusste Referenz an den Vorgänger. Filme wie DER GEIST DES BIENENSTOCKS, die noch zu Francos Lebzeiten mit der spanischen Vergangenheit abrechneten, konnten ja gar nicht anders, als ihre Kritik hinter symbolistischen bis surrealen Metaphern (notdürftig) zu verschleiern. Vielleicht sieht sich Iglesia ja in der Tradition solcher Filme, oder auch in der des auch ziemlich wüsten VIVA LA MUERTE von Fernando Arrabal (der aber nicht in Spanien entstand). Aber ich kenne keine Aussagen von Iglesia dazu, also vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.

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  2. „Wackleritis“! Warum ist mir das nicht eingefallen, das klingt doch so viel besser als „Shakycameritis“...
    Meine erste Erklärung für die Dominanz wilder und derb-wüster Annäherungen an Diktuaturgeschichte bezüglich spanischer Themen wäre zunächst einfach, dass sowohl der Mexikaner Guillermo del Toro wie auch der Spanier Álex de la Iglesia einfach ungestümere und auch mutigere Regisseure sind als sagen wir mal eben Donnersmarck und Marc Rothemund, ganz zu schweigen von den TV-Stangenwaren-Regisseuren. Christoph Schlingensief ist ja nun leider verstorben. Del Toro kommt ja nun auch vom Horror-Genre, während Iglesia 1993 zum Beispiel eine Freak-Aufstand-SciFi-Splatter-Liebeskomödie im Weltall unter dem Namen „Accion Mutante“ gedreht hat...
    Da es keine Aufarbeitung gibt (und jede Absicht, etwa franquistische Massengräber zu untersuchen, jedesmal zum nationalen Politikum wird), gibt es auch keine Formalisierung und Ritualisierung von Erinnerungskultur. So etwas lässt dann eben eine sehr große Freiheit bezüglich möglicher Formen – besonders natürlich im Bereich der Kunst. In Deutschland hingegen hat man sich vielleicht zu sehr an biedere TV-Filmchen und biedere Kino-Filme gewöhnt, die einem immerzu als „authentisch“ vermarktet werden. Marc Rothemunds „Sophie Scholl“ ist so ein Beispiel: „authentisch“, gut „recherchiert“, nett anzusehen, handwerklich ganz in Ordnung, für biederen Schulunterricht geeignet, nette Schauspieler, ein bisschen emotional, intellektuell wenig anregend, cinematographisch bitte nichts wagen, tut niemandem weh, alle können sich am Schluss gut fühlen, vergisst man sobald der Kinosaal verlassen ist...
    Die Academy hätte 2007 jedenfalls mehr Mut bewiesen können, wenn sie den Oscar an „Pan‘s Labyrinth“ statt an „Das Leben der Anderen“ verliehen hätte.
    Der Soundtrack enthält keinerlei Solo-Trompete und das Instrument wird tatsächlich nur als stumpfe Hieb-Waffe gebraucht. An „La Strada“ hätte ich hingegen nie und nimmer gedacht. Interessanter Gedanke.
    In einem Interview meinte Iglesia, dass makabre Grotesken etwas typisch spanisches sind, und dass er sich in dieser Tradition sieht. Ich würde also nicht ausschließen, dass er sich durchaus auch auf die von dir genannten Filme bezieht. Ich habe von Iglesia bislang zwar nur „Accion Mutante“ gesehen, aber ein ihm ganz eigener Regiestil ist ganz klar erkennbar – damit meine ich nicht die „Wackleritis“ (die in „Accion Mutante“ soweit ich mich erinnere nicht vorhanden ist), sondern vor allem die skurrilen Grundideen, der makabre Humor mit völlig absurden Plotwendungen und grotesker Gewalt, die Thematisierung von Freaks und Außenseitern und der offensichtliche Wille, politisch provokant zu sein...
    Gemäß dem wenigen, das ich dazu gelesen habe, scheint „Der Geist des Bienenstockes“ in der Tat ein faszinierender Film zu sein. Deshalb wandert schnurstracks auf meine To-Do-Liste. Danke für den Tipp!

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    1. "Wackleritis" ist nicht von mir, aber freut mich, dass es jetzt deinen Wortschatz bereichert. Dafür kannte ich "Coulrophobie" noch nicht - wieder was dazugelernt! Mit "Whoknows Presents" in 99 Lektionen zum psychiatrischen Experten ... :-)

      Ja, "makaber und grotesk" passt beispielsweise auch gut auf DER HENKER, den ich schon besprochen habe, nur dass es da keine sichtbare Gewalt gibt (die Hinrichtungen werden nicht gezeigt).

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  3. Ach, ich komme mal wieder viel zu spät in die interessante Runde, aber da ich sowieso wenig zu sagen habe, ist das wahrscheinlich gar nicht mal so blöd.

    Interessante Worte, allerdings gehöre ich wohl zu der 5% Minderheit der Vollblut-Cineasten, die zittrigen Aufnahmen meistens nicht feindlich gesinnt gegenüberstehen. Jaja, lacht mich nur aus. Aber mir hat bei meiner Sichtung damals nach einer Stunde nur noch der Look gefallen, konnte er doch die Aufregung und diese Jetzt-passiert-wieder-etwas-Absurdes-Stimmung sehr gut übersetzen. Okay, "sehr gut" ist schon eine leicht euphorische Formulierung, aber mindestens "zufriedenstellend". Die Geschichte selbst hat mich irgendwann gar nicht mehr interessiert. :D

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    1. Ha-ha-ha-ha-ha-ha-ha-ha... AAAAAHhhhhhh-ha-ha... Auslach-auslach-auslach...
      Mmhh... irgendwie gab es schon befriedigendere Momente in meinem Leben ;-)
      Nein, mal im Ernst: gemäß meinem Wissensstand wurde die Wackelkamera von Murnau und Freund für „Der letzte Mann“ (1924) erfunden, um die extreme Betrunkenheit und wenig später die betrunkenen Träume der Hauptfigur darzustellen – ersteres als Point-of-View-Aufnahmen (natürlich davon abgesehen, dass an vielen anderen Stellen die Kamera im Film überhaupt revolutionär mobil war). Sie diente also dazu, einen extremen Ausnahmezustand visuell sichtbar zu machen. (Über Hinweise früherer Wackelkamera-Nutzung würde ich mich natürlich freuen).
      Eine gewisse skandinavische Filmbewegung hat die Handkamera (die naturgemäß immer ein wenig instabil war) so richtig zum Abschütteln gebracht. Meiner Meinung nach ohne jeglichen ersichtlichen Grund, außer, um die eigenen eher zweifelhaften Realismus-Prätentionen umzusetzen! Nicht umsonst hat wenigstens ein Filmkritiker einmal gesagt, dass diese gewisse Bewegung im Grunde den europäischen Kunstfilm auf das Niveau eines selbstgedrehten Amateur-Pornos runterziehen wollte.
      Diese Mode scheint irgendwann mal auf gewisse amerikanische Action-Filme übertragen worden zu sein, in Kombination mit schnellen Schnitten. Das ganze sollte dann ebenfalls „Realismus“, „Immersion“, „Nähe zum Geschehen“, you name it, suggerieren.
      Ich sehe jedenfalls keinen Sinn in dieser schrecklichen Krankheit namens Wackleritis. „Realismus“-Ansprüche bei Filmen sind immer sehr zweifelhaft, und die cinematographischen Probleme (Zerstörung des Raumbilds, Ausdrucksverlust für Darsteller, Amateurporno-Look) liegen auf der Hand. Aus dramaturgischen Gründen erschien sie mir zumindest bei Found-Footage-Filmen ganz sinnvoll eingesetzt zu sein. Aus Erfahrung spreche ich da übrigens eher von „Cloverfield“ als vom früheren „Blair Witch Project“. Ein gewisser Film namens „Bellflower“ setzte die Wackelkamera auch zusammen mit starken Bildfiltern, der künstlichen Unschärfe ganzer Bildareale und einer exzessiven Übersättigung der Farben ganz bewusst als ANTI-realistisches Stilmittel ein – wie ich finde erfolgreich.
      Aber ansonsten erschließt sich mich dieses Stilmittel ehrlich gesagt nicht: von „Melancholia“ über „Balada triste de trompeta“ und Nolans Fledermaus-Filme bis hin zum unsäglichen Remake von „Total Recall“... Was ist denn der Mehrwert dieses „Stilmittels“? Welchen Gewinn haben denn die Filme davon? Worin liegt der Reiz? Was ist der cinematographische Anspruch dahinter Was habe ich da übersehen?

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  4. Ich habe gestern IDIOTEN gesehen. Die Handkamera in diesem Film war vortrefflich. Den Kritiker, den du glaub ich meinst, ist Seeßlen? Fand seinen Essay auch sehr interessant. Jedoch frage ich mich, was daran so schlimm ist, wenn ein europäischer Film auf die Stufe eines Voyeurismus bedienenden Films kommt bzw. warum er gleich schlecht ist, nur weil er sich gegen die ästhethischen Erwartungen wendet. Und Pornos? Mein Gott, Pornos sind geil! ...

    Den Mehrwert hast du selbst genannt = Nähe zum Geschehen. Nur weil du und andere Kritiker das nicht wahrhaben wollen, heißt es nicht, dass Filme per se keinen Gewinn von dieser Art des Filmens ziehen. Jeder empfindet eben anders. Nebenbei sehe ich im Gemecker über modische Erscheinungen sowieso keinen großen Sinn, weshalb ich solche Kampfbegriffe wie Wackleritis oder das von dir zuerst verwendete Shakycameritis einfach unsäglich finde. :D

    Bei BELLFLOWER fand ich es auch vortrefflich, wobei die "künstliche Unschärfe" vielleicht zu viel des Guten war. :D Was du bei Found Footage meinst, ist mir nicht ganz klar, gehören dort doch die Wackelaufnahmen als Konsequenz dazu.

    Also zum Teil gebe ich dir aber natürlich klar recht. Die Wackeleffekte in MAD CIRCUS sind zweifelhaft. Aber bei meiner Sichtung empfand ich sie aufgrund des wirklich lahmen Drehbuchs als schönes Extra, das einen wenigstens wach halten konnte. ;-)

    Man darf mich nicht missverstehen, ich plädiere nicht für mehr Wackelcam-Filme. Nur dafür, dass man den Werken und ihren Bildern etwas entspannter und gechillter gegenübertritt, nicht gleich mit Voyeurismus- und ähnlichen Keulen um sich wirft.

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    1. Ich meinte eigentlich Armond White, habe aber gerade auch Seeßlens Kritik zu DIE IDIOTEN gelesen, der, etwas verschrubbelt, im Grunde das selbe sagt.
      „Nähe zum Geschehen“ ist halt so eine Sache, deshalb hatte ich diesen Begriff in Anführungszeichen gesetzt. Soll das die emotionale Nähe sein? Zu den Figuren? Zum Geschehen? Oder ganz wörtliche Nähe? Die Wackelkamera in Kombination mit zu nahen Einstellungen kommt mir immer vor wie ein großer und dicker Freund, der mich stürmisch umarmt: ich kriege keine Luft mehr, weil mein Gesicht in seiner Schulter vergraben ist, während er mich hin- und herschüttelt.
      Um vielleicht etwas präziser zu sein: ich persönlich unterscheide wirklich zwischen Handkamera und Wackelkamera. ITALIENISCH FÜR ANFÄNGER etwa nutzt Handkamera, ohne – verzeih mir einen solchen Kampfbegriff – ständig durch die Gegend zu wackeln. MELANCHOLIA hingegen stellt bislang mein größtes Wackelkamera-Trauma dar, vor allem, weil ich ihn im Kino gesehen habe und mich über weite Strecken darauf konzentrieren musste, mich nicht aufgrund der motion sickness auf die Sitzreihe vor mir zu übergeben. Ich hätte ja rausgehen können, aber die Grundidee des Drehbuchs hat mich zu stark fasziniert, als dass ich hätte kapitulieren wollen. Letztlich halte ich ihn für ein monumental gescheitertes Meisterwerk, weil er sich mittels seiner Ästhetik selbst sabotiert hat. Denn ich sah und sehe keinerlei ästhetische oder dramaturgische Rechtfertigung dafür, den Film mit einer solchen Kamera zu drehen.
      Bei Found-Footage-Filmen meinte ich tatsächlich, dass hier die Wackelkamera aus dramaturgischen Gründen notwendig und gerechtfertigt erscheint.
      Im Grunde genommen anerkenne ich die Tatsache, dass die Wackelkamera in manchen Fällen durchaus ihre Berechtigung hat und einen Mehrwert schafft. Meistens finde ich sie aber unsäglich und aufmerksamkeitserheischend.
      Ich habe nichts gegen Pornos geschrieben. Natürlich sind Pornos geil! Gerade (!) hier hat die Wackelkamera ihre vollste Berechtigung, natürlich vor allem, wenn Kameramann/frau zugleich Hauptdarsteller/in ist. Das Wackeln hat dann hier nicht nur dramaturgische, sondern auch technische Gründe ;-) Aber auf die Gefahr hin, etwas altbacken zu klingen: ich habe gegenüber Amateur-Pornos trotzdem andere Erwartungshaltungen als gegenüber einem Kinofilm.

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    2. Um auch mal was zu dem Thema zu sagen: Die Dosis macht die Wirkung, und die seit einigen Jahren zu beobachtende Häufung geht mir auch in vielen Fällen auf die Nerven. Dafür darf man ruhig auch einen "Kampfbegriff" (ist das eigentlich selbst ein Kampfbegriff?) wie "Wackleritis" benutzen. Schließlich ist allzuoft kein rechter Sinn dahinter erkennbar. Und wenn man es wie im "Dogma 95" zur Ideologie erhebt, ist es völlig daneben.

      Andererseits gibt es sehr wohl gelungene Beispiele. Vielleicht sollte man sich daran erinnern, dass es in den späten 60ern und frühen 70ern schon mal eine kleine Wackelkamera-Mode gab, allerdings eher im Arthouse-Bereich ohne große Ausstrahlung in den Mainstream. Damals meist wohldosiert und dramaturgisch gerechtfertigt. Beispiele, die mir einfallen, sind eine Verfolgungsjagd im Wald in Bertoluccis IL CONFORMISTA (1970) und eine Szene (ab 10:50 - hier lässt sich leider kein Timecode setzen) in Terayamas WERFT DIE BÜCHER WEG UND GEHT AUF DIE STRASSE (1971). Im grandiosen MARKETA LAZAROVÁ (1967) gibt es auch ein oder zwei Szenen. Ein Beispiel mit Pseudo-found footage wäre Rainer Erlers DIE DELEGATION.

      Gegen solche Verwendung habe ich auch in heutigen Filmen nicht das Geringste, ganz im Gegenteil. Aber wenn Hinz und Kunz meinen, dass es in ihren Filmen wackeln muss, weil das eben hip ist, dann nervt es mich schnell, auch ohne körperliche Symptome (gegen die ich ziemlich immun bin).

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