Sonntag, 6. Mai 2018

MIQUETTE - Henri-Georges Clouzot auf Abwegen

MIQUETTE ET SA MÈRE
Frankreich 1950
Regie: Henri-Georges Clouzot
Darsteller: Danièle Delorme (Miquette Grandier), Louis Jouvet (Monchablon), Saturnin Fabre (Marquis Aldebert de la Tour Mirande), Bourvil (Graf Urbain de la Tour Mirande), Mireille Perrey (Hermine Grandier), Pauline Carton (Perrine), Henri Niel (Prosper Lahirel), Madeleine Suffel (Noémie), Maurice Schutz (Larborissière), Raymond Dandy (Panouillard), Jean Témerson (de Saint-Giron)

"Le Cid" von Monchablon und Corneille
Henri-Georges Clouzot, ein Regisseur, dem profunde Humorlosigkeit nachgesagt wurde (was er selbst freimütig bestätigte), drehte im Herbst 1949 eine Komödie - die einzige seiner Laufbahn. MIQUETTE ET SA MÈRE, was "Miquette und ihre Mutter" bedeutet (es gibt aber keinen offiziellen deutschen Titel), hatte bei der Kritik ebenso wie beim Publikum wenig Erfolg, geriet ein wenig in Vergessenheit und gilt heute als einer der schwächsten Filme von Clouzot. Angesichts vorhergehender (LE CORBEAU, QUAI DES ORFÈVRES) und nachfolgender Großtaten (LE SALAIRE DE LA PEUR, LES DIABOLIQUES) könnte man MIQUETTE ET SA MÈRE tatsächlich als Durchhänger bezeichnen. Aber das würde ihm nicht gerecht, denn so schlecht ist der Film gar nicht.

Miquette und ihre Mutter im Theater
Es handelt sich um die Verfilmung eines schwankhaften Theaterstücks von Flers & Caillavet. Marie Joseph Louis Camille Robert de Pellevé de La Motte-Ango, marquis de Flers, und Mathurin Cyprien Auguste Gaston Arman de Caillavet, oder etwas griffiger Robert de Flers (1872-1927) und Gaston Arman de Caillavet (1870-1915), schrieben manchmal einzeln, aber oft gemeinsam Theaterkomödien, Opern- und Operettenlibretti. Ihr "Miquette et sa mère" erschien 1906, und es war anscheinend recht erfolgreich, denn Clouzots Version war schon die dritte Verfilmung. MIQUETTE ET SA MÈRE (1934) wurde von gleich drei Regisseuren inszeniert (wie es zu diesem Triumvirat kam, weiß ich nicht). Aus der Besetzung stechen zwei Namen hervor - Michel Simon spielt Monchablon (hier wäre der direkte Vergleich mit Jouvet interessant), und Roland Toutain (der Flieger André Jurieux in Renoirs LA RÈGLE DU JEU) gibt den Urbain. Auch MIQUETTE (1940) von Jean Boyer kann mit einem prominenten Namen aufwarten: Lilian Harvey spielt in ihrem letzten Film die Titelrolle.

Monchablon taucht im Tabakladen auf
Die Handlung spielt um 1900 herum in Frankreich, nacheinander an drei verschiedenen Orten, und entsprechend kann man den Film in drei Akte einteilen, wenn man mag. Es beginnt in einer Kleinstadt irgendwo in der Provinz. Dort gastiert gerade eine drittklassige reisende Schauspieltruppe, die geleitet wird von dem pompös-genialischen Schauspieler Monchablon, der auch abseits der Bühne theatralische Auftritte liebt und mit pathetischer Stimme großspuriges Zeug schwurbelt. Man spielt gerade "Le Cid" von Monchablon und Corneille. Nun ja, eigentlich "Le Cid" von Corneille, aber Monchablon hat das Stück "modernisiert", um auch seinen eigenen Namen als Autor daruntersetzen zu können - so macht er das öfters. Unter den Zuschauern sind die junge Miquette Grandier und ihre verwitwete Mutter Hermine, die zusammen einen Tabakladen in der Stadt betreiben. Miquette ist begeistert von dem Stück, von der Welt der Schauspielerei im Allgemeinen und von Monchablon (der zufällig im Tabakladen auftaucht) im Besonderen, dagegen ist Hermine etwas indigniert wegen unmoralischer Tendenzen, die sie in dem Stück ausgemacht hat. Miquette hat einen heimlichen Verehrer, den schüchternen und schusseligen Grafen Urbain de la Tour Mirande. Auch Miquette schwärmt für ihn, doch vorerst wissen beide nichts davon, dass ihre Liebe erwidert wird. Dieser Urbain, man muss es sagen, er ist schon ein ziemlicher Depp. Gewiss, er ist schüchern und nervös in der Gegenwart von Miquette, aber eben auch doof. Einmal steht er triefnass im prasselnden Regen, und als Miquette dazukommt, sagt er, dass er seinen Schirm vergessen habe - dabei hängt er zusammengeklappt an seinem Arm. Man mag sich fragen, was Miquette eigentlich an ihm findet, aber es ist halt ein Schwank, und da stellt man solche Fragen besser nicht.

Urbain klitschnass im Regen
Schließlich schaffen es die beiden doch noch auf recht umständliche Art, sich ihre Liebe zu erklären, und wollen heiraten. Doch da haben sie die Rechnung ohne Urbains Onkel gemacht, dem Marquis Aldebert de la Tour Mirande, auf dessen Schloss auch Urbain wohnt. Der durchsetzungsstarke alte Herr hat gerade die Ehe seines Neffen mit einer wenig ansehnlichen, aber reichen Dame arrangiert, und das Weichei Urbain lässt sich erst mal widerstandslos überfahren. Miquette fühlt sich nun von ihm hintergangen und will sich rächen, indem sie nach Paris geht und Schauspielerin wird. Klingt etwas dämlich, aber wir erinnern uns: Wir sind in einem Schwank. Auf jeden Fall spielt sie dem Marquis in die Karten, denn der verfolgt zur Abrundung seiner Pläne einen doppelten Zweck: Der alte Bock und Schürzenjäger hat nun selbst ein Auge auf Miquette geworfen. Deshalb bietet er ihr an, sie nach Paris in seine Stadtvilla mitzunehmen und ihr Kontakte zur Theaterwelt zu vermitteln. Gleichzeitig würde sie damit endgültig außer Reichweite für Urbain sein. Und Miquette geht tatsächlich darauf ein. Sie packt hastig ihre Koffer, schreibt nur einen Brief für ihre Mutter, in dem sie die Lage erklärt, und verduftet mit dem Marquis.

Urbain weint vor Liebesglück, doch das währt vorerst nicht lange
Zweiter Akt, ein paar Tage später. Es sind nun alle in Paris versammelt: Monchablon und seine Theatertruppe, Miquette und der Marquis, und schließlich auch noch Hermine, die ihrer Tochter sofort hinterhergefahren ist, um sie dem Sündenpfuhl Paris zu entreißen und sie in ihr braves Leben zurückzuholen. Miquette wird als Elevin in Monchablons Truppe aufgenommen, und als Hermine in der Stadtvilla auftaucht, um dem Hausherrn die Leviten zu lesen und Miquette zu "retten", wird sie vom Marquis in kürzester Zeit "umgedreht", entdeckt ihre lang verschüttete flamboyante Ader - und heuert stante pede ebenfalls als Schauspielerin bei Monchablon an. "Glaubwürdig" geht anders, aber wiederum gilt: In einem Schwank fragt man nicht danach. Die Pläne des Marquis gehen aber nicht ganz auf: Miquette verweigert "Aldebert" (wie er sich von ihr gerne nennen lassen möchte) das erhoffte Techtelmechtel und hält ihn auf Distanz. Und Urbain entwickelt ungeahnte Willensstärke und taucht ebenfalls in der Villa auf. Allerdings verhält er sich dabei so ungestüm und ungeschickt, dass der Graben zwischen ihm und Miquette eher noch größer wird.

Der Marquis macht sich an Miquette heran - oben im Laden, unten in Paris
Dritter Akt, ein halbes Jahr später. Miquette und Hermine sind Teil von Monchablons Truppe, und der Marquis ist sozusagen als Miquettes Privatbegleiter (aber immer noch nicht als ihr Liebhaber) mit von der Partie. Man ist wieder auf Tournee, in irgendeiner Kleinstadt im südlichen Frankreich, und gibt auf einer Freiluftbühne ein historisches Stück um die Belagerung von La Rochelle durch die Truppen Kardinal Richelieus. Dabei kommt es nun zu sich steigernden Turbulenzen, und die Geschehnisse auf und hinter der Bühne beginnen sich zu vermengen. Der schon etwas tattrige Larborissière, ältestes Mitglied der Schauspieltruppe und momentan Darsteller von Kardinal Richelieu, vermisst seinen (anzuklebenden) Ziegenbart, der nun mal zwingend zu Richelieu gehört. Hermine kommt zu spät zur Aufführung und gesteht zerknirscht den Grund: Sie war im Spielcasino und hat die gesamten bisherigen Tourneeeinnahmen, 40.000 Francs, verzockt. Und Urbain taucht auch wieder mal auf. Mal will er es wieder mit Miquette versuchen, aber sie will nicht, mal ist es umgekehrt. Aber nach allerhand Konfusion auf und hinter der Bühne fügt sich schließlich alles so, wie man es erwartet: Der Marquis lässt von Miquette ab und erobert nun schnell und ohne Probleme deren Mutter (womit auch die Frage von Hermines Schulden geklärt ist), und Miquette und Urbain finden endlich zueinander. Die Vorstellung (auf der Bühne ebenso wie im Film) ist zu Ende, alle verbeugen sich vor dem Publikum. Vorher hatte der Film noch in einer kleinen Wendung eine selbstbezügliche Meta-Ebene erklommen: Die jungen Theaterautoren Robert de Flers und Gaston Arman de Caillavet aus Paris tauchen auf, um die begabte Miquette für ihr Theater zu engagieren (was im Vergleich zu Monchablons chaotischer Truppe ein Karrieresprung für sie wäre). Miquette lehnt ab, weil sie ja jetzt auf den Hafen der Ehe zusteuert, aber als Ausgleich wollen die beiden Autoren ihre Geschichte zu einem Theaterstück mit dem Titel "Miquette et sa mère" verarbeiten.

Schauspieler. Links oben Monchablon und Noémie, rechts oben Lily und Larborissière,
links unten de Saint-Giron, rechts unten in der Mitte Panouillard
Über Clouzots Leben und Werk habe ich in meinem Artikel über LE CORBEAU ausführlich berichtet. Wenn man glaubt, was zu lesen ist, dann wollte Clouzot MIQUETTE ET SA MÈRE gar nicht machen, war aber vertraglich dazu verpflichtet. In Anbetracht seiner schon erwähnten Humorlosigkeit ist der Film dann gar nicht schlecht gelungen. Zwar hat er schon einige Längen (die Dauer beträgt 102 Minuten), und Urbains Doofheit am Anfang ist schon ziemlich klamottig und könnte einem sogar auf die Nerven gehen. Aber der Film nimmt dann doch Fahrt auf, vor allem im letzten Drittel, wo Clouzots Regie Drive und Witz entfaltet. Auch vorher schon gibt es nette Regieeinfälle. Gelegentlich gibt es Zwischentitel wie in einem Stummfilm, oder einer der Darsteller durchbricht die "vierte Wand" und spricht einen Kommentar direkt in die Kamera. Wie schon in LE CORBEAU, genehmigt sich Clouzot im ersten Teil ein paar böse Kommentare zum französischen Kleinstadtleben, etwa darüber, wie schnell sich Gerüchte ausbreiten. Aber hier fehlt dann doch der Zynismus des früheren Films, letztlich ist alles ins Versöhnliche gewendet. Vor allem erweist sich der Marquis, der in einem Drama eine sehr negative Figur hätte sein können, hier letztlich als ein Sympathieträger, auch wenn es am Anfang nicht so aussah.

Urbain entwickelt Initiative und taucht in Paris auf
Clouzot, der immer viel Wert auf Schauspielerführung legte, konnte sich hier auf ausgezeichnete Darsteller stützen. Wie ich erst neulich schrieb, war Louis Jouvet eigentlich immer grandios, und das bestätigte er auch hier. Es war eine maßgeschneiderte Rolle: Der großspurige Monchablon, der sich nur einmal eingesteht, dass er eigentlich ein Schmierenkomödiant ist, bietet Jouvet viel Raum zur Entfaltung. Aber auch der Marquis bot eine dankbare Rolle, und der knorrige Saturnin Fabre spielt ihn mit Schalk im Nacken und wendet den durchaus fragwürdigen Charakter ins Positive. Bourvil als romantischer Liebhaber, noch dazu aus der Aristokratie, das ist erst mal gewöhnungsbedürftig, wenn man seine spätere Karriere kennt, wo er eher auf bäuerliche Typen abonniert war (auch wenn er mal einen harten Kommissar bei Melville oder eine James-Bond-Parodie spielen durfte). Aber er gibt den liebenswürdigen und etwas trotteligen Urbain durchaus überzeugend. Und Danièle Delorme schließlich spielt die Titelheldin lebhaft und sympathisch. Sie hatte kurz zuvor in GIGI (1949) ihren Durchbruch geschafft, einer Verfilmung der Novelle von Colette, die auch dem Musical mit Leslie Caron zugrunde liegt. In ihrer langen Karriere spielte sie in so unterschiedlichen Werken wie Jean Isidore Isous radikalem Avantgardefilm TRAITÉ DE BAVE ET D'ÉTERNITÉ (1951), in der Sartre-Verfilmung HUIS-CLOS (1954), in CASA RICORDI (1954), in VOICI LE TEMPS DES ASSASSINS... (DER ENGEL, DER EIN TEUFEL WAR, 1956) von Julien Duvivier an der Seite von Jean Gabin, in LES MISÉRABLES (1958) mit Gabin und Bernard Blier, im sehr bösen LA SEPTIÈME JURÉ (DER SIEBTE GESCHWORENE, 1962) von Georges Lautner, in LE VOYOU (1970) von Claude Lelouch an der Seite von Jean-Louis Trintignant, und in UN ÉLÉPHANT ÇA TROMPE ÉNORMÉMENT (EIN ELEFANT IRRT SICH GEWALTIG, 1976) von Yves Robert. Mit Letzterem war Danièle Delorme seit 1956 bis zu Roberts Tod 2002 verheiratet. Sie spielte auch in einigen weiteren Filmen von Robert, und gemeinsam mit ihm produzierte sie auch Filme anderer Regisseure. Sie starb 2015 kurz nach ihrem 89. Geburtstag.

Hochdramatisches vor La Rochelle
Nachdem MIQUETTE ET SA MÈRE auch in Frankreich für längere Zeit der relativen Obskurität anheimgefallen war, wurde er 2017 restauriert und als Blu-ray/DVD-Combo mit englischen Untertiteln veröffentlicht.

Freitag, 20. April 2018

MISTER FLOW - Robert Siodmak übt schon mal für Hollywood

MISTER FLOW
Frankreich 1936
Regie: Robert Siodmak
Darsteller: Fernand Gravey (Antonin Rose), Edwige Feuillère (Lady Helena Scarlett), Louis Jouvet (Achille Durin alias Mr. Flow), Vladimir Sokoloff (Merlow), Jean Périer (Sir Philipp Scarlett), Tsugundo Maki (Tsugundo Maki)

Maître Rose im seriösen Brille-und-Bart-Modus
Hitzewelle in Paris. Alles schwitzt und ächzt, auch der junge und erfolglose Rechtsanwalt Antonin Rose. Im letzten Jahr hat er gerade mal 875 Francs verdient, und jetzt ist er nicht nur verschwitzt, sondern auch pleite. Nicht einmal der Bart, den er sich wachsen ließ, um seriöser zu wirken, konnte daran etwas ändern. Da erscheint die vermeintliche Rettung in Person des hüftsteifen und undurchsichtigen Monsieur Merlow, der einen etwas seltsamen Auftrag für Maître Rose hat: Ein gewisser Achille Durin, Kammerdiener bei Sir Archibald Scarlett, Baronet, und dessen Frau Lady Helena, wurde dabei ertappt, eine wertvolle Krawattennadel aus dem Besitz des Baronets zu stehlen, und sitzt nun im Gefängnis. Merlow bittet nun Antonin im Auftrag des Baronets, Durin zu verteidigen und ihn unverzüglich im Gefängnis aufzusuchen. Der Baronet habe den irregeleiteten Durin im ersten Zorn angezeigt, was er aber nun bedaure, weil Durin eine zweite Chance verdient habe. Antonin nimmt den Auftrag sogleich an, und die 2000 Francs Vorschuss, die er an Ort und Stelle von Merlow ausgehändigt bekommt, heben seine Stimmung beträchtlich.

Der undurchsichtige Monsieur Merlow
Antonin begibt sich also in die Zelle zu Achille Durin. Dieser erweist sich als ein öliger, sich windender Zeitgenosse, der weinerlich eine recht hanebüchene Geschichte erzählt, und man weiß sofort, dass man einen Schmierenkomödianten vor sich hat. Wohlgemerkt, nicht der wie immer grandiose Louis Jouvet ist der Schmierenkomödiant, sondern Durin, und Jouvet spielt das mit Perfektion. Achille Durins Geschichte geht so: Er, Durin, war zum Zeitpunkt seiner Verhaftung gerade dabei, einen sehr delikaten Auftrag Lady Helenas zu erfüllen. Er sollte bis spätestens übermorgen einen Koffer und einen verschlossenen Umschlag aus einer bestimmten Wohnung in Paris holen. Sollte der Auftrag nicht erfüllt werden, würde ein Skandal drohen, wohl wegen einer Affäre von Lady Helena. Sir Archibald würde vor Schreck und Gram wohl tot umfallen, Lady Helena sähe sich zum Selbstmord genötigt, und er, Durin, müsste sich dann auch umbringen. Rein zufällig hat er die Schlüssel zur fraglichen Wohnung bei sich, und so bleibt Antonin, der die Räuberpistole glaubt, nichts anderes übrig, als die Schlüssel zu übernehmen und den Auftrag selbst auszuführen. Und damit bringt er sich richtig in die Bredouille.

Achille Durin ...
Denn Durin ist der weltweit gesuchte Einbrecherkönig "Mister Flow", Lady Helena seine Geliebte und Komplizin, die sich vor Monaten an den Baronet herangemacht und ihn geheiratet hat, um den alten Geldsack auszunehmen, und Merlow ist der dritte Komplize im Bunde. Durch das Missgeschick seiner Verhaftung muss Mr. Flow jetzt etwas improvisieren. Er hat dafür gesorgt, dass es nach Antonins Besuch der konspirativen Wohnung eine genaue Beschreibung von ihm gibt und er von der Polizei für Mr. Flow gehalten wird. Auf diese Art zum Sündenbock aufgebaut, bleibt Antonin nur übrig, Mr. Flows Anweisungen zu befolgen. Mit weiteren 4000 Francs aus Merlows Kasse versehen, mit abrasiertem Bart, um nicht erkannt zu werden, und mit dem Koffer (der Mr. Flows Einbruchswerkzeuge enthält) und dem Umschlag macht er sich auf zu Lady Helena in ein Hotel nach Deauville, einem mondänen Badeort in der Normandie, um Koffer und Umschlag zu überbringen. Auf Mr. Flows Anweisung nennt er sich in Deauville "Mr. Prim".

... windet sich ...
All das passierte in den ersten 18 Minuten. Nun also Szenenwechsel nach Deauville, wo der überwiegende Rest des Films spielt. Und Auftritt von Edwige Feuillère als Lady Helena, die nun im Mittelteil den Film dominiert, während der in Paris einsitzende Mr. Flow etwas in den Hintergrund tritt. Als Zuschauer weiß man, dass sie zur Bande gehört, weil Merlow zwischen ihr und Mr. Flow pendelt und Botschaften überbringt, doch Antonin hat vorerst keine Ahnung von ihrer Rolle, und so kann sie ihn ziemlich an der Nase herumführen. Er soll weiterhin, nun als Mr. Prim (eine der Rollen, die früher Mr. Flow selbst in Maske und Verkleidung ausgefüllt hatte), als potentieller Sündenbock dienen. Und Antonin fällt zunächst auf alle ihre Possen herein und verliebt sich obendrein in sie. Das gehörte auch zum Plan, denn Helena spielt ihm gegenüber auch die Verliebte. Nachdem sie mit Antonin zum Schein in eine Villa eingebrochen ist (die in Wirklichkeit ihre eigene ist), geht sie allein im Hotel auf echten Raubzug, erleichtert die anderen gut betuchten Gäste um ihre Wertsachen und hinterlässt dabei frech Visitenkarten von Mr. Flow. Doch Antonin kommt ihr nun endlich auf die Schliche und will nicht mehr das Opferlamm spielen. Und es kommt, wie es kommen musste: Helena hat sich inzwischen tatsächlich in ihn verliebt. Doch Mr. Flow, von Merlow auf dem Laufenden gehalten, beginnt Verdacht zu schöpfen ...

... und bricht in Tränen aus
Nach einigen weiteren Verwicklungen in Deauville, denen hier nicht weiter nachgegangen werden soll, kommt es im Schlussteil des Films, nun wieder in Paris, zum Prozess gegen Mr. Flow. Der ist nun wieder ganz der weinerliche und sich windende Achille Durin. Der Prozess nimmt eine jähe Wendung, als ein Zeuge auftaucht, der sich sozusagen selbst vorgeladen hat: Der aus London angereiste Sir Philipp Scarlett, der Bruder des Baronet Sir Archibald (der mittlerweile praktischerweise verstorben ist, so dass Helena frei für Antonin ist). Sir Philipp hat seiner Schwägerin und dem Hausdiener Achílle Durin (der seinerzeit von einem gewissen Mr. Prim empfohlen wurde) immer misstraut, und er ließ Helena durch den angeblich (aber nicht wirklich) taubstummen japanischen Diener Maki ausspionieren, freilich ohne Erfolg, weil Helena Maki frühzeitig ertappte und "umdrehte". Dennoch glaubt Philipp nun, vor Gericht beweisen zu können, dass Achille Durin Mr. Flow ist. Doch Antonin gelingt es, ihn lächerlich und unglaubwürdig zu machen. Trotzdem sitzt Antonin in der Zwickmühle. Wenn er Durin freibekommt, wird er als Mr. Flow sofort seinen Anspruch auf Helena erneuern, und Antonin wird keine Chance gegen den ausgebufften Profiverbrecher haben. Aber wenn er ihn in die Pfanne haut, so dass er im Gefängnis versauert, dann wäre das nicht nur gegen seine Berufsehre als Anwalt, sondern dann würde Mr. Flow auspacken und ihn selbst und Helena hinter Gitter bringen. Doch auch Mr. Flow hat viel zu verlieren, und so handelt der entschlossene Antonin mitten im Gerichtssaal einen Kompromiss mit seinem Klienten aus. Und einmal mehr zieht der Schmierenkomödiant Achille Durin eine ganz große Show ab ...

Mr. Flow zeigt sein wahres Gesicht - gar nicht weinerlich
Robert Siodmak gehörte bekanntlich zu der illustren Schar von Regisseuren und Drehbuchautoren, die Anfang 1930 mit dem gemeinsam hergestellten MENSCHEN AM SONNTAG debütierten, und bis 1933 arbeitete er weiterhin in Deutschland. In den 40er Jahren war der jüdische Emigrant mit Filmen wie PHANTOM LADY, THE DARK MIRROR, THE KILLERS, THE SPIRAL STAIRCASE oder CRISS CROSS einer der führenden Vertreter des Film Noir. Von der Neuen Sachlichkeit zum Film Noir, das ist ein weiter Weg. Doch da lagen ja nicht nur rund 15 Jahre dazwischen, sondern auch ein ungefähr sieben Jahre dauernder Aufenthalt in Frankreich. Zwischen 1933 und 1939 inszenierte Siodmak in Frankreich sieben Spielfilme (oder acht, wenn man die englische Fassung von LA VIE PARISIENNE getrennt zählt), und bei drei weiteren war er Co-Regisseur. Er war also in diesen Jahren nicht schlecht ausgelastet. Zu den deutschen und österreichischen (meist jüdischen) Emigranten in Paris, zu denen Siodmak damals in Kontakt stand, zählte auch sein Cousin Seymour Nebenza(h)l, der auch drei seiner französischen Filme produzierte (allerdings nicht MISTER FLOW). Seymour und dessen Vater Heinrich Nebenzahl waren auch schon die Produzenten von MENSCHEN AM SONNTAG.

Lady Helena ...
Siodmaks französische Filme sind hierzulande wenig bekannt, und die meisten sind auch schlecht zugänglich. Das galt bis vor einiger Zeit auch für MISTER FLOW, aber das hat sich erfreulicherweise geändert. Tatsächlich galt der Film sogar lange als verschollen, aber dann tauchte in der Cinémathèque suisse eine Kopie auf. MISTER FLOW lässt sich als Krimikomödie charakterisieren. Er ist aber kein Schenkelklopfer und auch keine völlig überdrehte Farce wie etwa DRÔLE DE DRAME, in dem Louis Jouvet ebenfalls brilliert. Es gibt durchaus dunkle Untertöne in der Handlung, und auch in der Kameraarbeit zeigt sich gelegentlich das Wechselspiel von Licht und Schatten - ein Film Noir ist MISTER FLOW freilich noch lange nicht. Als Meisterwerk sollte man ihn auch nicht bezeichnen. Es gibt doch ein paar kleinere Längen, und an die Logik der Geschichte sollte man natürlich keine strengen Maßstäbe ansetzen. Aber insgesamt ist Mr. Flow über seine eineinhalb Stunden hinweg doch ein recht unterhaltsamer Film. Das liegt vor allem an den Darstellern. Fernand Gravey als der unbedarfte Maître Rose macht seine Sache sehr gut, muss aber gelegentlich aufpassen, von der fulminanten, sehr spielfreudigen Edwige Feuillère nicht überrollt zu werden. Die Attraktion ist aber wieder mal Louis Jouvet, der alle Register ziehen darf. Ich kenne keinen Film mit ihm, in dem er mich nicht begeistert hätte. Aber auch Vladimir Sokoloff als der sinistre Merlow ist ohne viel Aufwand ausgezeichnet.

... bringt "Mr. Prim" unter ihre Kontrolle
Das Drehbuch von MISTER FLOW schrieb Henri Jeanson nach einer Vorlage von Gaston Leroux (1868-1927), dem Autor von "Das Phantom der Oper". Ähnlich wie Marcel Allain und Pierre Souvestre, die Schöpfer von Fantômas, war Leroux ein sehr produktiver Pulp-Autor, dessen Romane meist zunächst in Fortsetzungen in Zeitungen oder Zeitschriften erschienen. "Mister Flow" erschien 1927, es war also offenbar eines seiner letzten Werke. - Vor dem Prozess am Schluss werden auf einer Tafel die bereits abgehakten und die noch ausstehenden Verhandlungen des Tages aufgeführt, wobei jeweils die beiden Prozessgegner genannt werden, und dabei erlaubt sich Siodmak einige Scherze, die ich hier als Abschluss aufzählen will. Da gibt es neben der Verhandlung Scarlett gegen Durin noch folgende Paarungen:

- LE BON gegen (Marc oder Yves) ALLEGRE(t)
Roger Le Bon war ein französischer Regisseur, der in den 30er Jahren bei einigen UFA-Filmen, die in einer deutschen und einer französischen Fassung entstanden, die franz. Version inszenierte (und bei zweien davon spielte Edwige Feuillère die Hauptrolle). Gut möglich, dass Siodmak ihn schon aus Deutschland persönlich kannte (auch von drei oder vier von Siodmaks UFA-Filmen gab es franz. Fassungen). Auf jeden Fall war Le Bon einer der beiden Produktionsleiter bei MISTER FLOW.

Ein Koffer mit Einbruchswerkzeug
- (Marcel) ACHARD gegen (Maurice) CHEVALI(er)
In dem von Marcel Achard inszenierten L'HOMME DES FOLIES BERGÈRE spielte Chevalier die Hauptrolle, und in Lubitschs THE MERRY WIDOW, ebenfalls mit Chevalier in der Hauptrolle, war Achard am Drehbuch beteiligt. Achard ist auch mit Marc Allégret verbunden, für den er etliche Drehbücher schrieb. - 1939 spielte Chevalier auch unter Siodmak eine Hauptrolle, nämlich in PIÈGES (ja, auf den ersten drei Seiten geht es um PHANTOM LADY, aber man sollte den gesamten Artikel im Zusammenhang lesen).

Licht und Schatten wie in einem Film Noir ...
- MISTINGUETT gegen SHIRLEY T(emple)

- BOROTRA gegen VON KRAM - gemeint sind der französische "Tennis-Musketier" Jean Borotra und der deutsche "Tennis-Baron" Gottfried von Cramm

... aber nur sporadisch
- (Ewald André) DUPONT gegen PRUNIER
Bei "Prunier" bin ich nicht sicher, wer oder was das sein soll. Es gibt in Paris ein Restaurant mit diesem Namen in der Avenue Victor Hugo, in dem in den frühen 30er Jahren mal Joe May gespeist hatte, wie aus einem Telegramm hervorging, das er 1933 aus den USA an Billy Wilder nach Paris schickte - Wilder sollte May 120 Flaschen Anjou-Wein aus dem Restaurant mitbringen, als er sich selbst zum Sprung über den großen Teich anschickte. Vielleicht kannte Siodmak die Geschichte, oder er frequentierte das Lokal selbst. Aber vielleicht ist mit "Prunier" auch etwas anderes gemeint.

Vor Gericht ...
- THUVIES gegen VANLAC (oder VAN LAC) - und hier bin ich nun völlig ratlos, was damit gemeint ist.

Die in der Schweiz aufgefundene Kopie von MISTER FLOW wurde 2016 digital in 2K abgetastet. Von dieser Vorlage erschien der Film in Frankreich auf einer Blu-ray/DVD-Combo mit engl. Untertiteln (auch das Bonusmaterial ist mit Untertiteln versehen, doch das gibt in Bezug auf Siodmak oder MISTER FLOW nichts her). Bei Interesse kann man ruhig zugreifen, denn bis der Film in Deutschland erscheint, kann man wohl lange warten.

... zieht "Achille Durin" eine große Show ab
Happy End

Montag, 2. April 2018

Ménage à trois in Moskau

TRET‘JA MEŠČANSKAJA („Bett und Sofa“)
UdSSR 1927
Regie: Abram Room
Darsteller: Ljudmila Semënova (Ljudmila Semënova, genannt Ljuda, die Ehefrau), Nikolaj Batalov (Nikolaj Batalov, genannt Kolja, der Ehemann), Vladimir Fogel‘ (Vladimir Fogel‘, genannt Volodja, der Freund)


Wer an den sowjetischen Film der 1920er Jahre denkt, der denkt oft an Eisenstein, Pudovkin, Dovženko, Vertov, an revolutionäre Menschenmengen in sorgfältig choreografierten Massenszenen, sieht avantgardistische, formalistische Montage-Experimente, sieht Filme, die sich in den Dienst der Russischen Revolution stellen, ob „guten“ oder „schlechten“ Wissens (der realsozialistische Staat der Bolschewiki war von Anfang an gewalttätig und repressiv)…
Das ist natürlich eine extrem grobe Vereinfachung. Jeder einzelne Eisenstein-Film ist einzigartig, Pudovkin und vor allem Dovženko brachten bei allem politischen Input auch Zärtlichkeit für individuelle Figuren und pure visuelle Poesie in ihre Filme. Kulešov verband scheinbaren Anti-Amerikanismus mit einer Begeisterung für die Mechanismen des US-amerikanischen Slapsticks. Und der exzentrische Regie-Aussenseiter Boris Barnet begann seine Karriere schon Ende der 1920er Jahre (über dessen frühe Filme kann ich allerdings nichts sagen – seinen außergewöhnlichen Musical-Liebesfilm U SAMOGO SINEGO MORJA, „Am blauesten aller Meere“, erschuf er 1936, zu Beginn des Großen Terrors; eine fast utopische Gegenwelt zu seiner Entstehungszeit).
TRET‘JA MEŠČANSKAJA ist dennoch der wahrscheinlich außergewöhnlichste sowjetische Film der 1920er Jahre, den ich bislang gesehen habe*. Derjenige, der mir am meisten als Anomalie in seinem Entstehungskontext erscheint: eine Mischung aus erotischer Screwball-Komödie und Melodrama über eine Dreiecksbeziehung. Ein Film, der sich nicht für (oder auch gegen) die Sowjetunion und die Revolution positioniert, sondern einfach Alltag Alltag sein lässt. Ein Film, der von seiner ganzen unbändigen Begeisterung, seiner ganzen grenzenlosen Zärtlichkeit nicht ein einziges Quäntchen an den sowjetischen Staat und die Revolution überlässt, sondern alles voll und ganz seinen Figuren gibt.

*(Kleiner Hinweis: das will natürlich nicht viel heißen. Ich bin kein Spezialist für das sowjetische Kino der 1920er Jahre oder auch der späteren Zeit. Aus den jeweiligen Jahrzehnten und von den „großen“, „wichtigen“ oder alternativ auch „wiederentdeckten“ Regisseuren kenne ich jeweils nur einige Filme.)

Die Eheleute Nikolaj und Ljudmila, er Bauingenieur, sie Hausfrau, leben in einer recht kleinen Wohnung in der titelgebenden Dritten Kleinbürgerstraße. An einem schönen Samstag-Nachmittag liest Nikolaj auf der Straße seinen ehemaligen Bürgerkriegskameraden Vladimir auf und lädt ihn nach Hause ein. Aufgrund des Mangels an Wohnraum schläft der gelernte Drucker erst einmal bei Nikolaj und Ljudmila auf dem Wohnzimmer-Sofa. Eines Tages muss Nikolaj unverzüglich zu einer mehrtägigen Dienstreise wegfahren. Vladimir führt während Nikolajs Abwesenheit Ljudmila aus. Die beiden kommen sich näher und schlafen schließlich miteinander. Als Nikolaj nach mehreren Tagen zurückkehrt, ist Vladimir vom Sofa in das Ehebett umgezogen. Der gehörnte Ehemann steht erst einmal dumm da, geht für kurze Zeit weg – und kommt schließlich wieder, weil das Sofa als Schlafstätte doch bequemer ist als der Schreibtisch im Ingenieursbüro. Wenn Ljudmila und Vladimir drei Meter weiter etwas zu lautstark Sex haben, muss sich Nikolaj eben ein Kissen aufs Ohr drücken. Der etwas peinlichen Situation zum Trotz bleiben die beiden Männer gute Freunde und arrangieren sich mehr oder weniger mit der Lage. Ljudmila jedoch geht das zunehmend herrische Ehemann-Gehabe ihres „neuen Mannes“ Vladimir immer mehr auf die Nerven, während ihr Ex (der vor der Ankunft Vladimirs genauso herrisch und dauermeckernd drauf war) ihr zunehmend wieder netter erscheint. Also nimmt sie sich wieder Nikolaj ins Bett und verbannt Vladimir zurück auf das Sofa. Wenige Monate später merkt Ljudmila, dass sie schwanger ist und sehr rasch ist klar, was getan werden muss: sie wird das Kind abtreiben. Die Kosten sollen natürlich durch drei geteilt werden, da ja nicht sicher ist, wer der Vater ist. In der Abtreibungsklinik bekommt es die schwangere Hausfrau mit der Angst zu tun, sieht zumal auch noch fröhlich spielende Kinder im Innenhof, die sie zum Nachdenken bringen. Kurz bevor sie mit der Operation dran ist, flüchtet sie, stürmt nach Hause, wo sie ihre Sachen packt, eilt dann zum Bahnhof, um Moskau zu verlassen. Sie wird weiter im Osten ein freies Leben führen, wo sie das Kind allein erziehen und (wieder?) arbeiten wird. Nikolaj und Vladimir bleiben mit Ljudas Abschiedsnotiz alleine zurück, sehen ein, dass sie sie beide nicht besonders gut behandelt haben – und werden erst mal weiter zusammen wohnen und ab und zu gemeinsam einen Tee trinken.


Wo fang ich jetzt am besten an? Die ersten wenigen Minuten versprechen bereits einen großartigen Film und dieses Versprechen wird sehr großzügig eingelöst. TRET‘JA MEŠČANSKAJA beginnt mit drei Personen, zwei Geschwindigkeiten und einer Stadt.
Ein Zug rast durch die Landschaft. Darin sitzt unter anderem Vladimir, offenbar voller Hoffnungen auf die Möglichkeiten, die Moskau bieten wird. Pure Bewegung. Dann ein Blick auf Moskau, noch still am frühen Morgen – und in die noch schlafende Dritte Kleinbürgerstraße. Nikolaj, Ljudmila und ihre Hauskatze wachen langsam auf, während der Zug weiter nach Moskau rast. Stehen auf und waschen sich dann (alternativ am Wasserhahn und unter einem umfunktionierten Samowar) – genau so wie Stadt einer gründlichen Reinigung (allerdings mit dem Hochdruckreiniger) unterzogen wird und dabei allmählich erwacht. Frühstück – während Vladimir schon die Moskauer Straßen erkundet.
Die Einführung der drei Hauptfiguren und der Stadt Moskau (letztere fast schon als kleine Stadt-Sinfonie) ist so atemberaubend wie zauberhaft. Eine kleine bittere Note gibt es dennoch: Nikolaj meckert beim Frühstück mehrmals wegen kleiner Lappalien rum, kommandiert seine Frau etwas zu selbstherrlich herum und verabschiedet sie mit der Erinnerung, dass heute Samstag sei und sie mal wieder den Boden wischen könnte. Kolja ist sichtlich kein böser Mensch, aber ganz offensichtlich merkt er nicht, wie unangenehm er sich manchmal gegenüber seiner Frau benimmt. Die Ehe der beiden ist nicht vollkommen dysfunktional, aber es häufen sich doch mehrere kleine Dinge, die Ljuda sichtlich auf den Geist gehen (was sich später rächen wird).


Mit dem rasenden Zug fährt der tatenlustige Vladimir nach Moskau;
Nikolaj und Ljudmila wachen in ihrer kleinen Wohnung erst auf
Nach dem Aufstehen waschen sich erst einmal alle!

TRET‘JA MEŠČANSKAJA kann man eigentlich ohne Umschweife als Sex-Komödie, als commedia sexy alla russa bezeichnen (freilich natürlich die Überdrehtheit der über vierzig Jahre später kommenden italienischen Filme). Die Darstellung von Sex wird jedem Zuschauer, der sich daran erinnert, dass wir es mit einem Stummfilm von 1927 zu tun haben, der zumal auch in der Sowjetunion gedreht wurde, die Kinnlade runterklappen lassen. Vielleicht zunächst zu den „Fakten“. Vladimir führt also Ljuda aus: Flugzeugfliegen, dann ins Kino. Später sind sie wieder zuhause. Das Gespräch gerät ein wenig ins Stocken, als er ihr sagt, dass sie schön sei und ihr Gesicht kurz streichelt. Sie geht an den Tisch und fängt an, Karten zu legen. Er macht mit, und offenbar wirkt Kartenlegen bzw. ein Scheingespräch über Astrologie aphrodisisch, denn irgendwann fängt Ljuda an, Vladimir zärtlich anzusehen, schließlich gar mit einem absolut lustverzehrten Blick. Vladimir zieht die Karten, legt den Karo-König zunächst neben die Herz-Dame, überlegt es sich anders und legt ihn dann verkehrt (also „Körper auf Körper“) auf die Herz-Dame drauf. Diesen eindeutigen Vorschlag finden offenbar beide ganz gut, und setzen ihn dann auch gleich um...


Die Begrüßung zwischen Ljuda und Volodja ist zunächst kühl...
doch nach einem gemeinsamen Flugzeugausflug und einem Film kommen sie sich näher...
...beim Kartenlegen wird klar, was sie jetzt tun wollen.
(Oben rechts: der Blick, den Ljuda auf Volodja wirft, ist pure, unverstellte Lust!)
Nach der Rückkehr Nikolajs, als Vladimir im Ehebett schläft und der gesetzliche Ehemann auf dem Sofa, wollen die beiden eines Nachmittags nach einer Partie Dame Tee trinken (sie unternehmen überhaupt vieles miteinander, ohne Ljuda einzubeziehen). Kolja geht Brötchen kaufen, während Volodja den Tee zubereiten soll, doch als er vom Bäcker zurückkehrt, „erwischt“ er seinen Bürgerkriegskameraden und seine Gattin bei einer ziemlich eindeutigen Beschäftigung: das Bett wird von der spanischen Wand verdeckt, über die die Kleidung gelegt ist, aus der Tülle einer überhitzten Teekanne schießt Dampf heraus und Nikolaj schaut ziemlich unbegeistert aus der Wäsche. Da er sich nicht in ein anderes Zimmer zurückziehen kann, legt er sich eben auf das Sofa und drückt sich ein Kissen auf‘s Ohr.
Die gleiche Szene wird später mit Vladimir „gespiegelt“, als er wieder der Sofa-Nutzer ist. Da schießt allerdings kein Dampf aus einer phallisch geformten Tülle, sondern man sieht eine Wasserkaraffe, deren Inhalt hin- und herschwapppt. Vladimir kommt allerdings rasch auf die gleiche Lösung: sich seitlich auf das Sofa legen, Kissen auf das freie Ohr.


Unter den wachsamen Augen Budjonnys und zweier Schwäne vergnügen sich Ljuda und Volodja
...sehr zum peinlichen Missfallen Koljas
Natürlich: die 1920er Jahre waren international wesentlich sexier als die 1930er Jahre, als die Filmzensur mächtig anzog (in den USA das Breen Office, in Deutschland die Nazis, in der Sowjetunion der Stalinismus). Das Besondere bei TRET‘JA MEŠČANSKAJA ist allerdings nicht nur die völlig entwaffnende Offenheit, die absolute Unmittelbarkeit, sondern auch die völlige Entspanntheit, ich würde fast schon sagen die Unschuld und Naivität. Sex ist in TRET‘JA MEŠČANSKAJA nur Sex: keine politische Befreiungsagenda (wie vielleicht in manch Filmen um die 1968er), kein zwischenmenschliches oder politisches Macht- und Unterwerfungsmittel (wie im film noir oder bei Paul Verhoeven), keine Externalisierung innerer Schmerzen und Entfremdungsgefühle (wie vielleicht bei Oshima) – sondern nur eine so fröhliche und wie flüchtige Vereinigung.

Vielleicht gerade mit dieser „Unschuld“ im Blick sollte man auch die unterschwellige Homoerotik des Films deuten. Der Gedanke, dass zwei sowjetische Männer, der eine Facharbeiter, der andere vielleicht ein ehemaliger Arbeiter, der durch die erweiterten Chancen des sowjetischen Weiterbildungssystem zum Ingenieur wurde, sich mit einem traditionellen Bruderkuss der sozialistischen Arbeiterbewegung begrüßen, ist nicht völlig abwegig. Aber wie herzlich sich Nikolaj und Vladimir doch küssen!
Ljuda zieht sich zu Beginn des Films gerade um, als plötzlich unvermittelt ein fremder Mann in der Wohnung steht. Das sei doch Fogel‘, stellt ihr Kolja, der erst als zweiter eintritt, den Unbekannten vor. Mit ihm habe er sich im Bürgerkrieg einen Mantel geteilt, und um das zu unterstreichen, drückt er seinem ehemaligen Kavallerie-Kameraden einen dicken, herzlichen Schmatzer auf die Lippen. Als Nikolaj, erst einmal völlig unwissend, später von seiner Dienstreise zurückkehrt, tritt er unbemerkt in die Wohnung ein, schleicht sich an Vladimir heran und hält ihm von hinten die Augen zu. Vladimir dreht sich darauf hin um und küsst Nikolaj leidenschaftlich. Das ist fast schon ein klassischer Hitchcock‘scher Spannungsmoment: wir wissen, dass Ljudmila und Vladimir miteinander schlafen, Nikolaj also betrogen haben – doch er weiß es nicht. Als sich von hinten Hände auf sein Gesicht legen, denkt Vladimir natürlich, dass es Ljudmila ist und küsst „sie“ sogleich. Nikolaj erwartet sicherlich nicht, dass sich Vladimir umdreht und ihn küsst. Seine Reaktion ist allerdings nicht Erschrecken oder gar eine bittere Erkenntnis (die kommt aber später), sondern er deutet die Situation in aller Unschuld gleich zu seinen Gunsten aus und lacht seinen Freund auf herzliche, keineswegs böse Weise aus – ganz nach dem Motto „Da hab ich dich aber schön veräppelt, nicht wahr?“ Vladimir ist zu erstarrt, um zu reagieren. Ljuda, die das ganze Schauspiel aus dem Hintergrund mit einem sichtlich großen Schrecken beobachtet hat, stimmt herzlich in Koljas Lachen ein. In wenigen Sekunden wird eine hochexplosive Situation durch Lachen entspannt (wenig später folgt dann aber doch die große Offenbarung).


Ein herzhafter und ein unfreiwilliger Bruderkuss

Ich schrieb oben, dass TRET‘JA MEŠČANSKAJA von einer überbordenden Zärtlichkeit für seine drei Hauptfiguren ist. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass die Kamera geradezu in die Darsteller „verliebt“ ist: ein wenig in Nikolaj und Vladimir, aber ganz viel in Ljudmila, die trotz ihrer Passivität am Anfang die eigentliche Heldin des Films ist. Ljudmila Semënova wirkt wie die etwas sprödere und fülligere sowjetische Schwester Louise Brooks‘. Sie ist ein Star ohne jeglichen klassischen Glamour, aber auch ohne jegliche „sowjetische Aufladung“: keine Heldin der Revolution, sondern nur eine „normale“ Frau. Das macht sie viel nahbarer als die klassischen Stummfilmschönheiten, bodenständiger, aber nicht weniger attraktiv. Ich habe mich bei beiden bisherigen Sichtungen ein wenig in sie verliebt, und das ist wohl ganz im Sinne des Films. TRET‘JA MEŠČANSKAJA ist eine Hymne an die ungewöhnliche Schönheit Ljudmila Semënovas und endet auch als Hymne auf die Befreiung ihrer Figur von den Zügeln der klassischen bzw. der Dreier-Ehe.




Semënova, die sowohl im Bereich Theater wie auch im Bereich Film Schauspielausbildungen machte, wurde durch ihre Rolle in ČERTOVO KOLESO des Regie-Duos Trauberg-Kozincev berühmt und zum Star. In deren NOVYJ VAVILON spielte sie 1929 eine Nebenrolle. Nach nur wenigen Rollen zog sie sich Mitte der 1930er Jahre vorerst aus dem Filmgeschäft zurück. Ihre russische Wikipedia-Seite vermerkt, dass sie sich wohl nicht an den Tonfilm zu adaptieren wusste, aber das ist die wohl übliche kolportierte Legende der Stummfilmdarsteller mit den komischen Stimmen (schließlich war sie ja auch ausgebildete Theaterdarstellerin). 1935 heiratete sie einen Offizier der Roten Armee und blieb bis zu seinem Tod während des Kriegs 1943 wohl Hausfrau. Nach dem Krieg übernahm sie ab und zu noch Filmrollen, vor allem aber arbeitete sie im Staatstheater für Filmschauspieler und wirkte am Aufbau des „Hauses der Kinoveteranen“ mit, in dem sie ab 1977 auch lebte. Sie starb 1990 mit 91 Jahren in Moskau.

(Übrigens ein sehr interessanter Fakt: die Figuren des Films heißen mit Vornamen und Nachnamen genau so wie die Darsteller selbst. Selbst der Vatersname stimmt überein. Ljuda wird vom Hausmeister in einem Zwischentitel mit „Ljudmila Nikolaevna“ angesprochen. Spontan fiele mir Marco Ferreris LA GRANDE BOUFFE ein, in dem die Figuren den gleichen Vornamen haben wie ihre Darsteller.)

Das Leben der beiden männlichen Hauptdarsteller war leider wesentlich kürzer und tragischer. Nikolaj Batalov begann in den 1910er Jahren als Theaterdarsteller, unter anderem in Produktionen Konstantin Stanislavskijs. Theaterschauspieler blieb er auch parallel zu seiner Filmkarriere. Seine erste Filmrolle war der Rotarmist Gusev in AĖLITA 1924, seine zweite die des Sohnes in Pudovkins Gorki-Adaption MAT‘. Er spielte die Hauptrolle im ersten sowjetischen Tonfilm PUTEVKA V ŽIZN‘ 1931 (wenn man mich fragt: fürchterlicher, geradezu unerträglicher stalinistischer Melo-Kitsch). Batalov erkrankte in den 1920er Jahren (je nach Quelle 1923 oder 1927) an Tuberkulose, wovon er sich im Grunde nie wieder richtig erholte. Ab 1935 zog er sich vom Schauspiel zurück und machte mehrere Kuren am Schwarzen Meer (und möglicherweise auch in polnischen und italienischen Kliniken). Im November 1937 erlag er seiner Krankheit. Die Beurteilung seines Schauspiels auf seiner deutschen Wikipedia-Seite kann ich nicht widersprechen: „Seine Spielweise zeichnet sich durch Realismus und die warme Darstellung kraftvoller Charaktere aus.“

Noch ein Stück tragischer verlief das kurze Leben Vladimir Fogel‘s. Fogel‘ (Sohn eines deutschen Immigranten namens Vogel), war ein Schüler Lev Kulešovs, der ihm gleich eine Nebenrolle in dem Slapstick-Film NEOBYČAJNYE PRIKLJUČENIE MISTERA VESTA V STRANE BOL‘ŠEVIKOV gab. Für Kulešov spielte er auch in den späteren LUČ SMERTI und PO ZAKONU mit. Der „Erfinder“ des weltberühmten Effekts bezeichnete Fogel‘ als besten Schauspieler seiner Generation. Auch mit anderen Leuten, die an Kulešovs „Mr. West“ mitwirkten, blieb Fogel‘ später verbunden. Mit Pudovkin drehte er noch zwei Filme, mit Boris Barnet drei. Besonders vom Publikum geschätzt wurde sein Talent als Komödiant, auch wenn Kulešov ihn als ernsthaften Darsteller bevorzugte. Fogel‘ litt an an einer psychischen Erkrankung, hatte gegen Ende der 1920er Jahre immer mehr Zusammenbrüche. Im Sommer 1929 beging er mit nur 26 Jahren Selbstmord.


Da ich gerade bei den involvierten Personen bin, mach ich jetzt mal mit dem Regisseur Abram Room weiter. Der gebürtige Wilnaer war von Haus aus Mediziner bzw. studierte zumindest jahrelang Medizin in Petrograd und Saratov. Parallel, oder vielleicht auch kurz nach seinem Studium begann er mit diversen Tätigkeiten im Bereich Theater und Film: Regisseur am Theater Meyerholds, Dozent am VGIK (am Allrussischen staatlichen Kinematografie-Institut). Im französischen Wikipedia-Artikel steht, dass er auch Direktor des Hebräischen Theaters von Vilnius war – da die Stadt ab 1922 zu Polen gehörte, scheint mir das etwas unwahrscheinlich. Über seine erste Filme finde ich nichts Kohärentes, nur sein Bürgerkriegsfilm BUCHTA SMERTI („Die Bucht des Todes“) von 1926 taucht immer wieder auf. TRET‘JA MEŠČANSKAJA ist zweifelsohne sein berühmtester Film.
Sein PRIVIDENIE, KOTOROE NE VOZVRAŠČAETSJA von 1929 („Der Geist, der nicht zurückkehrt“) ist ein Gefängnisfilm in einem südamerikanischen Setting. In einigen Kommentaren zu dem Film, die ich gefunden habe, ist von atemberaubenden Montage- und Handkamerasequenzen die Rede und von expressionistischen, teils surrealistischen und völlig abstrakten Bildern.
STROGIJ JUNOŠA („Ein strenger junger Mann“) von 1935, ist thematisch offenbar eine Variation von TRET‘JA MEŠČANSKAJA: ein junger Mann verliebt sich in eine ältere Frau, die mit einem berühmten Wissenschaftler verheiratet ist, daraus entsteht eine Art Dreiecksbeziehung. TRET‘JA MEŠČANSKAJA wurde von der sowjetischen Kritik ziemlich einmütig verrissen, STROGIJ JUNOŠA wurde hingegen wegen gravierender „Abweichung vom sozialistischen Realismus“ sogar komplett verboten. In den 1960er Jahren wurde er an Filmschulen vorgeführt und erlebte seine breite Kinopremiere erst 1974. Ein Kommentator bei MUBI meint, dass STROGIJ JUNOŠA Godard und Makavejev um 30 Jahre vorwegnimmt.
Zwei Filme in Rooms Werk dürften zusammen gesehen ein höchst merkwürdiges, dialektisches Double-Feature ergeben. Im Dokumentarfilm EVREI I ZEMLJA („Die Juden und das Land“) von 1927 portraitierte Room jüdische Landwirtschaftskommunen auf der Krim. Der Film entstand im Rahmen der Kampagnen gegen Antisemitismus in den 1920er Jahren: die Sowjetunion war in ihrer frühen Phase einer der wenigen Staaten, die die Bekämpfung von Antisemitismus zu einer offiziellen Staatspolitik machte. Bekanntermaßen änderte sich das in den 1930er Jahren, spätestens aber nach dem Zweiten Weltkrieg, als schließlich der sowjetische Staat eine massive antisemitische Kampagne (gegen „entwurzelte Kosmopoliten“) lostrat, die erst mit Stalins Tod endete. Ein Film mit dem Titel SUD ČESTI („Das Ehrengericht“), der im Februar 1949 Premiere hatte, begleitete und unterstützte die Kampagne im Kino: es ist ein Gerichtsfilm, in dem zwei Wissenschaftler angeklagt werden, die bei einer Auslandsreise aus humanistischen Motiven ihre Ergebnisse im Bereich der Schmerzlinderung mit ausländischen Forschern geteilt haben. Der Regisseur von SUD ČESTI war Abram Room (der selbst jüdischer Herkunft war). Es sollte sein kommerziell und politisch erfolgreichster Film werden: dritter Platz in den sowjetischen „Kino-Charts“ des Jahres, 15 Millionen Zuschauer, durchweg positive Kritiken in der Presse, Stalinpreis.
Ab den 1950er Jahren häufen sich in Rooms Schaffen die Theateradaptionen (nach Gorki, Tschechow sowie einigen unbekannteren Autoren). Sein letzter Film war dann auch die Gorki-Adaption PREŽDEVREMENNYJ ČELOVEK („Ein Mann vor seiner Zeit“). Room starb 1976 in Moskau.
Hier, in der Dritten Kleinbürgerstraße, befindet sich Ljudas und Koljas Wohnung
Zurück zum eigentlichen Film… Wie ich bereits oben erwähnt präsentiert sich TRET‘JA MEŠČANSKAJA zwischendurch auch als waschechte kleine Moskauer Stadtsinfonie und zeigt zahlreiche Sehenswürdigkeiten, bekannte Plätze und auch weniger bekannte Orte. Da ist natürlich zunächst die titelgebende, ganz reale Dritte Kleinbürger-Straße (die „dritte“ ist nicht die Hausnummer, sondern die Zählung der „Kleinbürger-Straße“), die sich im zentralen Verwaltungsbezirk der Stadt befindet. Die „meščany“, die „Kleinbürger“, sind nicht im heutigen, eher negativ konnotierten Sinne zu verstehen, sondern waren im komplizierten Rangordnungssystem des Russischen Reiches der niedrigste soziale Stand der städtischen Bevölkerung: alle Stadtbewohner, die keine Adelige, Kaufmänner, eingetragene Handwerker, Geistliche, Armeeangehörige, Staatsbeamte oder zeitweilig in der Stadt (z. B. als Bedienstete) residierende Bauern waren – in der Regel also städtische Unterschichten, ungelernte Arbeiter, Boten, Angestellte, auch freischaffende Künstler etc. Der Revolution zum Trotz sind Kolja und Ljuda auch im ursprünglichen Sinne „meščany“, denn mit ihrer Einzimmerwohnung und trotzdem Kolja Ingenieur ist, gehören sie ganz offensichtlich nicht zu den Leuten, die es in den 1920er Jahren wirklich bequem hatten. Wann „meščany“ im Russischen die heute bekannte negative Konnotation erhielt, weiß ich nicht (ich vermute, ohne Sicherheit: in der Stalin-Ära), jedenfalls wurde die Straße aber erst 1962 umbenannt in Ulica Ščepkina, also Schtschepkin-Straße (nach einem berühmten Theaterschauspieler des 19. Jahrhunderts).
Theater-Platz bzw. zeitgenössisch Sverdlov-Platz
gesehen aus der luftigen Höhe eines Baugerüsts bzw. in Splitscreens

Ein weiterer zentraler Ort in TRET‘JA MEŠČANSKAJA ist der Theater-Platz bzw. zwischen 1919 und 1991 Swerdlow-Platz mit dem Bolschoi-Theater. An dessen Restauration wirkt Nikolaj mit und deshalb sehen wir den Theater-Platz nicht nur aus der „schnöden“ Perspektive der Fußgänger. Vielmehr können wir das rege Treiben besagter Fußgänger aus der Sicht eines Bauarbeiters in schwindelerregender Höhe beobachten – mit Kolja und anderen Bauleuten, die furchtlos über die Baugerüste laufen und völlig entspannt ihr Mittagessen in wohl über zwei Dutzend Metern Höhe einnehmen. Man kann so genau hinschauen wie man will: ganz offensichtlich ist das alles echt und keine Rückprojektion, was die Bilder noch packender macht. Die Macher waren von ihren Bildern so begeistert, dass es zwischendurch, scheinbar völlig unmotiviert, sogar kleine, spielerische Splitscreen-Sequenzen zu sehen gibt.

An weiteren Sehenswürdigkeiten gibt es noch die 1931 zerstörte (und in den 1990er Jahren dann wiederaufgebaute) Christ-Erlöser-Kathedrale zu sehen, und zwar zunächst nicht „in Echt“, sondern in Spiegelung auf dem Wasser der Moswka. Gegen Ende kann man auch einen Blick auf den Jaroslawler Bahnhof werfen, wo Ljuda in den Zug einsteigt. Der Jaroslawler Bahnhof ist der Startbahnhof der Transsibirischen Eisenbahn bzw. aller Züge, die von Moskau in Richtung Osten fahren. Ljuda wird also ihr weiteres Glück im Osten suchen. Vielleicht in Sibirien? Trotzdem Sibirien im Westen als Inbegriff der zarischen Verbannung und des sowjetischen Lagersystems gilt, hatte er im Russischen Reich auch die Aufladung eines Ortes der Freiheit. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass das System der Leibeigenschaft dort nicht traditionell verankert war – Bauern waren also dort schon vor der großen Bauernbefreiung 1861 „frei“. Sibirien hatte noch den Vorteil, fern von der Hauptstadt und somit „regierungsfern“ zu sein. Der russische Osten hatte (für freie Menschen) durchaus den mystischen Beigeschmack dessen, was in den USA die „frontier“ war. Wenn Ljuda am Ende des Films also am Jaroslawler Bahnhof in den Zug steigt, eilt sie ihrer persönlichen „frontier“ entgegen.

Die Christ-Erlöser-Kathedrale im Wasser gespiegelt; Moskauer Straßenszenen
Die Stadt wird auch auf dem Fahrrad oder mit dem Flugzeug erkundet
Zu sehen sind da natürlich auch unzählige, mehr oder minder „anonyme“ Orte und Straßenszenen, was sich durch den ganzen Film zieht. Momente, die das Melodrama links liegen lassen, um einfach ein bisschen einen Geschmack von der Lebhaftigkeit Moskaus zu geben. Mit dem Auto, mit der Straßenbahn, mit dem Fahrrad wird durch die Straßen gerast, dass es die hellste Freude ist. Selbstverständlich ist das nicht genug und deshalb sehen wir zwischendurch Moskau auch aus gleich noch aus einem Flugzeug heraus: Vladimir lädt am Anfang von Nikolajs Abwesenheit Ljuda nämlich dazu ein, mit ihm eine Flugtour in einem „Agit-Flugzeug“ zu machen, was der gelangweilten Hausfrau, die einen großen Teil ihrer Tage in einer Einzimmerwohnung verbringt, tatsächlich eine wahnsinnige Freude macht.
Die Begeisterung für die Lebhaftigkeit der Stadt Moskau: wie ist sie zu bewerten? Ist hier doch gewissermaßen ein Engagement für eine spezifisch urbane, sowjetisch-revolutionäre Moderne zu sehen? Die Szenen erinnern ein bisschen an Dziga Vertovs ČELOVEK S KINOAPPARATOM, der wiederum auch nicht nur „rein“ sowjetisch ist, sondern auch im Kontext des europäischen Avantgardefilms seinen Platz hat (man denke an Walter Ruttmanns BERLIN – DIE SINFONIE DER GROßSTADT). Also eine Begeisterung für bewegte Stadt im Kontext einer euro-amerikanischen Moderne der Zwischenkriegszeit? Am Ende von TRET‘JA MEŠČANSKAJA sieht das noch mal ein bisschen anders aus. Ljuda fährt am Schluss mit dem Zug weg und das Verlassen der Stadt Moskau ist genau so hoffnungsvoll wie die Ankunft Vladimirs am Beginn. Ein Blick auf eine Eisenbahnbrücke und eine leere Landschaft – das ist am Ende des Films das große Hoffnungssymbol.
(Mit einer anderen Musikbegleitung würde das Ende vielleicht pessimistischer aussehen. Auf meiner DVD interpretiert der Pianist das meiner Meinung nach zurecht mit einer hoffnungsvollen Musik, die Aufbruchsstimmung und Triumph vermittelt.)

Das sowjetische Moskau in den 1920er Jahren... TRET‘JA MEŠČANSKAJA wirkt in vielerlei Hinsicht „unsowjetisch“, bleibt aber dennoch natürlich in vielerlei Hinsicht ganz in seiner Zeit verwurzelt. Die Sowjetunion der 1920er Jahre ist zunächst Nachkriegsland. Der Erste Weltkrieg, vor allem aber der Russische bzw. Russländische Bürgerkrieg (je nach Zählung 1914/15/16/17/ bis 1920/21/22) hinterließ eine ganze Generation von Veteranen. Von schwer traumatisierten Kriegsrückkehrern. Aber auch von Männerbünden und Männerfreundschaften. In TRET‘JA MEŠČANSKAJA sind das dann auch Vladimir und Nikolaj, die sich etwas nostalgisch an ihre Zeit in der Roten Armee erinnern. Beide haben offenbar in Semën Budënnyjs (Budjonny) Reiterarmee gedient: eine Kavallerie, die im kollektiven Gedächtnis besonders legendär war (heute wissen wir, dass einige, teils desertierte Einheiten, um 1920 an Judenpogromen während des Polnisch-Sowjetischen Kriegs teilnahmen). Ein Portrait Budënnyjs, erkennbar an seinem besonders markanten Schnurrbart, hängt in der Wohnung Nikolajs. Auf das Portrait weist Kolja auch gesondert hin, als er Vladimir seiner Frau vorstellt und als Kriegskameraden ausweist.
Budjonny- und Stalinportraits;
mehrsprachiger Abreisskalender;
Ljudas persönliche Ecke, u. a. mit Titelblatt der Filmzeitschrift Ekran (die später den Film auch verriss)
Auch ein Portrait Stalins ist in der Wohnung zu sehen. Ob das Portrait fixer Bestandteil des Abreisskalenders ist oder separat an der Wand darunter hängt, ist schwer zu sagen. 1927, das Entstehungsjahr des Films, markiert den frühen Beginn des Stalinkults, der allerdings erst in den 1930er Jahren überdimensionierte Ausmaße gewinnen sollte. Insofern ist es relativ bemerkenswert, dass schon so früh in einer Privatwohnung ein Stalinportrait so prominent zu sehen ist. Kolja und Ljuda – frühe Stalinisten? Wie Kolja und Vladimir waren allerdings auch Stalin und Budënnyj enge Bürgerkriegskameraden. Der Kavallerist gehörte zum engsten Kreis des Diktators und überlebte auch sämtliche Terrorkampagnen. Für Bürgerkriegsveteranen gehörte 1927 vielleicht noch eher Stalin zu Budënnyj (als umgekehrt).
Kolja ist übrigens auch Parteimitglied. Das erfahren wir, als ihn ein Arbeitskollege zu Feierabendstunde fragt, ob er denn nicht zur Parteiversammlung käme. Nein, mit ihm geht‘s ab nach Hause, antwortet Kolja lachend. Auch das sowjetischer Alltag: Parteimitglieder, die nicht zu den Versammlungen gehen, sondern lieber ihren Feierabend genießen… Das würde sich auch in der Stalin-Ära nicht wirklich ändern: in Quellen aus den 1930er Jahren ist immer wieder von der Passivität des Mitgliederbestands die Rede.
Über dem Stalin-Portrait (oder auf dem Portrait) hängt ein Abreisskalender. In einer Nahaufnahme auf die Kalenderblätter erkannt man, dass es sich um einen dreisprachigen Kalender auf Russisch, Ukrainisch und Weißrussisch handelt. Die sogenannte korenizacija (mehr dazu gibt es in einem meiner früheren Artikel zu lesen), die Politik der Integration nichtrussischer Sowjetbürger durch muttersprachlichen Unterricht und Muttersprachenförderung, ist noch in Kraft.


Am „sowjetischsten“ ist der Film natürlich darin, wie er Abtreibung thematisiert: nämlich im Grunde überhaupt nicht. Dass die schwangere Ljuda in eine Abtreibungsklinik geht, ist in TRET‘JA MEŠČANSKAJA eine absolute Selbstverständlichkeit, denn die Sowjetunion war der erste Staat der Welt, der Abtreibung bedingungslos legalisierte. Die Russische Revolution fegte 1917/18 die alten Gesetze aus dem Zarenreich hinweg – darunter auch Gesetze, die Abtreibung verboten. Ein Paradox also: in einer der ersten „modernen“ Diktaturen der Welt wurde Frauen ein Recht gewährt, das sie heute noch in manch demokratischen Staaten nicht oder nur extrem beschränkt haben. Damit meine ich nicht weit entfernte südamerikanische Staaten (nun ja, die natürlich auch), sondern gerade auch Deutschland, wo man als Arzt immer noch vor Gericht gezerrt werden kann, wenn man über Schwangerschaftsabbrüche medizinisch informiert (im amtsbürokratischen Sprachgebrauch: „Werbung macht“). Über die Änderung Paragraf 219a StGB wird gerade diskutiert… Schwangerschaftsabbrüche waren in der Sowjetunion der 1920er Jahre jedenfalls Alltag und zunächst tatsächlich nicht gesetzlich reguliert. Ab Mitte der 1920er Jahre wurden Gesetze erlassen, die Abtreibungen etwas genauer erfassten – da ging es aber wohl tatsächlich um das Ausformulieren von medizinischen Standards. Die verhältnismäßig fortschrittliche Sexual-, Familien-, Ehe- und Geschlechterpolitik der Sowjetunion fiel in den 1930er Jahren dem Stalinismus zum Opfer. So wurde Abtreibung Mitte der 1930er Jahre verboten, und erst zwei Jahre nach Stalins Tod wieder legalisiert. Was wir in TRET‘JA MEŠČANSKAJA sehen, wäre also knapp 10 Jahre später in dieser Art nicht mehr auf einer sowjetischen Leinwand zu sehen gewesen.

Wie bereits angedeutet: TRET‘JA MEŠČANSKAJA war in der Sowjetunion kein Erfolg. Er wurde von Filmemacherkollegen gelobt, doch die Filmkritiken waren vernichtend (darunter auch in Ėkran, der Filmzeitschrift, die Ljuda im Film offenbar gerne liest). Man warf ihm vor, „psychopathologisch“, eine „westeuropäische Romanze“, eine „Entschuldigung für Ehebruch“ zu sein. In ländlichen Gegenden waren die Reaktionen wohl noch auf eine andere Weise negativ, weil der Film scheinbar Vorurteile über die Dekadenz von Städtebewohnern bestätigte. Bald wurde TRET‘JA MEŠČANSKAJA unter dem alternativen Titel LJUBOV’ VTROËM („Liebe zu dritt“) neu in die Kinos gebracht (auch das wahrscheinlich mit wenig Erfolg, zumal der Titel viel weniger unverfänglich war als der ursprüngliche).
Die IMDb listet eine reguläre Kinoauswertung in Deutschland 1927, doch in Westeuropa wurde der Film kaum gezeigt. In Großbritannien gab es keine reguläre Kinoauswertung, aber der Film wurde bei einer Vorführung der London Film Society am 8. April 1929 (in einer gekürzten Fassung) gezeigt. Bei der Veranstaltung waren mindestens zwei Redakteure der Zeitschrift Close Up dabei, die den Film in der Mai-Ausgabe dann auch besprachen. „A. W.“ war von „Bed and Sofa“ begeistert, lobte das Engagement des Films für die Unabhängigkeit von Frauen, bezeichnete ihn als „great human document“ und machte sich über Co-Zuschauer lustig, die den Film als „schmutzig“ und „ekelhaft“ bezeichneten. „H. C.“ verurteilte nicht nur die Entscheidung der Film Society, den Film zu kürzen, sondern kritisierte auch „Bed and Sofa“ an sich als manipulativ und betrügerisch (darin, wie er die Entscheidung der Protagonistin gegen die Abtreibung zeigt). Zwei gänzlich konträre Meinungen zu dem Film in knapp vier Seiten.
Die Chefredaktion von Close Up drehte mit BORDERLINE um die Zeit selbst einen Film, in dem es um eine schwierige Dreier- bzw. sogar Viererbeziehung geht (und den Manfred hier in diesem Blog schon besprochen hat). Auch in BORDERLINE reist am Ende eine Frau weg und hinterlässt zwei ratlose Männer. Über irgendeine direkte Beeinflussung durch TRET‘JA MEŠČANSKAJA kann man wohl nur wild spekulieren. Aber es ist zumindest nicht unwahrscheinlich, dass die Hauptbeteiligten von BORDERLINE den sowjetischen Film zumindest gesehen hatten.
Ljuda lässt Moskau und ihr altes Leben hinter sich

Wer diesen Artikel eben zu kurz fand und gerne noch viel, viel mehr zu dem Film lesen möchte, der sei auf Bed and Sofa: The Film Companion von Julian Graffy (Professor für Russische Sprache und Literatur) verwiesen. Das Buch ist zu erschwinglichen Preisen verfügbar. Ich selbst bin noch nicht dazu gekommen, es zu bestellen und zu lesen.

TRET‘JA MEŠČANSKAJA ist in Deutschland 2017 in der Doppel-DVD-Edition Der neue Mensch: Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland erschienen, als „Bett und Sofa“. Einige andere Titel dieser feinen Edition, nämlich Kurzfilme des Animationsfilm-Pionier Nikolaj Chodataev, habe ich hier bereits besprochen. Auch wenn die Originalzwischentitel nicht mehr erhalten sind, so ist die Bildqualität sehr gut bis hervorragend für einen Film dieses Alters. Da wurde offensichtlich sehr gute Restaurationsarbeit geleistet. Für die Ohren gibt es allerdings auch etwas schönes: der von mir sehr geschätzte Stummfilmpianist Richard Siedhoff hat einen eigenen Score für diesen Film komponiert und eingespielt. Sein tolles Verständnis von Filmatmosphären, sein intuitives Gefühl für Melodien, zugleich seine große Demut gegenüber dem Film als Kunstwerk und entsprechend seine Bemühung, die Musik ganz in den Dienst des Films zu stellen, kommen hier wunderbar zur Geltung. Etwas schade ist, dass der Ton teilweise etwas merkwürdig in meinen Lautsprechern gerauscht bzw. gescheppert hat – da war die Abmischung wohl nicht ganz ideal?
Jedenfalls ist die Doppel-DVD-Edition Der neue Mensch: Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland ein absoluter Pflichtkauf für Cinephile, die sich für frühen sowjetischen Film begeistern. Ich bin mit dieser Edition übrigens immer noch nicht „fertig“. Auf der gleichen Scheibe befindet sich ein weiterer Film, den ich gerne hier bald besprechen möchte, nämlich OBLOMOK IMPERII, in dem ein Mann, der die Russische Revolution „verschlafen“ hat, in der sowjetischen Hauptstadt anno 1929 seine „verschollene“ Ehefrau sucht. Die wird übrigens nicht von einer Unbekannten gespielt...