LA PASSION DE JEANNE D'ARC (dt. DIE PASSION DER JEANNE D'ARC, DIE PASSION DER JUNGFRAU VON ORLEANS)
Frankreich 1928
Regie: Carl Theoder Dreyer
Darsteller: Maria Falconetti (Jeanne d'Arc), Eugène Silvain (Pierre Cauchon), Maurice Schutz (Nicolas Loyseleur), Gilbert Dalleu (Jean Lemaître), André Berley (Jean d'Estivet), Louis Ravet (Jean Beaupère), Antonin Artaud (Jean Massieu), Paul Delauzac (Martin Ladvenu)
Das Leben der Jeanne d'Arc gehört wohl zu den am häufigsten verfilmten historischen Begebenheiten. Bekannte und weniger bekannte Regisseure und Darstellerinnen versuchten sich daran - hier nur eine Auswahl: Georges Méliès mit Jeanne d'Alcy (1899), Cecil B. DeMille mit Geraldine Farrar (1917), Victor Fleming mit Ingrid Bergman (1948), Roberto Rossellini ebenfalls mit Ingrid Bergman (1954), Jean Delannoy mit Michèle Morgan (1954), Otto Preminger mit Jean Seberg (1957), Robert Bresson mit Florence Carrez (1962), Jacques Rivette mit Sandrine Bonnaire (1994), zuletzt Luc Besson mit Milla Jovovich (1999). Aber Carl Theodor Dreyers LA PASSION DE JEANNE D'ARC nimmt in der Filmgeschichte einen besonderen Rang ein.
In den Jahrhunderten nach ihrer Hinrichtung wurde Jeanne d'Arc zur inoffiziellen Nationalheiligen Frankreichs. Im 20. Jahrhundert kam neue Bewegung in die Angelegenheit. Jeanne wurde 1909 selig- und 1920 heiliggesprochen. Im selben Jahr wurde sie vom französischen Parlament zur Schutzpatronin Frankreichs erklärt, und ein jährlicher nationaler Feiertag ihr zu Ehren wurde eingeführt. Da sich obendrein der 500. Jahrestag ihres Todes näherte, besaß das Thema Jeanne d'Arc damals also eine besondere Aktualität in Frankreich. Journalisten, Schriftsteller und Historiker verfassten Bühnenstücke, Romane und Biographien über Jeanne.
In dieser Situation erhielt Carl Theodor Dreyer 1927 von der Produktionsgesellschaft Société Générale de Films (SGF) das Angebot, einen biographischen Spielfilm zu drehen. Er konnte als Thema zwischen Katharina von Medici, Marie Antoinette und Jeanne d'Arc wählen und entschied sich für letzteres (nach einigen Quellen wurde diese Frage durch das Ziehen von Losen entschieden).
Pierre Cauchon (l.o.), Nicolas Loyseleur (r.o.), Jean Lemaître (l.u.), Jean Beaupère |
Zunächst war geplant, ein Drehbuch von Joseph Delteil zu verwenden. Dieser hatte 1925 einen Roman mit dem Titel "Vie de Jeanne d'Arc" veröffentlicht, dessen Erfolg ihm den Auftrag von SGF eintrug. Kurzzeitig arbeitete Dreyer gemeinsam mit Delteil, doch dann traf er eine radikale Entscheidung. Er verwarf das Drehbuch von Delteil und beschloss, ein neues zu schreiben, das sich sehr eng an die Prozessakten von 1431 halten sollte. Wie schon zuvor Delteil, beschränkte sich Dreyer auf den Prozess und die Hinrichtung und ließ all die Schlachten und malerischen Episoden beiseite. Delteil hatte im Vorwort seines Jeanne-Romans die Parole "Nieder mit dem Dokument!" ausgegeben. Dreyers Hinwendung zum historischen Dokument stellte demgegenüber eine Kehrtwendung dar. Als wissenschaftlicher Berater wurde der Historiker Pierre Champion engagiert, einer der führenden Jeanne-Experten Frankreichs. Von Delteils ursprünglichem Drehbuch blieben nur wenige Elemente in Dreyers endgültiger Fassung erhalten. Die Dialoge zwischen Jeanne und den Richtern, die in den Zwischentiteln zu lesen sind, entstammen tatsächlich zum größten Teil wörtlich den Prozessakten. Für die Dialoge der anderen Protagonisten untereinander gilt das nur in eingeschränktem Maß, aber diese stellen sowieso nur einen kleinen Teil der Zwischentitel dar. Das alles bedeutet aber nicht, dass sich Dreyer keine Freiheiten herausnahm - er tat es sehr wohl. Die bedeutendste bestand darin, dass er das Geschehen, das sich in der Realität über viele Wochen hinzog, auf einen einzigen Tag komprimierte.
Der Earl of Warwick |
In der ursprünglichen, von Dreyer intendierten Form hatte der Film keine Anfangs- und Endcredits. Nichts sollte die Illusion schmälern, wie durch ein Schlüsselloch die Realität zu beobachten, so sagte Dreyer. Und tatsächlich schrieben einige Kritiker seinerzeit, man habe das Gefühl, wie in einer Wochenschau realen Ereignissen beizuwohnen. Von späteren Restauratoren des Films wurden allerdings Anfangscredits hinzugefügt. Leider wurde dabei nicht besonders sorgfältig vorgegangen. Nicht nur wurden Namen falsch geschrieben, es wurde auch bei der Zuordnung von Darstellern und ihren Rollen gepatzt.
Der eigentliche Film beginnt dann mit einem Blick auf ein aufgeschlagenes Buch, das einen Ausschnitt der Akten von 1431 enthält. Auch dieser Kniff dient dazu, beim Publikum das Gefühl der Authentizität zu erhöhen. Als drittes Stilmittel, das diesem Zweck dient, wird über den ganzen Film hinweg immer wieder einer der Schreiber ins Bild gebracht, die das Geschehen für die Nachwelt festhalten.
Der erste Abschnitt des Prozesses findet vor großer Besetzung in einer Kapelle im Kastell von Rouen statt. Im Hintergrund sind englische Soldaten als Wachen postiert. Die Engländer sind leicht zu erkennen an ihren Waffen und an den schüsselförmigen Helmen, die an diejenigen der englischen Truppen im ersten Weltkrieg erinnern. Etwas abgesetzt von den Beisitzern sind die Hauptankläger und -richter postiert. Da ist zunächst Bischof Pierre Cauchon, der Chef des Verfahrens. Er wird dargestellt von Eugène Silvain, dem Doyen der Comédie-Française. Silvain war einst einer von Maria Falconettis Lehrern am Pariser Konservatorium. Ihm zur Seite steht Jean Lemaître, gespielt von Gilbert Dalleu. Er hat seinen spärlichen Haarkranz über den Ohren hochgezwirbelt, so dass er von vorne aussieht, als hätte er zwei Hörner. Nicolas Loyseleur, gespielt von Maurice Schutz, ist der gerissenste der Richter. Wo der machtbewusste und polternde Cauchon die direkte Konfrontation sucht, greift Loyseleur lieber auf eine Hinterlist zurück. Die beiden letzten der wichtigeren Richter sind Jean d'Estivet und Jean Beaupère, gespielt von André Berley und Louis Ravet. Alle genannten Darsteller waren angesehene Theater- und Filmschauspieler. Maurice Schutz taucht auch in Dreyers nächstem Film VAMPYR wieder auf.
Nicht nur Jeanne, sondern auch die Richter werden argwöhnisch beäugt vom feisten Earl of Warwick, dem Kommandanten der Engländer in Rouen. Sein Darsteller war ein Exilrusse, der einst in St. Petersburg ein Restaurant besaß, in dessen Hinterzimmern Rasputin seine Orgien abzuhalten pflegte. Nach dem Schwenk über die Richter wird Jeanne in den Saal geführt; die Männerkleidung und ihr kurzer Haarschnitt verleihen ihr ein burschikoses Aussehen, aber ihr Blick ist skeptisch und ängstlich. Nach Jeannes Vereidigung beginnt die Befragung. Die Richter versuchen, sie mit ihren Fragen in die Falle zu locken, aber Jeanne verteidigt sich geschickt. Die Engländer sind über ihre Antworten aufgebracht, aber die Richter sind eher ratlos, weil Jeanne den theologischen Fallstricken der Fragen geschickt entronnen ist. Maria Falconettis Darstellung macht jedoch unmißverständlich klar, dass Jeannes Antworten nie spitzfindig sind, sondern ihrem schlichten, um nicht zu sagen naiven Glauben entspringen.
Da der bisherige Prozess wenig erbracht hat, erschleicht sich der schlaue Loyseleur mit Hilfe eines gefälschten Briefs von König Karl VII. Jeannes Vertrauen, um sie zu manipulieren. Danach beginnt die zweite Befragungsrunde. Ein junger Mönch namens Jean Massieu warnt Jeanne besorgt vor Loyseleurs Fangfragen. Er und ein weiterer Mönch, Martin Ladvenu, sind Jeannes einzige verbliebene Unterstützer unter den Richtern und Beisitzern. Massieus Darsteller Antonin Artaud gehört zu den interessantesten Namen auf der Besetzungsliste. Der Schriftsteller, Bühnenschauspieler und Theatertheoretiker entwarf in den 20er und 30er Jahren sein Konzept des "Theaters der Grausamkeit". Durch Aufhebung der Distanz zwischen Schauspielern und Publikum, durch grelle Bühneneffekte, die alle Sinne ansprachen, und durch Rückbesinnung auf kultische, rituelle Wurzeln des Theaters wie in der griechischen Tragödie, wollte er eine Überwindung des gepflegt-bürgerlichen Literaturtheaters herbeiführen und bei den Zuschauern einen quasireligiösen Reinigungs- und Läuterungsprozess bewirken. Artauds Versuche, sein Konzept als Autor, Regisseur und Theaterleiter umzusetzen, waren beim zeitgenössischen Publikum von wenig Erfolg gekrönt, aber durch seine Schriften beeinflusste er viele nach ihm kommende Autoren und Regisseure, so dass er auf lange Sicht zu einem der einflussreichsten Theatermacher des 20. Jahrhunderts wurde. Seine gelegentlichen Ausflüge zum Film waren demgegenüber von untergeordneter Bedeutung.
Massieus Einmischung lässt Cauchon außer sich geraten. Wütend brüllt er Massieu an, wobei ihm im wahrsten Sinn des Wortes der Geifer aus dem Mund rinnt, und Massieu weicht erschrocken zurück. Es folgen weitere verfängliche Fragen an Jeanne, doch ihre geschickten Antworten hinterlassen die Richter verblüfft und konsterniert. Diese Runde ging an Jeanne. Loyseleur - ausgerechnet Jeannes vorgeblicher Freund - gibt nun die Anweisung, die Folterkammer vorzubereiten. Unterdessen ist Jeanne in der Zelle allein mit den Wachen. Diese treiben ihren Schabernack mit ihr, indem sie ihr eine Krone aus Stroh, die sie geflochten hat, auf den Kopf setzen, und ihr einen Pfeil wie ein Zepter in die Hand drücken. "Sie sieht wirklich wie eine Tochter Gottes aus, ha?", scherzen sie. Die Parallelen zur Verspottung Christi durch die römischen Soldaten sind unverkennbar. Der herbeigekommene Massieu beendet schließlich das unwürdige Schauspiel und tröstet Jeanne.
Dritter Akt: In der Folterkammer. Jeanne wird hereingeführt, "um ihr die Instrumente zu zeigen", wie es so schön heißt. Und die Instrumente sind eindrucksvoll - vor allem eine Trommel mit über zwei Metern Durchmesser, die wie ein überdimensionales Laufrad eines Hamsters aussieht, nur dass aus der Außenseite der "Lauffläche" Dutzende von haifischflossenförmigen Messern hervorragen. Jeanne wird jetzt aufgefordert einzugestehen, dass ihre Visionen nicht von Gott kamen, sondern ihr vom Teufel eingeflüstert wurden. Eine vorbereitete Erklärung wird ihr vorgelegt, die sie nur unterschreiben muss, doch sie lehnt natürlich ab. Die Instrumente werden von den Folterknechten jetzt in Bewegung gesetzt. Insbesondere wird das große Rad mit den Messern durch eine Kurbel in Drehung versetzt, zuerst nur langsam, doch dann immer schneller, bis das Auge der rasenden Bewegung der Messer nicht mehr zu folgen vermag. Die Vorstellung verfehlt ihre Wirkung auf Jeanne nicht - sie ist sichtlich schockiert. Aufgewühlt gibt sie eine Erklärung ab: "Auch wenn ihr meine Seele vom Körper trennt, werde ich nichts gestehen. Und wenn ich doch etwas gestehe, werde ich später aussagen, dass es mir abgezwungen wurde!" Dann sind die psychischen Strapazen zuviel für sie, und sie bricht ohnmächtig zusammen. Doch ihre Ankündigung führt dazu, dass die Richter (wie auch im echten Prozess) eine Folterung für sinnlos erachten und davon absehen. Die ohnmächtige Jeanne wird wieder in ihre Zelle gebracht. Die Ärzte beschließen, Jeanne zur Ader zu lassen. Mit einem Tuch wird ihr Oberarm abgebunden, dann wird mit einem spitzen Stilett eine Ader in der Armbeuge angestochen, so das das Blut in einem kräftigen Bogen herausschießt. Es ist echtes menschliches Blut, das da aus einem echten Arm hervorschießt (allerdings gehörte der Arm nicht Falconetti, sondern einem Double).
Nachdem Jeanne bei einer weiteren Befragung nicht nur nicht gesteht, sondern sagar die Richter beschuldigt, vom Teufel gesandt zu sein, beschließt Cauchon, sie dem Henker zu übergeben. Der nächste Akt spielt auf dem Friedhof - zum erstenmal gibt es Außenaufnahmen zu sehen. Die immer noch geschwächte Jeanne wird auf einer Trage hinausgetragen. Auf dem symbolträchtigen Ort wird Jeanne von einem Priester eine Strafpredigt gehalten, die als letzte Chance zur Umkehr gedacht ist, aber die jetzt apathisch wirkende Jeanne nimmt seine Worte kaum noch wahr. Jeannes Gesichtsausdruck macht klar, dass sie mit sich kämpft: Sie hängt am Leben, sie will noch nicht sterben. Die Stimme des Predigers dringt wieder zu ihr durch: "Wenn Du nicht unterschreibst, wirst Du lebendig verbrannt werden ... der Scheiterhaufen wartet auf dich!" Jeannes Augen weiten sich vor Schreck. Loyseleur greift auch wieder ein und beschwatzt sie, und auch Massieu und Ladvenu reden auf sie ein. Da hält sie dem psychischen Druck nicht mehr stand - sie unterschreibt die Erklärung, dass sie nicht im göttlichen Auftrag unterwegs war, sondern Einflüsterungen des Teufels erlegen war. Damit ist das Todesurteil aufgehoben, aber wegen ihrer "großen Sünden" wird sie zu lebenslänglicher Haft verurteilt, wo sie "das Brot des Leidens essen und das Wasser der Qualen trinken" soll, wie sich Cauchon ausdrückt. Jeanne nimmt es resigniert, aber gefasst zur Kenntnis. Als ihr Loyseleur gratuliert, quittiert sie es mit einem gequälten, bitteren Lächeln. Für die Richter ist Jeannes Erklärung und die damit verbundene Unterwerfung unter die Autorität der Kirche ein größerer Triumph, als es ihre Hinrichtung gewesen wäre. Der Earl of Warwick sieht das jedoch anders. "Sie hat nur Narren aus euch gemacht", herrscht er Loyseleur an. Unter dem anwesenden Volk gibt es inzwischen erste Sympathiebekundungen für Jeanne. "Lang lebe Jeanne!" ruft einer. Es bekommt ihm schlecht - englische Soldaten ergreifen ihn und werfen ihn gefesselt in einen Teich.
Als Zeichen ihres Status als Büßerin werden der weinenden Jeanne die ohnehin schon kurzen Haare geschoren, so dass kaum mehr als Stoppeln übrig bleiben. Gleichzeitig findet auf dem Platz der abgesagten Hinrichtung ein Volksfest statt, auf dem Gaukler und Artisten ihre Kunststücke zum besten geben. Während Jeanne sieht, wie ihre Haare auf dem Boden zusammengekehrt werden, scheint sie über etwas nachzudenken, und als auch ihre Strohkrone vom Besen auf die Schaufel befördert wird, fasst sie einen plötzlichen Entschluss: Sie verlangt, die Richter herbeizurufen, weil sie ihren Widerruf zurücknehmen will. "Ich habe eine große Sünde begangen", erklärt sie Cauchon und den anderen Richtern, "ich habe Gott verleugnet, um mein Leben zu retten." Das aber ist ihr unverrückbares Todesurteil. Selbst die meisten Richter scheinen jetzt bedrückt oder gar bestürzt zu sein, nicht einmal Cauchon freut sich. "Hast Du uns nichts mehr zu sagen?" fragt er, und er blickt nachdenklich, als Jeanne den Kopf schüttelt. Jeanne dagegen scheint erleichtert zu sein, dass sie sich zu diesem Schritt durchgerungen hat - obwohl sie weiß, dass sie der Tod erwartet.
Damit beginnt der letzte Abschnitt des Films. Massieu und Ladvenu bereiten Jeanne auf ihre letzte Stunde vor. Der Respekt vor Jeannes Entscheidung hat einen ungewöhnlichen Vorgang zur Folge (der sein Gegenstück im echten Prozess hatte): Obwohl sie als "rückfällige Ketzerin" eigentlich exkommuniziert ist, erhält sie die Erlaubnis, die Beichte abzulegen und die Kommunion zu empfangen, und Jeanne ist überglücklich darüber. Während auf dem Pfahl am Scheiterhaufen eine Tafel mit dem Schuldspruch angebracht wird: Heretique Relapse - Apostate - Idolatre (rückfällige Ketzerin - Abtrünnige - Götzendienerin) - währenddessen findet in der Zelle ein kleiner Gottesdienst mit Jeanne statt. Einer der dabei Anwesenden trägt eine Brille, die man auch heute tragen könnte, ohne aufzufallen. Über diesen vermeintlichen Anachronismus gab es manche Spekulation. Allerdings gab es Brillen in Europa schon seit dem 13. Jahrhundert, wenn sie auch anders aussahen als heute. Es handelt sich bei dieser modern anmutenden Brille eher um eine ähnlich starke Stilisierung wie bei den Kulissen (auf die ich noch zu sprechen komme), als um einen echten Anachronismus.
Nach der Messe ist es soweit. Während die Bevölkerung von Rouen zur Hinrichtungsstätte im Kastell strömt, wird Jeanne barfuß und im Büßergewand zum Scheiterhaufen geführt. Als der Scheiterhaufen entzündet wird, erhebt sich von der Kuppel der nahegelegenen Kirche ein Schwarm Tauben in den Himmel. Während die Flammen langsam höher schlagen, hält ihr Massieu das an einer Stange befestigte Kruzifix vor das Gesicht. Unterdessen braut sich in der Bevölkerung etwas zusammen. Viele weinen, und als Jeanne das Bewusstsein verliert, ruft einer "Ihr habt eine Heilige verbrannt!". Das ist das Fanal zu einem Aufruhr. (Hier hat sich Dreyer eine künstlerische Freiheit herausgenommen - in Wirklichkeit fand dieser Aufruhr nicht statt.) Der Earl of Warwick hatte derartiges schon kommen sehen und Morgensterne an die Soldaten ausgeben lassen. Die revoltierende Bevölkerung wird jetzt mit brutaler Gewalt aus dem Kastell geknüppelt. Diese Sequenz ist ungeheuer dynamisch und turbulent im Stil eines der russischen Revolutionsfilme der 20er Jahre inszeniert und geschnitten. Von den Mauern des Kastells werden Speere auf die Bevölkerung geschleudert, und sogar ein Zwillingsgeschütz wird in Stellung gebracht und abgefeuert. Mit diesem Geschütz verhält es sich ähnlich wie mit der Brille: In der Phase des Hundertjährigen Krieges, die den Ereignissen im Film vorausging, wurden durchaus Kanonen eingesetzt. Diese dürften aber kaum Zwillingsgeschütze gewesen sein, und vermutlich ließen sie sich auch nicht so schnell und elegant auf ein Ziel ausrichten wie bei Dreyer. Also auch hier eine starke Stilisierung, aber kein wirklicher Anachronismus. Casper Tybjerg (ein Dreyer-Experte von der Universität Kopenhagen) deutet in einem Audiokommentar die Kanonen als Dreyers Referenz an Eisensteins PANZERKREUZER POTEMKIN, und da mag er recht haben. Dreyer hatte POTEMKIN 1927 gesehen und sehr bewundert.
Während der Aufruhr tobt, gibt es einige Zwischenschnitte auf Jeannes am Pfahl zusammengesunkenen Körper, der ein Raub der Flammen wird. Sie ist durch das Feuer und den Qualm nur noch schemenhaft zu erkennen, aber gerade das lässt diese Szenen beklemmend echt und geradezu erschütternd wirken. Nachdem die Engländer die Bevölkerung aus dem Kastell getrieben haben und die Zugbrücke hochziehen, ist als letztes Bild des Films das obere Ende des Pfahls und daneben ein auf dem Dach der Kirche befindliches Kreuz zu sehen - nebeneinander sozusagen das Symbol von Jeannes Tod und das Symbol ihres Weiterlebens. Danach wird noch eine Texttafel eingeblendet: "Die Flammen beschützten Jeannes Seele, als sie sich zum Himmel erhob - Jeanne, deren Herz zum Herzen Frankreichs wurde, Jeanne, deren Andenken immer gehütet werden wird vom französischen Volk." Dieser schwülstige Text will irgendwie nicht so recht zu Dreyer passen. Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich von ihm stammt, oder von den Leuten, die die Anfangscredits verbrochen haben.
LA PASSION DE JEANNE D'ARC ist kein Historiendrama, sondern ein menschliches und spirituelles Drama - eine "Hymne auf den Triumph der Seele über das Leben", wie Dreyer das einmal ausgedrückt hat; es ist aber vor allem eine Leidensgeschichte - nicht umsonst steht das Wort "Passion" im Titel. Von der Gestaltung her ist es ein Film der Gesichter, und zwar der Gesichter als Seelenlandschaften. Dreyer hat seine Gedanken darüber einmal folgendermaßen formuliert: "Nichts in der Welt kann mit dem menschlichen Gesicht verglichen werden. Es ist eine Landschaft, die zu erforschen man niemals müde wird. Es gibt keine größere Erfahrung in einem Studio, als Zeuge zu sein beim Ausdruck eines empfindsamen Gesichts unter der geheimnisvollen Kraft der Inspiration. Zu sehen, wie es von innen heraus beseelt wird und sich in Poesie verwandelt." Hierzu werden so ausgiebig Großaufnahmen verwendet wie in kaum irgendeinem anderen Film. Viele zeitgenössische Kritiken erwähnten diesen Punkt, und manche, die dem Film grundsätzlich positiv gegenüberstanden, beschwerten sich über das vermeintliche Übermaß.
Eine weitere Maßnahme, um Dreyers Vorstellungen vom menschlichen Gesicht adäquat umzusetzen, war der vollständige Verzicht auf jegliches Make-up bei den Darstellern. Das war so ungewöhnlich, dass es in den Kritiken seinerzeit vielleicht noch häufiger herausgestellt wurde als die Zahl der Großaufnahmen. Und das Ergebnis war bemerkenswert: Jedes Detail ist in den klaren, kontrastreichen Aufnahmen von Kameramann Rudolph Maté zu erkennen: Die drei dicken Warzen im grobschlächtigen Gesicht von Cauchon, die vielen Falten und Fältchen im Gesicht von Loyseleur, wenn er verschlagen lächelt, die Poren auf Jeannes Haut, die Fliege, die sich einmal auf ihrem Gesicht niederlässt - und immer wieder ihre Tränen. So werden die im doppelten Wortsinn ungeschminkten Gesichter zu Spiegeln der Seele. Der ungarische Filmtheoretiker Béla Balázs hat das einmal so umschrieben: "Die Kamera penetriert jede Schicht der Physiognomie. Zusätzlich zum Gesichtsausdruck, den man trägt, enthüllt die Kamera das wahre Gesicht. Aus so nächster Nähe gesehen, wird das menschliche Gesicht zum Dokument." Dreyer profitierte dabei erheblich von der Entwicklung des panchromatischen Films, der seit etwa 1926 allgemein zugänglich war. Dieser war im ganzen Wellenlängenbereich des sichtbaren Lichts in etwa gleich empfindlich. Dagegen war der zuvor übliche orthochromatische Film im roten Spektralbereich unempfindlich. Diese Eigenschaft erforderte üblicherweise aufwendige Schminkprozeduren, um menschlichen Gesichtern ein natürliches Aussehen zu verleihen. Dreyers Konzept von LA PASSION DE JEANNE D'ARC wäre mit orthochromatischem Film völlig unmöglich gewesen.
Der eindrucksvollste Aspekt an LA PASSION DE JEANNE D'ARC ist zweifellos die Leistung von Maria Falconetti. Ihre Vorstellung wird seit Jahrzehnten zu Recht mit Superlativen belegt. Und in der Tat: Wie sie mit ihrer Mimik die tiefsten Gefühle und gleichzeitig subtile Nuancen ausdrückt, das ist einfach sagenhaft und lässt einem den Mund offen stehen. Natürlich sind es vorwiegend negative Gefühle: Unsicherheit, Angst, Trauer, Schmerz, bis hin zu tiefster Verzweiflung. Aber auch vorübergehend aufkeimende Hoffnung, ein bisschen Freude über kleine Dinge, und die Zuversicht, richtig zu handeln. All das wird so glaubwürdig vermittelt, ohne die geringste Spur von Overacting, dass Dreyer Falconetti in einem kleinen Aufsatz von 1929 zu Recht als die "Reinkarnation der Märtyrerin" bezeichnen konnte.
Falconetti wurde 1892 in einer Kleinstadt an der Seine als Renée Jeanne Falconetti geboren (die lange verbreitete Version, sie sei 1893 auf Korsika geboren, hat sich als falsch erwiesen); Maria Falconetti war ihr Künstlername auf Pariser Bühnen, wo sie vorwiegend in Boulevardstücken spielte. Seinerzeit wurde sie auch oft einfach nur Falconetti oder La Falconetti genannt; in heutigen Quellen findet man sie sowohl unter ihrem richtigen als auch unter ihrem Künstlernamen, oder auch in einer Kombination aus beidem. Schon 1917 spielte sie in zwei unbedeutenden Filmen mit den Titeln LE CLOWN und LA COMTESSE DE SOMERIVE, doch diese sind längst verschollen. So kommt es, dass in vielen Quellen behauptet wird, die Jeanne sei Falconettis einzige Filmrolle überhaupt gewesen - nicht ganz exakt, aber im Kern richtig. Dreyer hatte während der Vorbereitungszeit zum Film von Falconetti gehört und besuchte eine ihrer Vorstellungen. Daraufhin lud er sie zu einem Casting ein, das wie die Dreharbeiten ohne Make-up stattfand, und danach war er überzeugt, dass er die einzig wahre Jeanne vor sich hatte. Falconetti ihrerseits war sofort bereit, die Herausforderung anzunehmen. Aber Film war und blieb für sie etwas Nebensächliches, ihre Welt war das Theater.
Dreyer galt als ein Regisseur, der seinen Darstellern große Strapazen auferlegte, wenn er es für die Gestaltung der Rolle für erforderlich hielt. Gelegentlich hat ihm das sogar den Vorwurf des Sadismus eingetragen (andererseits wird berichtet, dass er abseits der Dreharbeiten ein überaus bescheidener und höflicher Mensch war). Von LA PASSION DE JEANNE D'ARC wird behauptet, dass er Falconetti einmal stundenlang auf dem Boden knien ließ, um sie in die richtige Stimmung für eine Szene zu versetzen. Allerdings scheint viel von diesen Geschichten von der Presse erfunden oder zumindest aufgebauscht worden zu sein. Lisbeth Movin und Birgitte Federspiel, die Hauptdarstellerinnen von VREDENS DAG bzw. ORDET, berichten übereinstimmend, dass sie von Dreyer sehr zuvorkommend und liebenswürdig behandelt wurden, und Hélène Falconetti bestätigt das in Bezug auf ihre Mutter. Trotzdem waren die Dreharbeiten für Falconetti sehr anstrengend. Psychisch besonders belastend für sie war der radikale Haarschnitt. Obwohl sie aus dem Drehbuch wusste, was da auf sie zukommt, hoffte sie die ganze Zeit, Dreyer umstimmen zu können, und als es soweit war, sträubte sie sich heftig. Erst nach langem Zureden von Dreyer willigte sie in die Prozedur ein.
Dreyer wusste sehr subtile Methoden einzusetzen. Er ging schon beim Casting sorgfältig vor und besetzte Schauspieler, die möglichst nicht nur oberflächlich, sondern vom Typ her zur Rolle passten, damit sie sich dann so weit wie möglich mit ihrer Rolle identifizieren konnten. Er ermunterte Falconetti und die anderen Darsteller auch, in ihrer Erinnerung und in ihrem Unterbewussten nach Emotionen zu suchen, die sie beim Spiel auf ihre Rolle projizieren konnten, um so ihre Ausdruckskraft zu steigern. Diese Methode wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts von dem russischen Theaterregisseur und Schauspieltheoretiker Konstantin Stanislawskij entwickelt und an seinem Moskauer Art-Theater praktiziert. Von dort aus erregte die Stanislawskij-Methode in der Theaterwelt weltweite Aufmerksamkeit, wenn auch nicht ungeteilte Zustimmung, und auch der Film wurde darauf aufmerksam. Dreyer kam spätestens 1921 damit in Berührung, als er DIE GEZEICHNETEN drehte. Darin spielen einige russische Exilanten, die zuvor am Art-Theater tätig waren, allen voran Richard Boleslawski. Boleslawski war auch einer derjenigen, die die Methode in den USA heimisch machten. Er war ins Regiefach gewechselt und wirkte in den 20er Jahren am Broadway und in den 30ern in Hollywood. In den USA wurde die Stanislawskij-Methode als method acting bekannt und erfolgreich. Wenn man so will, ist Falconettis Vorstellung also ein frühes und gelungenes Beispiel für method acting.
Dreyer verließ sich jedoch nicht auf Falconettis Intuition, ganz im Gegenteil. Vielmehr führte er lange Gespräche mit ihr, in denen er jedes Detail einer Szene besprach. Nach dem Dreh betrachtete er mit Falconetti die Takes und erläuterte seine Änderungswünsche. So ließ er so gut wie jede Szene immer und immer wieder durchspielen, bis alles wirklich perfekt passte. (Die Unmengen an Outtakes wurden auch nach Ende der Dreharbeiten aufbewahrt, was Dreyer noch zugute kommen sollte.) Bei einigen von Falconettis schwierigsten Szenen mussten alle nicht benötigten Darsteller und Techniker den Drehort verlassen, ganz so, als ob es sich um Nacktaufnahmen handeln würde. Und Falconettis Seelenstriptease hat ja in der Tat etwas Entblößendes an sich. Falconetti besaß die nötige Auffassungsgabe, um Dreyers Vorstellungen perfekt umsetzen zu können. Dreyer hat sich später überschwänglich über die Zusammenarbeit mit ihr geäußert, so wie er überhaupt große Stücke auf seine Schauspieler hielt. Für ihn waren es die Schauspieler, die die eigentliche künstlerische Leistung erbringen, nicht der Regisseur. Er bezeichnete sich einmal als "Hebamme", die nur dafür sorgt, dass die Darsteller die in ihnen verborgenen Fähigkeiten freilegen können.
Jean Massieu |
Doch in Wirklichkeit war Dreyer weit mehr als das. Das zeigt sich beispielsweise beim Einsatz von Kamerapositionen und -bewegungen als filmsprachliche Mittel. Es gibt jede Menge Aufnahmen aus ungewöhnlichen Kamerawinkeln, die jedoch keine selbstverliebten Gimmicks darstellen, sondern zur Charakterisierung der Situation und der handelnden Personen dienen. So werden die Richter fast immer, wenn sie das Wort an Jeanne richten, von unten gefilmt, oft regelrecht aus der Froschperspektive, um ihre übermächtige Position zu verdeutlichen. (Ein Teil der Belegschaft nannte Dreyer scherzhaft Gruyère, weil er so viele Kameragräben anlegen ließ, dass der Boden an einigen Stellen durchlöchert war wie ein Schweizer Käse.) Und auf der anderen Seite wird Jeanne oft von oben herab ins Bild gebracht, um ihre Opferrolle zu betonen. Kamerabewegungen nutzte Dreyer in ähnlicher Weise. So erfolgt etwa an einer Stelle, wo Jeanne die Richter mit einer unerwarteten Antwort verblüfft und gegen sich aufbringt, eine Kombination von zwei Schwenks in entgegengesetzter Richtung, die die Verwirrung der Herren mit einer visuell verwirrenden Einstellung korrespondieren lässt.
Jeanne wird von den Wachen verspottet |
Der Schnitt des Films, der von Dreyer selbst und einer Marguerite Beaugé besorgt wurde, ist virtuos. Das Tempo ist schnell, aber nicht hektisch. Man hat sich die Mühe gemacht und die Zahl der einzelnen Einstellungen gezählt - einschließlich Zwischentitel sind es 1500. Dagegen betrug die Zahl in den meisten anderen Filmen dieser Zeit zwischen 500 und 1000. Nur die russischen Montage-Meister um Eisenstein kamen auf Zahlen von 2000 und mehr. Beim Schnitt der Dialoge zwischen Jeanne und den Richtern verletzte Dreyer bewusst die Regeln der Kontinuität, die bewirken sollen, dass beim Zuschauer der Eindruck zweier Gesprächspartner entsteht, die sich gegenüberstehen und sich gegenseitig ansehen. Wenn also etwa Jeanne bei einem Dialogfetzen von links gefilmt wird und der Richter bei der Antwort von rechts, dann hätte Jeanne bei ihrer Erwiderung laut Regel wieder von links gezeigt werden müssen - stattdessen sieht man sie aber von rechts oder von vorne. Und vom Richter wird dann in der nächsten Einstellung vielleicht nur die Mundpartie mit den sabbernden Lippen gezeigt. Durch solche optischen Kniffe erzeugt Dreyer ein gewisses Gefühl der Desorientierung, das jedoch durch den ausgewogenen Bildrhythmus nicht wirklich dissonant oder ermüdend wird, sondern im Gegenteil die visuelle Spannung steigert.
Jeanne wird zur Ader gelassen |
Sozusagen den ruhenden Gegenpol zur dynamischen Kameraarbeit bilden die von Hermann Warm und Jean Hugo entworfenen Kulissen. Hermann Warm besaß in der Filmwelt einen ausgezeichneten Namen. Er gehörte zu dem Team, das 1919 die Dekoration für Robert Wienes Klassiker DAS CABINET DES DR. CALIGARI entwarf. Damit war er an entscheidender Stelle daran beteiligt, den expressionistischen Film aus der Taufe zu heben. In der Folge arbeitete er u.a. mit Fritz Lang und F.W. Murnau. Insgesamt war er in seiner langen Laufbahn an über 150 Filmen als Art Director oder Filmarchitekt beteiligt. Dreyer griff auch bei VAMPYR auf seine Dienste zurück. Sein Mitstreiter Jean Hugo, ein Urenkel von Victor Hugo, war im Hauptberuf Kunstmaler. Seine Frau Valentine Hugo, ebenfalls Malerin (und zeitweilig Muse und Geliebte der surrealistischen Dichter Paul Éluard und André Breton), entwarf die Kostüme.
Warm und Hugo orientierten sich bei ihren Entwürfen für die Bauten an mittelalterlichen Miniaturen. Die Maler dieser Buchillustrationen kannten die Gesetze der Zentralperspektive noch nicht, wodurch sich schiefe Winkel und falsche Proportionen ergaben, und so verhält es sich auch mit den Bauten im Film. Es handelt sich dabei zugleich um einen allerdings stark gemäßigten Nachklang des filmischen Expressionismus, was sich konkret etwa in schiefen Fensterkreuzen in der Kapelle und in Jeannes Zelle äußert. Sowohl die Außenfassaden als auch die Innendekoration werden geprägt von großen, glatten weißen Flächen. Es gibt nur wenige, sparsam applizierte Details in der Ausstattung. Das war eine bewusste Entscheidung Dreyers - er wollte nicht, dass pittoreske Details der Dekoration den Blick des Zusehers vom menschlichen Drama ablenken. So ergibt sich insgesamt ein sparsames, stark stilisiertes Set. Die großen, hellen Flächen der Innendekoration haben den Effekt, dass davor platzierte Schauspieler fast wie in Großaufnahme erscheinen, selbst wenn sie aus etwas größerer Entfernung gefilmt werden, weil nichts den Blick von den Gesichtern ablenkt.
Die angefertigten Außendekorationen des Films waren durchaus eindrucksvoll. Dreyer ließ das komplette Kastell von Rouen mit Mauern, Türmen, Zugbrücke, Kapelle und weiteren Gebäuden nachbauen. Die Außenmauern wurden so massiv ausgelegt, dass sie Männer und schweres Beleuchtungsgerät tragen konnten, ein Teil der inneren Mauern wurde beweglich auf Schienen montiert, um flexiblere Kamera-Blickwinkel zu ermöglichen. All das hat jede Menge Geld gekostet - LA PASSION DE JEANNE D'ARC wurde einer der teuersten französischen Stummfilme überhaupt. Das Budget war auf 7 Mio. Franc veranschlagt, am Ende beliefen sich die Kosten auf 9 Mio. Franc. Zum Vergleich: Fast zur gleichen Zeit entstand als Konkurrenzprodukt LA MERVEILLEUSE VIE DE JEANNE D'ARC unter der Regie von Marco de Gastyne. Anders als Dreyers Film, zeigt dieses zweistündige Werk eine heroische Jeanne, und es wird das volle Programm abgespult - aufwendige Schlachten mit Unmengen an Komparsen, usw. - und das alles hat nur 8 Mio. Franc gekostet. (Dreyer hat diesen Film übrigens durchaus gewürdigt. "Er hat recht, und ich habe auch recht", hat er zu Artaud einmal gesagt.)
Dreyers Auftraggeber von SGF machten keinen Versuch, die Ausgaben einzuschränken. Tatsächlich besaß Dreyer während der gesamten Dreharbeiten volle künstlerische Freiheit. Was die Produzenten am Ende aber erzürnte, war die Tatsache, dass von all den teuren Bauten im fertigen Film ziemlich wenig zu sehen ist. Nur ein kleiner Teil der errichteten Gebäude erscheinen im Bild, und auch das nur kurz. Vermutlich hatte Dreyer auch von Anfang an nichts anderes vor. Er verfolgte einen ganz anderen Zweck: Die Umgebung sollte den Schauspielern dazu verhelfen, so weit wie möglich in die Atmosphäre des 15. Jahrhunderts eintauchen zu können, um sich optimal in ihre Rollen hineinversetzen zu können. Diesem Zweck diente auch die Tatsache, dass der Film vom Anfang bis zum Ende in chronologischer Reihenfolge gedreht wurde - auch damals schon eine ungewöhnliche Vorgehensweise. Das bedingte, dass alle Schauspieler mit größeren Rollen für mehrere Monate anwesend sein mussten. (Die Dreharbeiten fanden von Mai bis November 1927 bei Billancourt vor den Toren von Paris statt.) Mehr als das: Alle Darsteller von Mönchen oder Priestern mit Tonsur mussten sich diese über den ganzen Zeitraum hinweg regelmäßig scheren lassen - sogar diejenigen, bei denen die Tonsur überhaupt nicht zu sehen ist, weil sie als höhere Würdenträger ständig ein Käppchen tragen! Dreyers an Pedanterie grenzender Perfektionismus hat ihm natürlich nicht nur Freunde gemacht. So bezeichnete ihn etwa Michel Simon im Nachhinein als Verrückten. Simon stieg in den 30er Jahren zu einem Star des französischen Kinos auf, doch 1927 war er noch unbekannt, und er ist nur in zwei kurzen Einstellungen von zusammen vielleicht ein oder zwei Sekunden Dauer zu sehen. Deshalb ist es auch unverständlich, dass er in manchen Besetzungslisten des Films an prominenter Stelle platziert wird.
Dreyer hätte am liebsten auf jede Musikbegleitung des Films verzichtet. Er war zu Recht der Meinung, dass die Bilder allein den Film tragen können. Eine eigens komponierte Musik gab es nicht, vielmehr wurde der Film mit ganz verschiedenen Musiken vorgeführt. 1988 ließ sich der amerikanische Komponist Richard Einhorn von LA PASSION DE JEANNE D'ARC zu einem Oratorium mit dem Titel Voices of Light inspirieren. Dieses Werk mit biblischen und mittelalterlichen Texten hatte 1994 Premiere, und es ist sowohl als Begleitmusik zum Film als auch als eigenständiges Werk gedacht. Es findet sich auch als optionaler Soundtrack auf der DVD des Films von Criterion. Voices of Light ist durchaus gelungen, ich empfehle aber, sich den Film zunächst ohne Ton anzusehen, um sich nicht vom Rhythmus der Bilder ablenken zu lassen.
LA PASSION DE JEANNE D'ARC hatte am 21. April 1928 Weltpremiere in Kopenhagen; die Premiere in Paris fand erst im Oktober 1928 statt. Die Kritiken waren fast überall zum größten Teil begeistert, der Erfolg beim Publikum blieb jedoch aus. Das lag zu einem großen Teil daran, dass der Film schnell als ein Avantgarde-Werk galt, das nur für Cineasten interessant sei. Dreyer wehrte sich heftig gegen dieses Diktum. Für ihn war LA PASSION DE JEANNE D'ARC ein Film, dessen menschliche Aussage für jedermann verständlich sei. Ein empirischer Test schien ihm Recht zu geben: Auf Anregung eines Politikers gab der Besitzer des Premierenkinos in Kopenhagen eine kostenlose Sondervorstellung für 1800 Arbeitslose, und Dreyer ließ dabei Antwortkarten verteilen, mit denen man seine Meinung zum Film kundtun konnte. Die Begeisterung dieses besonderen Testpublikum war überwältigend. Aber es half nichts: Das breite Publikum blieb dem Film fern. Natürlich war auch der Zeitpunkt ungünstig: 1928 neigte sich die Stummfilmzeit ihrem Ende entgegen.
LA PASSION DE JEANNE D'ARC wurde aber auch in anderer Hinsicht gebeutelt. Im Grunde begannen die Schwierigkeiten des Films schon vor Beginn der Dreharbeiten. Wie schon erwähnt, war Jeanne d'Arc in den 20er Jahren in Frankreich ein Thema von öffentlichem Interesse. Das schloss die Vereinnahmung durch verschiedene politische Gruppierungen mit ein. Insbesondere klerikale und nationalistische Gruppen okkupierten Jeanne als "ihr" Symbol. Als nun bekannt wurde, dass ein Ausländer, und ein Protestant obendrein, Jeannes Geschichte verfilmen soll, erhob sich Protest in einschlägigen Presseorganen. Nur jemand, der tief in der französischen Erde verwurzelt sei, dürfe dieses Thema in Angriff nehmen - so und so ähnlich wurde argumentiert. Die Aufregung steigerte sich noch, als in der Presse die Behauptung kursierte, dass Lillian Gish die Hauptrolle spielen sollte. Gish war durch ihre Rollen in D.W. Griffiths THE BIRTH OF A NATION und INTOLERANCE zu einer der größten Hollywood-Diven aufgestiegen. Eine Amerikanerin in der Rolle des französischen Nationalsymbols? Völlig undenkbar! Die Reaktionen reichten von besonnener Ablehnung bis zu wüster Polemik. Ich weiß nicht, ob Dreyer wirklich jemals vorhatte, Gish zu besetzen. Nach seiner Entdeckung Falconettis war dieses Thema jedenfalls vom Tisch.
Nach Fertigstellung des Films gingen die Angriffe weiter. Die Verzögerung der Pariser Premiere lag daran, dass sowohl die katholische Kirche in Frankreich, personifiziert durch den Pariser Erzbischof, als auch die staatliche Zensurbehörde Änderungen forderten und auch bekamen. Tatsächlich wurde der Film so heftig geschnitten, dass man von einer massiven Verfälschung und Verwässerung zugunsten der Kirche sprechen muss. Die Schnitte erfolgten zunächst ohne Dreyers Wissen, und natürlich gegen seinen Willen. Als er davon erfuhr, protestierte er heftig, aber erfolglos. Auch in vielen anderen Ländern erfolgten mehr oder weniger starke Eingriffe durch den Zensor. Besonders heftig reagierte man auch in Großbritannien: LA PASSION DE JEANNE D'ARC wurde von der Zensurbehörde als antibritische Propaganda eingestuft und kurzerhand verboten.
Jean Massieu und Martin Ladvenu |
Aber es kam noch schlimmer. Wenn Jeanne ein Raub der Flammen wurde, aber eine Art von Wiederauferstehung erlebte, dann gilt das in gewissem Sinn auch für Dreyers Film. Das unzensierte Originalnegativ lagerte in Berlin in einem Studio der UFA. Dort aber wurde es im Dezember 1928 durch einen Brand zerstört. Dreyer war zunächst am Boden zerstört, dann aber ging er daran, das Beste aus der Situation zu machen. Wie erwähnt, gab es eine Unmenge an Outtakes, und diese wurden zum Glück an einem anderen Ort aufbewahrt. Aus diesem Material wählte Dreyer jeweils die Version der Szene, die der im Originalnegativ verwendeten am nächsten kam, und schnitt daraus ein neues Negativ. Weniger aufmerksame Zuseher konnten zwischen den beiden Versionen kaum Unterschiede erkennen, aber Dreyer war trotzdem nicht wirklich glücklich mit dieser Lösung. Und es war wie verhext: Auch dieses zweite Negativ schien verloren, als es in einem Studio in Boulogne-Billancourt 1929 zu einem weiteren Brand kam. Dreyer machte daraufhin keinen weiteren Rekonstruktionsversuch mehr.
Jetzt kursierten nur noch mehr oder weniger korrumpierte Positive des Films, die von Dreyer nicht als authentisch anerkannt wurden. Einige Versionen waren sogar aus Teilen des ersten und des zweiten Negativs zusammengeschnitten worden. Die vielleicht größte Schandtat wurde 1933 in den USA begangen. Dort entfernte ein Produzent alle Zwischentitel und fügte dafür eine Tonspur hinzu, auf der ein damals populärer Radiosprecher die Texte sprach. Die Zahl der vorhandenen Positive verringerte sich im Lauf der Jahre, und die Qualität wurde durch das Abspielen natürlich auch nicht besser. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis LA PASSION DE JEANNE D'ARC praktisch verloren sein würde. Doch 1951 wurde in den Gewölben der Filmfirma Gaumont ein Negativ in relativ guter Verfassung entdeckt. Es handelte sich offenbar um Dreyers zweites Negativ, das den Brand in Billancourt durch Abwesenheit überlebt hatte. Der Filmhistoriker Lo Duca machte sich an die Restaurierung dieser Version. Dabei schien es Lo Duca, einer der drei Gründer der einflussreichen Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma, nicht für nötig zu erachten, Dreyer zu konsultieren, und er fühlte sich zu zwei fragwürdigen Eingriffen bemüßigt. Zum einen fügte er eine Tonspur hinzu, auf der sich eine von dem Dirigenten Jean Witold aus Werken von Albinoni, Vivaldi und J.S. Bach zusammengestellte Musik befand. Es wird behauptet, dass dieser Soundtrack den Bildrhythmus mehr stört als unterstützt. Zum anderen ersetzte er die originalen Zwischentitel, die in einer schlichten weißen Schrift auf schwarzem Grund gehalten waren, teilweise durch Untertitel und teilweise durch Zwischentitel, die ornamentale Muster von Kirchenfenstern als Hintergrund enthielten. Dreyer war über diese Eigenmächtigkeit erbost. Er hatte einmal die Zwischentitel in ihrer Schwärze als "Pfeiler" seines Films bezeichnet, was durch die neuen überladenen Zwischentitel natürlich untergraben wurde. In einem Brief an Gaumont bezeichnete er Lo Ducas Änderungen als "Appell an den schlechten Geschmack des Publikums", und er beharrte darauf, dass ein Filmklassiker - der LA PASSION DE JEANNE D'ARC mittlerweile war - in seiner originalen Form restauriert werden sollte, während die "Modernisierung" eines solchen Films eine Absurdität sei.
Trotzdem war diese Version mittlerweile so gut wie die einzige noch vorzeigbare. Sie lief 1952 auf der Biennale in Venedig und wurde zum inoffiziellen Festivalsieger erklärt. Anschließend kam der Film wieder in die Kinos und erregte bei einem Publikum, das ihn fast nur noch vom Hörensagen kannte, Aufmerksamkeit und teilweise Begeisterung. Bei diversen Umfragen unter Regisseuren, Kritikern oder Filmhistorikern landete LA PASSION DE JEANNE D'ARC seit den 50er Jahren immer wieder mal unter den 10 besten Filmen der Welt. Es blieben aber Vorbehalte gegen Lo Ducas Eingriffe, außerdem war auch das von ihm bearbeitete Negativ verloren gegangen, diesmal anscheinend endgültig. Deshalb unternahm es ein Mitarbeiter des Dänischen Filminstituts, aus allen noch vorhandenen Kopien eine bestmögliche Version zusammenzuschneiden. Aber auch diese Version konnte nicht vollends überzeugen. Die Bildqualität konnte auch nicht besonders beeindrucken.
Insgesamt blieb die Situation also unbefriedigend. Doch wenn Heilige im Spiel sind, dann geschehen manchmal Wunder. Und an ein Wunder grenzt es, was sich 1981 in Norwegen zutrug. In einer Nervenheilanstalt vor den Toren Oslos wurde bei Aufräumarbeiten in einer Abstellkammer eine verschlossene Kiste entdeckt, die Filmrollen enthielt. Diese wurden ins Norwegische Filminstitut gebracht, wo sie ihren Dornröschenschlaf für weitere drei Jahre fortsetzten. Erst dann wurde der Schatz gesichtet und gehoben. Es waren Rollen einer Version des Films mit dänischen Zwischentiteln. Die Rollen waren noch in Packpapier eingewickelt, das einen Stempel des dänischen Zensors mit dem Datum 1928 enthielt. Das bedeutet nicht, dass diese Version geschnitten war - im Gegenteil, es ist gut dokumentiert, dass ungeschnittene Kopien nach Dänemark gelangten, und dass der Film die dänische Zensur ohne Schnittauflagen passierte. Das Datum 1928 belegte, dass es sich um eine Kopie von Dreyers erstem Negativ handelte. Es handelte sich also um eine Version, die Dreyers Original von 1928 höchstwahrscheinlich näher kam als irgendeine andere Fassung der letzten 50 Jahre.
Wie der Film nach Oslo kam, konnte nicht sicher geklärt werden. Der Direktor der Nervenklinik war ein Amateurhistoriker. Vielleicht ließ er sich den Film kommen, um einige Privatvorführungen für seine Belegschaft oder die Patienten zu geben. Jedenfalls gibt es keine Hinweise auf öffentliche Vorführungen in Oslo. Wie dem auch sein mag - offenbar wanderten die Rollen bald in die Kiste und wurden dort vergessen. Alles spricht dafür, dass sie für mehr als ein halbes Jahrhundert nicht angerührt wurden. Der Fund war noch in einer weiteren Hinsicht bemerkenswert: Die Bildqualität ist weit besser als bei allen anderen noch zirkulierenden Fassungen. Die Schärfe und der Kontrast sind für einen Film von 1928 ausgezeichnet. Das bedeutet nicht, dass das Bild perfekt war. Ganz im Gegenteil: Es gab eine Unzahl von Kratzern, Wasserflecken und ähnlichen Fehlern. Doch diese konnten mit den Mitteln der digitalen Bildrestauration weitgehend entfernt werden. Insgesamt wurden rund 20.000 einzelne Fehler beseitigt. Die Restauration wurde vom Dänischen Filmmuseum in Kopenhagen in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque Française in Paris durchgeführt. Aus den dänischen Zwischentiteln und erhaltenen Aufzeichnungen wurden die originalen französischen Zwischentitel so getreu wie möglich wiederhergestellt.
Diese Fassung kursiert wieder in Kinos und ist auf DVD erhältlich. Die Qualität des restaurierten Bildes ist wirklich erfreulich. Erst jetzt sind die Gesichter wieder in allen ihren Details zu sehen, auf die Dreyer so viel Wert gelegt hatte. Wenn wir heute nur die vorher verfügbaren verwaschenen Fassungen zur Verfügung hätten, dann würden wir einen anderen Film kennen. Aber so hat LA PASSION DE JEANNE D'ARC tatsächlich eine Art von Wiederauferstehung erlebt.
LA PASSION DE JEANNE D'ARC ist in einigen Ländern auf DVD erhältlich. Das Maß der Dinge war bisher die schon erwähnte US-Ausgabe von Criterion. Im Februar ist der Film bei Arthaus/Studiocanal erstmals auch in Deutschland auf DVD erschienen. Eine nochmals stark gekürzte Fassung dieses Textes findet sich im Booklet. Zwischen den Versionen von Criterion und Arthaus gibt es deutliche Unterschiede, die darauf beruhen, dass der Film bei Arthaus langsamer läuft als bei Criterion (Criterion 24 fps, Laufzeit 82 min, Arthaus 20 fps und 97 min). Eine Bewertung dieses Umstands kann und will ich hier nicht vornehmen.